Avvocato Scalzis erster großer Fall
In der Toskana stößt der ägyptische Etruskologe Fami auf ein sakrales Gewölbe. Doch bevor er den darin vermuteten Schatz heben kann, wird ihm ein Mord angehängt - zu dem es keine Leiche gibt. Corrado Scalzi, bedächtig, skeptisch, gewiß kein Karrierist, dafür von hohem Berufsethos erfüllt, übernimmt seine Verteidigung und sieht sich bald selbst in Gefahr.
"Ein atemberaubender, erstklassig geschriebener Mafiaroman." Buchmarkt
"Auf den ersten Blick ein Krimi, auf den zweiten ein kluges und boshaftes Porträt der modernen italienischen Gesellschaft." Norddeutscher Rundfunk
Der Irrtum
des Dottore Gambassi
Ein Avvocato Scalzi Roman
Aus dem Italienischen
von Julia Schade
Inhaltsübersicht
Über Nino Filastò
Informationen zum Buch
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Vorbemerkung
Erster Teil
1 Natale
2 Scalzi
3 Olimpia
4 Idris
5 Gambassi
6 Die Feldflasche
7 Guerracci
8 »Die nackte Wahrheit«
9 Die Insel
10 Der Ray-Ban-Mann
11 Heimlicher Briefwechsel
12 Alex
13 Crespelli und Cacciucco
14 Die Bruschini
15 Im Gewächshaus
16 »Locus veritatis«
17 Das zweite Gesicht
18 Vor dem Richterzimmer
19 Vorverhandlung
20 Rosen aus der Picardie
Zweiter Teil
21 Streichhölzer
22 Morgendämmerung
23 Rote Dächer
24 Auberginen in der Wüste
25 Auf dem Antiquitätenmarkt
26 Der falsche Poet
27 Der blaue Bleistift
28 Unbequeme Schuhe
29 Ermittlungen
30 Rote Absätze
31 Das Sanktuarium
32 Das Haus in den Bergen
Dritter Teil
33 Der Zementmann
34 Im Schwurgericht
35 Einleitende Ausführungen
36 Zwischenspiel im Beratungszimmer
37 Der große Vermittler
38 Zoe
39 Alias Rauf
Vierter Teil
40 Der Park von Montazah
41 Die ägyptische Ehefrau
42 Schwarz und Weiß
43 Grabräuber
44 Briefe oder Testament
45 Saro
46 Letzte Feuer
Anmerkungen
Impressum
Die Anregung zu diesem Roman erhielt ich – im allerweitesten Sinne – durch einen Prozess, und zwar in so weitem Sinne, dass ich meine Inspirationsquelle (um diesen kleinen Baum in den Schatten einer mächtigen Eiche zu pflanzen) mit jener vergleichen könnte, die einem Gelehrten zufolge Manzoni zu dem Roman Die Verlobten angeregt haben soll: der Prozess nämlich, den die Republik von Venedig im Jahre 1607 gegen den kleinen, gewalttätigen Tyrannen Paolo Orgiano geführt hat (Staatsarchiv Venedig, Rat der Zehn, Prozesse der Rektoren, Umschlag 3).
Die Handlung, die Figuren und die Situationen dieses Romans können daher zu Recht als »frei erfunden« bezeichnet werden.
Es entspricht allerdings den Tatsachen, dass in den siebziger Jahren ausgeführte Straßenbauarbeiten die geographischen Gegebenheiten um die Anhöhe, auf der sich die Rocca Aldobrandesca in Sovana erhebt, verändert haben und dass vor noch längerer Zeit, in den Dreißigern, ein größerer Fund nicht verzierter etruskischer Keramik als Schotter für eine Straße in dieser Gegend verwendet wurde. Aber das habe ich erst erfahren (und das ist die reine Wahrheit), als ich dieses Buch bereits geschrieben hatte.
N.F.
Natale legt die rechte Hand auf den Schaltknüppel, und das Vibrieren des Motors überträgt sich auf seinen Körper.
»Blöde alte Kuh! Wildsau! Wirst schon sehen, wie ich dich dreiteile!«
Natale brüllt, als ob Signorina Magda direkt vor den Zähnen am Löffel des Radladers stünde.
Aber das Tal ist menschenleer, regungslos ragt der Kran über dem Wald auf. Natales Wutausbruch bringt den Chor der Vögel zum Schweigen, der zwitschernd das erste Tageslicht begrüßt. Einen Augenblick lang herrscht Stille, und man hört nur das Rattern des Motors im Leerlauf.
Signorina Magda ist die jüngere Schwester von Dottor Elvio Gambassi. Sie ist sechzig Jahre alt, und dafür hat sie sich gut gehalten, aber sie hat ja auch ihr Leben lang keinen Finger krumm gemacht. Verglichen mit ihr hat Natales Ehefrau, die mit Fünfzig gestorben ist, ausgesehen wie eine siebzigjährige Greisin.
Signorina Magda hat immer ein Buch in den Händen. Gegen Mittag steht sie auf und frühstückt im Park, ganz hinten auf der Wiese. Annetta, dem Hausmädchen, bleibt nichts anderes übrig, als mit dem Tablett in der Hand zweihundert Meter bergauf zu steigen, von der Küchentür bis zu der großen Steineiche, unter der die Signorina den Gartentisch decken lässt, weil es ihr, wie sie sagt, Freude macht, das Sonnenlicht durch die Blätter fallen zu sehen.
Natale hat erst heute morgen mit der Schinderei in dieser Schlucht angefangen. Vorgestern war er gerade dabei, die Buchsbaumhecke zu beschneiden, die den Fischteich umgibt, der sich an die Wiese mit der Steineiche anschließt. Dottor Gambassi stand neben ihm und kontrollierte jeden einzelnen Handgriff, weil er Wert darauf legt, dass die Hecke schön quadratisch und die Seiten exakt lotrecht sind. Signorina Magda hob die Augen von ihrem Buch und beobachtete die beiden verträumt.
»Natale ist ein Dreiteiler, hast du das gewusst, Elvio?«
»Was?« fragte Gambassi.
Sie winkte ihn zu sich heran. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, deutete auf den Umschlag des Buches, und beide fingen an zu lachen.
Natale legte die Gartenschere auf die Hecke und ging ein paar Schritte auf die Geschwister zu. »Verzeihen Sie bitte, Signorina«, sagte er höflich wie ein englischer Lord, »was soll ich sein?«
»Ein Dreiteiler. Wie die Außerirdischen in diesem Buch.« Die Signorina zog ein wenig pikiert die Augenbrauen hoch. »Du schleichst immer hier herum, sogar in der Nacht, und machst klick-klick und klack-klack mit dem Rasenmäher, der Gartenschere, der Hacke … Du kommst mir vor wie eine der wandelnden außerirdischen Pflanzen, die mal hier, mal da auftauchen, wie die Dreiteiler in diesem Sciencefiction-Roman. Du gehst einem auf die Nerven, nimm’s mir nicht übel…«
Aber Natale nahm es übel. Er müsste hier schließlich nicht den Gärtner spielen, wenn er mit seiner Pferdezucht nicht pleite gegangen wäre. Es hatte alles ihm gehört, das Land, das Haus und die Pferdchen. Aber dann hatte er sich übernommen und diese blöde Idee gehabt – derjenige, der ihn darauf gebracht hat, soll zur Hölle fahren –, Zimmer zu vermieten und eine Reithalle zu bauen. Er hatte einen Kredit bei der Bank aufgenommen, und die Bank hatte ihn pleite gehen lassen. Hinterher war ihm jedoch zu Ohren gekommen, dass Dottor Elvio seine Hand im Spiel gehabt hatte. Es ging das Gerücht um, dass er den Kredit von der Bank übernommen und dann Natales Konkurs herbeigeführt hatte. Jedenfalls gehören Haus und Land jetzt einer Aktiengesellschaft, deren Hauptaktionär der Kaufmann Dottor Elvio Gambassi ist. Was im Grunde bedeutet, dass alles ihm gehört, inklusive der Pferde, die man wie Schlachtvieh verkauft hat, weil die AG auf dem Land unbedingt eine Kiwiplantage anlegen wollte.
Bei dem Scherz der Signorina Magda schoss Natale sein maremmanisches Blut in den Kopf. »Wissen Sie, wohin Sie sie sich stecken können, Ihre … wie heißen sie noch mal? Dreiteiler? Die können Sie sich in den Hintern stecken, und das Buch gleich dazu.«
Das war ihm so herausgerutscht, aber Dottor Elvio wurde fuchsteufelswild. Raus aus dem Park! Wenn er arbeiten wolle, könne er ja auf die Baustelle gehen, zu der neuen Schnellstraße. Glücklicherweise war die Baustelle in der Nähe, nur fünf Kilometer von der Villa entfernt.
Auch diese Schnellstraße ist ein Werk des Chefs, denn den Auftrag, sie zu bauen, hat seine Aktiengesellschaft bekommen. Dottor Elvio tut immer so, als sei er ein Habenichts und noch ärmer als Natale, aber er hat die Finger in den verschiedensten und lukrativsten Geschäften der Welt und ist mehrfacher Milliardär.
Heute ist Sonntag, und eigentlich ist die Baustelle geschlossen. Aber Natale hat beschlossen, mit dem bisschen Arbeit so schnell wie möglich fertig zu werden. Zwangsarbeit: Gruben ausheben und wieder zuschütten. Und wozu dieses großartige Werk, diese alberne Straße gut sein soll, weiß kein Mensch. Natürlich wird sie die Landschaft verschandeln, aber der praktische Nutzwert? Eine Schnellstraße zwischen Sovana, Panzalla und Roccavìa, was für ein Blödsinn! Was sollen denn die Leute von Panzalla und Roccavìa mit einer Schnellstraße? Das sind alles arme Teufel, Bauern, die nicht einmal ein Auto haben, wenn es hoch kommt einen Traktor. Wenn sie fertig ist – und das wird bald sein, weil man ein höllisches Tempo vorlegt –, werden die Bauern im Zickzack auf ausgewaschenen Feldwegen zwischen den Betonpfeilern und den Leitplanken herumfahren müssen, um den Asphalt nicht mit ihren dicken Traktorreifen zu ruinieren.
Je weiter die Arbeiten voranschreiten, desto mehr tauchen von diesen Steinen auf: Die Bauern sagen, sie wachsen auf diesem Land; je mehr man herausholt, desto mehr neue kommen nach. Man sieht ja auch gleich, dass das keine normalen Steinbrocken sind. Manche sehen aus wie Menschen mit Kapuzen, sie tragen Inschriften und merkwürdige Symbole, Zeichen, die aussehen wie Schrift. Gambassi hat sie alle auf einen Haufen werfen lassen und will, dass sie vergraben werden. Er hat ein tiefes Loch ausheben lassen, da sollen sie hinein. Und Natale hat jetzt die undankbare Aufgabe, das mit einem Radlader zu bewerkstelligen, weil ein Bagger zu sehr auffallen würde, auch wenn die Baustelle abgeriegelt ist wie eine Raketenbasis.
Natale legt den Gang ein und der Radlader fährt den Abhang hinauf. Die Grube ist trichterförmig, am Rand liegt der Steinhaufen und auf dem Grund befindet sich das Fundament des Pfeilers.
Bei dieser ersten Runde ist es ein sehr großer Stein, den er aufnehmen will. Natale bewegt das Fahrzeug in leichten Rucken vorwärts. Die Zähne graben sich in die Erde, der Radlader schüttelt sich, er schwankt. Noch einen entschlossenen Ruck weiter nach vorn, der Brocken wackelt, löst sich vom Haufen, pendelt und fällt in den Löffel, wobei er die Gitter berührt, die die Ladung hochkant halten. Das war’s. Natale holt ein verknautschtes Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündet sich eine an. Jetzt muss er wieder runter. Er legt den Rückwärtsgang ein, fährt langsam an und beißt dabei in den Filter der Zigarette.
Nach wenigen Meter beginnt er zu rutschen. Natale spürt, wie die Räder wie verrückt durchdrehen, und dann wird das Fahrzeug immer schneller. Erdreich stürzt herab, mit dem Radlader um die Wette, überholt den Steinbrocken und reißt ihn mit wie eine Sturzwelle. Natale nimmt den Geschmack von Erde im Mund wahr, er dreht sich um und sieht den grauen Zement auf sich zukommen. Der Radlader knallt gegen das Fundament, aber es hätte schlimmer kommen können: das Gewicht des Erdreichs hat den Druck ausgeglichen, er hat sich nicht überschlagen.
Aber was ist das? Er sinkt ein, immer weiter hinunter … Verzweifelt versucht Natale, sich an der rauen Wand des Pfeilers festzuhalten, sich mit den Fingernägeln daran zuklammern, aber sie brechen ab, und er sinkt immer tiefer ein. Alles verlischt und verhallt, auch das Zwitschern der Vögel und das Brummen des Motors: Dunkel, Stille, nur ein leichtes Zischen ist zu hören, wie von brutzelndem Fleisch.
Während Scalzi auf das Taxi wartet, fällt ihm einer seiner ersten Mandanten ein, ein kleiner Mafioso, der zum Anwaltsgespräch in einem bordeauxroten Morgenmantel erschien, vor fast dreißig Jahren, als das alte Nonnenkloster noch als Gefängnis diente.
Wie streng die Regel dieser Nonnen war, sagt schon der Name des Klosters: »Le Murate«, die Eingemauerten. Das Gebäude in der Farbe schmutzigen Strohs, mit Eisenstangen vor den Fenstern, die durch braungerostete Metallgitter verstärkt sind, nimmt immer noch einen ganzen Block ein, von der Allee bis zu dem kleinen Sträßchen, das an der Umfassungsmauer des ehemaligen Frauengefängnisses Santa Verdiana entlangführt. Heute ist das alles reine Platzverschwendung. Schon seit Jahren tummeln sich hier die Mäuse.
Damals war Scalzi noch in der Lage, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, während er heldenhaft die Atmosphäre dieses romantischen Zuchthauses auf sich wirken ließ. Das alte Vollzugsgebäude, obgleich heruntergekommen und stickig, strahlte dennoch eine gewisse feierliche Würde aus. Die Wände ließen an das trockene Prinzip Interest civitati ne crimina remaneant impunita denken, und die schwarze Aufschrift »Vigilando Redimere«[1] über der Gittertür, die zu den einzelnen Abteilungen führte, sprang einem im gleichen Augenblick entgegen, wie man die erste übelriechende Schwade von Desinfektionsmittel wahrnahm, und sie erinnerte an die Warnung Scarpias: »Dies ist ein Ort der Tränen.«
Die kleinen Räume, in denen die Gespräche mit den Anwälten stattfanden, gingen von einem unterirdischen Gang ab, der ursprünglich für Andachten in der Fastenzeit gedient hatte. Beim Anblick des Mandanten in seinem bordeauxroten Morgenmantel hatte Scalzi an ein Bordell für arme Studenten denken müssen. Der kleine Mafioso kam mit der Entrüstung des Unschuldigen in seinen Pantoffeln aus Lackleder einher, stank nach einem Rasierwasser mit starker Bergamottnote, seine rabenschwarzen Haare schimmerten von Brillantine, und seine Stirn glänzte bis zu den Augenbrauen. Saladino, Paladino, irgendwie so hatte er geheißen, wie eine Figur aus einem Puppenspiel.
Obwohl er damals noch jung war, hatte Scalzi doch schon Erfahrung. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass Anwalt zu sein nicht bedeutet, als Missionar im Dienste von Unschuldigen zu wirken. Dennoch hatte er sich vorgenommen, seinen Beruf mit Würde auszuüben. Und als der Mafioso, der eine Marlboro nach der anderen rauchte und sie jeweils nach der Hälfte im Aschenbecher ausdrückte, aus einem Filter einen kleinen Zettel zog, den er einem seiner Komplizen draußen bringen sollte, entgegnete er darum: »Ich bin doch kein Briefträger.« Bei seinem nächsten Besuch hatte der Nachwuchsmafioso nicht einmal mehr Platz genommen. »Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit Ihnen, Dottore«, hatte er gesagt, »nein, ganz und gar nicht.« Und er hatte ihm das Mandat entzogen.
Während er auf das Taxi wartet, denkt Scalzi darüber nach, wie er seine Termine heute möglichst schnell hinter sich bringen kann. Die Erinnerung an den Mafioso hat ihm die Laune verdorben. Dieser Frondienst im Gefängnis wird im Laufe der Zeit immer unerträglicher.
Vor seinem Termin mit Alex hat er noch drei »Entjungferte«, Delinquenten, die zum ersten Mal hinter Schloss und Riegel sind: einen kleinen Drogenhändler, einen Exhibitionisten, den man vor einer Mädchenschule gefasst hat, und einen Einbrecher, ein blutiger Anfänger. Das wird nicht allzu lange dauern.
Alex ist kein Unbekannter. In all den Jahren hat sich zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten eine Freundschaft entwickelt, ähnlich der zweier Kriegsveteranen, die sich immer dann lockert, wenn Alex auf freiem Fuß ist. Bei jeder Begegnung mit Alex in der Sprechzelle fühlt Scalzi sich ein bisschen älter. Seit er zwanzig war (jetzt ist er dreißig), geht Alex im Knast ein und aus, abgesehen von seltenen Unterbrechungen, während derer er sich redlich bemüht, sofort wieder etwas anzustellen. Er ist zwei Meter groß, und wenn in seinem Heimatstädtchen irgend etwas passiert ist, fragt die Polizei als erstes: »Treibt sich vielleicht eine langer Lulatsch von zwei Metern in der Nähe herum?« Diesmal haben sie ihn dabei ertappt, wie er gerade die Kasse eines Ladens in der Innenstadt aufbrach. Wenn er frei ist, spritzt er sich Unmengen Heroin in die Arme, den Hals oder die Füße. Er stammt aus einer reichen Familie, er ist nicht gezwungen, Straftaten zu begehen. Warum macht er es dann? denkt Scalzi. Faszination des Knasts? Ein Ödipuskomplex?
Auch als Gefangener ist Alex ein unverbesserlicher Querulant. Letzten Monat hat er einen kaputten Fernseher vom Regal über dem Bett gerissen und ihn auf einen Wärter geworfen, weil der das Gerät nicht sofort hatte reparieren lassen. Der Fernseher ist gegen die Gitterstäbe geknallt, und die Explosion der Bildröhre hat Alarm ausgelöst. Drei Vollzugsbeamte in wasserdichten Lederstiefeln haben Alex aus der Zelle geholt und ihn über den Boden auf das Klo im Gang geschleift. Dort haben sie eine nasse Decke über ihn geworfen und ihm eine ordentliche Menge Fußtritte verabreicht. Jetzt soll Scalzi entscheiden, ob man Anzeige erstatten soll.
Das Taxi steht an der Ampel vor der Brücke über den Greve. Von hier aus sieht man schon den neuen Gefängniskomplex in Weiß, Blau und Rosa. Eigentlich ähnelt »Callasicano« eher einem dieser riesigen Hotels in den Ferienorten des Massentourismus.
Das Gespräch mit Alex ist Routinesache. Für Idris Fami hingegen, einen komplizierten Fall von Gattenmord, muss er mindestens eine Stunde einplanen.
Bei einem Aufenthalt in Ägypten ist Famis Frau verschwunden. Der Gatte ist allein nach Hause gefahren und hat behauptet, dass es seiner Frau dort unten so gut gefallen habe, dass sie sich eine Arbeit gesucht habe. Niemand war besonders begeistert gewesen, als dieser große, fette Ägypter in den Dreißigern sich mit einer fünfzigjährigen Florentinerin zusammengetan hatte, die als Weißnäherin in einer Manufaktur in Rovezzano arbeitete. Drei Jahre später war Fami dann plötzlich bei der Firma seiner Frau aufgetaucht und hatte deren Abfindung gefordert. Aber die Vollmacht, die er vorlegte, war ganz offensichtlich gefälscht, also hatte der Buchhalter die Polizei alarmiert. Nach seiner Verhaftung hat der Ägypter vor dem Staatsanwalt so widersprüchliche Aussagen gemacht, dass er jetzt des Gattenmords beschuldigt wird.
Scalzi lebt allein, aber mehrmals in der Woche isst er bei Olimpia zu Abend.
»Bei der FATES glauben alle, dass er sie umgebracht hat.«
Olimpia ist Sekretärin bei der Fabbrica Accumulatori e Trasformatori Elettrici Scandiccese, einer Fabrik für Elektroteile in Scandicci. Sie sagt es nicht direkt, aber sie ist keineswegs erbaut davon, dass Scalzi die Verteidigung eines moslemischen Machos übernommen hat.
Jeden Morgen um Acht setzt sich Olimpia auf ihr Moped, wenn es regnet, in eine Art Taucheranzug gehüllt. Sie durchquert die Stadt von Südosten nach Westen und braucht ungefähr eine Stunde, um die Hügel von Scandicci zu erreichen. Olimpia wohnt in Rovezzano, Scalzi hingegen hat seine Kanzlei im Herzen von Florenz, nur wenige Meter von der Kirche Santa Croce entfernt.
Olimpia spricht drei Fremdsprachen und hätte bestimmt keine Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden, der weniger umständlich zu erreichen ist. Scalzi hat den Verdacht, dass sie nur bei der FATES bleibt, weil sie sich damals, als sie noch Träume hatte, unter allen ihr offenstehenden Möglichkeiten für die Solidarität mit der Arbeiterklasse entschieden hat. Wenn sie sich vorstellt, sagt sie immer: »Ich arbeite in einer Fabrik, in der Metall- und Maschinenbaubranche.«
»Aber wir haben keine Leiche«, sagt Scalzi.
»Und warum soll er sonst das Haus verkauft haben?«
»Welches Haus?«
»Siehst du, du hast überhaupt keine Ahnung. Er hat sie um all ihre Ersparnisse gebracht, aber vorher hat er schon das Haus verkauft. Wenn du mich fragst, dann hat er es wegen des Geldes getan. Was sagt er denn?«
»Er sagt, dass sie verschwunden ist. Punkt aus.«
»Verschwunden? Und die Postkarten?« Nach seiner Rückkehr nach Italien soll Idris Postkarten aus Alexandria erhalten haben, augenscheinlich von Verena geschrieben. Aber ihre Handschrift, so steht es wenigstens in den Zeitungen, soll gefälscht sein.
»Was ist er für ein Typ?«
»Keiner, dem man seine Enkelin anvertrauen würde, damit er mit ihr ins Kino geht. Er grinst zuviel. Groß und dick. Sein Gesicht habe ich nicht sehen können, es war verbunden.«
»Verbunden? Warum?«
»Eine Gaspatrone von einem Campingkocher ist explodiert, als er ihn gerade anzünden wollte. Er hat Verbrennungen am ganzen Körper. Er kann nicht mal richtig laufen. Zwei Leute mussten ihn stützen, als sie ihn in die Sprechzelle brachten.«
»Und wenn das mit der Gaspatrone nun ein ›Poltergeist‹ gewesen wäre?« Seit einiger Zeit ist Olimpia mit einer gewissen Gertrud befreundet (der sie den Spitznamen »Dolores« gegeben hat), einer Deutschen aus Nürnberg, die sich intensiv und leidenschaftlich mit Okkultismus beschäftigt. »Das kommt häufiger vor, als man denkt. Nach dem Tod von Elizabeth brannte das Theater von Richmond ab, wo sie noch drei Tage zuvor aufgetreten war. Sechzig Menschen kamen dabei um.«
»Was für eine Elizabeth?«
»Die Mutter von Poe. Das Theater brannte wie Zunder.«
»Und was hat das hiermit zu tun?«
»Was das damit zu tun hat? Elizabeth stirbt, und während der ersten Aufführung, in der sie nicht mitwirkt, brennt das Theater ab. Vor vier Jahren wurde eine Familie namens Sithebe in Brasilien monatelang heimgesucht. Jedes Mal, wenn Frau Sithebe versuchte zu beten, wurde sie von der Bibel am Kopf getroffen, die daraufhin Feuer fing. Hat er gesagt, ob die Gaspatrone ihm aus den Händen geflogen ist?«
»Olimpia, ich bitte dich …«
»Doch, ich glaube, dass sie es war. Der Geist Verenas, der sich Gerechtigkeit verschaffen will. Hast du das Foto von den beiden im Boot auf dem Nil gesehen?«
»Welches Foto?«
»Es war heute in der Zeitung.«
Olimpia blättert die Tageszeitung durch. Das Foto ist fünf Spalten breit. Ein Brustbild der Eheleute, die in einem Boot sitzen, anscheinend eine Feluke. Beide lachen in die Kamera. Sie sind ganz zweifellos auf einem Fluss, im Hintergrund ist ein Hochhaus zu erkennen.
Scalzi wird klar, dass Olimpia, ihre zahllosen Freundinnen und die Florentinerinnen im Allgemeinen während des Prozesses Front gegen Idris Fami machen werden.
Der Himmel möge verhüten, dass die Geschworenen in der Mehrzahl Frauen sind. Auch wenn Verena wirklich verschwunden ist und es der Verteidigung gelingen sollte, zu beweisen, dass sich ihre Spur in irgendeiner Gegend in Ägypten verloren hat, würde die Damenwelt doch immer noch den habgierigen Ehemann für den Schuldigen halten.
Auf dem Tisch häufen sich die Zeitungen. In keinem einzigen der Artikel kommt der Ägypter gut weg. Auf einigen der Fotos (sie sind bei seiner Verhaftung aufgenommen) hat Idris einen Gesichtsausdruck, der alles andere als vertrauenerweckend ist. Aber er ist keiner von den illegalen Einwanderern: Sein erst kürzlich verstorbener Vater war beim ägyptischen Außenministerium tätig, er hat einen reichen Bruder, hat einen Hochschulabschluss, unterrichtet Literatur und Archäologie, kann Latein und Altgriechisch und beherrscht drei weitere Fremdsprachen, darunter Italienisch.
Idris kommt nach Florenz, als dort gerade die große Etruskerausstellung vorbereitet wird. Er stellt sich den Organisatoren als Experte für ägyptische Archäologie vor und sagt, er habe die Absicht, über die Einflüsse beider Kulturen aufeinander zu arbeiten. Er wird als Berater der Bearbeiter des Ausstellungskatalogs eingestellt. Er macht von sich reden, indem er auf die Ähnlichkeit zwischen Tages, einem etruskischen Jüngling, dem die Menschheit die Schrift verdankt, und Bath, einem ägyptischen Jüngling und Meister der Hieroglyphen, dem Sohn des Gottes Thot, hinweist. Ein kleinerer Gott, so steht es in einer Anmerkung im Aus-Stellungskatalog. So klein und unbekannt, dass die einheimischen Wissenschaftler überaus beeindruckt sind.
Nach Ende der Ausstellung ist Fami arbeitslos. Warum mag er wohl seinen angesehenen Arbeitsplatz an einer Schule in Alexandria aufgegeben haben, fragen sich die Journalisten. Eine der Zeitungen geht das Thema eher lyrisch an: »Das matte Sonnenlicht des Sonntagvormittags lässt den blassen Grünschleier der Hügel auch in der Stadt schimmern.« Wenig später ist dann von der »Stille des Kreuzgangs« die Rede. Es geht um die romanische Kirche in einer Seitengasse des Corso, Santa Margherita. Die heilige Margarete hat das Martyrium auf einem Scheiterhaufen in Ägypten erlitten. Im Kreuzgang von Santa Margherita warten an einem Sonntag im Juli 1986 die Angehörigen einer religiösen Gemeinschaft, die der Geistliche Don Squarcini leitet, auf den Beginn der Messe und ergehen sich indessen »unter Töpfen mit Zitronenbäumen und Rosmarinsträuchern«. Die Gemeinschaft widmet sich der Auslegung der Evangelien und wohltätiger Werke, die dem Andenken der Amme von Dantes Beatrice gewidmet sind, die in einem der Seitenschiffe bestattet ist. Diese Frau – berichtet der Autor des Artikels – »hatte strenge Gesichtszüge und kann, da sie den Verfall der Sitten ebenso eifrig beklagte, als eine Vorläuferin Savonarolas betrachtet werden. Sie war Erbin eines beachtlichen Anteils des Vermögens der Portinari. Als große Menschenfreundin stiftete sie der Stadt ein Hospital, wodurch sie der Seligsprechung einen großen Schritt näher kam.«
Die Gläubigen sind bestürzt, als an diesem heiligen Versammlungsort »zwischen den durch den Smog erheblich in Mitleidenschaft gezogenen Zitronenbäumen ein dunkler, kräftiger Mann auftaucht, der trotz der Wärme einen blauen Übergangsanzug und eine Krawatte trägt«, aber dennoch lächelt, sich höflich vorstellt und ein so korrektes Italienisch spricht, dass man seine exotische Abstammung kaum bemerkt. Wenig später erfährt man, dass er hergekommen ist, um Bekanntschaft mit Jesus Christus zu schließen. Ja, im Geiste hat er seine Konversion bereits vollzogen, jetzt muss sie nur noch gesegnet werden. Die Verehrer der mittelalterlichen Amme sind überaus erfreut, einen so hochmotivierten Pilger unterweisen zu dürfen, und bereits nach kurzer Zeit wird das verlorene Schäfchen in die Gruppe aufgenommen. Während er noch darauf wartet, dass der Pakt durch die Taufe besiegelt wird, nimmt Idris auf eigene Kosten an einer Pilgerfahrt nach Rom teil, reichhaltiges Mittagessen einbegriffen. Ziel ist der Petersplatz um die Mittagszeit. Als das Fenster sich öffnet und die weiße Gestalt erscheint, beobachten die Gläubigen verstohlen den Ägypter. Sie sehen, wie er in innerer Sammlung den Kopf senkt und ihn mit feuchten Augen wieder hebt.
Und so kommt der Tag der Taufe: Der Konvertit schwört dem Teufel ab, das Wasser reinigt ihn von der Erbsünde, das Salz erfüllt ihn mit echter Weisheit, und das Mittagessen, zu dem er seine Brüder und Schwestern in Christo in die Trattoria »Da Pennello« einlädt, verstärkt den Zusammenhalt mit den Mitgliedern der Gemeinschaft, in der sich, was Eifer und Zielstrebigkeit betrifft, zwei Damen besonders auszeichnen.
Ein Foto dieser beiden frommen Frauen zu Seiten des Ägypters illustriert den Artikel. Die eine – groß und mager, das knochige Gesicht gerahmt von langen glatten Haaren – heißt Zoe. Die andere ist Verena, auch sie nicht eben anmutig, aber insgesamt weicher. Zoe ist die unermüdliche Seele der Gruppe, während »die stille Verena« dem Verfasser zufolge »der Freundin wie ein schemenhafter Schatten folgt«.
Auf dem Foto ist Zoe nichts als spitze Winkel und offensichtlich sehr darum bemüht, ihre Beine mit dem Rock zu bedecken. Idris thront im Schneidersitz zwischen den beiden. Sein Gesicht ist Zoe zugewandt, aber aus den Augenwinkeln schaut er Verena verstohlen an. Scalzi fällt auf, dass das Lächeln der Verschwundenen auf diesem Bild ängstlicher wirkt. Verena scheint bereits mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Scalzi hat beschlossen, seinen heutigen Besuch im Gefängnis ausschließlich Fami zu widmen.
Aus dem Flur tönen aufgeregte Stimmen. Scalzi geht zur Tür der Sprechzelle.
In einer Ecke des Flurs ist ein Rollstuhl steckengeblieben, aus dem Idris’ massiger Körper, völlig mit Verbänden bedeckt, hervorquillt. Mit dem einen Fuß, der geschwollen und ebenfalls verbunden ist, ist er gegen die Mauer gestoßen.
»Los, schieb weiter«, sagt der wachhabende Beamte, ohne sich vom Schreibtisch zu erheben.
»Ich kann nicht, er steckt fest«, keucht eine Stimme.
»Dann dreh den Rollstuhl eben um. Das kann doch nicht so schwer sein, du Blödmann.«
»Sehen Sie denn nicht, dass er eingeklemmt ist, verdammt?«
Der Sanitätshelfer, dem die Stimme gehört, ist immer noch hinter der Ecke verborgen. Man sieht nur seine Hände an den Griffen des Rollstuhls.
»Mann«, regt sich der Wachhabende auf, »gehen Sie nach vorn, Sie Idiot! Ziehen Sie!«
»Vorsicht! Mein Fuß!« brüllt Idris.
Der Sanitätshelfer quetscht sich zwischen Wand und Rollstuhl, kniet sich vor das Gefährt, greift mit beiden Händen nach einem Rad und zieht mit einem heftigen Ruck: Der Rollstuhl bäumt sich auf, und die Ladung fällt zu Boden. Fami brüllt, rollt vom Bauch auf den Rücken und hebt eine Hand voller Sägespäne, wie zu einem letzten Gruß.
»Ich hab’s ja gewusst!« meint die Wache ungerührt und fügt in breitem Neapolitanisch hinzu: »Du stinkst wie ein Pisspott!«
Scalzi nähert sich dem Unfallort, um zu helfen, und muss feststellen, dass die neapolitanische Metapher nicht ganz unzutreffend ist. Der Sanitätshelfer ist in Schweiß gebadet und riecht wirklich ausgesprochen streng – nicht nur nach Schweiß.
Sie heben Fami hoch und schleifen ihn in die Sprechzelle. Er verströmt einen unangenehmen Geruch nach Desinfektionsmittel. Der Sanitäter entfernt sich und taucht mit dem Rollstuhl wieder auf. Mit einem Ruck schiebt er ihn über die Schwelle. Der Stuhl rollt auf Fami zu, der anfängt zu jaulen wie ein Hund, der sein Herrchen wiedergefunden hat. Fami wirft einen vorwurfsvollen Blick auf den Stuhl: »Sehen Sie dieses Objekt, Avvocato? Es knarrt, es klemmt, die Fußstütze fehlt. Wie aus einem Feldlazarett vor dem Ersten Weltkrieg.«
Fami blutet an einer Hand, er hat sich an den Speichen verletzt.
»Avvocato, in diesem Gefängnis kurieren sie mich nicht, sie bringen mich um. Ich habe Verbrennungen dritten Grades. Und das hier hat mir gerade noch gefehlt.«
»Möchten Sie, dass wir das Gespräch verschieben?«
Mit der Fingerspitze berührt Fami einen rötlichen Fleck auf dem Verband an seinem Arm. »Gegen Verbrennungen hilft Merkurichrom überhaupt nicht. Es ist sogar kontraindiziert. Das habe ich auch dem Arzt gesagt. Wissen Sie, was er geantwortet hat?«
»Ich kann auch morgen wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Das Blut strömt reichlich. Die Kante des Schnitts ist ausgefranst, und er zieht sich über die gesamte Handinnenfläche. Mit zwei Fingern der gesunden Hand holt Fami aus seiner Hemdtasche einen Zettel und deutet mit einem Fingernagel, so lang wie der eines Gitarristen, auf die arabischen Schriftzeichen. »Ich möchte gerne wissen, ob das italienische Gesetz…«
»Wenn wir weitermachen sollen«, unterbricht ihn Scalzi, »dann würde ich gern die Fragen stellen.«
Das Gefängnis regt zum Nachdenken an. Mit Ausnahme einiger weniger werden die Häftlinge in kürzester Zeit spitzfindige Juristen, sogar die Analphabeten, und der hier, der immerhin ein Intellektueller ist, erst recht. Es gibt Themen, die im Keim erstickt werden müssen, wenn das Gespräch sich nicht auf »wenn« und »aber« beschränken soll.
»Wann haben Sie Ihre Gattin zum letzten Mal gesehen?« fragt Scalzi und öffnet die Akte.
Famis Gesichtsausdruck verfinstert sich, und er wirft Scalzi einen misstrauischen Blick zu. Am Anfang kommt es häufig vor, dass der Mandant befürchtet, sein Anwalt könne ein Polizeispitzel sein.
»Es blutet stark«, sagt er, »vielleicht sollte ich es irgendwie verbinden.«
»Möchten Sie auf die Krankenstation?«
»Nein. Da würden sie mir ja doch nur wieder Merkurichrom verabreichen, und das nützt nichts. Und das hohe Infektionsrisiko! In diesem Gefängnis hier ist alles so schrecklich schmutzig.«
»Machen wir also weiter, ja?«
Idris atmet tief durch, der letzte Zug ist fast ein angewidertes Schnauben.
»Schließlich haben Sie mich mit Ihrer Verteidigung beauftragt«, sagt Scalzi.
»Dieses Gefängnis ist dreckig. In die Zellen regnet es hinein.«
»Sind die Gefängnisse in Ägypten etwa komfortabler?«
»Keine Ahnung. Ich bin zum ersten Mal im Knast. Und das ist kein Vergnügen, wissen Sie?«
»Das glaube ich gern«, stimmt Scalzi zu.
Fami pustet auf die Wunde, holt ein Taschentuch hervor und tupft sie ab.
»Also«, sagt Scalzi, »die letzte Begegnung. Ich möchte wissen, wann und wo Sie sie gesehen haben: genaue Zeit, exakter Ort.«
»Wo soll ich sie schon gesehen haben? Wir wollten nach Alexandria, und wir waren in Alexandria. Ich zuerst, dann kam sie nach. Wir haben uns bei ihrer Ankunft getroffen.«
»Ist sie sofort verschwunden?«
»Wer hat denn das behauptet?«
»Sie selbst. Erinnern Sie sich, was ich Sie gefragt habe? Soll ich die Frage wiederholen?«
»Wir waren in Alexandria, okay? Sie hat ein Taxi genommen. In Alexandria gibt es zwei Arten von Taxis. Die Mashrua unterstehen der Stadtverwaltung und sind billiger. Das sind so eine Art kleiner Busse, die immer die gleiche Strecke abfahren und anhalten, wenn jemand winkt. Die Strecke ist festgelegt, aber nicht die Haltestellen. Und dann gibt es noch die Limousinen der privaten Taxiunternehmer …«
»Nicht diese Art von Details, bitte. Beschreiben Sie mir Ihre letzte Begegnung.«
»Sie ist in eines der städtischen Taxis gestiegen. Das ist meine letzte Erinnerung: Signora Verena hält ein Mashrua-Taxi an und steigt ein. Okay?«
»Wo?«
»Vor dem Hotel.«
»Vor welchem Hotel?«
»Hotel Mamaya, da waren wir abgestiegen. Wollen Sie wissen, wo es liegt? Nicht weit vom italienischen Konsulat entfernt, Richtung Stadtmitte. Man biegt auf der Höhe des Platzes vor dem Konsulat von der Uferstraße ab und fährt dann fünfhundert Meter bergauf Richtung Altstadt…«
»Schon gut. Warum ist Verena allein ins Taxi gestiegen?«
»Das habe ich doch schon gesagt: es war ein städtisches Taxi. Solange Platz ist, steigen Passagiere zu.«
»Es war nur noch Platz für eine Person?«
Fami senkt den Kopf und betrachtet seine verletzte Hand: »Es blutet immer noch.«
»Ja?« insistiert Scalzi. »War das der Grund?«
Fami sieht ihn schweigend an und schüttelt den Kopf: »Nein.«
»Also?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzählen Sie sie.«
»Da ist noch etwas Wichtiges, was ich fragen wollte«, sagt Fami und studiert wieder seine Aufzeichnungen.
»Was wichtig ist, bestimme ich. Also?«
»Verena war auf eine Hochzeit eingeladen worden, von einer Verwandten der Braut, der Schwester oder der Cousine, die als Zimmermädchen im Mamaya arbeitete. Ich hatte es ihr verboten, aber sie wollte unbedingt da hingehen.«
»Haben Sie Streit gehabt? Deswegen?«
»Avvocato, ich möchte, dass Sie mich als dringenden Fall in ein öffentliches Krankenhaus einliefern lassen. So schnell es geht, verstehen Sie?«
Scalzi beschließt, ein finsteres Gesicht zu machen.
»Hören Sie zu, Fami. Sie werden des Gattenmordes beschuldigt. Ich bin Ihr Verteidiger, nicht Ihr Arzt. Wenn Sie sich nicht wohl fühlen, verschieben wir unsere Unterredung, bis es Ihnen wieder besser geht, aber wenn wir weitermachen, dann müssen wir über den Prozess sprechen.«
»Über den Prozess?«
»Ja, über den Prozess. Ihnen wird der Prozess gemacht werden, wussten Sie das nicht? Sie werden des Mordes an Ihrer Frau beschuldigt.«
»Signora Mammoli ist nicht ermordet worden, sie ist verschwunden.«
»Das sagen Sie, der Staatsanwalt ist da anderer Ansicht.«
»Das Verschwinden Signora Mammolis hat mit meiner Verhaftung überhaupt nichts zu tun. Ich bin aus einem ganz anderen Grund unschuldig hier eingesperrt worden.«
»Und der wäre?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Lassen Sie mich zuerst ins Krankenhaus bringen.«
»Haben Sie mir deshalb Ihre Verteidigung übertragen? Damit ich dem Richter einen Antrag auf Verlegung in ein normales Krankenhaus überreiche?«
»Nicht nur deshalb. Natürlich möchte ich auch, dass Sie mich verteidigen, aber es ist wirklich sehr wichtig, dass ich ins Krankenhaus komme.«
»Schön, ich werde den Antrag stellen. Aber ich sage Ihnen jetzt schon: Wir haben nicht die geringste Chance, dass ihm stattgegeben wird. Wenn er abgelehnt wird, schicken Sie mir ein Telegramm, und ich komme wieder. Um über den Prozess zu sprechen. Haben wir uns verstanden?«
Scalzi steht auf, schließt die Akte und steckt sie in seine Tasche.
»Warten Sie«, sagt Idris, »was wollten Sie wissen?«
Scalzi setzt sich unwillig wieder hin. »Ich möchte alles mögliche wissen – falls Sie bereit sind, mit Ihrem Verteidiger zu reden. Aber Sie sind so verstockt, als würden Sie einem Polizisten gegenübersitzen.«
»Einverstanden. Fragen Sie.«
»Sie haben von einem Fest erzählt. Warum sollte Verena da nicht hingehen?«
»Es war kein richtiges Fest«, antwortet Idris, »jedenfalls kein Hochzeitsfest wie bei Ihnen hier in Italien, mit Mittagessen im Restaurant und so weiter. Bei uns macht man nach der Zeremonie eine Prozession, von einem waqf zum anderen.«
»Von wo?«
»Vom waqf des Brautpaars durch die benachbarten waqf, durch das ganze Viertel.«
»Was ist ein waqf?«
»Nach altem muselmanischem Recht ist es eine Stiftung von Immobilien, die dem Kult oder wohltätigen Zwecken dienen, aber mit der Zeit ist dieser Brauch verkommen. Heute bringt der Gründer seinen gesamten Immobilienbesitz in einen waqf ein, um zu verhindern, dass nach seinem Tod das Erbe zerstückelt wird.«
»Und was hat das, bitte schön, mit dem Hochzeitszug zu tun?«
»Sie haben mich doch gefragt, was ein waqf ist.«
»Ja, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
»Der Zusammenhang ist der«, antwortet Fami genervt, »dass das Wort waqf heute einen Stadtteil bezeichnet. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Um zusammenzufassen«, sagt Scalzi mit einem leisen Seufzer, »als Sie sie zum letzten Mal gesehen haben, war Verena im Taxi auf dem Weg in ein Stadtviertel von Alexandria.«
»In einen waqf, nicht in ein Stadtviertel.«
Das wird nichts mehr mit diesem Archäologen, denkt Scalzi. Früher oder später schicke ich ihn zum Teufel. »Aber haben Sie denn nicht gesagt, dass das das gleiche ist? Ich möchte wissen, ob Sie Streit gehabt haben und warum Sie ihr davon abgeraten haben.«
»Ein waqf ist auch eine große Familie.« Fami verdreht die Augen zur Decke. »Um das Haus des Gründers stehen die anderen Häuser, die der Söhne, der Neffen und der Bediensteten. Es ist wie ein mittelalterliches Dorf, das um eine Burg gebaut ist. Und in diesem Sinne ist ein waqf ein Stadtteil geworden.«
»Na schön, es ist also nicht das gleiche. Aber kommen wir wieder auf den Punkt.«
»Im Sommer finden die Hochzeitszüge bei Nacht statt. Der waqf der Braut, um die es hier geht, ist sehr heruntergekommen, er liegt mitten in Attarin, dem ärmsten Teil der Stadt. Der Gründer dieses waqf ist schon seit langem verstorben, und der Nachfolger hat alles verlottern lassen. Die Straßen sind in schlechtem Zustand, voller Müll, nachts stockdunkel, und die Häuser sind verfallen. Das Zimmermädchen, das Verena eingeladen hatte, war eine Dienerin, eine mauricaude, ebenso wie die Braut. Arme Leute. Die Tavernen schenken für die Teilnehmer eines Hochzeitszugs gratis bouza aus. An jeder Ecke bleiben sie stehen und trinken. Der Koran verbietet zwar den Genuss von Alkohol, aber das ist eine der Regeln, die bei uns wenig respektiert werden. Auf den Schwellen der Häuser, die am Weg des Brautpaars liegen, werden die Wasserpfeifen aufgereiht, und auch Haschisch wird gratis verteilt. Nach der Hälfte des Rundgangs sind alle sturzbetrunken, sogar die Kinder. Es kann jederzeit zu einer Schlägerei kommen. Sind Sie der Ansicht, dass eine Dame wie Verena an so etwas teilnehmen sollte?«
»Ehrlich gesagt, nein. Ich finde es ziemlich seltsam, dass sie bei solch einem Gelage dabei sein wollte.«
»Nicht wahr? Dieser Meinung war ich auch. Aber Verena war …« – Fami sieht Scalzi in die Augen: »Soviel ich weiß, sollte ich wohl immer noch ›ist‹ sagen, nicht wahr, Avvocato?« – »… eine Frau voller Widersprüche. Sehr religiös, voller moralischer Skrupel… aber auch sehr neugierig und reiselustig. Als ich sie kennenlernte, war sie bereits sehr viel herumgekommen. Sie war im Sudan gewesen, in der Sahara, sie hatte sogar ein Kloster in Tibet besucht. Und je mehr ich sie auf die Risiken hinwies – die Betrunkenen, das Haschisch, die Atmosphäre in Attarin, elektrisierend wie das Magnetfeld einer Batterie –, desto fester war sie entschlossen, da hinzugehen.«
»Und warum haben Sie sie dann nicht begleitet?«
»Wie ich schon gesagt habe, ein waqf ist auch eine Familie …«
»Fangen sie nicht schon wieder mit diesem waqf an«, protestiert Scalzi, »sagen Sie mir lieber, warum Sie Ihre Frau nicht auf das Fest begleitet haben?«
»Lassen Sie mich doch erzählen. Sie wollen etwas wissen, aber Sie lassen mich nicht ausreden. Mein waqf grenzt an den der Brautleute, von denen wir sprechen, an, ist kleiner, aber viel anständiger. Meine Familie ist ganz anders und unterhält keine gutnachbarlichen Beziehungen zu der des Brautpaares. Im Gegenteil, wir sind verfeindet. Es ist eine Schande, dass es so heruntergekommene Familien gibt wie die des Zimmermädchens aus dem Mamaya. So war meine Familie natürlich zu der Hochzeit auch nicht eingeladen. Die Häuser meines waqf waren verrammelt und verriegelt worden, und alle meine Verwandten waren in unser Haus am Meer gefahren. Es kommt eben manchmal vor, dass zwischen einem waqf und dem anderen solche Zwistigkeiten entstehen.«
Scalzi erinnert sich an den Palio von Siena, an den Hass unter den Contraden und die Raufereien nach dem Rennen. Diesen Vergleich könnte er bei der Verhandlung benutzen. Er spitzt seinen Bleistift, lässt die Holzspäne in den Aschenbecher fallen und notiert sich dann: »Hochzeit siehe Palio.«
»Und diese Maurin, das Zimmermädchen, hat Verena auch nicht begleitet?«
»Nein. Die mauricaude hatte das Hotel schon vorher verlassen, weil sie ihrer Schwester beim Ankleiden behilflich sein musste. Sie waren im Haus der Braut verabredet: Verena wollte das Zimmer des Brautpaars sehen. Die mauricaude hatte ihr erzählt, dass es dort drei Betten gäbe, zwei zum Schlafen und eines für die Liebe.« In Famis ambrafarbenen Augen blitzt Bösartigkeit auf. »Verena gefiel die Sache mit den drei Betten, und sie hat mich gefragt, warum wir in unserem Haus in Italien nicht auch drei Betten aufstellen. Aber unser Schlafzimmer war viel zu klein dafür, wie übrigens das ganze Haus.«
»Ach ja, was das Haus in Italien betrifft«, sagt Scalzi, »ich habe in der Zeitung gelesen …«
Die Tür wird plötzlich aufgerissen, und es erscheint der Bereichsleiter.
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Avvocato, aber dieser Herr soll sofort auf die Krankenstation kommen.«
»Wir sind noch nicht fertig«, sagt Scalzi.
»Ich habe gesagt, sofort, wir haben schon genug Zeit verloren. Der Sanitätshelfer hat mir erst jetzt mitgeteilt, was passiert ist. Signor Fami muss sofort behandelt werden. Ich möchte nicht, dass er sich hinterher überall beschwert, dass er nicht rechtzeitig medizinisch versorgt worden ist. Er ist nämlich der Ansicht, dass ihn in diesem Gefängnis jemand umbringen will und dass wir alle unter einer Decke stecken.« Der Bereichsleiter kommt in Fahrt: »Ich habe die Nase gestrichen voll von Signor Fami, nach der Sache mit dem Brand. Wissen Sie, dass er eine Eingabe beim Ministerium gemacht hat? Er behauptet, man hätte ihm im Laden eine präparierte Gaspatrone verkauft, die eingekerbt worden war, damit sie in die Luft ging. Und ich hätte ihn nicht rechtzeitig medizinisch behandeln lassen, und der Direktor hätte es abgelehnt, ihn in ein Krankenhaus zu verlegen, weil auch er die Absicht habe, ihn umzubringen.«
Fami nickt zustimmend mit dem Kopf.
»Ach ja, nicht wahr?« ereifert sich der Bereichsleiter. »Sehen Sie, was der Herr Gefangene für eine falsche Schlange ist? Was sollte ich wohl gegen Sie haben, Fami? Was gehen mich denn Ihre Scherereien an?«
Fami wackelt nachsichtig mit dem Kopf und lächelt Scalzi verschwörerisch zu.
»Wache!« brüllt der Oberaufseher, »schick mir den Sanitätshelfer!«
»Zu Befehl!« hört man die Stimme des wachhabenden Beamten, jetzt sehr dienstbeflissen.
Keuchend kommt der Sanitäter herbeigerannt. »Komm her, du Fettsack«, empfängt ihn der Bereichsleiter und schiebt den Rollstuhl neben Famis Platz. »Hilf mir. Warum hast du ihn vorhin fallen lassen?«
»Das war nicht meine Schuld«, verteidigt sich der Mann. »Er hat das Gleichgewicht verloren.«
Bereichsleiter und Sanitätshelfer heben den Ägypter hoch, der keinen Muskel bewegt und überlegen und gleichgültig tut. Der Sanitätshelfer schiebt den entsetzlich quietschenden Rollstuhl auf den Flur hinaus.
»Eines sage ich dir, du Blödmann«, brüllt der Aufseher ihm nach, »wenn du ihn noch einmal irgendwo anstoßen lässt, dann schicke ich dich auf die Asinara!«
Zuvorkommend hält er Scalzi die Tür auf und begleitet ihn bis zum Ausgang.
»Ich ertrage diesen Kerl einfach nicht mehr, wissen Sie? Er ist noch nicht mal einen Monat hier in Untersuchungshaft und hat sich schon eine Lebensmittelvergiftung zugezogen. Er hat eine Taube gegessen, die bereits halb verwest war. Eine Stadttaube, die er mit irgendeinem Trick gefangen hat, wie weiß ich auch nicht. Er hat sie abhängen lassen und sie dann zubereitet, mit matschigem Reis gefüllt und mit Gewürzen und anderen verbotenen Schweinereien, wie man das bei ihm zu Hause eben macht, ich kenne das Rezept nicht. Jedenfalls hatte er den Vogel zu lange abhängen lassen, und ihm ist schlecht geworden. Sie können sich gar nicht vorstellen, was er überall herumerzählt hat, nachdem der Arzt ihm den Magen ausgepumpt hatte. Dass er vergiftet werden sollte, dass jemand ihm Arsen ins Salz getan hätte. Seitdem lehnt er die Gefängnisverpflegung strikt ab, und wenn der Hausarbeiter ihm Kaffee oder Milch bringt, schüttet Fami ihm alles sofort über die Füße. Und dann dieser Brand. An dem war er schuld, meiner Meinung nach hat er selbst die Gaspatrone angeritzt. Die Matratze und die Bettwäsche haben Feuer gefangen, die ganze Abteilung hätte abbrennen können. Er hätte an Rauchvergiftung sterben können, wenn wir nicht rechtzeitig eingegriffen hätten. Und wir haben ihn behandeln lassen wie einen Prinzen, der Gefängnisarzt hat einen Verbrennungsspezialisten hinzugezogen, einen Professor, der eigens aus Pisa gekommen ist. Und anstatt uns dankbar zu sein, hat er mit den Anfragen, Beschwerden und Eingaben angefangen. Und wollen Sie wissen, mit wem Signor Fami sich gut versteht? Mit Ihrem anderen Mandanten, diesem Alex. Den verteidigen Sie doch auch, stimmt’s, Seine Eminenz den Marchese Alex Degli Ubaldini? Den ›Langen‹, wie ihn seine drogenabhängigen Kumpels nennen. Sie haben sich zusammengetan, die beiden, verehrter Avvocato, und haben sich in den Kopf gesetzt, allen den letzten Nerv zu rauben. Aber bei mir stoßen sie auf Granit, da beißen sie sich die Zähne aus. Ich lasse sie in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegen. Sie können sich schon mal auf ein paar lästige Dienstreisen einstellen, Signor Scalzi, es tut mir wirklich leid für Sie. Aber ich lasse die Freunde nach Pianoro bringen, alle beide.«