Nr. 2913
Das neue Imperium
Ein Schiff geht unter – und ein Reich entsteht
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Im Verhörzimmer (1)
2. Papa Uh dreht durch
3. Im Verhörzimmer (2)
4. Begegnung der besonderen Art
5. Im Verhörzimmer (3)
6. Vom Nordpol zur Brücke ins Licht
7. Im Verhörzimmer (4)
8. Von Triebwerken und Gästen
9. Im Verhörzimmer (5)
10. Begegnungen
11. Im Verhörzimmer (6)
12. Entscheidungen
13. Im Verhörzimmer (7)
Leserkontaktseite
Glossar
Clubnachrichten
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Wir schreiben das Jahr 1551 NGZ, gut dreitausend Jahre vom 21. Jahrhundert alter Zeitrechnung entfernt. Nach großen Umwälzungen in der Milchstraße haben sich die Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Sternenreichen beruhigt; im Großen und Ganzen herrscht Frieden.
Vor allem die von Menschen bewohnten Planeten und Monde streben eine positive Zukunft an. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.
Trotz aller Spannungen, die nach wie vor bestehen: Perry Rhodans Vision, die Galaxis in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, scheint sich langsam zu verwirklichen. Man knüpft sogar vermehrt Kontakte zu anderen Galaxien. Gegenwärtig befindet sich Rhodan selbst im Goldenen Reich der Thoogondu, die ebenfalls eine Beziehung zur Milchstraße aufbauen wollen.
Die Thoogondu waren einst ein erwähltes Volk von ES, ehe die Superintelligenz sie aus der Milchstraße verbannte. Nun herrschen sie in der fernen Galaxis Sevcooris und freuen sich über ES' Verschwinden. Geheimnisse umgeben die Thoogondu, darunter jenes der Gäonen: Denn diese sind Menschen – und herrschen über DAS NEUE IMPERIUM ...
Perry Rhodan – Der Terraner erfährt Details über die Vergangenheit.
Gi Barr – Der Gäone unterhält sich mit einem Gegner.
Pincas Nikolov – Der Terraner sorgt sich um die Sicherheit der Seinen.
Maeva Aponte – Die Kommandantin der ORION sorgt sich um ihr ungeborenes Kind.
Lisi Schiller – Die Homo superior übernimmt Verantwortung.
Papa Uh – Ein gefährlicher Gegner drangsaliert die ORION.
1.
Im Verhörzimmer (1)
»Es ist eine Geschichte voller Tragik«, sagte Gi Barr. »Sie handelt von Opferbereitschaft. Von Angst und Hoffnungslosigkeit. Von Verzweiflung – und von Schwäche. Von einer Schwäche, die sich letztlich zu unserem Vorteil umkehrte und zur Gründung eines neuen Imperiums führte.«
»Das klingt jetzt alles ein wenig arg dramatisch, um nicht zu sagen: schwülstig.« Perry Rhodan verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete konzentriert sein Gegenüber. »Das erhöht nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit.«
»Es ist die Geschichte der Gäonen, und ich bin Teil davon.«
»Natürlich. Was denn sonst?« Rhodan seufzte. »Was meinst du, wie oft ich gehört habe, dass jemand bloß seine Pflicht tut? Die Verantwortung für sein Handeln übernehmen – das macht kaum jemand.«
»Möchtest du dich auf eine Diskussion über meine Wertevorstellungen und die des Zweiten Solaren Imperiums einlassen, oder möchtest du dich mit mir unterhalten?«
Der Gäone wirkte müde und ausgelaugt, so, wie er dasaß, auf dem Boden, gegen einen Stuhl gelehnt. Doch Rhodan durfte sich nicht täuschen lassen. Im haarlosen Schädel seines Gegenübers steckte ein bestens funktionierender und geübter Verstand. Ein Gespräch mit Gi Barr würde ihn fordern.
»Ich möchte so viel wie möglich über das Zweite Solare Imperium wissen«, sagte Rhodan. »Gib mir eine Chance, so etwas wie Verständnis für dich und deinesgleichen aufzubringen.«
»Besteht eine Möglichkeit, dass wir unter vier Augen reden?«
»Nein.« Rhodan deutete nach oben, auf einen der beiden Kampfroboter, die links und rechts von ihm schwebten. »Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht über die Köpfe unserer Gastgeber hinweg entscheiden. Die Vanteneuer haben strengste Bewachung für dich angeordnet. Dazu gehört, dass zwischen uns beiden stets ein Energieschirm und diese transparente Hartplastscheibe bleiben wird.«
»Selbstverständlich.« Gi Barr grinste. »Die Vanteneuer tun gut daran, mich zu fürchten.«
Rhodan wusste über einige Grundfunktionen der Technik im Verhörraum Bescheid. Er berührte eine Schaltfläche und sorgte dafür, dass die Tonverbindung unterbrochen wurde. Er wandte sich seiner Begleiterin zu, Penelope Assid.
»Was denkst du über ihn?«, fragte er.
»Er ist müde, er hat noch Schmerzen von den Auseinandersetzungen mit uns«, sagte die Halbterranerin. »Dass er seinen Anzug nicht mehr tragen darf, irritiert ihn und lähmt in gewissem Sinne seine Widerstandskraft.«
Sie hob die Rechte, um Rhodan am Reden zu hindern. »Das bedeutet aber nicht, dass Gi Barr an Gefährlichkeit verloren hätte, ganz im Gegenteil. Er sieht seine Chancen in dieser Unterhaltung. Er ist ein höchst kompetenter Gesprächspartner. Er weiß, was er zu sagen hat und wie er seine Worte möglichst effektiv einsetzen kann.«
»Das heißt?«
»Momentan liegt ihm daran, Zeit zu gewinnen. Und Vertrauen aufzubauen. Dazu kommt eine gewisse Portion Neugierde. Er möchte dich näher kennenlernen und deine Reaktionen auf seine Erzählungen ausloten. Wenn er also zu reden beginnt, achte darauf, nicht zu viel von dir selbst preiszugeben. Bleib nüchtern, zeig keinerlei Emotionen. Biete ihm wenig Angriffsfläche. Er wird versuchen, dich aus der Reserve zu locken.«
Assid unterstützte ihre Worte mit dem Einsatz ihrer Hände. Rhodan schätzte die Xenolinguistin sehr; doch er musste auch darauf achten, nicht ihren schwach ausgeprägten Parakräften zu unterliegen. Sie war eine Meisterin darin, Gespräche stets sanft in eine bestimmte Richtung zu lenken – und zwar in ihre Richtung.
»Würdest du erkennen, falls Gi Barr lügt?«
»Noch nicht. Es kommt darauf an, wie sich das Gespräch entwickelt. Ich werde versuchen, seinen Duktus zu analysieren, seine Körpersprache, seine Reaktionen. Seine terranische Abstammung macht es mir ein wenig leichter. Auch wenn ich berücksichtigen muss, dass er und seine Leute seit mehr als tausendfünfhundert Jahren nicht mehr mit der Milchstraße in Berührung gekommen sein sollten.«
»Verstanden.« Rhodan wollte nicht weiter über derart heikle Themen sprechen. Er fühlte sich selbst beobachtet. Von ihren Gastgebern, von den Vanteneuern. Die klein gewachsenen Humanoiden mit den deutlich ausgeprägten und halbkugelförmigen Facettenaugen, die sie an Stelle eines Kopfes auf dem Rumpf trugen, verfolgten alles, was in diesen Räumlichkeiten gesprochen wurde.
Rhodan schaltete den Ton wieder zu. Der Gäone trank Wasser aus einem Gefäß in Form einer Schüssel.
»Was ist das auf deinem Tisch?«, fragte Rhodan und deutete auf einige faltige Blätter, die auf dem Tisch verstreut lagen.
»Das? – Es sind harmlose Blütenblätter.«
Gi Barr nahm eines davon zwischen zwei Fingernägeln hoch, brachte es nahe heran an das trennende Fenster und ließ es Rhodan sehen. Es war saftlos, runzlig und ausgetrocknet. Dennoch ging eine besondere Faszination von dem Blütenblatt aus. Es war schlichtweg schön.
»Ich trage die Blätter seit langer Zeit bei mir. Die Vanteneuer haben sie untersucht und mir auf meine Bitte hin zurückgegeben.«
»Erinnern sie dich an deine Heimat?«, hakte Assid nach.
»Sie erinnern mich an vieles. Sie haben für jeden von uns Gäonen eine ganz besondere Bedeutung.«
Mehr war Gi Barr offensichtlich nicht bereit zu sagen. Nicht zu diesem Zeitpunkt.
»Ich muss gestehen, dass ich neugierig bin«, wechselte Rhodan das Thema. »Wie ist es zur Entstehung des Zweiten Solaren Imperiums gekommen – und wie hat es euch nach Sevcooris verschlagen, in eine Galaxis, Millionen von Lichtjahren von der Milchstraße entfernt?«
Gi Barr kehrte zu seinem Tisch zurück. Es war ihm anzumerken, dass er Schmerzen litt und verspannt war. Er ließ sich nieder und blickte Rhodan unmittelbar an.
»Ich möchte eine Vereinbarung mit dir treffen, bevor ich erzähle«, sagte der Gäone.
»Du hast nichts zu fordern, Gi Barr. Und ich habe dir nichts zu geben.«
»Sei unbesorgt. Du kannst meine Bitte erfüllen.«
»Ich höre.«
»Du und deine Begleiterin, ihr beurteilt mich. Ihr schätzt mich ein und bewertet meine persönliche Integrität. Sobald ich mit meiner Geschichte am Ende bin, möchte ich ein Urteil von euch hören. Ob ihr eure Meinung über mich geändert habt – und wenn ja, in welchen Bereichen. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Rhodan nickte, der Gäone begriff.
Es kam genau so, wie Pen es prophezeit hatte: Gi Barr machte Anstalten, sie beide in seinem Sinne zu manipulieren. Er wollte Vertrauen aufbauen und sie dazu bewegen, seine Sicht der Dinge zu beurteilen, in seine Rolle zu schlüpfen.
Rhodan erkannte die Gefahr. Er musste darauf achten, sich nicht allzu tief in die Wertewelt des Gäonen drängen zu lassen.
Du bist ein ganz schön raffinierter Schweinehund, dachte Rhodan. Aber ich gehe dir sicherlich nicht auf den Leim. Mit Kerlen wie dir habe ich es seit Tausenden von Jahren zu tun.
Er setzte sich ebenfalls an einem Tisch nieder. Er starrte Gi Barr an und wartete. Pen blieb stehen, die beiden Kampfroboter der Vanteneuer schwebten regungslos in der Luft.
»Es begann alles an Bord des Ultraschlachtschiffs ORION«, sagte der Gäone und atmete tief durch. »Es war der 20. Juli 3441 ...«
2.
Papa Uh dreht durch
Es waren Schrapnelle. Haken, angeschliffene Ösen, bizarr verbogene Metallteile mit Widerhaken. Sie entluden sich aus zwei Geschossen, die links und rechts des Weges verborgen waren, hinter Müllhaufen, die beinahe bis zur Decke reichten.
Fran Kubelik erwischte es als Erste. Sie brach stumm zusammen, gespickt von den verdammten Dingern. Dann schrie Sandra Burghese, dann jammerte Petar Novikam.
»Zu mir! Los, los!«, rief Nikolov und warf sich hinter mehrere gegeneinander gestützte Ynkonit-Metallpaneele, die eine charakteristische Rosafärbung aufwiesen. Eine bessere Deckung konnte man nicht finden. Zwei Soldaten fanden sich augenblicklich bei ihm ein, die anderen verbargen sich vorerst irgendwo. Sie warteten auf eine Gelegenheit, zu ihm zu gelangen.
Er würde sie ihnen geben.
Nikolov lugte seitlich hinter den Ynkonit-Blechen hervor und entdeckte die beiden Geschütze. Dahinter hockten jeweils zwei Terraner ohne Schutzanzüge, die stumpf vor sich hin glotzten.
Er feuerte mit seinem Strahler in die ungefähre Richtung der beiden kleinen Gruppen. Metall schmolz, ein kleiner Müllberg brach in sich zusammen, Staub und Ruß breiteten sich in der Luft aus.
»Jetzt!«, rief er, Nikolovs Leute sprangen auf und eilten auf ihn zu, während er ihnen mit weiteren Schusssalven Rückendeckung gab.
Sie waren zu acht. Falsch. Zu siebt. Kubelik ist tot, ihr Körper von Schrapnellen zersiebt.
Burghese und Novikam hingegen schafften es, humpelnd, blutend und fluchend, von Kameraden gestützt. Sie warfen sich seitlich eines Bergs aus Kunststoffverkleidungen und Metallschrott zu Boden, um dort vom einzigen Sanitäter der Gruppe untersucht zu werden.
Nikolov feuerte indes weiter mit seinem Thermostrahler in Richtung ihrer Feinde. Er berührte den Abzug nur ganz sachte. Er musste Energie sparen – und er wollte nicht töten.
Die Sicht besserte sich, aufseiten ihrer Gegner blieb es ruhig. Erhitztes Metall knisterte. Mehrere dünne Rinnsale flüssigen Kunststoffs erkalteten rasch und bildeten Fäden aus, die wie dunkles, bizarr geformtes Lametta von den Müllbergen hingen.
Da und dort erkannte Nikolov die Schatten von Feinden, die es nicht verstanden, ihre Deckung gut genug auszunutzen. Sie benahmen sich dumm und ungeschickt. So wie fast alle Besatzungsmitglieder der ORION.
»Wir sollten uns zurückziehen«, riet Bibi Anaitis, seine Stellvertreterin, die wenige Schritte neben ihm hockte. »Wir kehren um und versuchen es in einer Stunde nochmals über eine andere Route. Es gibt genügend Wege durchs Rechte Wirrwarr ...«
»Noch nicht, Bibi. Wir müssen uns ein Bild von der Lage hier machen. Andernfalls bekommen wir bald weiteren Ärger. Was, wenn diese Kerle in Richtung Zentrale vorrücken?«
»Dazu sind sie zu wenig organisiert. Sieh sie dir doch an, Sarge! Sie wissen kaum, was sie hier tun sollen.«
»Aber es gibt jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen und der diesen Hinterhalt vorbereitet hat. Wir müssen wissen, mit wem wir es wirklich zu tun haben.«
Nikolov resümierte: ein sorgfältig geplanter Hinterhalt; zwei Schützen; dazu vermutlich ein halbes Dutzend Leichtbewaffnete, die sich hinter Schutthaufen verbargen und warteten, vermutlich ratlos und von den Anweisungen ihres Auftraggebers abhängig.
Oder war einer der beiden Schützen der Rädelsführer?
Kaum vorstellbar. Dann wäre der Beschuss fortgesetzt worden. Es gab ein Mastermind, das sich noch nicht hatte blicken lassen. Eines, dem Nikolov während der letzten Wochen sicherlich schon einmal begegnet war.
Thelma »Nasenbohrer« Zhin vielleicht, die ehemalige Offizierin, die ihren Spitznamen mit Stolz trug. Sie hatte sich selbst beide Nasenflügel von oben bis unten aufgeschlitzt und streute sich angeblich täglich Salz in die niemals verheilende Wunde, um sich mithilfe des Schmerzes ein kleines bisschen Verstand zu bewahren. Oder Potty von Deck 13, der unter Einfluss eines Drogencocktails die irrwitzigsten Gedanken hegte. Oder die Jungs aus der Kloakenstadt ...
Nikolov hörte ein Quietschen, das durch Mark und Bein ging. Es kam aus dem gegenüberliegenden Bereich der Halle. Er kannte dieses enervierende Geräusch nur zu gut. Damit war klar, wer ihr eigentlicher Gegner war.
»Wo sind denn meine Lieblinge?«, hörte er eine fistelige Stimme. »Kommt nur, kommt, zeigt euch! Ich möchte mit euch spielen!«
»Er kann uns gewiss orten«, flüsterte Bibi neben ihm. »Wir müssen abhauen!« Sie hatte die Augen weit aufgerissen, Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Bleib ruhig!«, sagte Nikolov ebenso leise. »Ein Großteil von Papa Uhs Standardfunktionen ist im Arsch.«
»Das wissen wir nicht! Los! Wir müssen uns zurückziehen!«
»Negativ. Burghese und Novikam sind verletzt, die Flugaggregate der Anzüge nicht einsatzbereit. Wir können die beiden nicht zurücklassen. Wir müssen das hier durchstehen.«
»Du weißt genau, dass wir gegen einen TARA-III-UH keine Chance haben. Nicht unter diesen Voraussetzungen.«
Nikolov hieß sie mit einer energischen Handbewegung zu schweigen. Er hatte es satt, ständig gesagt zu bekommen, was alles nicht ging.
Er überlegte ihre Optionen. Es gab nicht viele. Sie konnten, wie von Bibi vorgeschlagen, versuchen, in einem der noch halbwegs sicheren Decks dem Kampfroboter und seinen Leuten zu entkommen. Oder sie blieben an Ort und Stelle und warteten, bis ihre Feinde sich auf ein Konzept einigten und sie einkesselten. Zwischen Bergen von Unrat und Schrott. In einer postapokalyptischen Landschaft, wie sie schlimmer nicht sein konnte.
»Ich komme euch jetzt ho-ho-holen!«, singsangte ihr Gegner, den seine Anhänger Papa Uh nannten. »Ihr könnt mir nicht entko-hommen!«
Wieder ertönte dieses schreckliche Schleifgeräusch, dann ein Rasseln. Irgendwo fiel ein Müllhaufen in sich zusammen, das empörte Quietschen von Ratten war zu hören.
»Los, Papa Uh!«, rief ein Verbündeter des Roboters mit kaum verständlicher Stimme. »Sag uns, was wir tun sollen. Du hast doch einen Plan, nicht wahr? Wir folgen dir. Wir tun alles, was du uns befiehlst.«
»Nur ruhig, meine Schäfchen«, antwortete Papa Uh. »Ihr bekommt früh genug Arbeit. Übt euch in Geduld!«
Es wurde mucksmäuschenstill in der Halle. Nur vereinzelt war das Schnaufen und Husten ihrer Feinde zu hören. Ab und zu das Patschen schwerer Schuhe auf wasserbedecktem Untergrund.
Die beiden Gruppen ihrer Feinde sammelten sich unter den Anweisungen Papa Uhs. Sie befanden sich allem Anschein nach etwa fünfzig Meter zu ihrer Linken und dreißig Meter zu ihrer Rechten, jeweils hinter den größten Müllbergen im Raum.
Novikam stöhnte unterdrückt. Verdammt, ausgerechnet jetzt! Der Sanitäter kümmerte sich um ihn und verabreichte dem ehemaligen Lagermeister ein Schmerzmittel.
Nikolov lugte vorsichtig hinter der Deckung hervor. Papa Uh war nirgendwo zu sehen.
Man wusste nicht viel über ihn. Außer, dass er völlig verrückt war und dass nur ein Teil seiner körpereigenen Instrumentarien funktionierte. Womöglich identifizierte er sie anhand der Wärme- oder mithilfe der Biowerte. Womöglich reichte Novikams Seufzen, um den TARA-III-UH auf ihren Standort aufmerksam zu machen.
»Dieser Haufen unmittelbar neben den verkohlten Papieren«, sagte Bibi, die neben ihn gekrochen war.
»Was ist damit?« Nikolov fokussierte sich auf einen etwa zwei Meter hohen Stoß an Metalltrümmern, die teilweise in- und miteinander verschmolzen waren.
»Sieh dir die Kartuschen an der Basis an. Das sind doch Dewargefäße, oder? Für flüssigen Stickstoff.«
»Mag sein.« Nikolov überlegte. »Ich verstehe, was du meinst. Gute Idee, Bibi.«
Allerdings mit dem Risiko verbunden, dass wir einen Teil unserer Gegner verletzen oder gar töten.
Er musste das Risiko eingehen. Schließlich trug er die Verantwortung für sechs Kameraden – und für sich selbst.
Ein Etwas tauchte mit einem Mal zwischen einzelnen Trümmerhaufen auf. Ein zylindrischer Körper, zweieinhalb Meter hoch, mit zwei Tentakelarmen. In der Greifhand des einen ruhte ein archaisches Hackgerät, eine Art Machete, die der TARA-III-UH immer wieder über den Boden schleifen ließ.
»Er zweifelt noch«, flüsterte Nikolov. »Er weiß nicht hundertprozentig, wo wir uns befinden. Sehr gut. Wir haben eine Chance.«
Er sah sich um und entdeckte Dutzende elektronische Steuerelemente, über den Boden verteilt. Vermutlich hatten sie früher in einem der vielen umgestürzten Regale gelagert.
Er griff nach einem davon. Das Element war faustgroß und für Nikolovs Zwecke ein wenig zu schwer. Doch er durfte nicht lange zweifeln. Er musste handeln. Er hatte bloß diesen einen Versuch.
Er wartete, bis Papa Uh wieder einmal zwischen den Bergen voll Unrat verschwunden war. Er stand auf, leise und vorsichtig. Womöglich würde er von seinen Gegnern entdeckt werden. Es kümmerte ihn nicht. Sie würden eine Weile brauchen, um zu begreifen. Sie waren nun mal langsam von Verstand.
Er wägte die Entfernung ab, schleuderte das Steuerelement gezielt in Richtung der Stickstoff-Flaschen und duckte sich gleich wieder. So, dass er gerade noch über den oberen Rand der Ynkonit-Paneele lugen konnte.
Das Scharren der Machete über Metall war laut zu hören, dann peitschenartige Schläge. Papa Uh folgte dem Geräusch, kam hinter den Müllbergen hervor. Er bewegte dabei seine beiden noch einsatzfähigen Arme wie ein Mensch mit heftigem Tremor.
Nikolov bedeutete seinen Leuten, sich für die Flucht bereit zu machen. Er packte seine Waffe, visierte an und schoss.
Treffer.
Der Thermostrahl fraß sich ins Innere des Stickstoff-Gefäßes, reagierte mit dem kühl gehaltenen Flüssigstickstoff. Das Zeugs siedete, sprengte den Behälter, explodierte.
Weitere Gefäße gingen in der Kettenreaktion hoch. Metallene Gegenstände schossen kreuz und quer durch die Halle. Ein Turm brach in sich zusammen, dann noch einer. Eine helle Dunstwolke legte sich über den Ort des Geschehens – und damit auch über Papa Uh.
»Verschwindet!«, rief Nikolov und stieß Bibi an. »Nehmt die Verletzten mit! Beeilt euch!«
»Und du ...?«
»Du sollst nicht reden, du sollst abhauen!«
Er kümmerte sich nicht weiter um seine Stellvertreterin. Er lief im Zickzack auf den Ort des Geschehens zu, wie er es gelernt und mehrfach bei Einsätzen gemacht hatte: Immer in Bewegung bleiben, das Umfeld im Auge behalten, stets mit dem Schlimmsten rechnen.
Aus dem Nebel raste ein Geschoss auf ihn zu, Nikolov brachte gerade noch den Kopf zur Seite. Der ausgefranste Teil eines Stickstoff-Gefäßes schoss an ihm vorbei und fuhr wuchtig in einen Müllhaufen hinter ihm, womit er diesen zum Einsturz brachte.
Eine grüngelbe Wolke übertünchte den Wasserdampf. Irgendwo mussten Chemikalien ausgelaufen sein, die sich nun als Sprühnebel über seinen Schutzanzug legten.
Er hörte ein Stöhnen. Rechts. Da lag ein Terraner. Er trug bloß noch Kleidungsfetzen, aus seinem Oberschenkel ragte ein meterlanger Plastiksplitter.
Weiter. Auf den Feind zu. Auf Papa Uh, der sich unmittelbar vor ihm befinden musste. Hoffentlich zerstört, in tausend Stücke zerrissen.
Nikolov geriet immer tiefer in die Wolke, wurde von ihr eingehüllt und meinte für einen Augenblick, die Orientierung zu verlieren. Er sah keinen Müll mehr, selbst seine Beine waren ab dem Knie für ihn unsichtbar.
Er schwitzte. Er hatte Angst. Sein Schutzanzug war während der letzten Wochen mehrmals beschädigt und geflickt worden. Was, wenn giftige Gase in das Umwälzsystem gelangten und ihm die Lungen verätzten?
Seinem Gefühl nach musste er jetzt gleich auf Papa Uh treffen. Nikolov packte seinen Strahler fester und atmete so ruhig wie möglich. Rings um ihn knackste und knisterte es, rechts von ihm sprühten Funken.
Er wusste nicht zu sagen, was ihn dazu brachte, sich zu ducken. Es war ein Gefühl. Eine Ahnung, die ihm das Leben rettete.
Etwas fuhr über ihm durch die Luft. Eine Hiebwaffe. Eine Machete.
»Beute!«, sagte Papa Uh. »Ich ha-ha-hab dich! Du gehö-hörst mir!«
Nikolov beugte sich vor, zündete das Antigravaggregat und raste via Handsteuerung in spitzem Winkel Richtung Decke. Er prallte mit dem Nacken auf. Schutzelemente dämpften die Wucht, dennoch schmerzte es gehörig.
»Komm runter zu mir, kleiner Vogel!«, rief Papa Uh. »Lass dich rupfen.«
Nikolov feuerte blindlings nach unten. Er meinte, einen der Tentakelarme aus den Nebelschwaden auftauchen zu sehen, mit Greifern, die gierig nach ihm schnappten.
»Ich erwische dich! Los, komm zu mir!«
Nikolov musste in Bewegung bleiben. Durfte sich zu keiner Reaktion verleiten lassen. Der TARA war trotz seiner vielfältigen Beschädigungen immer noch ein Feind, gegen den er im Nahkampf nicht ankommen würde. Nicht mit den eingeschränkten Möglichkeiten seines Anzugs. Also wechselte er den Standort mehrmals, während er kurze Feuerstöße abgab. In der Hoffnung, den Schutzschirm seines Feindes zu durchdringen.