Carmen Gerstenberger
Erfüllung – Schattenwelt
Das Buch:
Der Wechsel der Welten bringt Solvin und seine Freunde in eine ausweglos scheinende Situation. Nach wie vor sind sie auf der Suche nach dem Heiligen Buch und finden in der New Yorkerin Emma eine treue Hilfe, die ihnen schließlich auch die verteufelte Technik näher bringt. Während die Ältesten ihnen weitere Hinweise und Artefakte inmitten der Großstadthektik hinterlassen haben, kämpfen sie mit den Tücken des Busfahrens, den Fernsehgeräten oder der Tatsache, dass man in New York keine Schwerter offen herumtragen darf. Und dann ist da noch die seltsame Ansicht der Menschen dieser Welt über Vampire und die ständige Frage: Warum glitzern sie hier?
Solvin findet indessen immer mehr Gefallen an Emma, doch als er erkennt, wie es um seine Gefühle steht, bringt ein neuer Feind sie mit altem Wissen in große Gefahr.
Die Autorin:
Carmen Gerstenberger wurde 1977 in Esslingen am Neckar geboren und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern heute in einem kleinen Ort in der Nähe.
Bücher waren schon immer ein wichtiger Teil ihres Lebens, ebenso wie die Liebe zur Fantasie und den eigenen Geschichten.
www.carmen-gerstenberger.de
Bereits erschienen:
Erwachen - Schattenwelt 1
Carmen Gerstenberger
Roman
Erfüllung – Schattenwelt 2
Carmen Gerstenberger
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ISBNs: 978-9963-53-584-2 (Paperback)
978-9963-53-587-3 (E-Book .mobi)
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Für Dana
Möge dein Leben immer so strahlen wie dein Lachen,
das Glück dein bester Freund sein
und die Liebe dich nie mehr loslassen.
Möge dein großes Herz stets einen Platz für uns haben
und dein wundervolles Wesen dir immer erhalten bleiben.
1. Neue Welt
2. Neue Wege
3. City Hall
4. Der Abgrund
5. Neue Erkenntnis
6. Alte Welt - Alasar
7. Neue Welt - Solvin
8. Unbekanntes Terrain
9. Neuer Feind
10. Marble Cemetery
11. Weitere Fortschritte
12. In Gefahr
13. Alte Welt - Alasar
14. Neue Welt - Neue Erfahrungen
15. Neue Entwicklungen
16. Kranke Welt
17. Neue Ziele
18. Brooklyn Bridge
19. Vermeintliche Erlösung
20. Ohne Hoffnung
21. Neue Lügen
22. Secret V-Club
23. Zwei Brüder
24. Alte Welt - Alasar
25. Kein Zurück
26. Riverside Institut
27. Am Ziel
28. Alte Welt
Danksagung
Kapitel 1
Neue Welt
Klick klack … Klick klack … Klick klack …
»Solvin, bitte, so hör doch auf, sonst bricht der Schalter wieder ab und die Dame von der Rezeption war letztes Mal schon absolut nicht erfreut!«
Sol, der die vergangenen zehn Minuten nichts anderes getan hatte, als andächtig das Licht ein- und auszuschalten, hielt inne. Weshalb wies die kleine Elfe ihn so oft zurecht? Dann lächelte er versonnen und fuhr mit dem Betätigen des Lichtschalters fort, was ihm ein weiteres genervtes Schnauben von Emma einbrachte. Wieso sollte er damit aufhören, wo die Menschen in dieser Welt es doch geschafft hatten, ihre Wohnräume nur durch diese kleinen Schalter mit strahlend hellem Licht zu erleuchten?
Er war geradezu fasziniert von den technischen Möglichkeiten an diesem Ort – im Gegensatz zu Talin, der sich seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen nur aus seinem Zimmer locken ließ, wenn er nahezu bewusstlos war. Darius indes hatte genügend Ablenkung durch seine Frau, sodass er und Sasha ihren Raum ebenfalls kaum verlassen hatten. Solvin hingegen hatte das Angebot der derzeit schimpfenden Augenweide gern angenommen, und sich in der Zwischenzeit mit ihr dieses New York angesehen, in dem sie sich nun befanden. Die bloße Anzahl an Menschen und der erschreckende Lärm waren ihm jedoch noch immer nicht geheuer, sodass er sich in der schützenden Ruhe dieses Zimmers am wohlsten fühlte.
»Solvin, bitte, sie wird euch rauswerfen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo ich euch sonst noch unterbringen könnte. Nachdem Talin in all den anderen Motels und Hotels mit seiner Axt entweder das Mobiliar zertrümmert, oder Angestellten nach dem Leben getrachtet hat!«
Solvin lächelte. »Meine elfengleiche Schönheit, mein stets gut gelauntes Sonnenscheinchen hatte nichts Boshaftes im Sinn, wie ich schon mehrfach versucht habe, zu erklären. Es ist nur so, dass ihm diese Dinger, die ihr Fernseher oder Radio nennt, einfach nicht geheuer sind.« Ihm hingegen gefiel diese Erfindung sehr gut, nach dem anfänglichen Schock und der darauf folgenden Skepsis, sah er sich nun gern die Wiederholung älterer Folgen von Greys Anatomy an. Emma zog ihn damit auf, doch Sol gefiel es. Eines Mittags hatte er Tinkerbell gesehen, und seit diesem Moment nannte er Emma seine Elfe.
Die vergangenen Tage hatten sie damit verbracht, zu verstehen, dass sie offenbar in einer neuen Welt gelandet waren. In einer fremden, lauten und grellen Welt, die ihnen Angst machte. Nachdem Emma ihnen die erste Unterkunft besorgt hatte, wofür Sol ihr auf ewig dankbar war, hatte sie sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, ihnen auch weiterhin zur Seite zu stehen. Sie hatte offenbar kurz zuvor ihre Arbeitsstelle verloren und meinte, während sie eine neue suchte, könne sie auch Babysitter spielen. Er war mehr als nur glücklich darüber, denn sie alle wussten, dass sie ohne ihre Hilfe und Einweisung in diese Welt rettungslos verloren gewesen wären. Nachdem das Verhalten der Krieger für Emma zu Anfang befremdlich gewesen war, hatte sie sich nun darauf festgefahren, dass sie alle aus einem fernen Land kamen. Einem rückständigen, völlig technologiefreien Land, in dem es keinen Strom gab und keine blechernen Ungetüme, welche die Straßen verstopften und die Luft verpesteten. Sol hatte ihr mehrmals versucht, zu erklären, dass sie aus einer anderen Welt stammten, doch sie hatte ihn stets mit zusammengekniffenen Augen angesehen und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt. Er wusste nicht, was das bedeutete, sie schien ihm jedoch in dieser Hinsicht nicht zu glauben. Also ließ er Emma in dem Glauben, dass es hier solch ein rückständiges Land gab, und konzentrierte sich darauf, Darius und Talin zur Vernunft zu bringen. Sie führten sich auf wie die bei ihnen zu Hause vom Virus veränderten Lebensformen, die rasend vor Wut waren.
Solvin hatte am wenigsten von ihnen mit den Veränderungen zu kämpfen. Er sah es als neue Chance an, auch wenn er nicht wusste, für was. Sein Blick verharrte auf Emma und lächelnd fragte er sich, ob er sich in diesem New York auch so wohl fühlen würde, wenn sie nicht wäre?
Ein Knacksen riss ihn aus seinen Gedanken und erschrocken sah er auf das, was er angerichtet hatte. O weh. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Solvin hatte den Lichtschalter abgebrochen. Schon wieder. Er begegnete Emmas wutentbranntem Blick, die ihre Hände in die Hüfte stemmte und ihn anfunkelte. Solvin schenkte ihr das bezauberndste Lächeln, das er unter diesen Umständen zustande brachte, doch leider vergeblich.
»Sie werden euch rausschmeißen und dann seid ihr obdachlos. Und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«, sagte sie kopfschüttelnd und äußerst mürrisch. Dann kam sie zu ihm und schob ihn beiseite, um sich den angerichteten Schaden zu besehen. »Der ist völlig hinüber.« Er sah ihr dabei zu, wie sie das in viele Einzelteile zerbrochene Material, das sich Plastik nannte, vom Boden aufsammelte, und atmete tief durch. Sie hatten übermenschliche Kräfte und in einer Welt, die von und für Menschen gebaut worden war, benahmen sie sich wie Tollpatsche. Keiner von ihnen hatte Emma gegenüber erwähnt, dass sie Vampire waren, sie befanden es nicht für nötig, sie darüber aufzuklären. Sie nahmen an, dass sie mit diesem Begriff ohnehin nichts würde anfangen können.
In Anbetracht des neuen Schadens und des kleinen Unfalles von gestern, als der Tisch während Talins Übungen mit dem Schwert hatte dran glauben müssen, würden sie wohl noch mehr dieser Dollars benötigen, die hier als Zahlungsmethode galten. Solvin hatte schnell erkannt, dass die Leute alle zufrieden waren und sie in Ruhe ließen, wenn sie ihnen einen dieser Scheine unter die Nase hielten. Ihr Vorrat an Geld war jedoch nahezu aufgebraucht, Sol musste wohl oder übel ein weiteres Schmuckstück in dem Gebäude veräußern, das Emma Pfandhaus genannt hatte. Sie besaßen nur das, was sie an ihren Körpern getragen hatten, als sie durch das Portal geschritten waren. Außer ihren zerfledderten Gewändern waren das lediglich ein paar Ringe und Talins Armreif gewesen, die in ihrer Welt nicht wertvoll waren. Hier schienen die Menschen jedoch völlig verrückt nach Gold zu sein. Es sollte ihm recht sein, denn zumindest waren sie dadurch nicht mittellos und hatten eine Bleibe. Noch. Solvin seufzte.
Ein lautes Klopfen, das die Zimmertür erbeben ließ, schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Das mussten seine Brüder sein. Zur Sicherheit machte er den Fernseher aus, nicht ohne jedoch einen letzten sehnsüchtigen Blick darauf zu werfen. Gleich würde eine weitere Folge Greys Anatomy kommen. Er hätte wirklich gern gewusst, ob Denny es schaffte, denn sein Tod würde Izzie mit Sicherheit das Herz brechen. Solvin atmete genervt durch, als sich das Klopfen an der Tür in ein drohendes Donnern wandelte. Seine Brüder waren so schrecklich unromantisch. Es half jedoch alles nichts, die Kiste durfte nicht laufen, während Talin im selben Raum war, denn dessen Axt vergnügte sich mit Vorliebe mit diesem verwunschenen Menschenkram, wie er es nannte.
Als Solvin endlich öffnete, stapfte ein ungehaltener Darius zielstrebig so dicht an ihm vorbei, dass dessen langes schwarzes Haar ihn streifte, und machte es sich auf dem Bett bequem. Das Sofa gab es seit ein paar Tagen nicht mehr, zumindest nicht mehr in einem Stück. Das Ding, das sie Telefon nannten, hatte bedauernswerterweise geklingelt, als sich Talin im Raum befunden hatte. Nun, jetzt würde es nie wieder klingeln.
Darius’ Menschenfrau Sasha kuschelte sich sogleich auf dessen Schoß, und bevor Solvin bis drei zählen konnte, fingen sie schon wieder an, sich zu befummeln. Er verdrehte die Augen. »Ich würde ja sagen, nehmt euch ein Zimmer, aber in diesem Fall bin ich froh, dass ihr euch vom selbigen endlich mal trennen konntet.« In der Tat war er erleichtert, dass er sie endlich alle gemeinsam zu sprechen bekam. Tatsächlich war ihm das in den bisherigen zwei Wochen noch nie gelungen. Zu anfangs schafften sie es nicht, den hysterischen Talin unter Kontrolle zu bekommen, dann hatten Darius und Sasha die Vorteile eines eigenen Raumes herausgefunden und waren seitdem nicht mehr ansprechbar gewesen. Deswegen war Solvin froh, sie endlich alle hier zu haben, denn es wurde Zeit, dass sie über ihre weitere Mission sprachen.
Warum waren sie in dieser Welt gelandet? Welche Aufgabe hatten sie und vor allem, wie ging es nun weiter? Das Geld aus dem Pfandhaus würde nicht ewig ausreichen und viel Schmuck besaßen sie nicht mehr. Er hoffte, dass Darius an die Steinrune gedacht hatte, die sie bei ihrer Ankunft in dem versteckten Raum gefunden hatten.
Nervös glitt sein Blick von dem frisch verliebten Paar auf seinem Bett zu Emma. Solvin hatte keine Ahnung, weshalb ihn ihre Anwesenheit verunsicherte, aber er war gewillt, dies herauszufinden. Er versank im Anblick ihres goldenen Haares, und die Erinnerung an den Spaziergang vor einigen Tagen ließ ihn beinahe erschaudern. Sie waren durch diesen großen zentralen Park gegangen und die tief stehende Herbstsonne hatte ihre Strahlen sanft über Emma streicheln lassen, wobei ihr Haar wie flüssiges Gold geleuchtet hatte.
»Wenn du die Menschenfrau genug angeschmachtet hast, könnten wir endlich zum Wesentlichen kommen«, sagte Darius brummend in Sols Schwärmerei hinein.
Er räusperte sich unangenehm. Das war wieder typisch. Der ungehobelte Krieger durfte seine Sasha ständig betatschen, aber wehe, wenn Sol Emma auch nur ansah. Was er gern tat. Sehr gern. Er holte tief Luft, schüttelte sich und sah seine Freunde an. »Nun gut, da du deine Zunge offenbar wieder für Spitzfindigkeiten einsetzen kannst, sollten wir uns die Rune besehen. Wir haben lange genug Zeit vergeudet.«
»Ich würde es nicht unbedingt vergeudet nennen.« Darius grinste ihn an und Solvin verzog das Gesicht. Dann sah er zu Talin, der fast mit der Wand zu verschmelzen schien, so sehr drängte er sich mit panischem Blick in die Ecke. Er hielt seine Axt mit beiden Händen fest umklammert und funkelte wütend den Fernseher an, der zu ihrem Glück stumm blieb. Solvin nickte ergeben. Das würde ein Spaß werden.
Dann holte Darius den Runenstein aus seiner Ledertasche hervor und stellte ihn vor sich auf den Boden.
Solvin fuhr sich angespannt durch sein Haar, ging zu dem Stein, von dem er hoffte, dass er der nächste Hinweis sein würde, und nahm ihn vorsichtig in die Hand. Er hielt diesen momentanen Stillstand nicht aus. Zu Hause gab er sich jeglichen Vergnügungen hin, die er finden konnte, doch hier hatte er bisher nicht ein Mal das Verlangen verspürt, ein Freudenhaus aufzusuchen, falls es diese hier gab. Was er nicht bezweifelte, denn gewisse Freuden hielt er für universell. Die Luft dieser Welt schien sich jedoch merkwürdig auf sein Befinden auszuwirken, denn Solvin war bekannt für seine Vergnügungssucht. Hier aber genügten ihm die vielen neuen Eindrücke, die er gemeinsam mit Emma kennenlernte. Emma. Wieder seufzte er und verfluchte zum wiederholten Mal seinen Magen, der die Atmosphäre dieser Welt offensichtlich ebenso wenig vertrug, denn seit sie hier waren zog er sich immer wieder schmerzhaft zusammen. Dann fing sein Herz schneller an zu schlagen und Solvin sorgte sich. Er wusste nicht, was los war, doch augenscheinlich ging es keinem seiner Brüder so.
»Was ist das?«, hörte er auf einmal Emmas sanfte Stimme neben sich und musste sich zwingen, seine Konzentration wiederzufinden. Jetzt war keine Zeit für seine inneren Befindlichkeiten, seine Brüder waren hier – und die Rune. Die Zeit für den nächsten Schritt war gekommen.
»Eine Rune«, antwortete er leise, während seine Finger liebevoll über die in den Stein eingemeißelte Inschrift strichen. Auf ihren fragenden Blick hin fuhr er fort: »Durch die Hinweise auf anderen Runensteinen haben wir hierher gefunden. Nun müssen wir herausfinden, was wir als Nächstes zu tun haben.«
»Und das steht da drauf?« Der Blick aus ihren klaren blauen Augen lenkte ihn für einen Moment ab. Sie hatte sich neben ihn auf den Boden gekauert und sah ihn interessiert an.
»Richtig.«
»Und wenn es da steht, warum weißt du dann nicht, was du tun sollst?«
»Meine wunderschöne Elfe, weil dieser Stein in Rätseln zu uns spricht.« Er schenkte ihr ein Lächeln, und als sie es erwiderte, ging die Sonne für ihn auf.
»Also müsst ihr jetzt das Rätsel lösen und dann wisst ihr, wohin ihr gehen müsst?«
»Ja.«
»Das ist aufregend, und ich glaube, es tut euch gut, endlich mal aus diesem Hotel rauszukommen.« Sol nickte. Die Schmatzgeräusche im Hintergrund, die von Darius’ und Sahsas Zuneigung zueinander zeugten, kosteten ihn bald den letzten Nerv.
»Richtig. Jetzt benötigen wir nur noch eine Eingebung, an welchem Ort in dieser großen, lärmenden Stadt wir suchen müssen.« Sein Blick folgte dem Schwung ihrer Lippen und er stand abrupt auf.
»Der Hinweis bezieht sich auf New York? Ich bin hier geboren und aufgewachsen, vielleicht kann ich euch ja behilflich sein?«, bot sich Emma an, und Solvin verfluchte sich, dass er nicht schon eher daran gedacht hatte. Natürlich. Eine Einheimische würde wissen, worüber die Ältesten sprachen. Wo war er nur in letzter Zeit mit seinen Gedanken? Aufgeregt fischte er die Notiz aus Darius´ Beutel, auf welcher sie den Hinweis notiert hatten. Dann las er ihn laut vor:
»Wo die Geister von gestern noch heute verharren,
die von spanischer Hand einst wurden erschaffen,
wo rollende Ungetüme ließen den Atem erstarren,
dort wird der Abgrund nicht für Wissende klaffen.»
Er presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern. »In unserer Welt wussten wir, wovon unsere Vorfahren sprachen, doch hier?« Solvin las sich die Zeilen mehrmals durch. Sie hatten absolut keinen Anhaltspunkt. Sie wussten auch nicht, wann die Ältesten hier gewesen waren. Vor langer Zeit, bevor es diese Stadt gegeben hatte? Oder vor Kurzem erst? Mussten sie moderne Bauten mit einbeziehen in ihre Suche oder sich auf Orte konzentrieren, die es schon gegeben hatte, bevor New York darüber errichtet wurde? Wie funktionierte das Portal? In ihrer Welt waren die Ältesten vor Hunderten von Jahren aufgebrochen, doch in welche Zeit hatte es sie hier geschickt? Und was bei den Heiligen war eine spanische Hand?
»Darf ich?« Zögerlich strich Emmas Hand über seine, als sie die Notiz von ihm abnahm. Oh, wie er seinen verflixten Magen hasste. Er sah ihr dabei zu, wie sie die Worte darauf überflog und dabei nachdenklich auf ihrer Unterlippe nagte. Solvin sprang auf und begann, unruhig in dem beengten Raum umherzugehen. Der Sauerstoffmangel in dieser Welt war enorm und nicht akzeptabel.
Plötzlich sah sie auf. »Ich glaube ich weiß, was gemeint ist.« Sogleich war ihr die Aufmerksamkeit aller im Raum befindlichen Anwesenden sicher. Selbst Darius hatte von seiner Sasha abgelassen. Talin funkelte nun abwechselnd Emma und den Fernseher an.
»Du weißt, wohin wir gehen müssen?«, fragte Solvin hoffnungsvoll.
»Nun ja, ich glaube.« Sie machte eine kleine Pause, dann nickte sie. »Doch, ich denke, ich weiß es. Es ist die Rede von rollenden Ungetümen, von Geistern, die von spanischer Hand erschaffen wurden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass damit die City Hall Metrostation gemeint ist.« Als sie nur in fragende Gesichter sah, fuhr sie fort. »Die Metro? Die Züge, die im Untergrund fahren?« Sie sah zu Talin. »Auf den du neulich die Steine geworfen und ihn angeschrien hast, dass er eine verfluchte Schöpfung Salazars sei, oder so?«
»Alasar«, brummte Talin und nickte knapp. Die anderen erinnerten sich und Solvin konnte ihr wieder folgen.
»Das Netz, in dem die Züge fahren, nennt sich Metrostation. Himmel, gibt es in eurem Land denn nicht einmal Züge? Jedenfalls habe ich mich daran erinnert, dass das Ganze von einem berühmten spanischen Architekten erbaut worden ist. Rafael irgendwas. Zumindest ergibt dieser Zusammenhang Sinn.«
»Und die Geister von gestern?«, wollte Darius wissen.
»Nun, ich denke, damit könnte gemeint sein, dass diese Station seit vielen Jahrzehnten bereits geschlossen ist. Sie wird schon sehr lange Zeit nicht mehr benutzt und ist somit eine Geisterstation.«
»Ihr Heiligen, das ist es«, rief Solvin freudig aus und plötzlich verspürte er dasselbe Kribbeln, das ihn stets ereilte, wenn sie vor einer wichtigen Aufgabe standen. »Die Geister von gestern ist die verlassene Station, in der einst die rollenden Ungetüme regierten. Emma, das war wunderbar. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was es mit dem klaffenden Abgrund auf sich hat, den nur ein Wissender nicht sieht.«
»Das klingt nach einem Plan«, antwortete sie freudig, und als sich ihre Blicke begegneten, verspürte er eine plötzliche Enge in seiner Brust. Diese verfluchte New Yorker Luft machte ihm wirklich zu schaffen.
»Lasst uns sofort aufbrechen. Je eher wir das Heilige Buch gefunden haben, desto eher können wir von hier verschwinden.« Darius richtete sich auf und seine einschüchternde Gestalt nahm einen großen Teil des winzigen, kargen Zimmers ein.
»Du meinst, wir finden es hier?« Solvin war sich nicht sicher, ob die Ältesten es tatsächlich in dieser Welt vor den Oberen versteckt hatten.
»Aus welchem Grund sollten sie uns sonst hierher geschickt haben?«
»Welches Buch?« Emma sah interessiert von ihrer blonden Nervensäge zu dem großen dunkelhaarigen Mann, der ihr Angst einflößte. Nicht so sehr wie der Irre mit der Axt, der ihres Erachtens dringend einen Psychiater aufsuchen sollte, aber dennoch ein wenig. Ständig redeten sie über diese andere Welt und dass sie wieder nach Hause mussten. Sie ignorierte den plötzlichen Stich in ihrer Brust, bei dem Gedanken daran, dass Solvin schon bald nicht mehr hier sein würde. Die Erwähnung des Buches war jedoch neu.
»Jenes, das uns nach Hause bringen wird«, erwiderte Darius.
Emma schnaubte. Da war es schon wieder. Nach Hause. In den zwei Wochen, in denen sie sich nun schon um die Jungs kümmerte, hatte sie Darius nicht oft gesehen, da er sich meistens mit seiner Frau im Zimmer verkrochen hatte. Mittlerweile ahnte sie jedoch, dass seine raue Schale einen butterweichen Kern umschloss, so liebevoll, wie er mit Sasha umsprang.
»Kannst du uns führen?«, unterbrach er ihre Gedanken.
»Bitte?«
»Zu dieser Geisterstation?«
Emma willigte ein, bevor sie überhaupt nachgedacht hatte. Sie hatte absolut keine Ahnung, auf was sie sich einließ, aber Solvin würde sie begleiten und aus irgendeinem Grund ließ sie diese Tatsache strahlen wie ein Honigkuchenpferd. Das konnte heiter werden.
Kapitel 2
Neue Wege
Solvin stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Anstatt sich endlich auf den Weg zu machen, vergeudeten sie kostbare Zeit vor dem Hotel, weil sie alle Hände voll zu tun hatten, Talin gut zuzureden. Bereits während des Treffens erklärten sie ihm ruhig, dass sie alle zusammen die Sicherheit des Raumes verlassen mussten. Irgendwann hatte er eingewilligt, doch sobald sie auf den Fußweg vor ihrer Bleibe getreten waren, blendete er scheinbar sämtliche Instruktionen aus. Die ungewohnten Einflüsse drohten, ihn erneut außer Kontrolle geraten zu lassen.
»Tal, mein Häschen, du weißt, ich würde dir das nicht antun, wenn es nicht notwendig wäre. Wir können dich jedoch nicht zurücklassen, wir wissen nicht, was uns dort erwartet. Wir sind auf dein Geschick und deine Stärke angewiesen«, appellierte Solvin an seinen Freund, in der Hoffnung, ihn endlich zur Vernunft zu bringen. Dann zuckte er zusammen, als eines dieser grellen Vehikel, die sich Taxis nannten, ein anderes Fahrzeug anlärmte. Emma hatte es neulich als Hupen bezeichnet. Dieser durchdringende Ton brachte Talin an seine Grenzen, und Solvin sah, wie sich jeder einzelne Muskel seines Freundes anspannte. Er schien gegen seine Panik anzukämpfen und beim Anblick der deutlich hervortretenden Adern an Talins Hals und Unterarmen atmete Sol tief durch. Sie hatten Tal verboten, seine Axt mitzunehmen und noch nie war er über eine Entscheidung glücklicher gewesen.
Emma hatte ihnen erklärt, dass sie diesen Stadtteil würden verlassen müssen, um in die City Hall Station zu gelangen. Sie befanden sich in Brooklyn und mussten nach Manhattan, auch wenn ihm das überhaupt nichts sagte. Diese Stadt schien aus vielen kleinen Dörfern zu bestehen, dessen System er nicht verstand. In ihrer Welt gab es Siedlungen in solchen Dimensionen nicht. Da sie jedoch Emma an ihrer Seite hatten, musste er das alles auch nicht verstehen, er verließ sich auf ihr Urteil und vertraute ihr voll und ganz.
Sol hielt inne und zog die Stirn kraus. Er vertraute ihr? Einer Fremden? Der Krieger in ihm schalt ihn einen Narren, doch Talins neuerliche Verwünschungen rissen ihn aus seinen Gedanken.
Sie standen vor einem wirklich großen Problem. Seine Elfe hatte ihnen gesagt, dass sie mit einem der hiesigen Verkehrsmittel nach Manhattan gelangen würden. Aber es war ausgeschlossen, dass sie Talin in ein Taxi oder gar in eines dieser Ungetüme bringen konnten, das sich unter der Erde fortbewegte. Die Krieger hatten daraufhin beschlossen, die Wegstrecke zu Fuß zu gehen, woraufhin Emma wieder diese seltsame Bewegung gemacht und ihren Finger an die Stirn getippt hatte. Sie hatte ihnen versichert, dass dies nicht möglich sei und in Anbetracht der schieren Größe des Dorfes, in dem sie sich momentan befanden, glaubte Sol ihr. Schließlich hatte Darius nach Pferden für sie alle verlangt und Emma hatte sich wortlos umgedreht und war einfach gegangen.
Einen halben Tag später schafften sie es schließlich mit vereinten Kräften, Talin dazu zu bringen, wenigstens in einen Bus zu steigen, da dieser nicht so beengt wie ein Taxi wirkte und über der Erde fuhr. Emma erbarmte sich nach einer Weile und stieß wieder zu ihnen, nachdem sie sich einen großen Becher des Gebräus geholt hatte, den sie Kaffee nannte. Seltsamerweise war sie danach deutlich weniger gereizt.
Nun saßen sie alle in diesem rollenden Blechkasten und nahmen allein durch ihre Größe und Gestalt den halben Raum ein. Solvin entging nicht, wie die anderen Mitreisenden sie unverfroren anstarrten, manche von ihnen zückten gar diese lästigen Dinger, die Emma Handy nannte, und machten Bilder von ihnen. Sie würden sich wohl daran gewöhnen müssen, dass sie in der Masse dieser durchschnittlichen Städter auffielen. Darius hatte sich mit Sasha vor Talin positioniert und Solvin ließ seinen Freund ebenfalls keinen Augenblick unbeobachtet. Da sie nicht ohne Waffen gehen wollten, diese jedoch hier nicht offen zeigen durften, hatte sich Darius einen langen Mantel besorgt, unter dem er ihre Schwerter verwahrte und daher notgedrungen stehen musste. Er schien jedoch in Sasha perfekte Zerstreuung zu finden und Solvin verzog sein Gesicht. Liebe, der Feind allen Lasters.
Talins Blick war starr auf den Boden gerichtet und Solvin bemerkte, dass er das leichte Ruckeln des Fahrzeugs nicht gut aufnahm. Tals Hände krampften sich um eine der Haltestangen fest, sodass die Knöchel bereits weiß hervortraten, und jede Unebenheit der Fahrbahn, die den Bus durchschüttelte, ließ ihn noch bleicher werden.
»Dein Freund sieht nicht gut aus«, bemerkte Emma.
»Er hatte in der Tat schon bessere Momente.«
»Und ihr seid wirklich noch nie mit einem Bus gefahren?«
»Richtig.«
»Wie kann das sein? Gibt es in eurem Land denn tatsächlich überhaupt keine Fahrzeuge? Keine Fortbewegungsmittel? Wie legt ihr denn weite Strecken zurück?«
»Zu Fuß oder mit den Pferden«, antwortete er schulterzuckend, als wäre es das Normalste auf der Welt.
»Unglaublich!«
»Viele Dinge erscheinen unter dem Mantel dessen, was man weiß, unglaublich. Bis man es trotzdem versucht und feststellt, dass die Achtung davor größer war. Nicht alles muss unmöglich sein, nur weil wir es nicht kennen, meine kleine Elfe«, sagte er augenzwinkernd und musste sich zwingen, nicht auf ihren Mund zu sehen.
»Vielleicht kann ich den Transporter von meinem Bruder organisieren, falls wir noch mehr Hinweisen nachgehen müssen«, erwiderte sie nachdenklich.
»Das würdest du tun?«
»Sicher, vielleicht geht es deinem Freund besser, wenn nicht zu viele Menschen in einem Fahrzeug sind?«
»Das bezweifle ich, aber dieser Vorschlag ehrt dich, wir sind dir zu großem Dank verpflichtet.«
Emma wiegelte mit einem Handzeichen ab und wollte gerade etwas erwidern, als Talin plötzlich aufsprang und lautstark verlangte, dass man ihn und seine Freunde sofort herauslassen sollte. Darius hatte große Mühe, ihn zu bändigen.
»Was ist geschehen?«, fragte Solvin, der sich zu seiner Schande eingestand, gedanklich zu sehr mit Emma beschäftigt gewesen zu sein, anstatt auf Talin achtzugeben.
»Ich habe keine Ahnung?«
Nun standen sie alle auf und versuchten, ihren fluchenden Freund vor den Blicken der anderen Fahrgäste abzuschirmen.
»Setz dich Bruder!«, donnerte Darius‘ tiefe und offenbar erzürnte Stimme durch den Bus.
»Wir werden alle sterben«, schrie Talin panisch und beunruhigt bemerkte Solvin, wie die ersten Mitreisenden sich von ihren Sitzen erhoben und nach vorn drängten. Das war nicht gut.
»Setz dich«, befahl Darius nun. »Du gefährdest die gesamte Mission durch deine Furcht. Es geht hier nicht um dich oder um uns. Es geht darum, die Menschen bei uns vor dem falschen Glauben zu bewahren und zu erretten. Verstehst du das? Wir müssen sie retten, Bruder!«
»Leute, könntet ihr etwas leiser diskutieren, wir fallen ein wenig auf!« Solvin sah unbehaglich zwischen seinen Kampfgefährten hin und her.
»Wie sollen wir auch nur eine verdammte Seele retten, wenn wir sterben?«, brüllte Talin.
»Wie kommst du darauf, dass wir sterben werden?«, konterte Darius genervt.
»Leute …«
»Er hat eine Bombe«, kreischte eine schrille Frauenstimme plötzlich aus dem vorderen Teil des Busses, woraufhin Panik ausbrach und jeder einzelne Fahrgast versuchte, sich weiter in die Fahrerkabine zu pressen.
»Eine was?« Solvin sah irritiert zu Emma.
»O scheiße, das erlebe ich doch jetzt nicht wirklich?«, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich hab genau gehört, wie er gesagt hat, dass er alle ungläubigen Seelen retten muss«, kreischte die Frauenstimme erneut, die in dem anschließenden Gebrüll der Mitreisenden unterging. Der Bus begann zu schlingern, als Dutzende Menschen auf einmal auf den Fahrer einredeten und ihn zum Anhalten zwingen wollten.
»Emma, von was redet sie?«
»Hat dein Freund eine Bombe?«
Ihre großen blauen Augen sahen Solvin angsterfüllt an und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie fürchtete sich vor ihm. Bei den Heiligen, das durfte nicht geschehen. Sanft nahm er ihre Hände in seine und hoffte, dass sie ihm glaubte. »Bitte, wir wissen nicht, wovon sie sprechen.«
»Ihr wisst nicht, was eine Bombe ist?«
So, wie sie ihn anblickte, schien der Begriff auf dieser Welt geläufig zu sein. »Nein, bitte verzeih.«
»Sprengstoff? Etwas, das diesen Bus in alle Einzelteile explodieren lassen und sämtliche Menschen darin töten kann.«
Solvin war entsetzt. Das dachte Emma von ihm? Wie kam dieses Frauenzimmer vorn im Bus überhaupt auf diese absurde Idee? Er wusste, was sie meinte, denn so gewannen sie daheim ihre Leuchtsteine aus den Ambertminen, indem sie aus dem Grundgestein gesprengt wurden. Allerdings war es nur den Oberen erlaubt, von diesem Werkzeug Gebrauch zu machen, daher hatte Solvin damit noch nie zu tun gehabt. »Ich versichere dir, nichts liegt uns ferner, als jemandem zu schaden. Wir wollen nur das Heilige Buch finden und unsere Welt retten.« Dann sah er zu Talin, der augenblicklich mit Darius rangelte. »Etwas hat ihm Angst gemacht, befürchte ich.«
»Aber was?«
Solvin wusste es nicht. Aber sie mussten dringend die anderen Menschen beruhigen und sie davon überzeugen, dass sie nicht gefährlich waren, danach konnte er sich noch immer Gedanken darum machen, was Talin widerfahren war. Er stand auf und setzte sich langsam und mit einem freundlichen Lächeln in Bewegung, um niemanden zusätzlich zu beunruhigen, doch sobald er auf die Fahrgäste zu ging, schrien sie umso lauter.
»Wir werden Ihnen nichts tun!«, versuchte er, zu schlichten.
»So halten Sie doch endlich diesen scheiß Bus an«, schrien mehrere Leute durcheinander den Fahrer an.
»Ich kann hier nicht, verdammte Scheiße!«, fluchte der zurück.
Solvin fragte sich, ob dieses Wort zur Umgangssprache der Städter gehörte, da sie es ziemlich oft gebrauchten. Es gefiel ihm nicht.
»Wir werden alle sterben«, kreischte der Chor aus verzweifelten Fahrgästen.
Solvin atmete tief durch. Ratlos ließ er sich gegen das Fenster sinken, vor dem er sich befand, und während er fieberhaft überlegte, wie sie Talin beruhigen konnten, schweifte sein Blick nach draußen. Endlich sah er, was sein Bruder vor ihm erblickt hatte. Nun wusste er, weshalb Tal ausrastete.
»Bei den Heiligen«, flüsterte er. »Emma, wir fahren über Wasser?«
»Ja?«
Diese Tatsache schien sie nicht zu beeindrucken. »Talin muss das gesehen haben, daher sein ungebührliches Verhalten.«
»Weil wir über die Brooklyn Bridge fahren?«
»Richtig.«
»Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass es in eurem Einsiedlerland nicht einmal Brücken gibt?«
»Nun, wir haben kleine Hängebrücken, winzige, im Vergleich zu dieser hier, aber nicht solche beeindruckenden Bauten. Ich fürchte, das war zu viel für Häschen.«
»Weil er denkt, dass wir in den East River stürzen werden?«
»In das Wasser unter uns?«
»Ja.«
»Ich fürchte.«
»Diese Brücke gibt es schon seit über hundertdreißig Jahren, Solvin. Sie wird nicht einstürzen?« Sie sah ihn an, als wäre er ein kleines Kind, dem man alles langsam und vorsichtig erklären musste.
»Talin hat keine Angst vor dem Sterben. Genau genommen kann ihm seiner Meinung nach nichts Besseres geschehen. Ich denke, sein Problem ist, dass wir uns in dieser Blechkiste befinden. Er hat keine Waffe und ist hier drin machtlos. Es ist, als wären wir wieder in Gefangenschaft. Ausgeliefert.«
»Langsam bekomme ich unschöne Vorstellungen von deinem Land. Und Talin … er …, kann es sein, dass er mehr Probleme hat, als nur diese Brücke?«
»Kaum der Rede wert.« Solvin wiegelte ab, dies war sicherlich nicht der beste Augenblick, um über Talins Schicksal zu sprechen.
»Nehmen Sie die Arme hoch und gehen Sie ganz langsam nach hinten!«
Als Solvin aufsah, blickte er in das entschlossene Gesicht eines kleinen, untersetzten Mannes, der eine dieser neumodischen Waffen, wie es sie in dieser Welt gab, auf sie richtete.
»Das glaub ich jetzt nicht«, flüsterte Emma neben ihm.
Sol bemerkte besorgt, dass Darius und Talin nicht daran dachten, ihren Disput zu beenden, bis Sasha sie ängstlich auf die neue Situation aufmerksam machte. Als sein Verstand erfasste, in welche Lage Talin sie gebracht hatte, funkelten Darius Augen unter seinen braunen Kontaktlinsen grell auf, die er nach langem Zureden glücklicherweise angenommen hatte. Der komische kleine Mann fuchtelte aufgeregt mit der Pistole und sah dennoch vor Darius mächtiger Präsenz unterlegen aus.
»Bitte, so beruhigen Sie sich doch«, versuchte Emma zu schlichten.
Solvins Herz stolperte in seinem Takt. Wieso mischte sie sich ein und brachte sich derart in Gefahr? Das war nicht akzeptabel. Wenn ihr etwas geschah, könnte er für nichts mehr garantieren.
»Diese Irren haben eine Bombe und wir werden alle sterben!«, wiederholte der Mann denselben Unsinn von vorhin.
»Verzeihung, aber dem möchte ich widersprechen. Es befindet sich kein derartiger Gegenstand in unserem Besitz. Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für Ihr Leib und Leben«, erwiderte Solvin und schob sich unmerklich vor Emma.
Ganz langsam hatten sich Darius und Talin zu beiden Seiten von ihm aufgestellt, wobei Sasha ebenfalls hinter die Körper der Krieger geschlüpft war. Plötzlich herrschte absolute Stille in dem Bus und Sol konnte die Anspannung nahezu greifen. Er roch ihren Angstschweiß und Furcht herrschte allgegenwärtig in diesem Vehikel. Der Fahrer versuchte, sie konzentriert über die Brücke zu bringen, auf der er nicht anhalten durfte, und schien erleichtert zu sein, nicht mehr von den panischen Fahrgästen belagert zu werden. Niemand sagte auch nur einen Ton, sie starrten allesamt auf die drei groß gewachsenen Männer und diese bizarre Situation. Im Hintergrund ertönte das leise Schluchzen einer Frau und die Hände des kleinen Mannes zitterten unkontrolliert, während sie die Waffe hielten.
»Wunderbar!« Emma sprang plötzlich vor die Krieger und klatschte erfreut in die Hände. Die Vampire sahen sich irritiert an. Was hatte sie vor?
»Ich bin absolut begeistert von Ihren Reaktionen, da wir genau diese erhofft hatten. Ich möchte mich bei Ihnen allen für dieses kleine Schauspiel entschuldigen und mich gleichzeitig dafür bedanken, dass wir unsere Generalprobe augenscheinlich mit Bravour gemeistert haben. Der Entschluss, sie öffentlich vorzuführen, fand nicht bei allen Gefallen, umso mehr erfreut mich die Tatsache, dass Sie uns diese kleine Inszenierung für die baldige Broadway-Premiere abgenommen haben.«
Solvin verstand, was sie vorhatte. Es gab auch bei ihnen Theaterbühnen und seine kleine Elfe war gerade tatsächlich dabei, die Situation zu entlasten. Welch grandiose Eingebung. Plötzlich wollte er sie zum Dank in seine Arme reißen und es kostete ihn große Mühe, diesen Drang niederzukämpfen.
»Mister, es tut mir leid, dass Sie von falschen Tatsachen ausgingen, doch Sie können die Waffe nun runternehmen!«
Emma sprach belustigt, es sollte locker und leicht klingen, das tat es wohl auch für die Ohren der Mitreisenden, nicht jedoch in seinen. Er spürte, dass ihr kleiner Körper bis in die letzte Faser angespannt war. Immerhin löste sich die Anspannung der Umstehenden, die zaghaft und neugierig näher kamen. Als der untersetzte Mann schließlich den Arm senkte, atmete Emma hörbar erleichtert aus. Sie drehte sich flüchtig zu Sol um und gab ihm mit einem Blick auf Talin zu verstehen, dass dieser nicht wieder ausrasten durfte, da ihnen sonst niemand mehr das Schauspiel abnahm. Darius zwang ihn auf den Sitz zurück und eingeklemmt zwischen ihm und Sasha saß Tal mit stoischem Gesichtsausdruck da und vermied einen Blick aus dem Fenster.
»Hexenwerk«, hörte er ihn zischen, und schüttelte belustigt den Kopf. Sie konnten den Menschen nicht sagen, weshalb ihre Erfindungen und Errungenschaften ihnen Angst machten. Niemand würde ihnen glauben, dass sie aus einer anderen Welt kämen, in der es nichts davon gab.
Nachdem sie auch dem Busfahrer glaubhaft versichern konnten, dass sie keinen Anschlag im Schilde führten, lenkte dieser ein und warf sie nicht unmittelbar nach dem Überqueren der Brooklyn Bridge aus dem Fahrzeug, wie er es ursprünglich angedroht hatte. Nun standen sie vor einem großen Gebäude, das Emma als Rathaus von New York betitelte. Es musste sich um etwas wie das Sanctuarium handeln, schlussfolgerte Solvin. Das Machtzentrum dieser Stadt, jedoch ohne hinterhältige Herrscher und todbringende Verliese und bei Weitem nicht so beeindruckend.
»Jetzt müssen wir irgendwie den Eingang zur alten Metrostation finden«, murmelte Emma und sah sich fragend um.
»Was können wir tun?« Solvin hatte keine Ahnung, wie sie ihr behilflich sein konnten, ihre Raubtiersinne brachten sie nicht weiter. In einer Welt, die aus Lärm und Gestank bestand, waren ihre Reize längst von all dem überflutet worden und er fühlte sich hilflos und nutzlos.
»Ich schaue, ob ich im Netz was dazu finden kann«, erwiderte sie und zückte dieses Handy-Ding, mit dem sie sich die folgenden Minuten eingehend beschäftigte.
Solvin blickte seufzend zu seinen Brüdern. Was immer Emma auch damit meinte, sie würde schon wissen, was sie tat. Auch wenn er nicht verstand, was dieses technische Teil mit einem Netz zu tun hatte. Sicher hatte sie nicht vor, etwas einzufangen. Er hütete sich jedoch davor, seine Bedenken laut auszusprechen, zu oft war er in den vergangenen zwei Wochen der Grund für ihre Heiterkeit gewesen. Er lächelte, als er bemerkte, dass Talins Farbe wieder in dessen Gesicht zurückgekehrt war. Darius und Sasha hielten ihn noch immer zwischen sich im Klammergriff, doch die Luft und das Fehlen des beklemmenden Blechkastens schienen seinem Bruder gut zu tun.
»Die gute Nachricht ist, dass die alte Metrostation bis heute noch genutzt wird. Die Linie 6 fährt von Downtown bis zur Endstation Brooklyn Bridge, wo sie eine Schleife dreht, um wieder uptown zu gelangen. Dabei passiert sie die alte City Hall Station, und wenn man an der Endstation nicht aussteigt, kann man sie sich laut Google tatsächlich anschauen, während man gemächlich vor sich hintuckert. Die andere Alternative wäre, Mitglied im Museum zu werden, denn nur dann kann man in den Genuss einer Führung durch die Hallen der vergessenen Station gelangen.«
Solvin rieb sich nachdenklich das Kinn. Wer war Google? Sie hatte doch mit niemandem gesprochen? Ein ungutes Gefühl nagte an ihm und er wünschte sich, den Kerl mit diesem seltsamen Namen zu erwischen, der seiner Emma immer so viele hilfreiche Tipps gab. Sol kam sich im Gegensatz dazu wie ein Trottel vor, da er in dieser fremden Welt nichts beizutragen hatte.
Emma sah von ihrem Handy auf. »Ich glaube jedoch nicht, dass wir Talin in die Linie 6 bekommen, ohne weiteres Aufsehen zu erregen. Und eine Mitgliedschaft im Museum halte ich für ausgeschlossen, ich schätze, ihr wollt jetzt zur City Hall Station, nicht erst in ein paar Wochen?«
»Du hast recht.« Solvin sah nachdenklich zu seinen Brüdern. Sie mussten einen anderen Zugang zu diesen alten Gemäuern finden.
»Es muss sicherlich noch irgendwo einen Eingang oder Notausgang geben. Moment … Hm, also Google sagt, dass es zwei Zugänge gab, die jedoch seit der Schließung 1945 nicht mehr existieren.«
»Mir wäre wohler, wenn du diesen Google nicht mehr um Rat bitten würdest, Emma«, rutschte es Solvin heraus, bevor er sich zusammenreißen konnte.
»Bitte?« So entgeistert, wie sie ihn ansah, war er offenbar wieder in einen Talgkrug getreten. Nein, das war falsch, wie sagte Emma immer? In einen Fettnapf, richtig.
Nach einer Pause, in der sie ihn kopfschüttelnd mit ihren Blicken abstrafte, räusperte sie sich. »Die City Hall Station befindet sich direkt unter dem Rathausplatz, also sind wir hier auf jeden Fall richtig. Dieser Zugang wurde damals aus repräsentativen Zwecken gewählt, damit der Bürgermeister direkt von seinem Amtssitz zur Metrostation gelangen konnte. Aber die Eingänge gibt es wie gesagt nicht mehr.« Sie wirkte frustriert, zumindest tippte sie härter auf den Tastaturen ihres Handys herum. Plötzlich hielt sie inne und jauchzte erfreut. »Das ist es!«
»Hast du einen Weg ins Innere gefunden?«, fragte Solvin. Sie hatten bereits zu viel Zeit vergeudet, sie mussten endlich handeln.
»Möglicherweise.« Sie sah ihn lächelnd an. »Die alte Metro hatte Lichtschächte, die das Tageslicht bis in die Station hinunter durch die Gewölbefenster leiteten, sodass es den Eindruck vermittelte, als schiene direktes Licht hinein.«
Aufgeregt sah sie ihm in die Augen. Solvin ignorierte das neuerliche Rumoren seines Magens. Er konnte ihr nicht folgen. »Es war also mit echtem Tageslicht beleuchtet, wunderbar«, sagte er vorsichtig, um sie nicht erneut zu verärgern.
»Du weißt nicht, worauf ich hinaus will, nicht wahr?«
»Möglicherweise«, erwiderte er. Er hasste es, derart nutzlos zu sein.
»Die Eingänge zur City Hall Station sind verschwunden. Die Lichtschächte jedoch gibt es auch heute noch.« Sie grinste ihn an.
»Und wenn wir sie finden, dann finden wir auch einen Weg hinein«, ergänzte Solvin, als er endlich verstand.
»Nicht nur gut aussehend, sondern auch schlau«, sagte Emma lachend, während sie Darius und die anderen zu sich winkte.
Sie hatten endlich den Zugang zu ihrer nächsten Aufgabe gefunden, doch alles, woran Solvin denken konnte, war, dass seine Elfe ihn für gut aussehend befand. Dümmlich lächelnd stand er hinter seinen Brüdern und folgte den Anweisungen, die Darius gab, nur mit halbem Ohr.
Kapitel 3
City Hall
Zum Glück für uns gibt es fleißige Blogger, die akribisch jedes Detail ihrer Interessen festhalten. Hier hat sich jemand tatsächlich die Mühe gemacht, anhand von Luftaufnahmen nach den Lichtschächten in der heutigen Zeit zu suchen. Voilà, hier müssen wir durch. Die Frage ist nur, wie?«
Emma hielt Solvin ihr Handy direkt vors Gesicht, darauf sah er eine Aufnahme, die diese Gegend von oben zeigte und auf der etwas gelb markiert war. Ganz langsam blickte er in den Himmel. Wie war das möglich? Jemand flog über der Erde und hielt Momente für die Ewigkeit fest? Sol atmete tief durch. Besser, er stellte diese Frage nicht. Und auch jene nicht, was ein Blogger war. Er hätte nie gedacht, dass er sich einmal so sehr nach der gewohnten Umgebung seines zu Hauses zurücksehnen würde. Das Leben in dieser Welt schien sich nur hinter Bildschirmen abzuspielen. Fernseher, Computer, Handys und wie diese Dinger noch alle hießen. Solvin merkte die Vorteile der Technik durchaus an, doch niemand schien hier zu leben, vielmehr ließen die Menschen für sich leben.
»Kommt, wir wollen den nördlichen Schacht suchen und dann sehen wir weiter«, sagte Emma ungeduldig und setzte sich bereits in Bewegung, bevor er etwas erwidern konnte.
Kurze Zeit später hatten sie sich alle auf einem Platz vor dem kleineren der beiden Gebäude versammelt und blickten auf ein in den Boden eingelassenes Gitter. Seine zauberhafte Elfe sprach von einem Parkplatz, Solvin nahm an, sie bezog sich auf die Blechkisten, die hier abgestellt waren.