Cover

Jean Liedloff

Auf der Suche
nach dem
verlorenen Glück

Gegen die Zerstörung
unserer Glücksfähigkeit
in der frühen Kindheit

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

Die Autorin, die mehrere Jahre bei den Yequana-Indianern im Dschungel Venezuelas gelebt hat, schildert eindrucksvoll deren harmonisches, glückliches Zusammenleben und entdeckt seine Wurzeln im Umgang dieser Menschen mit ihren Kindern: Sie zeigt, dass dort noch ein bei uns längst verschüttetes natürliches Wissen um die ursprünglichen Bedürfnisse von Kleinkindern existiert, das wir erst neu zu entdecken haben.

Die ‹Frankfurter Rundschau› schrieb: «Ein menschliches und lebendiges Buch über das Leben, wie es lebenswert sein könnte. Es liest sich spannend wie ein Roman.»

Über die Autorin

Jean Liedloff (19262011) ist in New York geboren und aufgewachsen. Nach dem Universitätsbesuch unternahm sie mehrere Expeditionen in den venezolanischen Urwald, auf denen sie die Gedanken dieses Buches entwickelte. Von 1968 bis 1970 gab sie die Zeitschrift ‹The Ecologist› heraus und lebte bis zu ihrem Tod als Publizistin und Psychotherapeutin in Sausalito, USA.

Für weitere Informationen siehe www.continuum-concept.org

Inhalt

Vorwort

1. Wie sich meine Ansichten so grundlegend wandelten

2. Der Begriff «Kontinuum»

3. Der Beginn des Lebens

4. Das Heranwachsen

5. Die Versagung wesentlicher Erfahrungen

6. Die Gesellschaft

7. Die Rückkehr zum Kontinuum

Berichte und Überlegungen zur Neuauflage 1988

Über Eltern

Weshalb man sich nicht schuldig fühlen sollte

Über unsere merkwürdige Blindheit

Wenn sich alles ums Kind dreht

Neue Überlegungen zur Psychotherapie

Anmerkungen

Vorwort

Es gibt Bücher, denen man den Explosivstoff, den sie enthalten, auch nach einigem Durchblättern und Überfliegen nicht ansieht. Liedloffs «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück» gibt sich, oberflächlich betrachtet, wie ein Buch über indianische Lebensweise oder vielleicht auch wie einer der üblichen praktischen Ratgeber zum Thema Kinderaufzucht, der Eltern berät, wie sie bei ihren Kindern dieses oder jenes verbessern oder verhindern können. Es ist jedoch weit mehr als das – wie viel mehr, wird erst dem aufmerksamen Leser, vielleicht gar erst beim zweiten Durchlesen, vollständig deutlich.

Ich selbst habe mich jahrelang mit der Erforschung des Phänomens der latenten Angst befasst, seit ich eines Tages erkannte, wie so gut wie jeder von uns sein Lebtag eine Bürde von versteckter, ihm selbst zumeist unbewusster Angst, die mit körperlicher Verklemmung und mangelndem Selbstvertrauen gekoppelt ist, mit sich herumschleppt. Und je mehr ich dem nachforschte, umso deutlicher wurde mir, dass in der Tat auch unsere gesellschaftlichen Strukturen auf zerstörerische Weise von diesem Phänomen mitgeprägt sind. Die beunruhigende Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist, ob angesichts dieser Tatsache noch Hoffnung für die Menschheit bestehen kann – und worin.

Dieses Buch liefert Hoffnung. Es zeigt zunächst den Grund der latenten Angst überzeugend auf, indem es die These vertritt, dass das Wesen des Menschen selbst von uns – auch von den Autoritäten der Wissenschaft – nicht mehr verstanden und daher auch in der Säuglings- und Kinderaufzucht nicht ausreichend berücksichtigt wird. Sein eigentliches Thema ist das menschliche «Kontinuum» – und was ein Leben im Einklang damit bedeuten müsste. Gemeint ist mit dem Begriff die uns angeborene, kontinuierliche Folge von triebenergetisch motivierten Erwartungen, die erfüllt werden müssen, ehe der Organismus sich unbeeinträchtigt auf seine nächste (evolutionär festgelegte) Entwicklungsstufe begeben kann. Werden sie es nicht – und dies beginnt mit dem ersten Atemzug des Neugeborenen –, so ist das schließliche Ergebnis ein Leben in Unzufriedenheit, Vertrauensmangel, Liebesunfähigkeit und verdrängter Angst: die fatale Art von Verklemmung, an der wir «Zivilisierten» durchweg leiden.

Um konkreter zu werden: Es gibt kein Tier, das nicht «wüsste» (unfehlbar und ohne Zweifel), was es braucht für sein Wohlbehagen und seine Gesundheit, was ihm bekömmlich ist – und vor allem: wie es seine Jungen behandeln muss, damit diese sich optimal entwickeln. Der Mensch in der Zivilisation jedoch weiß es nicht – er hat es vergessen.

Kleinkinder allerdings tragen dieses unfehlbare Wissen über die eigenen Bedürfnisse noch in sich. Und schreien es, da die Umstände dem generell nicht entsprechen, heraus in tiefer Seelenqual – zu einem Zeitpunkt, da sie noch nicht einmal sprechen, geschweige denn logisch denken können. Nur selten wird der Ausdruck dieser Qual als solcher von Eltern oder anderen Pflegepersonen verstanden und beachtet. Schmerz, Angst, extreme Verstörung und Verunsicherung insbesondere hinsichtlich dessen, was richtig ist, sind auch dann die Folge, wenn sich keine besonders offenkundigen «neurotischen» Symptome einstellen. Denn die früheste Erfahrung war: Alles ist falsch. Also wird auch das eigene Verhalten falsch. Im günstigsten Fall ist das Resultat ein fanatisches Sich-Klammern an äußere Autoritäten. Im schlimmsten: Kriminalität, Sucht, Psychose, Selbstmord – all das, worunter wir als Einzelne wie als Gesellschaft immer deutlicher leiden. Hier, in der Vernachlässigung der Erwartungen des Kontinuums zum frühesten Zeitpunkt, liegt die Ursache für unser aller Unglück.

Das wahrhaft Revolutionäre an Liedloffs Buch besteht darin, dass es diese Zusammenhänge am Beispiel einer Gesellschaft, die tatsächlich noch anders ist, verdeutlicht; und damit, wie gesagt, Hoffnung liefert – auch für uns –, dass alles wieder anders werden könnte, weil die Fähigkeit zum Sich-Wohlfühlen im Hier und Jetzt unwiderlegbar in Reichweite des Menschen liegt, so wie er geboren wurde.

Nicht, dass wir, um diesen Zustand wiederzuerlangen, nun selbst leben müssten wie südamerikanische Indianer. Das Leben der Yequana gilt in diesem Buch nur als Beispiel. Wesentlich ist, dass wir endlich beginnen, uns neue Gedanken zu machen über die Beschaffenheit des Menschen. Tun wir es in dem Sinne, wie Jean Liedloff es uns nahelegt: Unser Leben kann, ja muss sich von Grund auf verändern – besonders, was unsere Einstellung zu den Kindern betrifft, die ja die verkörperte Hoffnung der Menschheit sind. In diesem Sinne hat «Auf der Suche nach dem verlorenen Glück» uns sehr Wesentliches zu sagen – Dinge, die selbst der Schulwissenschaft bisher nicht bekannt sind. Es ist Zeit, dass sie gesagt werden – und dass wir alle dementsprechend zu handeln beginnen, auf dass die Herrschaft der Angst in der Welt endlich eingedämmt werde.

Rainer Taëni

1. Wie sich meine Ansichten so grundlegend wandelten

Mit diesem Buch möchte ich eine These vortragen und nicht eine Geschichte erzählen. Doch halte ich es für zweckmäßig, ein wenig von meiner Vorgeschichte zu berichten, etwas darüber, wie der Boden für meine These vorbereitet wurde. Dies mag erklären helfen, wieso meine Ansichten sich so weit von denen der Amerikaner des 20. Jahrhunderts, unter denen ich aufwuchs, entfernten.

Ich begab mich in die südamerikanischen Urwälder, ohne eine Theorie beweisen zu wollen, mit nicht mehr als normaler Neugier auf die Indianer und einer vagen Hoffnung, dort irgendetwas Bedeutsames zu lernen. Auf meiner ersten Reise nach Europa wurde ich in Florenz von zwei italienischen Forschern eingeladen, mich ihrer Diamantensuchexpedition in der Gegend des Caroni in Venezuela (eines Nebenflusses des Orinoko) anzuschließen. Es war eine Einladung in letzter Minute, und mir blieben zwanzig Minuten, um mich zu entscheiden, zum Hotel zu stürzen, zu packen, zum Bahnhof zu rasen und auf die gerade anfahrende Bahn zu springen.

Es war sehr dramatisch; aber dann doch ziemlich beängstigend, als der Wirbel sich plötzlich legte und ich die Kofferstapel in unserem trübe beleuchteten Abteil wahrnahm, gespiegelt in den staubigen Fenstern, und erkannte, dass ich unterwegs war zu einem wirklichen Urwald.

Mir war keine Zeit geblieben, mir über die Gründe, aus denen ich fahren wollte, klarzuwerden, doch meine Reaktion war sekundenschnell und sicher gewesen. Das Unwiderstehliche war für mich nicht der Gedanke an die Diamanten, obwohl das Ausgraben eines Vermögens aus tropischen Flussbetten sich weit aufregender anhörte als irgendeine andere mir denkbare Arbeit. Das Wort «Urwald» war es, das allen Zauber in sich trug, vielleicht wegen eines Erlebnisses, das mir als Kind widerfuhr.

Es geschah, als ich acht war, und es schien große Bedeutung zu haben. Immer noch betrachte ich es als eine wertvolle Erfahrung; doch wie die meisten solcher Augenblicke der Erleuchtung gewährte es einen flüchtigen Blick auf die Existenz einer Ordnung, ohne ihre Struktur aufzudecken oder anzuzeigen, wie sich ein solcher Einblick über die Verwirrungen des Alltags hinwegretten ließe. Am enttäuschendsten war, dass die Überzeugung, ich hätte endlich die unfassbare Wahrheit geschaut, wenig oder gar nichts dazu beitrug, meine Schritte durch den Wirrwarr zu lenken. Die kurze Vision war zu flüchtig, um den Rückweg zur Anwendbarkeit zu überleben. Ihr standen all meine weltlichen Motivationen entgegen und, am verheerendsten, die Macht der Gewohnheit; dennoch ist sie vielleicht erwähnenswert: war sie doch ein Hinweis auf jenes Gefühl der Richtigkeit (eleganter lässt es sich wohl nicht ausdrücken), von dessen Suche dieses Buch handelt.

Das Ereignis trug sich zu auf einer Wanderung in den Wäldern von Maine, wo ich in einem Sommerzeltlager lebte. Ich war die Letzte der Gruppe; ich war ein wenig zurückgeblieben und beeilte mich gerade, den Abstand aufzuholen, als ich durch die Bäume hindurch eine Lichtung erblickte. Eine prächtige Tanne stand an ihrem Außenrand und in der Mitte ein kleiner Erdhügel, bedeckt von glänzendem, fast leuchtendem, grünem Moos. Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen schräg auf das blauschwarze Grün des Nadelwaldes. Das kleine Dach, das vom Himmel zu sehen war, war von vollkommenem Blau. Das ganze Bild war von einer Vollständigkeit, einer solchen Vollkommenheit konzentrierter Kraft, dass es mich abrupt stehen bleiben ließ. Ich trat an den Rand der Lichtung und dann, behutsam wie an einen magischen oder heiligen Ort, in ihre Mitte, wo ich mich setzte und dann hinlegte, die Wange gegen das frische Moos gepresst. «Hier ist es», dachte ich, und ich fühlte die Angst, die mein Leben durchzog, von mir abfallen. Dies endlich war der Ort, wo die Dinge so waren, wie sie sein sollten. Alles war an seinem Platz – der Baum, die Erde darunter, der Felsen, das Moos. Im Herbst würde er richtig sein; im Winter unterm Schnee vollkommen in seiner Winterlichkeit. Der Frühling würde wiederkehren, und Wunder auf Wunder würde sich entfalten, jedes zu seiner Zeit; manches wäre abgestorben, anderes entfaltete sich im ersten Frühling; aber alles von gleicher und vollkommener «Richtigkeit».

Ich spürte, dass ich die fehlende Mitte der Dinge entdeckt hatte, den Schlüssel zur Richtigkeit selbst, und dass ich mir dieses Wissen, das an jenem Ort so klar war, bewahren müsse. Einen Augenblick lang war ich versucht, ein Stückchen von dem Moos mitzunehmen, um es als Erinnerung zu behalten; aber ein recht erwachsener Gedanke hielt mich zurück. Ich fürchtete plötzlich, dass ich, indem ich mir ein Amulett aus Moos aufhob, den wirklichen Preis verlieren könnte: die Einsicht, die ich gehabt hatte. So könnte es geschehen, dass ich meine Vision als gesichert betrachten würde, solange ich das Moos behielt, nur um eines Tages festzustellen, dass ich nichts als ein Krümelchen toter Vegetation besaß.

Ich nahm also nichts, gelobte mir aber, mich jeden Abend vor dem Zubettgehen an die Lichtung zu erinnern und mich dadurch niemals von ihrer stabilisierenden Kraft zu entfernen. Ich wusste schon als Achtjährige, dass die Verwirrung der Wertbegriffe, die mir von Eltern, Lehrern, anderen Kindern, Kindermädchen, Jugendarbeitern und anderen aufgedrängt wurden, mit meinem Heranwachsen nur schlimmer werden würde. Die Jahre würden noch Komplikationen hinzufügen und mich in ein immer undurchdringlicheres Dickicht von Gutem und Schlechtem, Wünschenswertem und Unerwünschtem hineinsteuern. Ich hatte bereits genug erlebt, um das zu wissen. Wenn ich aber die Lichtung bei mir behalten könnte, so dachte ich, würde ich mich nie verirren.

In jener Nacht im Lager rief ich mir die Lichtung ins Gedächtnis zurück, und dabei erfüllte mich ein Gefühl der Dankbarkeit, und ich erneuerte meinen Schwur, mir meine Vision zu bewahren. Und Jahre hindurch behielt sie ihre Kraft unvermindert bei, da ich Nacht für Nacht im Geist den kleinen Erdhügel, die Tanne, das Licht, die Ganzheit erblickte.

Im Laufe der Jahre jedoch stellte ich oft fest, dass ich tage- oder wochenlang hintereinander die Lichtung vergessen hatte. Ich versuchte, das Gefühl der Erlösung zurückzuerlangen, das sie früher durchdrungen hatte. Aber mein Horizont erweiterte sich. Die einfachere Art von Wertbegriffen aus der Kinderstube (artig oder ungezogen) war allmählich von den oft widerstreitenden Werten meines Kulturkreises und meiner Familie abgelöst worden, einer Mischung viktorianischer Tugenden und Umgangsformen mit einer starken Neigung zu Individualismus, liberalen Ansichten und künstlerischen Talenten und vor allem der Bewunderung eines glänzenden und originellen Verstandes, wie meine Mutter ihn besaß.

Ehe ich etwa fünfzehn war, erkannte ich mit dumpfer Traurigkeit (da ich nicht mehr wusste, worüber ich trauerte), dass mir die Bedeutung der Lichtung verloren gegangen war. Ich erinnerte mich vollkommen an die Szene im Wald, doch, wie befürchtet, als ich es unterlassen hatte, das Stückchen Moos als Andenken mitzunehmen: Ihre Bedeutsamkeit war verschwunden. Stattdessen war mein geistiges Bild von der Lichtung zu dem leeren Amulett geworden.

Ich lebte bei meiner Großmutter; und als sie starb, beschloss ich, nach Europa zu fahren, obgleich ich die Universität noch nicht abgeschlossen hatte. Während meiner Trauer waren meine Gedanken nicht sehr klar; da aber jede Hinwendung zu meiner Mutter stets damit endete, dass ich verletzt wurde, hatte ich das Gefühl, ich müsse eine riesige Anstrengung machen, mich auf die eigenen Füße zu stellen. Keiner der Wünsche, die zu haben man von mir erwartete, schien mir erstrebenswert: Ich wollte weder für Modejournale schreiben noch eine Karriere als Fotomodell machen oder eine weitere Ausbildung absolvieren.

In meiner Kabine auf dem Schiff nach Frankreich weinte ich aus Angst, dass ich für die Hoffnung auf etwas Namenloses vielleicht all das mir Vertraute verspielt haben könnte. Doch umkehren wollte ich nicht.

Ich streifte in Paris umher, machte Skizzen und schrieb Gedichte. Mir wurde eine Stelle als Mannequin bei Dior angeboten, aber ich nahm sie nicht an. Ich hatte Verbindungen zur französischen Zeitschrift ‹Vogue›, nutzte sie jedoch nicht, außer für vorübergehende Jobs als Modell, die keine Verpflichtung mit sich brachten. Aber ich fühlte mich in diesem fremden Land mehr daheim als je in meiner Geburtsstadt New York. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war, doch hätte ich noch immer nicht sagen können, wonach ich suchte. Im Sommer fuhr ich nach Italien, zuerst nach Venedig und dann, nach einem Besuch in einem Landhaus in der Lombardei, nach Florenz. Dort traf ich die beiden jungen Italiener, die mich nach Südamerika zur Diamantensuche einluden. Wiederum – wie schon bei meiner Abreise aus Amerika – erschreckte mich die Kühnheit meines Schrittes, aber nie dachte ich auch nur für einen Augenblick an Rückzug.

Als endlich nach vielen Vorbereitungen und Verzögerungen die Expedition begann, reisten wir den Carcupi-Fluss hinauf, einen kleinen unerforschten Nebenfluss des Caroni. In einem Monat legten wir eine beträchtliche Strecke flussaufwärts zurück, trotz der Hindernisse – hauptsächlich über den Fluss gefallene Baumstämme –, durch die wir uns mit Äxten und Macheten eine Durchfahrt für das Kanu hauen mussten, oder der Wasserfälle und Stromschnellen, über die wir mit der Hilfe von zwei Indianern etwa eine Tonne Material transportierten. Bis wir schließlich einen Lagerstützpunkt errichteten, von dem aus wir einige Nebenflüsschen erforschen wollten, hatte die Wassermenge des kleinen Flusses bereits um die Hälfte abgenommen.

Es war unser erster Rasttag, seit wir auf dem Carcupi fuhren. Nach dem Frühstück entfernten sich der italienische Führer und die beiden Indianer, um die geologische Lage zu erkunden, während der andere Italiener sich dankbar in seiner Hängematte räkelte.

Ich nahm eines der zwei Taschenbücher, die ich unter den wenigen englischen Titeln auf dem Ciudad-Bolivar-Flughafen ausgewählt hatte, und suchte mir einen Sitzplatz zwischen den Wurzeln eines breiten Baumes, der den Fluss überspannte. Ich las das Erste Kapitel zum Teil durch, nicht etwa gedankenverloren, sondern der Geschichte mit normaler Aufmerksamkeit folgend, als mich plötzlich mit ungeheurer Wucht eine Erkenntnis durchfuhr: «Hier ist es ja! Die Lichtung!» Die ganze mit der Einsicht des kleinen Mädchens verbundene Erregung kehrte zurück. Ich hatte sie verloren; und jetzt, in einer ausgewachsenen Lichtung, im größten Urwald der Erde, war sie zurückgekommen. Die Mysterien des Urwaldlebens, die Lebensweise seiner Tiere und Pflanzen, seine dramatischen Gewitter und Sonnenuntergänge, seine Schlangen, seine Orchideen, seine faszinierende Jungfräulichkeit, die Schwierigkeit, ihn zu durchdringen, und seine verschwenderische Schönheit ließen ihn mir sogar in noch lebhafterem und tieferem Sinne «richtig» erscheinen. Es war Richtigkeit in großartiger Dimension. Als wir ihn überflogen, hatte er wie ein großer grüner Ozean ausgesehen, der sich beidseitig bis zum Horizont erstreckte – von Wasserwegen durchzogen, hoch erhoben auf trotzigen Bergen, dem Himmel dargeboten auf den offenen Händen der Hochebenen. In jeder einzelnen seiner Zellen vibrierte er mit Leben, mit Richtigkeit – sich stets verändernd, stets unversehrt und immer vollkommen.

In meiner Freude meinte ich an jenem Tag, ich sei am Ende meiner Suche angelangt, mein Ziel sei erreicht: der klare Einblick in das Wesen der Dinge, so, wie sie unverfälscht und am besten sind. Es war die «Richtigkeit», die ich durch die Verunsicherungen meiner Kindheit hindurch zu erkennen versucht hatte wie auch in den Jahren des Heranwachsens – in den Gesprächen, Diskussionen, Auseinandersetzungen, die oft bis zur Morgendämmerung geführt wurden, in der Hoffnung, einen Blick davon zu erhaschen. Es war die Lichtung – verloren, gefunden und jetzt wiedererkannt, diesmal für immer. Um mich herum, über mir, unter meinen Füßen war alles richtig – Geborenwerden, Leben, Sterben und Erneuerung, ohne Bruch in der Ordnung des Ganzen.

Liebevoll streichelte ich mit den Händen über die mächtigen Wurzeln, die mich wie ein Sessel umfassten, und ich begann mit dem Gedanken zu spielen, bis an mein Lebensende im Urwald zu bleiben.

Als die Carcupi-Expedition beendet war (wir hatten tatsächlich einige Diamanten gefunden) und wir uns zu dem kleinen Außenposten Los Caribes zurückbegaben, um Vorräte zu holen, sah ich im Spiegel, dass ich zugenommen hatte; zum ersten Mal in meinem Leben hätte man mich eher als schlank denn als mager beschreiben können. Ich fühlte mich stärker, fähiger und weniger furchtsam als je zuvor. Ich blühte auf in meinem geliebten Urwald. Mir blieben immer noch sechs Monate, um darüber nachzudenken, wie ich es schaffen könnte, auch nach der Expedition dort zu bleiben. Vorerst brauchte ich den damit verbundenen praktischen Problemen noch nicht ins Auge zu sehen.

Als die Monate jedoch verstrichen waren, war ich bereit, den Urwald zu verlassen. Meine blühende Gesundheit war durch Malaria heruntergekommen und meine Moral durch Hunger auf Fleisch und grünes Gemüse untergraben. Ich hätte einen unserer schwer erarbeiteten Diamanten für ein Glas Orangensaft getauscht. Und ich war magerer als je zuvor.

Aber nach siebeneinhalb Monaten hatte ich eine weit genauere Vorstellung von der Richtigkeit des Urwaldes. Ich hatte die Tauripan-Indianer gesehen, nicht nur die beiden, die wir angeheuert hatten, sondern ganze Sippschaften, Familien daheim in ihren Hütten oder solche, die in Gruppen umherzogen, jagten, ein artspezifisches Leben in ihrer natürlichen Umgebung führten, ohne nennenswerte äußere Unterstützung, abgesehen von Machete und Stahlaxt, die ihre ursprüngliche Steinaxt ersetzten. Es waren die glücklichsten Menschen, die ich je gesehen hatte, aber damals bemerkte ich es kaum. Sie waren so anders als wir: kleiner, weniger muskulös und doch imstande, schwerere Lasten über viel längere Strecken zu tragen als die besten von uns. Ich fragte mich nicht einmal, warum das so war. Sie dachten in anderen Denkmustern. (Zum Beispiel fragte einer von uns: «Wenn wir nach Padacapah wollen, sollten wir dann im Kanu flussaufwärts fahren oder über Land marschieren?», und ein Indianer antwortete: «Ja.») Selten nur war mir deutlich bewusst, dass sie von der gleichen Art waren wie wir, obwohl, danach gefragt, ich das natürlich ohne Zögern bejaht hätte. Die Kinder waren durchweg gut erzogen: Sie stritten sich nie, wurden nie bestraft, gehorchten immer willig und sofort; unser abschätziges Urteil «So sind eben Kinder» passte auf sie nicht, doch fragte ich mich nie, wieso nicht. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Urwald «richtig» war, auch nicht, dass das, wonach immer ich suchte, am ehesten dort gesucht werden müsste. Aber die Richtigkeit und Lebensfähigkeit seines Ökosystems, der Pflanzen, Tiere, Indianer usw. fügten sich nicht, wie ich anfangs noch glaubte, automatisch zu einer Antwort und damit zu einer persönlichen Lösung für mich zusammen.

Auch dies war mir damals noch nicht klar. Ich schämte mich ein wenig meiner wachsenden Gier nach Spinat, Orangensaft und Ruhe. Ich empfand eine wildromantische Liebe und Ehrfurcht für den großen, gleichgültigen Wald, und schon während der Vorbereitungen für die Abreise erwog ich Möglichkeiten einer Rückkehr. In Wahrheit hatte ich für mich persönlich überhaupt keine Richtigkeit gefunden. Ich hatte sie nur von außen wahrgenommen, und es war mir gelungen, sie zu erkennen, aber auch das nur sehr oberflächlich. Irgendwie sah ich nicht das Offensichtliche: dass die Indianer, als Menschen wie ich und als Teilhabende an der Richtigkeit des Urwaldes, der gemeinsame Nenner waren, das Bindeglied zwischen der mich umgebenden Harmonie und meiner Sehnsucht danach.

Einige schwache Lichtblitze drangen dennoch zu meinem zivilisationsblinden Verstand durch: beispielsweise, was den Begriff von Arbeit betraf. Wir hatten unser etwas zu kleines Aluminiumkanu gegen einen viel zu großen Einbaum eingetauscht. In diesem aus einem einzigen Baumstamm geschnitzten Gefährt reisten siebzehn Indianer auf einmal mit uns. Auch mit all ihrem Gepäck zusätzlich zu unserem und bei vollzähliger Besatzung sah das Kanu noch immer recht leer aus. Es war eine entmutigende Vorstellung, wie wir es – diesmal mit nur vier oder fünf Indianern, die helfen konnten – fast einen Kilometer über Felsgestein an einem riesigen Wasserfall vorbei transportieren sollten. Es bedeutete, dass wir Baumstämme quer über den Weg vor das Kanu legen und es zentimeterweise in der gnadenlosen Sonne voranziehen mussten, wobei wir jedes Mal unvermeidlich in die Spalten zwischen den Stämmen abrutschen und uns Schienbeine, Knöchel – oder worauf wir sonst immer landeten – am Granit abschürfen würden, wenn das Kanu außer Kontrolle geraten und sich drehen würde. Wir hatten den Transport mit dem kleinen Kanu schon einmal bewerkstelligt; und die beiden Italiener und ich waren im Bewusstsein des vor uns Liegenden mehrere Tage in Angst vor der schweren Arbeit und den Schmerzen. An dem Tag, an dem wir die Arepuchifälle erreichten, waren wir darauf vorbereitet zu leiden und begannen, mit grimmigem Gesicht und jeden Augenblick hassend, das Ding über die Felsen zu zerren.

Die vermaledeite Piroge war so schwer, dass sie mehrmals, wenn sie zur Seite kippte, einen von uns gegen den brennendheißen Felsen quetschte, bis die anderen sie wegziehen konnten. Schon nach einem Viertel des Weges waren alle Fußknöchel blutig. Als ich mich einmal für einen Augenblick entschuldigte, ergriff ich die Gelegenheit, auf einen hohen Felsen zu springen, um die Szene zu fotografieren. Von meinem Aussichtspunkt und aus dem momentanen Abstand beobachtete ich eine äußerst interessante Tatsache. Hier vor mir waren mehrere Männer mit ein und derselben Aufgabe beschäftigt. Zwei von ihnen, die Italiener, waren angespannt, verzogen das Gesicht und verloren bei allem die Beherrschung; sie fluchten ununterbrochen in der für Toskaner charakteristischen Art. Die Übrigen, alles Indianer, unterhielten sich prächtig. Sie lachten über die Schwerfälligkeit des Kanus und machten ein Spiel aus dem Kampf, sie entspannten sich zwischen den Stößen, lachten über die eigenen Kratzer und waren besonders erheitert, wenn das Kanu beim Vorwärtsschwanken mal den einen, mal den anderen unter sich festnagelte. Der Betroffene, mit nacktem Rücken gegen den sengenden Granit gepresst, lachte aus Freude über seine Befreiung unweigerlich am lautesten, sobald er wieder atmen konnte.

Alle verrichteten die gleiche Arbeit, alle erfuhren Mühe und Schmerz. Es gab keinen Unterschied in unseren Situationen, nur hatte uns unsere Kultur den Glauben eingepflanzt, eine derartige Kombination von Umständen stelle auf der Skala des Wohlbefindens ein unbezweifelbares Tief dar; dass uns in der Angelegenheit eine Wahl blieb, war uns gar nicht bewusst.

Die Indianer andererseits, denen ebenfalls nicht bewusst war, dass sie eine Wahl getroffen hatten, befanden sich in besonders fröhlicher Geistesverfassung und genossen das kameradschaftliche Zusammenspiel; und natürlich waren ihnen die vorangegangenen Tage nicht durch lang angestaute Beunruhigung verdorben worden. Jede Bewegung nach vorn war für sie ein kleiner Sieg. Als ich mit dem Fotografieren fertig war und mich wieder der Gruppe anschloss, gab ich freiwillig die zivilisierte Haltung auf und genoss den letzten Teil des Transportes wirklich. Sogar die Abschürfungen und blauen Flecke, die ich erlitten hatte, schrumpften mit bemerkenswerter Leichtigkeit auf das zurück, was sie tatsächlich waren: kleine Verletzungen, die bald heilen würden und weder eine unfreundliche Gefühlsreaktion wie Wut, Selbstmitleid oder Groll nötig machten, noch die Sorge, wie viel es davon wohl bis zum Ende des Schleppens noch geben würde. Im Gegenteil: Ich empfand plötzlich Anerkennung für meinen ausgezeichnet konstruierten Körper, der sich ohne Anweisungen oder Entscheidungen meinerseits wieder zurechtflicken würde.

Schon bald jedoch wich mein Gefühl der Befreiung wieder der Tyrannei der Gewohnheit, dem schweren Gewicht kultureller Konditionierung, dem allein fortwährende bewusste Anstrengung entgegenwirken kann. Ich unternahm die notwendige Anstrengung nicht und kehrte daher von der Expedition auch in dieser Hinsicht ohne großen Gewinn aus meiner Entdeckung zurück.

Ein weiterer Hinweis auf die menschliche Natur und Arbeit ergab sich später.

Zwei Indianerfamilien wohnten in einer Hütte mit Aussicht auf einen herrlichen weißen Strand, eine Lagune in einem weiten Halbkreis von Felsen mit dem Caroni und den Arepuchifällen dahinter. Der eine Familienälteste hieß Pepe, der andere Cesar. Pepe erzählte mir die Geschichte.

Offenbar war Cesar in sehr jungem Alter von Venezolanern «adoptiert» worden und war mit ihnen in eine Kleinstadt gezogen. Man schickte ihn zur Schule, er lernte lesen und schreiben und wurde als Venezolaner aufgezogen. Als er erwachsen war, kam er, wie viele Männer aus jenen Städten in Guyana, zum Oberen Caroni, um sein Glück bei der Diamantensuche zu versuchen. Er arbeitete gerade mit einer Gruppe von Venezolanern, als er von Mundo, dem Häuptling der Tauripans von Guayparu, erkannt wurde.

«Bist du nicht von José Grande in sein Haus mitgenommen worden?», fragte ihn Mundo.

«Ich wurde von José Grande aufgezogen», sagte Cesar der Geschichte nach.

«Dann bist du zu deinem eigenen Volk zurückgekehrt. Du bist ein Tauripan», sagte Mundo.

Worauf Cesar nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kam, es würde ihm als Indianer besser gehen, als wenn er als Venezolaner lebte; er kam also nach Arepuchi, wo Pepe wohnte.

Fünf Jahre lang lebte Cesar nun mit Pepes Familie, heiratete eine hübsche Tauripan-Frau und wurde Vater eines kleinen Mädchens. Da Cesar nicht gern arbeitete, aßen er, seine Frau und seine Tochter von dem, was in Pepes Pflanzung wuchs. Cesar war hoch erfreut, dass Pepe von ihm nicht erwartete, er müsse sich einen eigenen Garten anlegen oder auch nur bei der Arbeit in dem seinen helfen. Pepe arbeitete gern, und da Cesar das nicht tat, passte diese Regelung beiden Seiten.

Cesars Frau beteiligte sich gern mit den anderen Frauen und Mädchen zusammen am Schneiden und Zubereiten der Cassaba, aber Cesar tat nichts gern, außer den Tapir und gelegentlich anderes Wild zu jagen. Nach einigen Jahren entwickelte er eine Neigung zum Fischen und fügte seine Fänge denen von Pepe und seinen zwei Söhnen hinzu, die immer gern fischten und seine Familie damit stets ebenso großzügig versorgt hatten wie ihre eigene.

Kurz vor unserem Eintreffen dort beschloss Cesar, sich einen eigenen Garten anzulegen, und Pepe half ihm bei jeder Kleinigkeit, von der Wahl der Lage bis zum Fällen und Verbrennen der Bäume. Pepe genoss das umso mehr, als er und sein Freund die ganze Zeit schwatzten und Späße machten.

Nach fünfjähriger Rückenstärkung hatte Cesar das Gefühl, dass ihn keiner zu diesem Projekt trieb und war ebenso frei, Freude an der Arbeit zu empfinden wie Pepe oder irgendein anderer Indianer.

Pepe erzählte uns, dass alle in Arepuchi darüber froh waren, da Cesar zunehmend unzufrieden und reizbar geworden war. «Er wollte sich gern einen eigenen Garten anlegen» – lachte Pepe – «aber er wusste es selber nicht!» Pepe fand es sehr komisch, dass es jemanden gab, der nicht wusste, dass er arbeiten wollte.

Mich brachten diese vereinzelten Hinweise darauf, dass wir in der Zivilisation einigen schwerwiegenden Missverständnissen hinsichtlich der menschlichen Natur verfallen sind, damals nicht auf allgemeine Prinzipien über diesen Sachverhalt. Doch wenn ich auch noch keine Vorstellung davon entwickelt hatte, was ich denn wissen wollte, oder auch nur Klarheit darüber, dass ich überhaupt etwas suchte, so erkannte ich doch wenigstens, dass ich einen Weg gefunden hatte, dem zu folgen sich lohnte. Das genügte, mir die nächsten Jahre hindurch eine Richtung zu geben.

Die zweite Expedition, diesmal in eine Gegend sechs Wochen weit von den äußersten Grenzgebieten des spanisch sprechenden Venezuela entfernt, wurde von einem anderen Italiener geleitet, einem Professor mit der festen Meinung, Mädchen hätten in Urwäldern nichts zu suchen. Dennoch gelang es einem meiner früheren Reisepartner, mir seine widerwillig gewährte Zustimmung zu verschaffen. So konnte ich also den Weg in die Steinzeitwelt der Yequana- und Sanema-Stämme beschreiten – in eine Welt, die durch das, was man «undurchdringlichen» Regenwald nannte, vor äußeren Einflüssen bewahrt geblieben war: Sie lag im Flussbecken des oberen Caura nahe der brasilianischen Grenze.

Die stark individuelle Persönlichkeit der Männer, Frauen und Kinder war hier sogar noch offensichtlicher, war es doch für sie noch nie notwendig gewesen, als Abwehr gegen Fremde einen leeren Gesichtsausdruck zu kultivieren, wie es die Tauripans taten; aber in diesem völlig fremden Land übersah ich, dass der unwirkliche Eindruck seiner Bewohner darauf zurückzuführen war, dass es bei ihnen «Unglücklichsein» nicht gab, ein bedeutender Faktor in jeder mir bekannten Gesellschaft. Auf verschwommene Weise ist es mir wohl so vorgekommen, als führe irgendwo hinter den Bäumen, knapp außer Sichtweite, der Geist Cecil B. De Milles Regie – in klassischem, eindimensionalem Hollywood-Stil mit allen Klischees über «Wilde». Unsere «Regeln» über menschliches Verhalten waren auf sie nicht anwendbar.

Drei Wochen lang lebte ich allein unter den Yequana; meine Reisegefährten waren in dieser Zeit, wie sie berichteten, von einer großen Gruppe Pygmäen, denen sie nicht ausweichen konnten, aufgehalten und wie Haustiere gehalten worden. In dieser kurzen Zeit verlernte ich mehr von den mir anerzogenen Grundsätzen als auf der gesamten ersten Expedition. Und ich fing an, den Wert des Verlernungsprozesses zu erkennen. Mehrere weitere Beiträge zu einer alternativen Ansicht über das Thema Arbeit drangen durch die abschirmenden Schichten meiner Vorurteile.

Einer war das offensichtliche Fehlen eines Wortes für «Arbeit» im Wortschatz der Yequana. Sie verfügten über das Wort ‹tarabaho› für Geschäfte mit Nichtindianern, welche sie aber, abgesehen von uns, fast nur vom Hörensagen her kannten. Es handelte sich hier um eine geringfügig falsche Aussprache des spanischen Wortes ‹trabajo›; es bezog sich recht genau auf das, was die Conquistadores und deren Nachfolger darunter verstanden. Mir fiel auf, dass es von allen Wörtern, die ich von ihnen lernte, die einzige Ableitung aus dem Spanischen war. Es schien bei den Yequana keinen Begriff von Arbeit zu geben, welcher dem unseren ähnlich war. Es gab Worte für jede Tätigkeit, die darin enthalten sein könnte, aber keinen Gattungsbegriff.

Da sie zwischen Arbeit und anderen Arten, die Zeit zu verbringen, nicht unterschieden, war es kein Wunder, dass sie sich in Bezug auf das Wasserholen so irrational (wie ich damals urteilte) verhielten. Mehrmals täglich verließen die Frauen ihre Feuerstelle und gingen jedes Mal mit zwei oder drei kleinen Kürbisflaschen eine Wegstrecke den Berg hinunter, balancierten einen halsbrecherischen Hang hinab, der bei Nässe äußerst glitschig war, füllten die Kürbisse in einem Bächlein und kletterten nach oben zum Dorf zurück. Der ganze Vorgang nahm etwa zwanzig Minuten in Anspruch. Viele von ihnen trugen außer den Kürbisflaschen noch Babys.

Als ich das erste Mal mit hinunterging, fiel mir auf, wie unbequem es doch war, wegen eines ständig benötigten Gebrauchsartikel so weit zu laufen. Es war unbegreiflich, wieso sie sich nicht eine Dorflage mit leichterem Zugang zum Wasser aussuchten. Auf der letzten Strecke des Weges, am Flussufer, war ich verkrampft vor Angst, weil ich auf jeden Schritt achten musste, um nicht hinzufallen. Die Yequana verfügen freilich über einen hervorragenden Gleichgewichtssinn und kennen, wie die nordamerikanischen Indianer, keine Höhenangst; doch tatsächlich fielen weder sie noch ich je hin; und mir allein missfiel es, auf meine Schritte achtgeben zu müssen. Ihre Schritte waren ebenso vorsichtig, doch sie verzogen nicht wie ich das Gesicht über die «Mühsal» des Aufpassens. Sie fuhren fort zu schwatzen und leise ihre Späße zu machen, auf ebenem oder abschüssigem Boden; denn gewöhnlich gingen sie in Gruppen von zwei, drei oder mehr, und wie immer herrschte Festtagsstimmung.

Einmal am Tag legte jede Frau ihre Kürbisflaschen und ihre Kleidung (einen kleinen schürzenähnlichen Lendenschurz sowie die an Fußgelenken, Knien, Handgelenken, Oberarmen, Hals und Ohren getragenen Ketten) ans Ufer und badete sich und ihr Baby. Wie viele Frauen und Kinder auch immer daran teilnahmen – das Bad erweckte den Eindruck von römischem Luxus. Jede Bewegung verriet sinnliche Freude, und die Babys wurden wie so wunderbare Schätze gehandhabt, dass ihre Besitzerinnen sich genötigt fühlten, mit vorgetäuschter Bescheidenheit im Gesicht ihre Freude und ihren Stolz zu verbergen. Der Gang den Berg hinab verlief in demselben Stil des Nur-ans-Beste-gewöhnt-Seins, beinahe selbstgefällig, und ihre letzten gefahrvollen Schritte in den Fluss hinein hätten einer Miss World Ehre gemacht, die gerade vortritt, um ihre Krone zu empfangen. Dies traf auf alle Yequana-Frauen und -Mädchen zu, die ich sah, obgleich wegen ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten der jeweilige Ausdruck ihres Wohlbehagens gänzlich verschieden war.

Nach einiger Überlegung fiel es mir schwer, mir eine «bessere» Art vorzustellen, wie die Zeit des Wasserholens genutzt werden könnte, jedenfalls im Hinblick auf das Wohlbehagen. Andererseits, wenn man den Fortschritt oder seine Handlanger Schnelligkeit, Leistung und Neuartigkeit als Maß nahm, waren die Gänge zum Wasser ausgesprochen schwachsinnig. Doch hatte ich den Erfindungsreichtum des betreffenden Volkes zur Genüge erfahren, um nicht zu bezweifeln, dass sie einige Bambusröhren oder einen Seilzug zur Überwindung des glitschigen Teils zusammengesetzt oder mir eine Hütte am Fluss gebaut hätten, hätte ich sie nur gebeten, etwas zu erfinden, um mir den Weg zum Wasserholen zu ersparen. Ihnen selbst fehlte der Antrieb zum Fortschritt, empfanden sie doch weder ein Bedürfnis noch einen Druck aus irgendeiner Richtung, ihre Lebensweise zu ändern.

Dass ich es als Bürde empfand, von meiner vollkommen ausreichenden Koordination Gebrauch machen zu müssen, oder mich, einem unreflektierten Grundsatz folgend, über den Zeitaufwand für die Erfüllung eines Bedürfnisses ärgerte, war eine willkürliche Wertzuordnung, die ihre Kultur nicht teilte.

Eine weitere die Arbeit betreffende Einsicht ergab sich mehr als Erfahrung denn als Beobachtung. Anchu, der Häuptling des Yequana-Dorfes, machte es sich zur Gewohnheit, mich, wann immer er die Gelegenheit fand, zu glücklicherem Verhalten anzuleiten. Ich hatte soeben einen Glasschmuck gegen sieben Zuckerrohre eingetauscht und war auch dabei, eine Lektion über die Handelsmethoden eines Volkes in mich aufzunehmen, dem gute Beziehungen untereinander wichtiger sind als ihre Geschäfte; darüber werde ich später noch etwas sagen. Anchus Frau machte sich schon auf den Weg zurück zu ihrer Hütte an einem einsamen Ort in der Nähe; Anchu sowie ein Sanema, der offenbar sein Hausdiener war, und ich sollten über zwei Berge zu dem auf einem dritten Berg gelegenen Dorf zurückkehren. Die sieben Rohre lagen auf dem Boden, wo Anchus Frau sie liegengelassen hatte. Anchu wies den Sanema an, drei zu nehmen, und nahm selber weitere drei auf die Schulter; einen ließ er auf dem Boden liegen. Ich erwartete, die Männer würden sie alle tragen, und als Anchu auf das letzte Rohr wies und sagte: «Amaadeh» – Du –, empfand ich einen Anflug von Ärger bei dem Gedanken, dass man mir befahl, etwas den steilen Weg zurückzutragen, wo es doch zwei starke Männer gab, die das tun konnten. Doch fiel mir gerade rechtzeitig ein, dass Anchu sich früher oder später immer als derjenige erwies, der beinahe alles am besten wusste.

Ich nahm das Rohr auf die Schulter, und da Anchu wartete, dass ich voranginge, begann ich den ersten Aufstieg. Die Last der Angst vor dem langen Rückmarsch, die sich auf dem Hinweg angestaut und beim Mittagessen in Anchus Haus und dann im Zuckerrohrgarten noch verstärkt hatte, war nun noch durch die neue Tatsache vermehrt worden, dass ich zusätzlich ein schweres Zuckerrohr tragen sollte. Die ersten paar Schritte waren erschwert durch das Gewicht der Erinnerung an die Mühsal, die mir Urwalddurchquerungen immer bereiteten, besonders bergauf und wenn ich irgendetwas zu tragen hatte, das mir die Hände nicht frei ließ.

Ganz plötzlich jedoch fiel all dieses zusätzliche Gewicht von mir ab. Anchu gab nicht das geringste Zeichen, dass ich schneller gehen solle, dass mein Ansehen leiden würde, wenn ich eine bequeme Gangart beibehielt, dass man mich auf Grund meiner Leistung beurteilte oder dass die Zeit unterwegs in irgendeiner Hinsicht weniger erfreulich sei als die Zeit nach der Ankunft.

Eile hatte auf ähnlichen Unternehmungen mit meinen weißen Reisegefährten stets eine Rolle gespielt, desgleichen die ängstliche Bestrebung, mit den Männern Schritt zu halten, um die Ehre des «schwachen Geschlechts» zu verteidigen, sowie die nie in Frage gestellte Annahme, es handele sich um eine unerfreuliche Angelegenheit, weil sie körperliches Durchhaltevermögen und innere Entschlossenheit auf die Probe stellte. Diesmal beseitigte das ganz anders geartete Verhalten von Anchu und dem Sanema diese Elemente: Ich war einfach jemand, der mit einem Zuckerrohr auf der Schulter durch den Urwald lief. Jedes Gefühl von Wettbewerb war verschwunden, und die physische Anstrengung verwandelte sich von einer meinem Körper auferlegten Bürde zu einem befriedigenden Beweis seiner Kraft; meine zähneknirschende Märtyrer-Entschlossenheit war nicht mehr angebracht.

Dann kam zu meiner Freiheit noch eine ganz neue Freude: Mir war plötzlich bewusst, dass ich nicht nur ein Zuckerrohr trug, sondern ein Stück von einer Last, die drei Gefährten sich teilten. Ich hatte von «Gemeinschaftsgeist» reden hören, bis der Begriff nichts mehr beinhaltete als Heuchelei in der Schule und im Sommerzeltlager. Die eigene Stellung war immer gefährdet gewesen. Man fühlte sich ständig bedroht, beobachtet, beurteilt. Das einfache Vorhaben, in Partnerschaft mit einem Gefährten eine Aufgabe zu erfüllen, war in einem Gewirr von Wettbewerbsgeist verlorengegangen; das Urgefühl der Freude darüber, seine Kräfte mit denen anderer zu vereinen, konnte nie auch nur aufkommen.

Unterwegs erstaunten mich die Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der ich ging. Normalerweise hätte ich mich, in Schweiß gebadet und mich zum Äußersten antreibend, nicht schneller bewegt. Vielleicht eröffnete sich mir eine Ahnung von dem Geheimnis der Indianer, wie sie es fertigbrachten, trotz ihrer im Allgemeinen geringeren Muskelkraft unsere wohlgenährten Muskelmänner zu schlagen. Sie gingen sparsam mit ihren Kräften um, indem sie sie nur zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe einsetzten und nicht an damit verknüpfte Spannungen verschwendeten.