Detective James Bryant glaubte nicht, dass der Mord an der Cozen-Familie etwas mit dem Family Man zu tun hatte. Mit seinen 45 Jahren hatte er schon so einige grässliche Morde gesehen, aber die des Family Man waren bei Weitem die schlimmsten. Dieser Bastard war vorsichtig, gerissen und durch und durch böse. Bryant glaubte nicht an diesen Blödsinn mit Degeneration, Selbstzerstörung und Abwärtsspirale. Das hier war kein Täter, der gefasst werden wollte. Wenn es so wäre, hätte er die ganze Zeit schon Hinweise hinterlassen – Nachrichten, provozierende Telefonanrufe, irgendwelche Spuren. Aber dieses Monster hatte ihnen nichts hinterlassen. Gerade das komplette Fehlen verwertbarer Spuren machte seine Verbrechen so einzigartig. Das war es auch gewesen, was Detective Bryant zu der Vermutung veranlasst hatte, dass die Morde alle zu einer Serie gehörten. Das und die Tatsache, dass die männlichen Opfer in allen Fällen – denen des Pine Street Slashers, des Chaperone und jetzt des Family Man – alle eine bemerkenswerte Ähnlichkeit hatten.
Natürlich hörte ihm niemand zu. Er hatte nicht den schicken Doktortitel und den Respekt einflößenden IQ seines Partners. Alles, was er hatte, waren seine 27 Dienstjahre und sein Instinkt. Und jetzt sagte ihm dieser Instinkt, dass mit dieser letzten Wendung der Ereignisse irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Mörder wie dieser hier wurden nicht von heute auf morgen selbstzerstörerisch. Es hätte schon vorher Anzeichen dafür gegeben, dass er die Kontrolle verlor, dass er nachlässig wurde. Die Morde wären schneller aufeinander gefolgt; sie wären willkürlicher geworden, hier und da hätte er kleine Fehler begangen. Aber die Morde waren weiterhin in einem Abstand von zwei bis drei Monaten erfolgt, und sie waren absolut perfekt geblieben. Gut, sie waren zunehmend brutaler geworden, aber selbst das war abzusehen gewesen. Trotzdem haftete den Verbrechen immer ein Element der Beherrschung an, eine kalkulierte, wohlüberlegte Planung. Dies passte einfach nicht zum letzten Verbrechen.
Er beobachtete, wie die Spurensicherung mit ihren Pinzetten, Asservatentüten, Handstaubsaugern und Fingerabdruckpulvern den Tatort abgraste. Der Fotograf schoss seine grausigen Bilder aus jedem denkbaren Winkel. Krampfarsch Baltimore betrachtete Linda Cozens halb aufgegessenes Herz, spähte in ihren zerfetzten Brustkorb und versuchte alle damit zu beeindrucken, wie abgeklärt und gelassen er sein konnte. Detective Bryant schüttelte nur lächelnd den Kopf. Er hatte gesehen, wie blass der Mann geworden war und wie seine Hand gezittert hatte, als er etwas auf seinen Notizblock kritzelte. Der kalte Schweiß war ein weiteres verräterisches Zeichen. Wie man mit dem Geruch einer Leiche fertigwurde, die ihre körperlichen Abfallprodukte von sich gegeben hatte, war etwas, das man nicht im Grundkurs Kriminalpsychologie lernte.
Detective Bryant ging nach draußen. Zumindest in diesem Fall war er sicher, dass sie die Antworten nicht in den Plastiktüten der Kriminaltechnik finden würden; die Antworten lagen in einem Krankenbett des Universitätsklinikums.
Die Spurensicherung ging fleißig ihrer Arbeit nach, also beschloss James, die Leute nicht weiter zu stören und auf ihren Bericht zu warten. Der Gerichtsmediziner war gerade angekommen, sah sogar einigermaßen nüchtern aus. Krampfarsch wimmelte immer noch zwischen den Leichen herum, auf der Suche nach Gott-weiß-was. Das würde sich alles als wunderbar nützlich erweisen, um den Mörder zu überführen, wenn sie ihn einmal hatten, aber es half ihnen nicht dabei, ihn zu schnappen, und das war alles, was James interessierte. Die Fingerabdrücke würden helfen, die Identifizierung des Zeugen zu bestätigen, aber James war sich ziemlich sicher, dass sie schon einen guten Tatverdächtigen hatten. Malcolm Davis.
»He, Baltimore!«, rief er.
»Ja, haben Sie was?« Detective Baltimore platzte fast vor Enthusiasmus.
»Äh, nein. Ich bin hier fertig. Ich fahre zurück zur Dienststelle und lasse die Abdrücke durchlaufen.«
Titus glotzte ihn an, als könne er nicht glauben, was er da hörte. Er gestikulierte in Richtung der Opfer und all der Spuren, die noch eingesammelt werden mussten, und dann schüttelte er den Kopf.
»Ja, meinetwegen«, sagte er.
»Krampfarsch«, zischte James leise und wandte sich zum Gehen.
Detective Bryant setzte sich hinter das Lenkrad des fast neuen weißen 2009er Dodge Intrepid, den er als Dienstwagen vom Department bekommen hatte, und verließ den Tatort – in Richtung Universitätsklinikum. Krampfarsch hatte der Presse versprochen, bis Sonnenaufgang den Tatverdächtigen in Haft zu haben. James war sich da nicht so sicher. Er hielt das Versprechen für übereilt. James wollte lieber noch etwas mehr über den Family Man, den Chaperone, den Pine Street Slasher in Erfahrung bringen, den brutalen Massenmörder, der die Cozen-Familie niedergemäht hatte wie ein Rasenmäher – Malcolm Davis.
James Bryant war schon lange bei der Polizei. Er hatte zwei Partner zu Grabe getragen und eine brutale Scheidung überlebt. Rosalyn Ali war 15 Jahre lang seine Partnerin gewesen, bis sie vor zehn Jahren während der Suche nach einem mehrfachen Kindermörder einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie blieb auf der rechten Seite teilweise gelähmt und wurde für zwei Jahre in den Innendienst versetzt, bis ein weiterer Schlaganfall sie ins Grab versetzte. Rosalyn – Rosie –, die als puerto-ricanisch-philippinische Frau einer doppelten Minderheit angehörte und noch das zusätzliche Handicap hatte, jung und sexy zu sein, hatte sich mit ihm zusammen vom Streifendienst hochgekämpft, war sogar noch vor ihm zum Detective befördert worden. Sie hatte so einige Arschtritte verteilen müssen, um zu beweisen, dass sie nicht nur die nutzlose Dekoration war, als die weibliche Polizisten damals noch überwiegend betrachtet wurden. Alles, was sie tat, jeder Einsatz, für den sie sich freiwillig meldete, jede Verhaftung, die sie tätigte, schien nur darauf abzuzielen, diese goldene Dienstmarke zu bekommen – und sie hatte sie bekommen, zwar erst Jahre, nachdem andere, nicht irgendwelchen Minderheiten angehörende Mitarbeiter des Departments ihre erhalten hatten, aber sie hatte es geschafft. Selbst jetzt, als er an sie zurückdachte, war er noch stolz auf sie.
Die sprichwörtliche »Gläserne Decke«, die Barriere für den beruflichen Aufstieg von Frauen und anderen Minderheiten, die von dort, wo sie beide standen, nicht transparent, sondern undurchsichtig war, hatte sie damals nicht weiter bekümmert. Sie kannten beide die Realität der Rassenpolitik in Philadelphia, vor allem in den Polizeidienststellen, in die Angehörige von Minderheiten in der Regel nur in Handschellen hineinkamen. Sie waren nur froh, nicht mit einem der vielen korrupten und rassistischen Dinosaurier, die das PPD in den 90ern verseuchten, in ein Team gesteckt zu werden. Keiner von ihnen wollte sich vor die Entscheidung gestellt sehen, ob man einen Kollegen anzeigen sollte, weil er einen unschuldigen – oder vielleicht auch schuldigen – schwarzen Jungen zusammengeschlagen hatte, oder ob man lieber die Klappe hielt und sich dadurch mitschuldig machte. Und sie wollten definitiv nicht mit einem Partner zusammenarbeiten, der sich bestechen ließ oder Dealer und Prostituierte ausnahm. Sie wollten sich nicht die ganze Zeit wie Verräter fühlen. Beiden war es wichtig gewesen, sich als nützlich für das Gemeinwesen zu empfinden und nicht als weitere Belastung. Zur damaligen Zeit, als das Department hauptsächlich weiß und männlich war, waren sie überaus dankbar füreinander gewesen.
Als James schließlich auch Detective wurde, kämpfte Rosie darum, ihn wieder als Partner zu bekommen. Während James sich noch durch die Lehrgänge und Examen gemüht hatte, hatte sie fast ein Jahr lang mit Greg Jonieack zusammenarbeiten müssen, einem faulen, stupiden, polnischen Neandertaler, über den selbst Mutter Teresa Polenwitze gerissen hätte und der ihre Aufklärungsquote für Mordfälle tief in den Keller sinken ließ, weil er die meiste Zeit damit verbrachte, mit Prostituierten zu flirten. Jeder Mordfall schien sie zur Broad und South Street zu führen, wo sie Stunden damit zubrachten, Prostituierte zu befragen, und Jonieack unweigerlich irgendwann mit einer von ihnen zum »Verhör« in einer Gasse verschwand, während Rosie im Wagen wartete. Wenn man ihr nicht einen neuen Partner zugewiesen hätte, hätte dem Department ein handfester Skandal ins Haus gestanden, denn Rosie war kurz davor gewesen, ihn anzuzeigen.
Als Bryant und Ali schließlich gemeinsam ermittelten, stieg ihre Aufklärungsquote ins Unglaubliche. Sie bekamen die ganzen miesen Fälle, die sonst keiner wollte, und irgendwie gelang es ihnen, die meisten davon aufzuklären. In ihrem ersten gemeinsamen Jahr hatten sie jeden Fall zum Abschluss gebracht, den man ihnen zuwies, und sich damit den widerwilligen Respekt der anderen Mordermittler verdient. Als dann ihre Aufklärungsquote nachließ und einige Fälle ungeklärt in die Archive wanderten, fingen ein paar der anderen Detectives an, die Akten der Fälle, die sie im letzten Jahr aufgeklärt hatten, danach durchzusehen, ob sie möglicherweise Beweismittel gefälscht oder untergeschoben hatten. Niemand fand etwas, und auch wenn James und Rosie nicht jeden Fall lösen konnten, blieb ihre Aufklärungsquote doch höher als die der meisten anderen Detectives, was auch weiterhin für Neid und Misstrauen sorgte. Und dieser Neid und dieses Misstrauen griffen auch auf James’ Ehe über.
Es war für eine Frau schwer zu akzeptieren, dass ihr Mann die meiste Zeit des Tages mit einer anderen Frau verbrachte. Zwölf- bis 14-Stunden-Tage waren nichts Ungewöhnliches, und wenn James dann müde und sexuell unmotiviert nach Hause kam, konnte das Lois’ Misstrauen nur anstacheln. Tatsächlich hatten James und Rosie eine kurze Affäre, die aber schnell wieder endete, als ihre Arbeit dadurch beeinträchtigt wurde und sie begriffen, dass sie sich, trotz ihrer engen Freundschaft, nicht liebten und nur Sex miteinander hatten und es das nicht wert war, deshalb die Karriere aufs Spiel zu setzen. Der Verdacht, dass die beiden etwas miteinander hatten, kam Lois allerdings erst Jahre, nachdem es längst vorbei war. Es hatte James sehr geärgert, dass sie zu dem Zeitpunkt, als er sie tatsächlich betrogen hatte, vollkommen ahnungslos war, aber ihm jetzt, wo er unschuldig war, jeden Tag zur Hölle machte.
Die Scheidung war alles andere als friedlich verlaufen. Sie hatte das Haus, den Wagen und 500 Dollar Unterhalt im Monat verlangt. Bekommen hatte sie den Wagen und den Unterhalt. Jetzt konnte er bei all dem Geld, das er ihr jeden Monat zahlte, das Haus kaum noch halten. Rosie hatte sich Vorwürfe gemacht, dass sie seine Ehe ruiniert habe, aber James wusste, dass es nicht sie gewesen war, auf die Lois eifersüchtig war – es war der Job. Und er hatte den Job ihr vorgezogen. Sie war sowieso ein Miststück gewesen. Er hatte den Wagen geliebt. Er hatte Rosie geliebt.
James erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie starb. Ihr Gehirn war durch den Sauerstoffmangel zu Brei geworden, und als sie ihn aus dem Krankenhausbett anstarrte, war kein Funken Erkennen in ihren Augen. Er hatte das Krankenhaus in dem Wissen verlassen, dass er sie gerade das letzte Mal gesehen hatte.
Vor Rosie, als er noch ein blutiger und naiver Anfänger gewesen war, hatte er als ersten Partner einen tollkühnen Ex-Marine namens Cliff Douglas gehabt, der die Action in Vietnam verpasst hatte und es offenbar sehr bedauerte, während des Krieges einen Schreibtischjob gehabt und nie die Front gesehen zu haben. Er kompensierte das durch ein fast schon selbstmörderisches Draufgängertum auf der Straße. Für ihn war die Straße seine zweite Chance, in den Krieg zu ziehen. Während viele der alten Hasen sich gern vor Einsätzen drückten, bei denen es um Schusswaffengebrauch oder bewaffnete Verdächtige ging, stürzte Cliff sich mit Begeisterung in jede Schießerei. Regelmäßig stürmte er wild um sich feuernd in gefährliche Situationen. Er hatte mehr Mut als gesunden Menschenverstand, und James kam es vor, als treibe ihn eine Todessehnsucht an. Immer wieder wurden Witze über »Crazy Cliff« gerissen, aber James fand sie nicht lustig. Einen Borderline-Psychotiker in der Truppe zu haben, mochte Stoff für amüsante Kneipengeschichten geben, aber es war nicht witzig, sein Partner zu sein, wenn sein Wahnsinn jederzeit dazu führen konnte, dass man sich eine Kugel einfing.
Damals war James der Einzige im Department, der immer eine kugelsichere Weste trug, und die hatte bereits Dellen in der Brustplatte von Treffern, die ohne Panzerung tödlich gewesen wären. Ständig wurde er damit aufgezogen von den Macho-Arschlöchern, die den halben Tag in Donut-Shops und Pizzerien herumsaßen, den Frauen nachpfiffen und gerade lange genug ihren Hintern hoben, um mal einen bekifften jugendlichen Ladendieb zu verhaften. Sie fanden es unmännlich, eine schusssichere Weste zu tragen, aber diese Idioten mussten ja auch nicht mit »Crazy Cliff« zusammenarbeiten. James wurde es schnell leid, dass ihm ständig die Kugeln um die Ohren pfiffen. In diesen ersten Jahren mit dem Bekloppten zog er seinen Revolver häufiger als in den folgenden 25 Jahren seiner Dienstzeit.
Bei einer der vielen Unruhen auf der South Street erhielt James’ Rambo-Partner schließlich, wonach er verlangt hatte. Er bekam das Purple Heart verliehen, nachdem er in das Feuer der eigenen Reihen gelaufen und halb in Stücke gefetzt worden war. Er blieb vom Hals abwärts gelähmt. Jahre später, nach Tausenden von Stunden der Physiotherapie, konnte er seinen rechten Arm wieder weit genug bewegen, um sich eine Pistole an die Schläfe zu halten und abzudrücken.
Und jetzt hatte er Krampfarsch. Seit dem Moment, als er von dem jüngsten Detective der Truppe gehört hatte, hasste James ihn. James war 13 Jahre bei der Polizei gewesen, bevor man ihn schließlich zum Detective befördert hatte, und dieser kleine Scheißer bekam seine Dienstmarke nach noch nicht einmal zwei Jahren auf der Straße. Egal ob Doktortitel oder IQ auf Genielevel – James war der Meinung, dass alle Cops ihre Zeit auf Streife absitzen sollten, sich ihre Sporen verdienen mussten. Was man auf der Straße lernte, konnte man sich niemals dadurch aneignen, dass man die Schulbank drückte und Fallstudien auswendig lernte.
James lenkte den Intrepid in Richtung Broad und Olney, die Gedanken immer noch auf die Vergangenheit gerichtet, weg von der Gegenwart. Es war leichter, seinen Zorn auf längst verstorbene Partner, eine Exfrau, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, und einen Partner zu richten, der nicht hier war, um ihm Rückendeckung zu geben, als auf das Monster, hinter dem sie her waren. Der Mann, der diese Verbrechen begangen hatte, machte James mehr Angst als die Schießereien, in die er als Berufsanfänger verwickelt gewesen war, mehr als »Crazy Cliff« es je gekonnt hatte. Dieser Mann entzog sich vollständig seinem Verständnis. Er hatte schon allen Sorten Mördern und Vergewaltigern furchtlos in die Augen gesehen, aber er hatte sie verstanden. Wie krank oder pervers sie auch waren, er hatte sich in sie hineinversetzen können. Er wusste, was sie antrieb. In den Family Man konnte er sich nicht hineinversetzen, ihn konnte er nicht verstehen.
James wusste, wenn er eine Chance haben wollte, Malcolm Davis zu schnappen, dann musste er eine Möglichkeit finden, seinen Wahnsinn nachzuvollziehen, und das bedeutete, alles über den Mörder herauszufinden, was er konnte. Er musste dorthin gehen, wo Malcolm lebte, musste die Luft atmen, die er atmete, die Gerüche riechen, die er roch, sehen, was er sah. Er musste mit Reed Cozen reden und Malcolm Davis aus ihm herauszerren.
James wusste, dass dieser Fall seinen Preis von ihm fordern würde. Er war sich nicht sicher, ob er es sich noch leisten konnte, ihn zu zahlen. Er fühlte sich alt, müde. Etwas so Finsteres und Hässliches konnte ihn zerstören. In gewisser Weise hatte er das Gefühl, dass es das bereits getan hatte.
Er und Titus arbeiteten jetzt schon seit zwei Jahren an dem Fall, und er hatte ihn schon jetzt an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Einige der Dinge, die er gesehen hatte, hielten ihn immer wieder nachts wach – vor allem die Kinder. Die Kinder machten diese ganze Sache so unendlich viel entsetzlicher. Es hatte schon seine Gründe, weshalb James nicht bei der Sitte arbeitete. Jeden Tag missbrauchte und ausgebeutete Kinder zu sehen, war etwas, das er sich nicht antun wollte. Jetzt musste er ihre Leichen ansehen, durch die der Family Man ihn knietief waten ließ.
Es ging um mehr, als diesen Mann nur zu fassen. Ein Teil von James musste versuchen, ihn zu verstehen, und sei es nur, um sich davon zu überzeugen, dass er selbst niemals so sein konnte.
James hatte genügend Sitzungen der Anonymen Sexsüchtigen besucht, um zu wissen, dass er selbst auch ein Problem hatte. Er hatte mit genug Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern geredet, um zu wissen, dass sein Problem sich gar nicht so sehr von ihren Problemen unterschied. Er war ein sexuelles Raubtier, genau wie sie, nur mit dem Unterschied, dass er einschmeichelnde Worte statt Zwang und Gewalt verwendete, um seine Beute in die Falle zu locken. Was er tat, war kein Verbrechen. Die Frauen, die er verführt und denen er erzählt hatte, er liebe sie, um zwischen ihre Beine zu kommen, waren ihm freiwillig gefolgt. Dennoch hinterließ er sie ebenso emotional verletzt, als wenn er sie vergewaltigt hätte, und die Leidenschaft, die er verspürte, wenn er mit ihnen zusammen war, glich ein bisschen zu sehr der Leidenschaft, die er in Linda Cozens verstümmelter Leiche entdeckt hatte. Er musste sich davon überzeugen, dass er niemals so werden würde, niemals so werden konnte. Er musste wissen, wie Malcolm Davis tickte.
James fuhr vor dem Universitätsklinikum vor und hielt mit quietschenden Reifen auf einem Behindertenparkplatz. Eine übergewichtige Krankenschwester mit der 2010er Version einer 50er-Jahre-Turmfrisur setzte sich mit übertrieben erzürntem Gesichtsausdruck in seine Richtung in Bewegung. Schnell lenkte James den Intrepid wieder vom Behindertenparkplatz herunter, bevor das Nilpferd ihn in eine Diskussion verwickeln konnte. Zehn Minuten musste er um den Klinikparkplatz kreisen, bis er endlich einen freien Platz fand. Dann blieb er noch fünf Minuten im Wagen sitzen, atmete tief durch und versuchte, seine eigenen Probleme aus seinem Kopf zu vertreiben, damit er in angemessener Weise mit dem Opfer mitfühlen konnte. Als er schließlich ausstieg, durchfuhr ihn ein nervöses Zittern, und er biss die Zähne zusammen und schluckte seine Angst tief herunter, wo seine Magensäure sie hoffentlich auflösen würde. Als er durch die Tür der Notaufnahme trat, konnte er spüren, wie die Magensäure sich an die Arbeit machte.
Reed lag in seinem Krankenhausbett und dachte nach. Seine Familie war tot, ermordet von einem Mann, den er seit einem Jahrzehnt nicht gesehen und an den er nicht gedacht, der aber offensichtlich die ganze Zeit an ihn gedacht hatte. Die Polizei würde ihn schnappen. Sie hatte alle Informationen, die sie benötigte. Aber etwas daran bereitete ihm Sorgen. Er wusste, dass Malcolm nicht dumm war. Warum hatte er ihn am Leben gelassen, wo ihm doch klar sein musste, dass er ihn identifizieren und die Polizei sofort auf seine Spur bringen würde? Reed wusste, dass Malcolm verrückt war, aber das war er schon immer gewesen – clever, gerissen, tödlich, verrückt. Es überraschte ihn nicht einmal, dass Malcolm der Family Man war. Das Einzige, was ihn wunderte, war, dass er noch atmete. Offenbar hatte Malcolm noch etwas mit ihm vor. Reed erinnerte sich gut daran, wie Malcolm immer einen Satz aus dem Film Shaka Zulu zitiert hatte:
»Lass nie einen Feind hinter dir zurück, sonst wird er sich wieder erheben, um dir an die Gurgel zu gehen!«
Tja, Malcolm hatte ihn zurückgelassen, aber Reed war ganz bestimmt nicht in dem Zustand, irgendjemandem an die Gurgel zu gehen. Er hasste Malcolm, wollte seinen Tod, aber er hatte zu viel Angst vor ihm, um selbst auf die Jagd nach ihm zu gehen. Seine Schuldgefühle kamen seiner Wut in die Quere. Er wusste, dass Malcolm zweifellos schon verrückt gewesen war, bevor Reed ihm seine Freundinnen ausgespannt hatte, aber so verrückt? Hätte er alle diese Menschen getötet, wenn Reed ihm das nicht angetan hätte? Hätte er dann Linda, Jennie und Mark ermordet? Hatte Reed den ersten Dominostein umgestoßen, der Dutzende von Leben mit sich gerissen hatte und dann zurückgekehrt war, um auch seine Familie zu vernichten?
Reed versank in Tagträume von seiner Frau. Er träumte von Jennies Geburt. Er war zu Tode erschrocken gewesen, als plötzlich, mitten während der Niederkunft, der Muttermund aufgehört hatte, sich zu weiten, und Linda für einen Notfall-Kaiserschnitt in den OP gebracht werden musste. Er hatte ihre Hand gehalten und mit ihr zusammen Kinderlieder gesungen, während sie darauf warteten, dass die Narkose wirkte. Niemals würde er die Schreie seines ersten Kindes vergessen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht, auf dem Gesicht seiner Frau, auf seinem eigenen Gesicht. Er hatte jetzt eine Familie ... damals. Jetzt hatte er keine Familie mehr. Er war wieder allein. Reed weinte still in sein Kissen.
Ein leises, respektvolles Klopfen kündigte den Besuch des Detectives an. Reed war fast schon dankbar für diese Ablenkung. Die Stille war voller Geister und Dämonen.
»Ich bin Detective Bryant vom Philadelphia Police Department, Mordkommission. Kann ich Sie einen Moment sprechen? Ich weiß, es war ein langer Abend, aber je früher wir einige Informationen von Ihnen bekommen, desto schneller können wir diesen Mann fassen.«
»Kommen Sie herein. Ich kann sowieso nicht schlafen.« Reed zog sich in eine sitzende Position hoch und verzog dabei schmerzvoll das Gesicht.
»Vielen Dank.« James setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, betrachtete nachdenklich Reeds ramponiertes Gesicht und kam sofort zur Sache.
»Wer ist Malcolm Davis, und woher kennen Sie ihn?«
»Detective Bryant ...«
»James. Nennen Sie mich James.«
Reed musterte den älteren Polizisten. In seinem zerknitterten alten Anzug sah er aus wie eine etwas gedrungenere schwarze Version von Columbo. Die zerkaute, unangezündete Zigarre, die zwischen seinen Lippen hing, unterstrich diesen Eindruck noch. Er sah freundlich und harmlos aus, wie ein gütiger Vater oder Großvater. Aber wenn man genauer hinsah, bemerkte man die muskulösen, sehnigen Arme und die kräftige Brust, die sich unter dem Anzug wölbte – und den harten, entschlossenen Ausdruck in seinen Augen.
In Detective Bryant – James – steckte mehr, als man im ersten Moment dachte.
»Okay, James. Wo soll ich anfangen? Sie wollen wissen, wer Malcolm ist? Er ist mein persönliches Frankenstein-Monster. Ich habe ihn erschaffen, und jetzt sind die Geister, die ich rief, sozusagen zurückgekehrt.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ein Schriftsteller so leichtfertig Metaphern mixt.«
Reed lachte, dann krümmte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen und hielt sich die Seiten.
»Bitte bringen Sie mich nicht zum Lachen, sonst zerreißt es mich buchstäblich.«
»Okay. Also, was meinen Sie damit, dass Sie ihn erschaffen haben? Was läuft da zwischen Ihnen?«
Reed hielt sich weiter die Seiten. Er wiegte sich vor und zurück und starrte den ausgeschalteten Fernseher an. Die Schmerzen in seinen Rippen waren abgeklungen. Der Schmerz in seiner Seele tobte.
»Malcolm war in der High School mein bester Freund, und ich habe ihn hintergangen. Ich habe mit seiner ersten Freundin geschlafen. Die erste Frau, die er jemals liebte, wahrscheinlich das erste menschliche Wesen, das er, abgesehen vielleicht von seiner Mutter, überhaupt je geliebt hat.«
»Und was hat Malcolm gemacht? Wusste er davon?«
»Malcolm vermutete es, war sich aber nie sicher. Er wollte mir glauben. Er vertraute mir. Ich glaube, dass er mich vielleicht sogar geliebt hat.«
»Geliebt?«
»Nicht auf sexuelle Weise.« Die Erinnerung daran, wie Malcolm ihn vor langer Zeit in einer U-Bahn-Toilette angegriffen hatte, schlich sich an seinen Verteidigungslinien vorbei. »Glaube ich jedenfalls nicht. Ich ... ich denke, er sah in mir so etwas wie einen intellektuell Ebenbürtigen. Den einzigen ihm Gleichstehenden in einer Welt von Schwachköpfen. Ohne mich wäre er allein gewesen.«
»Haben Sie auch so gedacht? Dass Sie allein waren in einer Welt von Schwachköpfen?«
»Ich hatte nie Malcolms Ego. Ich habe nie seine Verachtung für alles und jeden geteilt. Er fand das reizend. Er hielt mich für naiv und schwach. Er behandelte mich wie ein Haustier.«
»Also haben Sie mit seiner Freundin geschlafen, um ihm zu beweisen, dass Sie genau so ein Mann sind wie er?«
»Um es mir selbst zu beweisen. Ich war eifersüchtig auf Malcolm. Er war der mieseste Bastard, den die Welt je gesehen hatte, und die Mädchen flogen auf ihn. Sie liebten ihn! Mädchen stehen immer auf die Arschlöcher. Ich war zu nett. Ich war der, mit dem sie ausgingen, weil sie wussten, dass ich nie den Mut haben würde, sie zum Sex zu überreden. Ich war ihr bester Freund. Sie nannten mich ihren kleinen Bruder und unterhielten sich am Telefon mit mir darüber, wie gerne sie mit Typen wie Malcolm in die Kiste steigen wollten, aber natürlich hatte Malcolm nur Augen für Renee.«
»Malcolms erste Freundin?«
»Er war davon überzeugt, dass sie perfekt war, makellos – die personifizierte Güte und Unschuld. Er stellte sie auf ein Podest, so hoch, dass ihr schwindlig wurde. Vielleicht dachte er, wenn ein Engel wie sie ihn lieben konnte, dann konnte er nicht durch und durch schlecht sein. Aber sie war kein Engel. Ich habe es bewiesen. Seine ständige Eifersucht führte schließlich dazu, dass die beiden Schluss machten. Danach war er mit einem Mädchen namens Natasha zusammen.«
»Hat Malcolm sie geliebt?«
»Er glaubte, sie zu lieben. Aber er quälte sie nur immer wieder damit, dass er sie ständig mit Renee verglich. Er dachte immer noch, dass Renee eine Art Engel war.«
»Und was geschah mit Natasha?«
»Ich schlief auch mit ihr. Malcolm kam dahinter. Er erwischte mich in Natashas Haus, in ihrem Zimmer. Ich dachte, er würde mich auf der Stelle umbringen. Ich versuchte mich herauszureden, und er versuchte mir zu glauben. Er wollte mir immer noch glauben, dass ich es nicht getan hatte. Ich war erstaunt, als er mich laufen ließ. Als ich abhaute, ging er in Natashas Küche, blies die Zündflammen ihres Gasherds aus und drehte das Gas auf. Er saß mit ihr zusammen in der Küche, während das Gas ausströmte. Er hatte ein Päckchen Streichhölzer auf dem Tisch. Sie hielt vielleicht fünf Minuten durch, bis sie ihm alles gestand. Sie erzählte ihm sogar von Renee und mir. Malcolm zündete ein Streichholz an. Es gab eine kleine Explosion, aber nur der Herd wurde zerstört. Natasha war zu früh zusammengebrochen, und das Gas reichte nicht, um das Haus dem Erdboden gleichzumachen und sie beide zu töten, wie Malcolm es vorgehabt hatte. Die beiden erlitten nur ein paar leichte Verbrennungen und Abschürfungen. Die Küche brannte aus, aber die Feuerwehr konnte den Brand löschen, bevor er auf das restliche Haus übergriff. In dem Durcheinander aus Feuerwehr, Polizei und neugierigen Nachbarn ging Malcolm nach Hause. Als die Polizei kam, um ihn wegen Brandstiftung zu verhaften, nahm er ein Messer und schlitzte sich die Kehle auf. Er schnitt seine Speiseröhre durch und versuchte, seine Halswirbel durchzusägen. Er wollte sich selbst enthaupten.«
»Mein Gott.«
»Er wurde in die Notaufnahme gebracht, und die Ärzte flickten ihn wieder zusammen. Die Ärztin, die ihn operierte, sagte, sie habe schon Hunderte von Selbstmorden gesehen, aber noch nie jemanden, der versucht hatte, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, ganz zu schweigen davon, sich selbst zu köpfen. Er blieb eine Weile unter Beobachtung. Einige Wochen später verließ er das Krankenhaus, und ich sah ihn nie wieder – bis heute Abend.«
Aber das stimmte nicht ganz. Malcolm war ihm eines Tages nach der Schule gefolgt, kurz nachdem er aus dem Krankenhaus gekommen war. Reed hatte Malcolms unverwechselbaren Schatten entdeckt, wie er ihm zum Bus folgte, hatte ihn kurz zwischen den wie Ölsardinen zusammengequetschten Fahrgästen erblickt. Er hatte ihn nur so kurz gesehen, dass er sich fast einreden konnte, sich geirrt zu haben. Aber das hatte er nicht. Reed stieg aus dem Bus und versuchte, in dem Gewühl der Downtown unterzutauchen, zwischen Kaufhauskunden, Ladendieben und Langfingern. Immer wieder sah er sich um, ob Malcolm ihm folgte, aber die Massen von Schnäppchenjägern bildeten einen undurchdringlichen Vorhang. Ein kurzes Aufblitzen dunkler Kleidung und schwarzer Haut, eine bullige Gestalt, die sich durch die Menschenmassen schob, und ein frischer Adrenalinstoß fuhr durch Reeds Adern. Er überquerte die Market Street fast im Sprint und eilte auf die U-Bahn-Station in der riesigen Gallery Mall zu.
Als Reed nervös durch das Einkaufszentrum und hinunter zur Haltestelle ging, glaubte er kurz das Schimmern von zwei grimmigen Augen in einem Gesicht von der Farbe flüssiger Nacht gesehen zu haben. Ein kaltes Frösteln lief ihm über den Rücken. Reed sah seinen Verfolger nie länger als eine oder zwei Sekunden, aber er wusste, dass er da war.
Elektrisierende Tentakel der Angst krochen unter seine Haut und ließen ihn zittern und nervös von einem Fuß auf den anderen treten. Der Panik nahe blickte er sich um, fragte sich, aus welcher Richtung der Angriff erfolgen würde. Da sah er Natasha. Sie lächelte und kam auf ihn zu, und Malcolm war immer noch irgendwo in der Nähe. Auch wenn er ihn nicht sehen konnte, wusste Reed, dass Malcolm hinter ihm her war, und er wusste, wenn Natasha ihn vor Malcolms Augen auch nur umarmte, würde er hier auf dem Bahnsteig sterben. Malcolm würde ihn auf der Stelle in Stücke reißen. Er musste da weg.
Reed sah sich nach einem Fluchtweg um und verschwand schließlich in einer Herrentoilette ein Stück vom Bahnsteig entfernt. Er war noch nicht mal eine Minute drinnen, als Malcolm hereinkam. Reed zitterte am ganzen Körper, als er ihn sah. Malcolm, seine ganz persönliche Nemesis, war gekommen, um ihn in die Hölle zu schicken – in kleinen, handlichen Stücken. Es war nicht nur der Gedanke ans Sterben. Es war die Art und Weise, wie er sterben würde. Reeds Blick wanderte von Malcolms wild verzerrtem Gesicht und dem flammenden Hass in seinen Augen auf das brutal aussehende Klappmesser in seiner rechten Hand. Reed hatte genug blutige Horrorfilme gesehen, die meisten zusammen mit Malcolm. Er wusste, was ein Mann mit einem Messer anstellen konnte. Er wusste, was Malcolm mit einem Messer tun konnte.
Reed erinnerte sich daran, wie Malcolm auf ihn zukam. Er erinnerte sich daran, wie die Wut dem bulligen Mann vorauswehte wie eine dunkle Sturmwolke. Ihm war, als würde die Temperatur proportional zu Malcolms Hass steigen. In der Toilette wurde es heiß und stickig, als heize Malcolms Zorn die Luft auf und lagere sich wie Dampf auf der Haut ab. Brennender Schweiß lief Reed von der Stirn in die Augen.
Eine Flutwelle von Emotionen überschwemmte sein Bewusstsein, Schuld und Furcht hielten ihn gepackt wie ein körperliches Wesen, durchdrangen seinen ganzen Körper mit einer beklemmenden Angst. Er spürte, wie sein Gewicht ihn niederdrückte, wie es seine Turnschuhe auf dem bepinkelten Fliesenboden festnagelte. Die Erkenntnis seines unmittelbar bevorstehenden Todes schweißte seine Zunge an den Gaumen und entzog seinen Muskeln die Phosphate. Sein Blick bohrte sich in Malcolms Augen, und seine Emotionen wurden intensiver und verwirrender. Eine tiefe Traurigkeit, Mitgefühl für den Schmerz des Freundes – sie verwirrten seinen Lebenserhaltungsinstinkt. Angst verschmolz mit seinen Schuldgefühlen und Gewissensbissen, und unwillkürlich ging er auf Malcolm zu, breitete die Arme aus, um ihn zu umarmen, und wartete auf den kalten Stich der Klinge, die Haut, Muskeln und Organe durchdringen und ihn durchbohren würde. Aber der Stich kam nie.
Was dann geschah, blieb fest verankert an dem Ort, wo der Schmerz sich vor dem bewussten Ich versteckte, einem tiefen Abgrund, halb gefüllt mit chimärischen Albträumen, nebelhaften Eindrücken und abstrakten Empfindungen. Eine vage Erinnerung daran, nicht atmen zu können, an das Gefühl von Malcolms kräftigen Armen, die seine Kehle zusammendrückten. Ein Gefühlswirrwarr aus Freude und Schmerz, aus Verletzbarkeit, Kapitulation, blankem Entsetzen und etwas, das er nicht akzeptieren, nicht glauben konnte. Selbst jetzt noch schreckte sein Verstand davor zurück. Was er gefühlt hatte, war sexuelle Erregung im Einklang mit der Gewissheit seines Todes.
Aber diese Erinnerungen waren unscharf, nur Ahnungen und Schatten, Gedächtnissplitter wie aus einem Traum. Er war zusammengekrümmt auf dem Boden einer Toilettenkabine erwacht, nicht ganz sicher, warum er noch lebte. Malcolm hatte ihn nicht getötet.
Das war bis gestern Abend das letzte Mal gewesen, dass er Malcolm gesehen hatte, und auch jetzt hatte er, genau wie damals, keine Ahnung, warum Malcolm ihn am Leben gelassen hatte.
James stand auf und wandte sich zum Gehen. Ihm war schummrig, er brauchte frische Luft. Dieser Fall wurde immer hässlicher.
»Renee und dieses andere Mädchen ... Natasha – leben sie noch in Philly?«
»Wahrscheinlich. Niemand verlässt Philly; es ist wie ein schwarzes Loch. Aber ich habe keine Adressen oder Telefonnummern von ihnen.«
»Wo haben sie damals gewohnt?«
»Renee wohnte in Frankford. Natasha in Germantown, ein paar Straßen von Malcolm entfernt. Ihre Mom war eine von diesen liberalen Hippietanten.« Der letzte Satz war als Erklärung gedacht, warum eine weiße Frau mit ihrer Tochter in einem schwarzen Ghetto lebte. James gab sich alle Mühe, nicht beleidigt zu erscheinen, und scheiterte.
»Die Kollegen werden sie schon ausfindig machen. Wie lauteten ihre Nachnamen?«
»Renees Nachname war Volare.«
»Volare? Wie das Lied?«
»Ja, genau. Natashas war irgendwas indianisch Klingendes. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Hier ist meine Karte; rufen Sie mich an, wenn es Ihnen einfällt. Wenn Malcolm sich an Ihnen gerächt hat, wird er es vielleicht auch bei den Frauen versuchen. Ich werde Sie unter Polizeischutz stellen. Wir postieren einen Beamten vor Ihrer Tür.«
»Glauben Sie, dass er es noch mal versucht?«
James dachte über alles nach, was er an diesem Abend erfahren hatte, und überlegte kurz, zu lügen, entschied sich dann aber doch für die Wahrheit.
»Ich glaube, ein Mann, der sich selbst die Kehle aufgeschnitten hat und der versucht hat, sich in die Luft zu sprengen, wird nicht aufgeben, bis er das Gefühl hat, sich für das gerächt zu haben, was Sie ihm seiner Meinung nach angetan haben – oder bis wir ihn aufhalten.«
Lass nie einen Feind hinter dir zurück, sonst wird er sich wieder erheben, um dir an die Gurgel zu gehen!
Ein Schaudern wanderte Reeds Rückgrat hinauf und breitete sich zwischen seinen Schulterblättern aus. Mit angstvoll aufgerissenen Augen starrte er den Detective an. Er schluckte schwer und versuchte zu reden, aber er fand keine Worte. Was sollte er auch sagen? Er wollte, dass der Polizist etwas sagte, er sollte ihm versprechen, dass er Malcolm aufhalten würde, dass er ihn daran hindern würde, jemals wieder einem Menschen etwas anzutun.
James, der das Gefühl hatte, vielleicht ein bisschen zu grob gewesen zu sein, versuchte Reed mit ein paar tröstenden Worten zu beruhigen.
»Hören Sie, ich weiß nicht, ob es hilfreich ist, aber ich glaube, dass Malcolm schon psychisch gestört war, bevor er Sie kennenlernte.«
»Ja, aber wäre er zu dem geworden, was er jetzt ist? Wäre er ohne mich zum Mörder geworden?«
James wusste es nicht, und er hasste den Gedanken, dass es vielleicht eine Rechtfertigung für die entsetzlichen Dinge, die der Familie dieses Mannes angetan worden waren, geben könnte – aber er war auch der Meinung, dass Freunde sich nicht gegenseitig die Mädchen ausspannten. Brüder vor Bräuten – das hatte er schon immer gepredigt und auch praktiziert. Reed Cozen hatte diesen Männerkodex verletzt und dadurch einen anderen Mann zerstört. Und er hatte mit dem Leben seiner Familie dafür bezahlt.
»Ich weiß es nicht.«
James ging ohne ein weiteres Wort.