Weh! wunderliche einsame Stadt,
Drin Tod seinen Thron errichtet hat,
Tief unter des Westens düsterer Glut,
Wo Sünde bei Güte, wo Schlecht bei Gut
In letzter ewiger Ruhe ruht.
An Schlössern, Altären und Türmen hat
(Zerfreßnen Türmen, die nicht beben!)
Nichts Gleiches eine unsrige Stadt.
Von Winden vergessen, die wühlen und heben,
Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,
Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.
Kein Strahlen vom Himmel kommt herab
Auf jener Stadt langnächtiges Grab.
Doch steigt ein Licht aus dem Meer herauf,
Strömt schweigend an kühnen Zinnen hinauf,
Hinauf an Türmen bis zum Knauf,
Hinauf an Palästen, an Zitadellen,
An Tempeln hinauf und an Babylonwällen,
Hinauf an vergessenen Laubengängen
Mit eingemeißelten Fruchtgehängen,
Hinauf an manchem Opferstein,
Auf dessen Friesen zu engem Verein
Verflochten Viola, Violen und Wein.
Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,
Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.
Die Mauern und Schatten wie Nebelduft -
Es scheint, als hänge alles in Luft.
Vom Turm, der herrschend ragt und droht,
Schaut riesenhaft herab der Tod.
Geöffnete Tempel und Totengrüfte
Gähnen auf leuchtende Meeresschlüfte.
Doch nicht die blitzenden Juwelen
In goldner Götzen Augenhöhlen
Und nicht der reiche Tod verführen
Die starren Wasser, sich zu rühren:
Kein kleinstes Wellchen kommt in Gang
Die gläserne Einöde entlang,
Kein Kräuseln erinnert, daß weniger leer
Von Wind ist irgendein anderes Meer,
Nichts sagt, daß je ein Wehen war
Auf Meeren, die weniger grauenhaft klar.
Doch, o - es regt sich leis wie Wind!
Ein Wellen durch das Wasser rinnt -
Als ob die Türme im sachten Sinken
Die Flut verschöben zur Rechten und Linken -
Als ob schon die Spitzen inmitten des blassen
Himmels Lücken zurückgelassen.
Ein roteres Glimmen steigt heran -
Die Stunden halten den Atem an -
Und wenn die Stadt hinab, hinab
Von hinnen sinkt mit unirdischem Stöhnen,
Wird ihr von eintausend Thronen herab
Der Gruß der Hölle tönen.
Und es liegt darin der Wille, der nicht stirbt.
Wer kennt die Geheimnisse des Willens
und seine Gewalt? Denn Gott ist nichts als
ein großer Wille, der mit der ihm eignen
Kraft alle Dinge durchdringt. Der Mensch
überliefert sich den Engeln oder dem
Nichts einzig durch die Schwäche seines
schlaffen Willens.
Joseph Glanvill
Bei meiner Seele! ich kann mich nicht erinnern, wie, wann und wo ich die erste Bekanntschaft machte - der Lady Ligeia. Lange Jahre sind seitdem verflossen, und mein Gedächtnis ist schwach geworden durch vieles Leiden. Vielleicht auch kann ich mich dieser Einzelheiten nur darum nicht mehr erinnern, weil der Charakter meiner Geliebten, ihr umfassendes Wissen, ihre eigenartige und doch milde Schönheit und die überwältigende Beredsamkeit ihrer sanft tönenden Stimme - weil dies alles zusammen nur ganz allmählich und verstohlen den Weg in mein Herz nahm, zu allmählich, als daß ich daran gedacht hätte, mir jene äußeren Umstände einzuprägen.
Ich habe jedoch das Empfinden, als sei ich ihr zum ersten Mal und hierauf wiederholt in einer altertümlichen Stadt am Rhein begegnet. Und eins weiß ich bestimmt: sie erzählte mir von ihrer Familie, die sehr alten Ursprungs war. - Ligeia! Ligeia! - Trotzdem ich in Studien vergraben bin, deren Art mehr noch als alles andre dazu angetan ist, mich von Welt und Menschen abzusondern, genügt dies eine süße Wort „Ligeia“, um vor meinen Augen ihr Bild erstehen zu lassen - das Bild von ihr, die nicht mehr ist. Und jetzt, während ich schreibe, überfällt mich urplötzlich das Bewußtsein, daß ich von ihr, meiner Freundin und Verlobten, der Gefährtin meiner Studien und dem Weib meines Herzens, den Namen ihrer Familie nie erfahren habe. War es ein schalkhafter Streich, den Ligeia mir gespielt hatte? War es ein Beweis meiner bedingungslosen Hingabe, daß ich nie eine Frage danach tat? Oder war es meinerseits eine Laune, ein romantisches Opfer, das ich auf den Altar meiner leidenschaftlichen Ergebenheit niedergelegt hatte? Der bloßen Tatsache sogar kann ich mich nur unklar erinnern - was Wunder, daß ich die Gründe dafür vollständig vergessen habe! Und wirklich, wenn jemals der romantische Geist der bleichen und nebelbeschwingten Aschtophet des götzengläubigen Ägyptens, wie die Sage meldet, über unglückliche Ehen geherrscht hat, so ist es gewiß, daß er meine Ehe stiftete und beherrschte.
Immerhin hat mich wenigstens in einem Punkt meine Erinnerung nicht verlassen: die Persönlichkeit Ligeias steht mir heute noch klar vor Augen. Sie war von hoher, schlanker Gestalt, in ihren letzten Tagen sogar sehr hager. Vergebliches Bemühen wäre es, wenn ich eine Beschreibung der Erhabenheit, der würdevollen Gelassenheit ihres Wesens oder der unvergleichlichen Leichtigkeit und Elastizität ihres Schreitens versuchen wollte. Sie kam und ging wie ein Schatten. War sie in mein Arbeitszimmer gekommen, so bemerkte ich ihre Anwesenheit nicht eher, als bis ich den lieben Wohlklang ihrer sanften, süßen Stimme vernahm oder ihre marmorweiße Hand auf meiner Schulter fühlte. Kein Weib auf Erden trug solche Schönheit im Antlitz wie sie! Strahlend schön war sie, wie die Erscheinung eines Opiumtraumes, wie eine göttliche, beseligende Vision - göttlicher noch als die Traumgebilde, die durch die schlafenden Seelen der Töchter von Delos wehen. Doch waren ihre Züge keineswegs von jener Regelmäßigkeit, wie die klassischen Bildwerke des Heidentums sie aufweisen und die man mit Unrecht so übertrieben bewundert. „Es gibt keine auserlesene Schönheit“, sagt Bacon Lord Verulam da, wo er von allen Formen und Arten der Schönheit spricht, „ohne eine gewisse Seltsamkeit in der Proportion.“ Aber wenn ich auch sah, daß die Züge Ligeias nicht von klassischer Regelmäßigkeit waren, wenn ich auch feststellte, daß ihre Schönheit in der Tat „auserlesen“ war, und fühlte, daß viel „Seltsamkeit“ in ihren Zügen lag, so habe ich doch vergebens versucht, dieser Unregelmäßigkeit auf die Spur zu kommen und meine Feststellung des „Seltsamen“ zu begründen. Ich prüfte die Kontur der hohen und bleichen Stirn - sie war fehlerlos. Wie kalt klingt doch dies Wort für eine so göttliche Majestät, für die wie reinstes Elfenbein schimmernde Haut, die gebieterische Breite und ruhevolle Harmonie dieser Stirn, die sanfte Erhöhung über den Schläfen, die eine üppige Fülle rabenschwarzer glänzender Locken umschmiegte - Locken, die das homerische Epitheton „hyazinthen“ so wunderbar ausfüllten! - Ich prüfte die feinen Linien der Nase: nirgends anders als auf althebräischen Medaillons hatte ich ebenso vollkommen Schönes gesehen; nur dort hatte ich eine gleich wundervolle Zartheit und dieselbe kaum wahrnehmbare Neigung zu sanfter Krümmung, dieselben harmonisch geschweiften Nasenflügel, die einen freien Geist verrieten, gefunden. - Ich betrachtete den süßen Mund. Hier feierten alle Himmelswonnen ihr triumphierendes Fest: dieser entzückende Schwung der kurzen Oberlippe, diese weiche, wollüstige Ruhe der Unterlippe, diese tändelnden Grübchen, diese lockende Farbe, diese schimmernden Zähne, die jeden Strahl des heiligen Lichtes widerspiegelten, mit dem ihr heiteres und ruhevolles und gleichwohl frohlockendes Lächeln sie blendend schmückte. - Ich prüfte die Form des Kinns und fand auch hier in seiner sanften Breite Majestät, Fülle und griechischen Geist - fand die Kontur, die der Gott Apoll dem Kleomenes, dem Sohn des Atheners, im Traume nur enthüllte. - Und dann vertiefte ich mich in Ligeias große Augen.
Für Augen finden wir im fernen Altertum kein Vorbild. Es mochte sein, daß eben hier - in den Augen meiner Geliebten - das Geheimnis lag, von dem Lord Verulam spricht. Sie schienen mir weit größer als sonst die Augen unsrer Rasse. Sie waren üppiger als selbst die üppigsten Augen der Gazellen vom Stamme des Tales Nourjahad. Doch geschah es nur zuzeiten - in Augenblicken tiefster Erregung -, daß diese „Seltsamkeit“, von der ich vorhin sprach, deutlicher bei ihr wahrnehmbar wurde. Und in solchen Augenblicken war Ligeias Schönheit - vielleicht kam es auch nur meiner erglühten Phantasie so vor - die Schönheit von überirdischen oder unirdischen Wesen, die Schönheit der sagenhaften Huri der Türken. Von strahlendstem Schwarz waren ihre Pupillen und waren tief beschattet von sehr langen, jettschwarzen Wimpern. Die Brauen, deren Linien kaum merklich unregelmäßig waren, hatten die gleiche Farbe. Die Seltsamkeit aber, die ich in den Augen fand, lag nicht in Form, Farbe oder Glanz, sie muß wohl in ihrem Ausdruck gelegen haben. Ach, bedeutungsloses Wort! Leeres Wort, hinter dessen bloßem Klang wir uns mit unsrer Unkenntnis alles Geistigen verschanzen.
Der Ausdruck von Ligeias Augen! O, wie viele Stunden habe ich ihm nachgesonnen! Wie habe ich eine ganze Mittsommernacht lang gerungen, ihn zu ergründen! Was war es, dies Etwas, das tief innen in den Pupillen meiner Geliebten verborgen lag, das unergründlicher war als die Quelle des Demokritos? Was war es? Ich war wie besessen von dem Verlangen, es zu entdecken. Diese Augen! Diese großen, diese schimmernden, diese göttlichen Augen! Sie wurden für mich die Zwillingssterne der Leda, und ich war ihr andächtigster Astrologe.
Es gibt in der Psychologie viele unlösbare Rätsel, das unheimlichste aber und aufregendste von allen erschien mir stets die Tatsache - die übrigens von den Psychologen kaum je erwähnt worden ist -, daß wir oft, wenn wir etwas längst Vergessenes wieder in unser Gedächtnis zurückrufen wollen, bis an die Schwelle des Erinnerns gelangen, ohne doch das, was sozusagen schon vor uns steht, wirklich festhalten zu können. Und wie oft, wenn ich den Augen Ligeias nachsann, fühlte ich mich der vollen Aufklärung über die Bedeutung ihres Ausdrucks ganz nahe: ich fühlte, diese Aufklärung war da - gleich, gleich würde ich sie erfassen - und da entschwebte sie wieder, noch ehe ich sie hatte festhalten können. Und - sonderbares, o sonderbarstes Mysterium! - ich fand in den gewöhnlichsten Dingen von der Welt eine Reihe von Analogien zu diesem Ausdruck. Ich will damit sagen: nachdem Ligeias eigenartige Schönheit mir bewußt geworden war und nun im Altarschrein meines Herzens ruhte, lösten viele Erscheinungen der realen Welt dasselbe Empfinden in mir aus wie der Blick aus Ligeias großen, leuchtenden Augen. Trotzdem aber wollte es mir nicht gelingen, dies Empfinden zu ergründen oder zu zergliedern; auch überkam es mich nicht stets in der gleichen Stärke. Um mich näher zu erklären: jenes Gefühl erfüllte mich zum Beispiel beim Anblick einer schnell emporschießenden Weinrebe, bei der Betrachtung eines Nachtfalters, einer Schmetterlingspuppe, eines eilig strömenden Wasserlaufes. Ich habe es im Ozean gefunden und beim Fallen eines Meteors, sogar im Blick ungewöhnlich alter Leute. Und es gibt am Firmament ein paar Sterne, vor allem ein veränderliches Doppelgestirn sechster Größe nahe beim großen Stern der Leier, bei deren Betrachtung durch das Teleskop ich mich des nämlichen Gefühls nicht erwehren konnte. Gewisse Töne von Saiteninstrumenten und bestimmte Stellen in Büchern durchschauerten mich in ähnlicher Art. Unter zahllosen andern Beispielen erinnere ich mich besonders eines Ausspruchs, den ich bei Joseph Glanvill fand und der - vielleicht nur wegen seiner Wunderlichkeit - immer wieder diese Stimmung in mir erweckte: „Und es liegt darin der Wille, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Gewalt? Denn Gott ist nichts als ein großer Wille, der mit der ihm eignen Kraft alle Dinge durchdringt. Der Mensch überliefert sich den Engeln oder dem Nichts einzig durch die Schwäche seines schlaffen Willens.“
Eifriges Nachdenken lange Jahre hindurch hat mir nun wirklich gewisse leise Beziehungen gezeigt zwischen diesem Ausspruch des englischen Philosophen und einem Teil von Ligeias Wesen. Es lebte in ihr ein unerhört starker Wille, der während unseres langen Zusammenlebens nie spontan zutage trat, sondern sich nur in einer unglaublichen Anspannung des Denkens, Tuns und Redens zu erkennen gab. Von allen Frauen, die ich je gekannt, war sie, die äußerlich ruhevolle, die stets gelassen milde Ligeia, wie keine andre die Beute der tobenden Geier grausamster Leidenschaftlichkeit. Und diese Leidenschaftlichkeit enthüllte sich mir nur im wundervollen Strahlen ihrer Augen, die mich gleichzeitig entzückten und entsetzten, in der fast zauberhaften Melodie, Weichheit, Klarheit und Würde ihrer sonoren Stimme und in der flammenden Energie, die in ihren seltsam gewählten Worten lag und die im Kontrast mit der Ruhe, mit der sie gesprochen wurden, doppelt wirkungsvoll war.
Ich erwähnte schon das umfassende Wissen Ligeias: ihre Kenntnisse waren unermeßlich - für eine Frau ganz unerhört. In allen klassischen Sprachen war sie Meister, und auch in den modernen Sprachen des Kontinents habe ich ihr, soweit ich selbst mit diesen Sprachen vertraut war, nie einen Fehler nachweisen können. Und gab es denn überhaupt irgendein Thema aus den Gebieten der höchsten und schwierigsten Wissenschaften, bei dem ich Ligeia jemals auf Unkenntnis oder Irrtum ertappt hätte? Wie sonderbar, wie schauerlich! Diese eine Seite nur vom Wesen meiner Frau ist meinem Gedächtnis heute noch erinnerlich. Ich sagte, an Wissen überragte sie weit alle anderen Frauen - doch wo lebt der Mann, der die philosophische, physikalische und mathematische Wissenschaft in ihrer ganzen unermeßlichen Ausdehnung so verständnisvoll beherrscht hätte?! Damals sah ich noch nicht, was ich jetzt klar erkenne, daß dies Wissen Ligeias unglaublich, daß es gigantisch war. Doch blieb ich mir ihrer unendlichen Überlegenheit genügend bewußt, um mich mit kindlichem Vertrauen ihrer Führung durch die chaotische Welt metaphysischer Probleme, mit denen ich mich während der ersten Jahre unserer Ehe eifrig beschäftigte, zu überlassen. Mit welch ungeheurem Triumph - mit welch lebhaftem Entzücken - mit welch himmlischer Hoffnung konnte ich, wenn sie in diesem so unbekannten, so wenig gepflegten Studium sich helfend zu mir neigte, fühlen, wie vor mir der herrlichste Ausblick sich öffnete und ein in diese glänzenden Höhen führender, langer, köstlicher und noch ganz unbetretener Pfad sichtbar wurde, auf dem ich wohl endlich empor ans Ziel einer Weisheit gelangen durfte, die zu göttlich erhaben ist, um nicht verboten zu sein!
Wie heftig muß da der Gram gewesen sein, mit dem ich einige Jahre später meine so festgegründeten Hoffnungen Flügel nehmen und sich davonschwingen sah! Ohne Ligeia war ich nichts als ein durch Dunkel tastendes Kind. Nur ihre Gegenwart, ihr Erklären brachte helles Licht in die vielen Mysterien des Transzendentalen, in die wir eingedrungen waren. Wenn den golden züngelnden Schriftzeichen der leuchtende Glanz ihrer Augen fehlte, wurden sie matter als stumpfes Blei. Und seltener und seltener fiel nun der Strahl dieser Augen auf die Blätter, über deren Inhalt ich brütete. Ligeia wurde krank. Die herrlichen Augen strahlten in übernatürlichen Flammen, die bleichen Hände wurden wachsfarben wie bei einem Toten, und die blauen Adern auf der hohen Stirn hoben sich und pochten ungestüm bei der geringsten Aufregung. Ich sah, daß sie sterben mußte - und mein Geist rang verzweifelt mit dem grimmen Azrael.
Noch angestrengter als ich - rang zu meinem Erstaunen das leidenschaftliche Weib. So manches in ihrer ernsten Natur hatte in mir den Glauben gezeitigt, daß für sie der Tod keine Schrecken haben werde - doch dem war nicht so. Es gibt keine Worte, die auch nur annähernd die Wildheit ihres Widerstandes beschreiben könnten, den sie dem Schatten Tod entgegensetzte. Ich stöhnte gequält bei diesem mitleiderregenden Anblick. Ich wollte besänftigen, aber gegenüber der unheimlichen Gewalt, mit der sie nur leben - nur leben - nichts als leben wollte, schienen Trost und Zuspruch unsäglich albern. Aber trotzdem sich ihr feuriger Geist so wild gebärdete, bewahrte sie die Hoheit ihres äußeren Wesens bis zum letzten Augenblick, dem Augenblick des Todeskampfes. Ihre Stimme wurde noch sanfter - wurde noch tiefer - dennoch möchte ich jetzt bei dem grausigen Sinn der Worte, die sie in aller Ruhe sprach, nicht nachdenkend verweilen. Mein Geist, der diesen überirdischen Tönen hingerissen lauschte - diesem Hoffen und Ringen, dieser gewaltigen Sehnsucht, wie nie zuvor ein Sterblicher sie fühlte - taumelte und verwirrte sich.
Daß sie mich liebte, daran hatte ich nie gezweifelt, auch konnte ich mir wohl sagen, daß die Liebe eines solchen Herzens nicht mit gewöhnlichem Maß zu messen sei. Aber erst in ihrem Sterben erhielt ich von der wahren Kraft ihrer Liebe den vollen Eindruck. Lange Stunden hielt sie meine Hand und schüttete vor mir das Überfluten eines Herzens aus, dessen mehr als leidenschaftliche Ergebenheit an Anbetung grenzte. Wie hatte ich es verdient, mit solchen Bekenntnissen gesegnet zu werden? Und wie hatte ich es verdient, durch den Verlust der Geliebten verdammt zu werden - in der nämlichen Stunde, da sie mir diese Bekenntnisse machte? Doch ich kann es nicht ertragen, von diesen Dingen zu sprechen. Nur eines laßt mich sagen: ich erkannte in Ligeias mehr als weiblicher Hingabe an eine Liebe, die ich, ach, gar so wenig verdiente, den wahren Grund für ihr so tiefes, so wildes Begehren nach dem Leben - dem Leben, das jetzt so eilend entfloh. Für dies wilde Sehnen, für diese Gier und Gewalt des Verlangens nach Leben - nur nach Leben - finde ich keine Ausdrucksmöglichkeit; keine Worte gibt es, die es sagen könnten.
In der Nacht ihres Scheidens ließ sie mich nicht von ihrer Seite. In tiefster Mitternachtsstunde bat sie mich, ihr einige Verse herzusagen, die sie selbst wenige Tage vorher verfaßt hatte. Ich gehorchte. Hier sind sie:
O schaut, es ist festliche Nacht
Inmitten einsam letzter Tage!
Ein Engelchor, schluchzend, in Flügelpracht
Und Schleierflor, sieht zage
Im Schauspielhaus ein Schauspiel an
Von Hoffnung, Angst und Plage,
Derweil das Orchester dann und wann
Musik haucht: Sphärenklage.
Schauspieler, Gottes Ebenbilder,
Murmeln und brummeln dumpf
Und hasten planlos, immer wilder,
Sind Puppen nur und folgen stumpf
Gewaltigen, düsteren Dingen,
Die umziehn ohne Form und Rumpf
Und dunkles Weh aus Kondorschwingen
Schlagen voll Triumph.
Dies närrische Drama! - O fürwahr,
Nie wird’s vergessen werden,