Arno Frank
So, und
jetzt
kommst
du
Roman
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Tropen
www.tropen.de
© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag unter Verwendung einer Abbildung
von © Julien Magre / Picturetank / Agentur Focus
Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50369-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10079-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Prolog
Erster Teil
Depot
Lärchenweg
Hohenecken
Sembach
Neuhöfertal
K-Town
Gelterswoog
Hasenberg
Zweiter Teil
Autobahn der Sonne
Riviera
Golfe Juan
Sophia Antipolis
Cannes
La Turbie
Chemin de l’Aube
Mougins
Réunion
Route Napoléon
Col du Galibier
Weg der Morgenröte
Wimbledon
Dritter Teil
Autobahn der Stiere
Guarda
Lissabon
Senhora do Monte
Tejo
Cabo da Roca
Central Park
Cape Canaveral
Vierter Teil
Retour
Montmartre
Hohenstaufen
Heimstetten
Gefährdeter Bezirk
Wendehammer
Epilog
»Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.«
Heimito von Doderer, Ein Mord den jeder begeht
»I’m not working-class. I come from the criminal classes.«
Peter O’Toole
Als meine Mutter zum ersten Mal starb, war ich bei ihr.
Sie lag im Flur auf dem Rücken, ein Bein leicht angewinkelt, das andere ausgestreckt. Die rechte Hand neben dem Kopf, die linke an der Hüfte. Ihre Augen geschlossen, als hielte sie ein Nickerchen auf dem Perserteppich. Wobei ich mir dachte, was ein Kind von vielleicht vier Jahren sich bei fast allem denkt, nichts. Oder wenigstens nichts Schlimmes.
»Mama? Mama, guck mal!«
Sie sollte sich ein Bild anschauen, das ich gemalt hatte. Ein V und ein M mit weichen Bögen, ein ganzer Schwarm davon über das Blatt verteilt. Mir waren zum ersten Mal Vögel gelungen. Aus meinem Zimmer hatte ich nach meiner Mutter gerufen, aber sie war nicht gekommen. Jetzt sah ich sie reglos dort unten liegen, während ich die Treppe aus meinem Kinderzimmer im ersten Stock herunterstieg. Vorsichtig, eine Hand am Geländer, denn die Stufen waren groß und ich war klein. Ich schlich mich an und ging neben ihrem Körper auf die Knie. Sie rührte sich noch immer nicht. Ich unterdrückte ein Kichern. Das würde ein Spaß werden. Ich kitzelte sie an der Fußsohle, ganz leicht nur. Sie reagierte nicht. Umso besser. Ich hielt ihr gleichzeitig Nase und Mund zu. Kein Ergebnis. Vielleicht hatte ich auch nicht genug Geduld. Behutsam legte ich ihr das Blatt aufs Gesicht und beobachtete ganz genau die Vögel darauf.
Sie bewegten sich nicht.
Hätte nicht der Atem das Papier erzittern lassen müssen?
Ich zog das Blatt wieder weg. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Lider auch. Ich bemerkte nun das Weiße ihrer Augen, zwei feine Halbmonde unter den Wimpern. Ich zupfte sie zart am Ohrläppchen, weil sie Berührungen am Ohrläppchen mochte und dann normalerweise schnurrte. Diesmal nicht, diesmal lag sie da wie eine warme weiche Puppe. Unschlüssig griff ich nach ihrem Handgelenk. Liegt ein Mensch reglos auf dem Boden, greift immer jemand nach dem Handgelenk, bevor er dann kopfschüttelnd aufschaut und zu den Umstehenden sagt: »Nichts zu machen!« Das kannte ich aus dem Fernsehen, konnte aber keinen Puls ertasten. Hob und senkte sich ihre Brust? Als ich mein Ohr auf die harte Stelle unterhalb ihres Schlüsselbeins legte, spürte ich nur meinen eigenen Herzschlag.
Rittlings schwang ich mich auf ihren Bauch und betrachtete ihr Gesicht. Überall Sommersprossen, als wären sie auf den Nasenrücken gestreut worden und da runtergekullert. Knapp darüber die Stelle, an der sie im Badezimmer immer die Augenbrauen auszupfte. Winzige Stoppeln wuchsen dort, zu kurz für die Pinzette. Mit dem Daumen fuhr ich mehrmals die geschwungene Linie ihrer Augenbraue nach. Ihre langen Haare, schwarz um die Stirn gefächert. Entschlossen nahm ich ein Büschel davon in die Faust und zog, bis sich ihr Kopf ein wenig vom Boden hob. Er fühlte sich schwer und kostbar an.
Keine Reaktion.
Langsam wusste ich nicht mehr, was ich noch machen sollte. Ihre Brüste hingen rechts und links herab. Unter dem dünnen grünen Stoff mit den aufgedruckten Rosen konnte ich dunkel die Warzen erkennen. Mit beiden Händen versuchte ich, die Brüste zurück in die Mitte zu schieben. Sie waren wie Pudding, also ließ ich es sein. Dufteten die Rosen? Nein, das war nur ihr Parfüm. Erdbeere, vielleicht Orange. Wenn ein parfümierter Mensch stirbt, duftet er dann weiter bis in alle Ewigkeit?
Ich beugte mich herab, Nasenspitze an Nasenspitze.
»Mama!«
Nichts.
Und jetzt? Hören konnte sie mich anscheinend auch nicht, aber sehen würde sie mich müssen. Also legte ich die Hände auf ihre Stirn und schob mit den Daumen ihre Lider hoch. Ihre Augen waren so rund und braun wie immer, aber blicklos. Als ruhten sie auf etwas unendlich Langweiligem an der Zimmerdecke. Als wäre ich gar nicht da.
»Mama, hör auf!«
Fröstelnd wurde mir die Leere der Wohnung bewusst. Niemand zu Hause, nur sie und ich. Das Radio, das leise in der Küche murmelte. Die Schiebetür zum rückwärtigen Gärtchen. Dumpf klopfend stieß eine Fliege gegen das Glas, wieder und wieder, obwohl die Tür direkt daneben offen stand. An der Spüle füllte ich ein Glas mit Wasser, kehrte zurück und schüttete es meiner Mutter ins Gesicht. Sie zuckte nicht einmal. Stattdessen bewegten sich die Vögel auf dem Papier neben ihrem Kopf. Die Feuchtigkeit ließ den Filzstift zerfließen.
»Mama?«
Mit einem gaumigen Schmatzen klappte ihr Kiefer auf. Wieder schwang ich mich über ihren Körper. Tastete mit zitternden Fingern hinter ihre Zähne und versuchte, die Zunge zu erwischen. Sie rutschte seitlich weg wie eine Gurke im Glas. Während ich so fummelte, stempelte mir ihr Lippenstift rote Flecken auf die Handrücken. Bald waren meine Hände rot wie die eines Mörders. Nein, dieses Spiel gefiel mir nicht mehr. Ganz und gar nicht. Mit der Faust schlug ich auf die knöcherne Stelle zwischen ihren Brüsten.
»Mama! Mama! Mama!«, mit jeweils einem Schlag auf dem ersten A.
Nichts. Sie war da, ohne da zu sein. Panik erfasste mich, als hätte sie sich lautlos aus dem Garten hereingeschlichen und von hinten gepackt.
Ich heulte.
Ich heulte und erschrak zugleich über meine eigenen Laute, denn so hatte ich Hunde heulen gehört. Ich heulte und trommelte mit den Fäusten auf ihre Brust und spürte, dass ich mir gerade in die Hose machte, aber das war mir egal.
Und damit erweckte ich sie wieder zum Leben.
Plötzlich ihre Finger, die mir durch die Haare fuhren, und an meinem Ohr ihre Stimme, sanft und tröstend: »Alles gut, alles gut!«
Schluchzend ließ ich mich in ihre offenen Arme fallen, die sich mit verlässlichem Druck um mich schlossen.
»Dreckspatz, du hast mir auf den Bauch gepinkelt!«, flüsterte sie. Ich spürte, wie sie unter mir kicherte, sie war mir nicht böse. Und ich spürte, wie mein Schluchzen ebenfalls in ein Kichern überging.
Mama war noch da.
Sie war es die ganze Zeit, sie war nie weg gewesen.
Mir war, als hätte ich soeben eine Prüfung bestanden. Wenn ich tot bin, trauerst du um mich? Trauerst du mich wieder wach? Und dann war da noch etwas Anderes, Dunkleres. Als hätte Mama mir eine wichtige Lektion erteilt. Eine Lehre, deren Sinn ich damals noch nicht verstehen konnte. Und sie wahrscheinlich auch nicht.
Mein Vater wurde kurz nach dem Krieg in Südfrankreich geboren. Davon erzählte er gerne. Großvater sei damals dafür bezahlt worden, auf Weizenfeldern in Sichtweite romanischer Kathedralen kleine Flugplätze anzulegen. Ein Streifen aus Beton, ein Zaun drum, eine Baracke drauf, den Windsack gehisst – zack, bumm, fertig und weiter zum nächsten Auftrag. Das sei seine Aufgabe als Architekt gewesen, so mein Vater. Einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er deshalb auf einem Internat in Perpignan. Namen wie Sète, Montpellier oder Nîmes sind in der Mythologie der Familie väterlicherseits immer mit beruflichen Heldentaten verbunden geblieben. Dabei wird es ein deutscher Junge im Frankreich der Fünfzigerjahre nicht gerade leicht gehabt haben. Dennoch schwärmte mein Vater von dieser fernen Zeit in einem fernen Land. Als wäre es ein weichgezeichneter Film, der niemals aufhörte, vor seinem inneren Auge abzulaufen. Einmal hatte er im ländlichen Languedoc einen Wanderzirkus besucht: »In ihrem Zelt hockte eine Wahrsagerin, wie du sie dir vorstellst, so ein gebücktes altes Weib mit Kopftuch. Zigeunerin, klar. Sie hat meine Hand genommen und darin gelesen, als wären es Aktienkurse. Dann hat sie mich angeschaut und gesagt: Cher ami, du wirst reich sein. Es wird lange nicht so aussehen, aber spätestens mit vierzig wirst du reich sein! Ich habe sie ausgelacht, mir aber meinen Teil gedacht. Den habe ich mir gedacht, meinen Teil.« Er würde reich sein. Er würde nicht reich werden mit einer Idee oder einem Geschäft, nein. Er würde es eines Tages einfach sein.
Wenn er solche Anekdoten erzählte, wünschte ich immer, mich auch eines Tages an meine eigene Kindheit als flüchtige Abfolge kostbarer Traumbilder erinnern zu können. Nicht, dass Jürgen das Baccalauréat oder später, wieder in Deutschland, das Abitur bestanden hätte. Dafür war er zu schlau. Ein tiefes Gewässer, gespeist aus dem Selbstbewusstsein des Vaters und dem Scharfblick der Mutter. Ein Geschöpf aus eigenem Recht, weshalb ihm auch nichts an Urkunden aus den Händen irgendwelcher Autoritäten lag. Er war seine eigene Autorität.
Nach seinem Abgang von der Schule folgte unter elterlichem Druck eine flausenlose Ausbildung als Verwaltungsfachangestellter im öffentlichen Dienst in Ludwigshafen; schließlich ist immer etwas, und alles, was ist, will verwaltet sein. Nur führt der Königsweg zum Glück selten durch Ämter und Behörden. Schon gar nicht für meinen Vater, der Glück als eine Ableitung von Geld und seine Ausbildung als erste Stufe zu Höherem betrachtete. Höheres würde ihm überdies auf halbem Wege entgegeneilen. Davon war er überzeugt, und darin wurde er bestärkt. Zur bestandenen Führerscheinprüfung stellte ihm sein Vater einen italienischen Sportwagen vor die Tür. Wenn meine Eltern später mal wieder einen Alfa Romeo Giulia Super im Straßenverkehr sichteten, sprachen sie zärtlich von der »Dschulia«, als wäre es eine gemeinsame Bekannte. Tatsächlich war die Giulia in den Sechzigerjahren eine bullige Schönheit wie Belmondo, und eines Tages fuhr er damit vor dem Depot der US-Armee in Kaiserslautern vor. Ebenfalls ein bulliger junger Mann, braun und straff und bereit, um seine erste Stelle als Verwaltungsfachangestellter anzutreten. Abteilung: Bedarfsfeststellung und Akquise. Nachgeordnetes Zeug, das »die Amerikaner« in Kaiserslautern die Zivilisten machen ließen.
Im Schritttempo war er am Wachhäuschen mit dem Schlagbaum vorbei zu den flachen grauen Baracken aus Fertigbauteilen gerollt, die im Schatten der Kiefern hinter Stacheldraht standen, parkte den Wagen dreist auf dem Platz direkt neben dem Eingang, der für Offiziere reserviert war, stieg aus, zündete sich eine Gitane an und fiel in genau der Sekunde, als die Flamme aus der hohlen Hand sein konzentriertes Gesicht erleuchtete, meiner Mutter auf, die gerade selbst zum Rauchen vor die Tür getreten war.
Was sah sie?
Eine ganz andere Erscheinung jedenfalls als die geduckten Gestalten, mit denen sie im Büro zu tun hatte und zu denen sie sich selbst insgeheim gezählt haben musste. Einen Alain Delon oder Hardy Krüger vielleicht, spöttische Überlegenheit und Draufgängertum. Der junge Mann trug ein elegantes Jackett, darunter ein weißes Hemd, die oberen drei Knöpfe geöffnet, und unter dem Arm einen Spiegel mit Sharon Tate und Charles Manson auf dem Titel. Vertraulich nickte er der jungen Frau zu, atmete den Rauch tief aus, schaute sich um und fragte lächelnd: »Darf man hier bei den Amis auch französische Zigaretten rauchen, Fräulein? Oder müssen es Lucky Strike sein?«
Meine Mutter wurde kurz nach dem Krieg im Saarland geboren, damals noch französisches Protektorat. Was bedeutete, dass die Franzosen irgendwie auf diese Gegend aufpassten, was auch immer das heißen mochte. Ihre Eltern, Oma Julia und Opa Alois, unterhielten einen kleinen Supermarkt in St. Ingbert. Mit ihrem heiligen Sankt im Namen ist diese Stadt, die wir niemals besuchten und zu der es keine weiteren Verbindungen gab, in der Mythologie der Familie mütterlicherseits immer ein Ort der Niederlage geblieben. Denn der Supermarkt warf nichts ab, weshalb Mama noch viel später um entsprechende Filialen einen großen Bogen schlug: »Wir hatten auch mal einen Edeka«, sagte sie dann, als trauere sie einem Ort unendlicher Fülle hinterher. Wie man keinen Edeka mehr haben konnte, wo man doch von Edeka-Märkten regelrecht umzingelt war, blieb mir ein Rätsel. Nach der Pleite zog es die Familie nach Kaiserslautern. Opa Alois war immerhin Meister: Konditor, Bäcker, Koch, und »die Amerikaner« suchten einen Chefkoch für ihr Offizierskasino. Einen, der Suppen für zweihundert Mann ebenso zubereiten konnte, wie er zur Verabschiedung eines Generals mehrstöckige Luxustorten mit Atompilzen aus Zuckerwatte zu zaubern verstand. So einer war Opa Alois, und »die Amerikaner« nahmen ihn »mit Kusshand!«, wie Oma Julia betonte.
Jutta wurde auf eine Haushaltsschule geschickt. Überhaupt wurde sie fortwährend. Das sei eben damals so gewesen, meinte sie. Gegen das Dahingestelltwerden habe man sich als Mädchen im Deutschland der frühen Sechzigerjahre nicht auflehnen können. Dafür strebten ihre Gedanken oft seitwärts, inwärts. Ihr Blick ging dann ins Leere, wurde ganz blank. Vielleicht war sie in solchen Momenten einer unbestimmten Süße auf der Spur, die nur sie selbst schmecken konnte. Wenn sie nicht geschickt und geschoben wurde, trieb sie dahin und trieb gerne.
Am Ende ihrer Ausbildung zur fototechnischen Assistentin war sie in der Lage, im Dunkeln die Urlaubsbilder anderer Leute zu entwickeln. Ihren Beruf übte sie jedoch nie aus. Nicht, weil sie ein anderes Leben wollte. Ihre Träume hafteten an der Oberfläche der Möglichkeiten und handelten durchaus davon, Fotografin zu sein. Aber eben keine, die in Zaire staubige Leoparden oder auf Kuba zauselige Rebellenführer fotografiert. Sondern eine, die Passfotos anfertigt: »Ich mag es, wenn die Leute fein gekleidet in den Laden kommen, sich gerade hinsetzen und ihre Mimik ordnen. Dann kann man an ihren Gesichtern sehen, wer sie sein wollen. Und das ist interessanter, als wer sie wirklich sind.«
In meiner Erinnerung ist sie die summende Frau. Von morgens bis abends umgab sie das andauernde Summen wie eine Gloriole der Heiterkeit. Erwies eine bestimmte Melodie aus dem Radio sich als besonders hartnäckig, schlug meine Mutter den Kragen ihres dunklen Filzmantels hoch, nahm den Oberleitungsbus zum Musikhaus Schiller in der Innenstadt und kaufte die Single von Daliah Lavi, Wencke Myhre oder Drafi Deutscher. Es galt, den Ohrwurm durch Wiederholung und die Wiederholung der Wiederholung stur vor sich her und über die Schwelle zum Überdruss zu treiben. Jedes Lied ein Glied im luftigen Kettenhemd des Wohlbefindens.
Und doch: Ihr erstes helles Auflachen über den Witz meines Vaters bei einer gemeinsamen Rauchpause im Depot; das geheime Klopfen ihres Herzens beim Anblick von Ryan O’Neal und Ali McGraw auf dem Poster im Aushang des Kinos in der Fußgängerzone; das nächtliche Rascheln des Stoffes und das Geflecht der Seufzer; der erschrockene Jubel beim Besuch des Arztes, noch im Flur; seine geseufzten Schwüre, während der Regen gegen die Fenster trommelte; und endlich das blecherne Geläut der Glocken – all der lustige Lärm des Lebens muss damals das allzu kurze Klicken übertönt haben, mit dem sich eine entscheidende Weiche verstellte, als Jutta meinem Vater begegnete und meine Mutter wurde.
Gedrängt wie vier Freunde auf der Rückbank eines Autos standen die Häuser in unserer kleinen Straße nebeneinander, Schulter an Schulter. Mehr Häuser gab es dort nicht, vier Winkel zum Glücklichsein aus dem Baukasten einer sachlichen Moderne zwischen alten Lärchen. Darunter mein Elternhaus, ein unvordenklicher Unterschlupf.
Gebaut hatte diese Häuser in den Sechzigerjahren mein Opa väterlicherseits, nachdem er Südfrankreich mit Flugplätzen zugepflastert und sich mit seinem Architekturbüro in diesem Örtchen bei Kaiserslautern niedergelassen hatte. Kurz vor seinem Tod ließen meine Eltern mich auf seinen Namen taufen. Was ihm vielleicht eine letzte Freude war, blieb mir diffuse Verpflichtung. Einer Leerstelle kann man nicht nacheifern, man kann sie höchstens mit Phantasie füllen. In meiner Vorstellung hatte daher wirklich er die Häuser ganz alleine errichtet. Gruben ausgehoben, Zement angemischt, Rohre verlötet, Kabel verlegt, Steine geschichtet, Dächer gedeckt.
Ein altes Foto zeigte noch eine planierte Fläche, wo später mit getünchter Selbstverständlichkeit die Häuser stehen sollten. Die Baustelle hatte gezackte Ränder und leuchtete karamellfarben, als hätte damals wirklich ein glücklicheres Licht auf den Dingen gelegen. Männer mit gebräunten Oberkörpern; einer davon schmächtig, die Hände in den Hosentaschen, mein Vater. Daneben, halb angeschnitten, eine imposante Frau mit Hornbrille und rotem Kopftuch, der sichtbare Ärmel hochgekrempelt, seine Mutter.
Das glückliche Licht, die Menschen und das Foto selbst sind verschwunden. Aber die Häuser, die sind alle noch da. Ein hölzerner Carport für die Autos, frische Blumenbeete, ein neuer Wintergarten nach hinten raus, ausgebautes Dachgeschoss, Satellitenschüsseln – mehr hat sich nicht verändert in all den Jahren. Bewohnt werden sie heute von anderen Familien, glücklicheren oder auf ihre Weise unglücklichen. Sie bewähren sich, diese Häuser. Wirksam halten sie für ihre neuen Bewohner das große Draußen auf Distanz, als lenkten sie sogar die Zeit selbst um sich herum. Vielleicht stehen sie in einem günstigen Winkel zu ihrem Fluss.
Anders als die Eltern meiner Mutter, die ich ganz vertraut »Oma« und »Opa« nannte, blieb die Mutter meines Vaters die »Großmutter«. Oder Bärbel, mit einem Dutt wie ein Handball und einem »eigenen Leben«, das sie so beharrlich gegen Übergriffe verteidigte wie eine kleine Nation ihre Grenzen. Obwohl Bärbel im Haus direkt neben uns wohnte, kam sie uns nur selten besuchen. Bei ihr gab es nie Kaba, nur Ovomaltine, die sie aber stur »Kakao« nannte und die nach Enttäuschung schmeckte. Während Oma Julia tütenweise Süßigkeiten anschleppte, Haribo, Mambo, Milka, hatte Großmutter Bärbel gute Ratschläge im Gepäck. Und den Drang, meine Mutter zum Lesen skurriler Literatur zu verführen. Doris Lessing, Anaïs Nin, Germaine Greer. Einmal lag Die Welt der schönen Bilder als zerlesenes Taschenbuch auf unserem Esszimmertisch, und meine Mutter lauschte mit großen Augen ihrer Schwiegermutter, wie sie mit dem Finger auf den Umschlag tippte: »Simone de Beauvoir musst du unbedingt lesen, Jutta, das handelt von dir. Es handelt von unserer ganzen kippenden Welt, die nur noch aufs Geld schaut. Nicht nach rechts oder links, nur aufs Geld.« Das Buch gammelte danach ewig auf dem Nachttisch meiner Mutter, begraben unter Stapeln von Groschenheften, deren Heldinnen »Silvia« hießen oder »Sibylle« und hin und wieder ganz gerne aufs Geld schauten.
Mich nahm Bärbel gerne prüfend ins Visier: »Ganz der Vater, ganz der Vater …«
Dann streichelte Mutter meinen Nacken und sagte: »Ja, oder?«, aber Bärbels Blick verriet, dass sie es nicht als Kompliment gemeint hatte.
Wenn mich mal wieder eine Mittelohrentzündung plagte, dieser bohrende Schmerz im Schädel, dann machte Bärbel mir Wickel aus Zwiebeln und setzte mich vor die Infrarotlampe. Dazu kochte sie mir Fleischwurst mit Blumenkohl. Ihre Zuwendung war robust und patent und Wehleidigkeit keine Option. Im Weltkrieg war sie Krankenschwester gewesen, Feldlazarett. Erst im Westen, dann im Osten, immer knapp hinter allen Fronten. Damals musste sie sich eine Abgeklärtheit angeeignet haben, die ihr in ihrer zivilen Existenz als Hebamme am Krankenhaus in Kaiserslautern gute Dienste leisten sollte: »Im Krieg half ich Menschen beim Sterben, danach half ich ihnen auf die Welt.«
Tagelang schauten wir die Olympischen Spiele in Los Angeles, später stritten wir über den jungen sowjetischen Präsidenten. Bärbel war der festen Meinung, dass dessen Frau Raissa die Zügel in der Hand hielte, was ich mir nicht vorstellen konnte, womit ich Großmutter noch mehr reizte: »Bist auch so ein kleiner Macho, was? Kannst dir nicht vorstellen, dass die Welt nicht allein den Männern gehört, oder?«
Am Fernsehen hasste sie, was ich daran liebte. Die Klamottenkiste etwa und diese alten Western mit Fuzzi, der im Vorspann ein Loch in den Bildschirm schießt. Sie war imstande, sich mitten in der Sendung aus ihrem Sessel zu wuchten und »diesen amerikanischen Zappelquatsch« auszuschalten. Nicht anders war es mit dieser schwedischen Serie, in der ein Junge auf dem Dachboden eine braune Cordhose findet, in deren Taschen immer Geldscheine stecken. Egal, wie viel er daraus entnimmt, das Geld geht ihm nie aus. Der Junge möchte Gutes damit tun, aber bald haben es Ganoven auf die Hose abgesehen. Ich erfuhr nie, wie die Serie ausging, aber verdammt, solche Hosen hätte ich auch gerne gehabt.
Wenn Bärbel den Fernseher überhaupt aus freien Stücken einschaltete, dann nur für die Tagesschau. Und Telekolleg-Sendungen im Dritten, wo blasse Mathematiker in schlammfarbenen Pullovern schleierhafte Grafiken und Vektoren benäselten. Früher oder später zeigte mir ein sanftes Schnorcheln an, dass auch die Aufmerksamkeit meiner Großmutter nicht unerschöpflich war.
Zum Einschlafen bestand sie darauf, mir aus den Büchern vorzulesen, die sie selbst gelesen hatte. Die »Stellen« für mich waren mit Eselsohren markiert. »Wir brauchen keine ausgedachten Geschichten«, verfügte Bärbel und fütterte mich mit Anekdoten, die Tacitus über die Germanen zu berichten wusste, Herodot über den Vogel Phönix in Ägypten, Thukydides über die Pest in Athen – was mir ausreichend ausgedacht vorkam. Bisweilen zögerte sie beim Vorlesen, wenn sie nach verständlicheren Worten suchte oder allzu schwierige Absätze ganz übersprang. Sobald sie mal etwas länger zögerte, nutzte ich die Chance und schlief an ihrer weichen Schulter ein.
Der Lärchenweg wäre ein Ort, über den ich gerne Karamell gießen würde. Ich würde ihn über den Spielplatz mit Rutsche und eisernem Drehpilz und die Schaukel im Sandkasten vor den Häusern gießen. Im Frühling umbrummten mich dort die Hirschkäfer wie winzige Helikopter in Kopfhöhe. Wunder warteten direkt um die Ecke. Eines Tages stemmte ich aus Langeweile eine der grauen Schieferplatten hoch, die auf dem Gehweg vor unserem Haus verlegt waren. Darunter entdeckte ich auf einer wie glattgebügelten Fläche lehmiger Erde ein aberwitziges Gewirr von Straßen und Kanälen, die eben noch Tunnel gewesen waren und in denen ein ganzes Volk bernsteinfarbener Ameisen umherwimmelte. In einer versteckten Welt, die ohne mein Wissen immer schon unter meinen Füßen existiert hatte und als deren gütiger Gott ich mich fühlen durfte. Behutsam, um die geheime Bevölkerung darunter nicht weiter zu beunruhigen, ließ ich die Platte wieder herab.
Einmal lief ich im Sandkasten einem anderen Kind in die Schaukelbahn und schleuderte gegen die niedrige Umzäunung aus Holzpfählen. Zu Hause tupfte mir Mama die Tränen weg, versorgte die kleine Schürfwunde im Gesicht und setzte mich vor den Fernseher. Als Papa nach Hause kam, hörte ich ihn schon im Flur fluchen. Das war seltsam, denn zwischen meinen Eltern wurde es sonst selten laut. Zumindest bekam ich nie etwas davon mit. Vielleicht stellten Mama und Papa sich den Wecker, um ihre Streitigkeiten nachts im Flüsterton auszutragen. Jetzt rauschte Mama durchs Wohnzimmer und sagte im Vorübergehen: »Vorsicht, dein Vater ist geladen! Habe ihm gesagt, was passiert ist …«
Geladen, das war nicht gut. Wenn Papa geladen war, stellte er Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wenn ich etwas Dummes angestellt hatte, gab es Kopfnüsse mit dem Knöchel. Keine Schläge, darauf legte er wert. Nur Beulen. Aber was könnte denn diesmal so Schlimmes »passiert« sein? Da stand er schon, die Lippen ganz straff und schmal, neben mir im Wohnzimmer.
»Was läuft?«
»Die bezaubernde Jeannie«, sagte ich.
Unverwandt starrte er mich an. Ich starrte wie gelähmt zurück.
Über die Schulter rief er in die Küche: »Wer, sagst du, hat meinen Sohn so zugerichtet?«
»Das sind Kinder, Jürgen!«, rief meine Mutter. »Das war keine Absicht! Ein anderer Junge hat ihn mit dieser neuen Schaukel erwischt. Da ist er unglücklich hingefallen.«
»Die Schaukel im Sandkasten? Kann mir mal jemand erklären, was eine Schaukel im Sandkasten macht? Was das soll? Ich verstehe das nämlich nicht. Und was war an der alten Schaukel eigentlich so schlecht?«
»Sie war alt?«, schlug meine Mutter vor.
»Sie hat gequietscht!«, rief ich dazwischen.
»Jürgen, das hätte jedem anderen Kind auch …«, begann Mama milde.
»Gemeingefährlich ist das!«, unterbrach mein Vater. »Und weißt du noch was? Ich schaue mir das nicht länger an!«
Er nahm das große Brotmesser aus der Schublade in der Küche und eilte hinaus. Ich hinterher. Wie ein Killer, der in der Menge sein Opfer ins Auge fasst, die Klinge am Unterarm verborgen, so überquerte er den verlassenen Spielplatz und steuerte die Schaukel an. Er packte die Schlaufe, und nach drei beherzten Sägebewegungen wurde in diesem Jahr nicht mehr geschaukelt.
Ich würde gerne Karamell gießen über die Burg, nach der Hohenecken benannt ist, eine steile Klippe über grünen Wipfeln. Die Sonne strahlte, als Papa mich an seiner Hand aus dem Lärchenweg über den Spielplatz und die Bundesstraße in den Wald hinaufführte. Dabei drückte er meine Hand in einem bestimmten Rhythmus, und ich drückte im gleichen Rhythmus zurück. Auf diese Weise redeten wir miteinander, ohne zu sprechen. Ich glühte vor Glück. Oh, worüber wir alles reden würden, wenn ich erst richtig über Dinge würde reden können, die ihn interessierten. Der Weg war steil und wurde immer steiler. Am Ende nahm mein Vater mich bei den Hüften und wuchtete mich auf seine Schultern. Ich saß hoch über dem Boden und hatte keine Angst. Es war, als ritte ich auf einem großen Tier. Ich spürte seinen festen Griff um meine Knöchel und schlang die Arme um seine Stirn.
»Nicht!«, kicherte er. »Meine Brille! Kannst ruhig loslassen! Ich hab dich!«
Also ließ ich los und breitete die Arme aus, als würde ich fliegen. Unter manchen Ästen musste ich mich ducken, dann beschnupperte ich die Haare meines Vaters. Olivenöl und Holz. Ich fühlte mich schwerelos, und er keuchte: »Junge, du bist ein ganz schöner Brocken!«
Im Gebüsch um die Burg glänzten vergitterte Scheinwerfer. Die zyklopischen Sandsteinmauern waren abgerundet, wie geschleift von den Jahrhunderten. Der Eingang zum Turm zugemauert, schwarzfeuchte Feuerstellen im Hof, rostige Geländer am Abgrund, der Geruch von Urin in jeder halbwegs verborgenen Ecke. Der Blick durch die leeren Fensterhöhlen bot nichts als bewaldete Hügel über Hügel. Sogar Papa musste sich vorbeugen wie aus dem Korb eines Fesselballons, um die Dächer der Häuser unten im Tal sehen zu können. Eine hingekauerte, friedliche Versammlung, durchschnitten nur von der Bundesstraße, die wir eben überquert hatten. Mein Vater rauchte eine Zigarette auf, bis zum Filter, bevor er sie unter seiner Schuhspitze zerdrückte.
»Schau dir das an«, sagte er, die Hand auf meiner Schulter. »Was siehst du?«
Ich sah gar nichts, nichts Besonderes jedenfalls.
»Hohenecken? Häuser?«
»Genau. Häuser. Und da sitzen sie dann fest, die Leute. Schuften, um sich diese Häuser leisten zu können. Freuen sich auf die Zeit, in der sie einmal nicht mehr arbeiten werden. Arbeiten dieser Zeit entgegen. Legen ihr Geld auf die hohe Kante, immer ein wenig Geld auf die hohe Kante. Abends gehen sie in ihren Hobbykeller und saufen. Und dann fallen sie eines Tages tot um, einfach so. Ohne jemals nicht gearbeitet zu haben. Ohne sich jemals ernsthaft Gedanken darüber gemacht zu haben, was sie wirklich wollen. Verstehst du das?«
»Nein, Papa.«
»Ich auch nicht«, seufzte er, »ich auch nicht.«
»Fällst du auch eines Tages tot um?«
Er lachte hell auf. »Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Aber dort unten wohnen wir doch auch, in so einem Haus!«
»Besser wäre eine Burg, oder? Ein Bollwerk zur Verteidigung in einer Welt, in der man sich besser mal gegen die Bösen verteidigt«, sagte er und tätschelte mit der flachen Hand den Sandstein. »Du musst dir aussuchen, was du sein willst. Angreifer oder Verteidiger.«
Ich wollte lieber hinter den dicken Mauern sitzen, aber das sagte ich nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Papa das hören wollte. Also wartete ich.
»Du musst dir nehmen, was du willst«, fuhr er fort. »Niemand schenkt dir etwas. Du frisst oder wirst gefressen. So, und jetzt kommst du!«
Ich nickte. Ich wollte nicht gefressen werden.
»Nimm dir, was du willst. Was willst du, kleiner Mann?«
Was ich wollte? Ich wollte das Baumhaus, das Papa mir schon so lange versprochen hatte. Ich wollte ein Schokoladeneis. Ich wollte einen eigenen Plattenspieler, um darauf meine Hörspielplatten zu hören. Ich wollte eine Rakete, um damit ins Weltall zu fliegen. Ich wollte eine bezaubernde Jeannie wie aus dieser Fernsehserie. Das alles wollte ich, denn ich war sechs Jahre alt. Ich sagte kein Wort, aber Papa lächelte, als könnte er meine Gedanken lesen.
»Du bekommst alles.«
»Wirklich alles?«
»Klar, warum nicht? Alles zu seiner Zeit.«
Seit mein Vater im Depot gekündigt hatte, verwandelte er unseren Keller in ein Depot ganz eigener Art. Eine pharaonische Katakombe für Krimskrams, den er in großen Mengen günstig eingekauft hatte, um ihn einzeln teuer wieder zu verkaufen. Erst standen nur ein paar Kisten in den Ecken, bald türmten sich Pakete bis unter die niedrige Decke. Dazwischen bunte Sesselschalen aus Plastik und Kissen in Blütenform. Magische Thermometer mit schwarzgläserner Oberfläche, aus der die Temperaturen in passenden Farben hervorleuchteten; die 9 in kühlem Blau, 15 schon grüner, 30 giftig rot. Schwere Drucksachen mit Poststempeln aus Kopenhagen und Amsterdam, viel zu gut verpackt, als dass ich sie auf meinen flüchtigen Streifzügen näher hätte in Augenschein nehmen können. Oder wollen. Denn da gab es auch noch Kisten voller kreisrunder Radiergummis inklusive Bürstchen zum Wegwischen des Abriebs, silberne Kugelschreiber mit Schiebemechanismus und Minen in vier Farben, Hirschgeweihe aus Kunststoff, Aschenbecher aus Bakelit, Expander, Wagenheber, wasserfeste Wanderkarten und eine ganze Palette voluminöser Strategiespiele mit zahllosen »verschluckbaren Kleinteilen«, bei denen Erwachsene auf einer in winzige Hexagramme unterteilten Karte von Europa die napoleonischen Kriege nachspielen konnten. In den größten Kisten warteten zerlegte Heimtrainer. Wie normale Fahrräder für Erwachsene, nur mit einem Bock verschraubt, damit das hintere Rad sich so frei drehen konnte, wie die eingebauten Widerstände es erlaubten. Das war »unser Renner«, wie mein Vater sagte.
»Mit dem Teil verdienen wir einen Arsch voll Geld. Den Leuten wird erzählt, sie sollen sich fit halten. Es wird ihnen eingeredet, sich bewegen zu müssen. Wie Steinzeitmenschen. Dann schaue ich mir diese Dauerläufer an und frage mich: Hey, wo ist denn die Gazelle, die ihr jagt? Was für ein Blödsinn. Und trotzdem bleibt das schlechte Gewissen. Eigentlich sollte man dies, eigentlich sollte man das … und da ist es doch bequemer, sich auf dieses Ding hier zu setzen. Es steht eben jeden Tag ein Dummer auf.«
»Wie meinst du das, es steht jeden Tag ein Dummer auf?«, fragte ich.
»Naja, das ist ein alter Kaufmannsspruch. Es gibt eben Dummköpfe. Man muss sie nur finden. Oder, besser noch, sich von den Dummköpfen finden lassen.«
»Warum?«
Papa schenkte mir einen mitleidigen Blick. »Damit man ihnen etwas Dummes verkaufen kann, Dummkopf, darum.«
Winters wie sommers fuhr Mama daher regelmäßig zum Postamt, den Kofferraum voller Pakete, und auch auf Rückbank und Beifahrersitz überall Päckchen. Beim Schleppen war ihr Babybauch im Weg, weswegen ich mit anpacken musste. Während sie vor dem Panzerglas darauf wartete, dass die Beamtin dahinter die Sendungen frankierte, schaute ich mich im Schalterraum um. Dabei fiel mir einmal ein Plakat mit schmucklosen Schwarzweißfotos in grellrotem Rahmen auf. Darauf waren verdrossen bis finster dreinblickende Männer und Frauen zu sehen. Ganz anders als die Gesichter, die ich von Werbeplakaten für Bonbons, Klamotten oder Zigaretten kannte. Als hätte ihnen jemand etwas getan. Neugierig zupfte ich am Rock meiner Mutter.
»Mama, wer sind die da?«
»Nicht so laut, mein Schatz! Diese Leute werden gesucht. Steht da.«
»Von wem werden die gesucht?«
»Von der Polizei. Das sind Terroristen.«
»Was sind Touristen?«
»Terroristen. Terroristen sind Leute, die andere Menschen erschrecken wollen.«
»So wie Räuber?«
»Ja, das sind auch Räuber.«
»Und warum wollen die andere Leute erschrecken?«
»Das kann dir dein Vater erklären. Ich bin durch, können wir gehen?«
»Schau mal, Mama! Der da sieht ja so aus wie Papa!«, rief ich und deutete auf ein Foto oben links. Darunter stand: »Baader, Andreas Bernd.«
Mama lächelte, aber ich sah ihre roten Ohren und schwieg. Ihr Griff um meine Hand war so fest, dass es schmerzte, als sie mich aus dem Postamt zerrte.
Und dann stand auf einmal dieses Trumm in unserer Einfahrt. Scharfkantig und wie aus Wellblech zusammengeschweißt. Mit offenem Mund schlich ich, den Ranzen noch auf dem Rücken, um das Fahrzeug herum. Da waren Trittbretter und eckige Flanken, pfützenfarben lackiert. Auf der vorderen Haube ruhte fest verschraubt ein grobstolliger Ersatzreifen. Über einem Gestell aus Rohrstangen spannte sich ein Verdeck aus schwarzem Stoff, die seitlichen Fenster waren aus durchsichtiger Plastikplane, wie bei einem Zelt. Die rechteckige Windschutzscheibe ließ sich runterklappen, sodass einem bei der Fahrt der Wind ins Gesicht wehen musste. Innen erkannte ich ein sehr dünnes Lenkrad und spartanische Sitze aus Kunstleder, mit Sprungfedern. Neben dem Tachometer gab es nur noch ein paar Lämpchen für die Funktionen des Motors. Und als Gangschaltung einen schmucklosen Knüppel, der direkt im Boden verschwand. Es sah aus wie etwas, mit dem man sich auf die Suche nach den Quellen des Kongo machen konnte.
»Na, was sagst du dazu?«, fragte Vater, mit dem Knöchel auf den Kotflügel klopfend.
»Toll, Papa. Was ist das? Fahren wir damit in Urlaub?«
»Nein, mein Sohn. Das ist ein Kübelwagen der Wehrmacht.«
»Wer ist die Wehrmacht?«
»Die Armee, in der Opa Alois gekämpft hat.«
»Gehört der uns?«
»Yepp. Was sagst du?«
»Müssen wir jetzt auch kämpfen?«
Mein Vater seufzte.
»Ich werde ihn verkaufen. Ich werde sie alle verkaufen.«
»Wie, alle?«
»Ich habe noch dreißig mehr davon!«
Ich sah mich um: »Wo denn?«
»Nicht hier«, erklärte mein Vater geduldig. »Es sind Bausätze. Wie die kleinen Flugzeuge, die du immer zusammenklebst? Nur in echt. Richtige Autos mit Motor und allem Drum und Dran. Ich liefere im Paket die Karosserie, das Chassis, den Motor und alle anderen Einzelteile. Und der Kunde setzt sich das Schmuckstück dann zu Hause selbst zusammen.«
Mir wollte nicht einleuchten, wieso jemand sich sein Auto selbst zusammenschrauben sollte, wenn es sie doch fertig zu kaufen gab.
»Weil es billiger ist«, erklärte mein Vater.
Er hatte eine ganze Flotte zerlegter Kübelwagen erworben, die in irgendeiner Halle lagerten, und zu ihrem Vertrieb eine Firma gegründet. Nur halb im Scherz meinte er, dass er sie in »Kübel & Sohn« umbenennen würde, wenn ich eines Tages in das Geschäft einstiege. Ein Geschäft, das er »zum Brummen« bringen würde. Soviel war schon mal klar.
Wenn ich versprach still zu sein, durfte ich bei den Probefahrten sogar auf der Rückbank sitzen. »Und hör gut zu«, schärfte mir Papa ein. »Da kannst du noch etwas lernen!«
Zuerst steuerte er den Kübel stets raus aus Hohenecken. Dabei redete er mit den wechselnden Interessenten unablässig über das Fahrzeug, seine Spezifikationen und Vorteile: »Merken Sie was? Merken Sie was?«, brüllte er in den frontal anwehenden Fahrtwind. »Spurtreu wie ein Esel! Das ist der Typ 181, die CKD-Version, completely knocked down. Geringer Zerlegungsgrad, das könnte notfalls auch ihre werte Frau Gemahlin zusammenlöten! Wollen sie mehr wissen? Zentral-Plattrohrrahmen, Seitenholme, der Boxer aus dem Käfer! Alles aus Wolfsburg, alles original. Nur die Karosserie lasse ich in der Schweiz herstellen, nach Originalplänen. Sie werden fragen: Warum in der Schweiz? Ich will es Ihnen verraten! Die ist einfach verwindungssteif, da könnten Sie mit dem Panzer drüber! Was das bringt? Sehen Sie gleich, wenn’s ins Gelände geht«, und, lauter, nach hinten zu mir: »Wir wollen doch ins Gelände mit diesem Baby, oder?«, und dann wieder zu seinem Kunden, vertraulich schmunzelnd: »Der Kleine kennt den Spaß schon!«
Kamen die älteren Herrschaften zu Wort, sprachen sie meistens über fremd klingende Ortschaften irgendwo in der Ukraine oder Libyen oder darüber, dass sie schon ein Gespann von Dnepr in der Garage stehen hätten und man bei Tauwetter als Kradmelder mit drei Rädern viel besser durch den Schlamm gekommen sei damals. Wenn das Gespräch diese Richtung nahm, und die nahm es zwangsläufig, zog mein Vater eine helmförmige Halbkugel aus der Tasche und reichte sie dem Kunden. »Kenner wissen, was das ist. Und Sie sind ein Kenner, das habe ich gleich gesehen. Können Sie dranschrauben, das gebe ich Ihnen dazu. Sie müssen es nur abmontieren, wenn der Wagen durch den TÜV soll. Wir verstehen uns?«
Es war eine Abdeckplatte für den Scheinwerfer, deren schmale waagrechte Schlitze den Kübelwagen im Krieg nachts vor den Blicken feindlicher Flieger verbergen sollten. Dieses Bauteil war sein Joker, hatte Papa mir »unter uns« erklärt. Das fänden seine Kunden toll. Er müsse diese Leute bei ihren Gefühlen packen und deshalb bei ihren Erinnerungen ansetzen. Ideal wäre ein Hakenkreuz, aber das sei leider verboten. Tatsächlich reagierten die meisten Kunden sentimental auf die Tarnvorrichtung und rückten nun ihrerseits mit Geschichten heraus, in denen Worte wie »Wüstenfuchs« oder »Kessel« vorkamen.
Jede Tour endete drüben am Sportplatz des TuS 1904 Hohenecken. Dort gab es einen sumpfigen Fußballplatz mit Toren ohne Netze, Pfützen auf der Aschenbahn und einer steilen Böschung zum Wald hin, an der mein Vater die Geländegängigkeit des Vehikels demonstrierte. Mit jodelndem Motor und durchdrehenden Reifen ging es die Steigung hinauf, dass die Grassoden nur so durch die Luft flogen. Ein heikles Manöver, weil der Wagen dazu neigte, seitlich wegzurutschen. Wenn das geschah, griff mein Vater, die Kippe zwischen die Lippen geklemmt und die Augen gegen den Rauch zusammengekniffen, dem Fahrer ins Lenkrad und korrigierte den Kurs.
»Gegensteuern! Sie müssen gegensteuern, sonst geht der Ihnen hinten weg wie nix!«
Und immer steuerten die Fahrer rudernd gegen und kamen irgendwann tatsächlich oben auf der Kuppe zum Stehen. Ende Gelände.
»Kolossal!«, rief einmal einer der Interessenten und streichelte das Wellblech: »Wenn wir damals schon solche Fahrzeuge zur Verfügung gehabt hätten, wären wir wohl weiter gekommen als bis Stalingrad …«
»Aber das hatten Sie doch!«, sagte Vater, und das gemeinsame Gelächter war beinahe so viel wert wie ein Kaufvertrag.
Nach ein paar Wochen glich das Gelände des TuS 1904 Hohenecken einem Truppenübungsplatz. Regenfälle ließen allmählich die Böschung erodieren, kleine Erdrutsche begruben die Aschenbahn unter Schlamm. Und irgendwann schob der Platzwart diesen Exkursionen mit Tor und Vorhängeschloss einen Riegel vor.
Die meisten gealterten Feldherren schienen allerdings nur an einer Auffrischung verschütteter Fahrerlebnisse interessiert. Immerhin sechs Kübelwagen verkaufte Papa dann doch, an athletische Männer in Flecktarn und mit tätowierten Balkenkreuzen auf den Unterarmen. Sie waren von weit her angereist, und meine Mutter servierte ihnen lieber Bier statt Kaffee. Mag sein, dass mit den Wehrsportgruppen bereits der komplette Markt bedient war. Vielleicht hätte sich das Geschäft anders entwickelt, wenn mein Vater der Einladung des ZDF gefolgt wäre. In der Sendung Telemotor hätte er den Kübelwagen vorstellen können. Zuerst war Papa ganz Feuer und Flamme, nach einem Telefonat mit der Redaktion aber verstimmt: »Ich bekomme dafür nicht nur kein Geld. Ich soll sogar meine Anreise selbst bezahlen, Anhänger, Hotel, alles. Hauptsache, Harry Valérien streicht seine Gage ein. Das könnte denen so passen. Nee, nicht mit mir.«
Im folgenden Winter machten wir so wenige Ausfahrten mit dem Auto, dass mein Vater im Frühjahr die Batterie überbrücken musste. Es kamen immer weniger Kunden zu uns nach Hohenecken. Und irgendwann kamen gar keine mehr.
Stattdessen kamen Briefe.
Täglich landete ein ganzer Stoß davon auf dem Fußboden vor der Haustür, als wäre der Briefschlitz das Tor in eine Außenwelt, die ständig etwas von uns wollte. In der Mehrzahl waren es anfangs noch die üblichen Bestellungen für Thermometer, Geweihe oder den »Renner«. Mir ganz persönlich schickte die Sparkasse regelmäßig große Umschläge mit Comics, die auf der idyllischen Insel Knax spielten. Darin wurde der Reichtum der Knaxianer von den gierigen Fetzensteinern bedroht, die aber verlässlicherweise den gewitzten Knaxianern unterlagen. Andere Briefe von der Sparkasse waren an meinen Vater adressiert, und darüber schienen meine Eltern sich weit weniger zu freuen als ich – vielleicht, weil es keine Comics waren. Jedenfalls bedeutete Post mit dem roten, von einem Punkt gekrönten S nichts Gutes. Schlimmer waren nur Umschläge, auf die ein zotteliger Löwe mit ausgefahrenen Krallen gestempelt war, das Wappen von Rheinland-Pfalz. Bei diesen Briefen konnte ich unsere Adresse durch ein Fensterchen aus durchsichtigem Papier sehen. Es waren amtliche Schreiben, die Mama nur flüchtig zur Kenntnis nahm und geöffnet auf der Resopalplatte in der Küche liegen ließ, damit Papa sie später auch lesen konnte. Was er nicht tat. Manchmal nahm er nur das Papier und begann, es säuberlich zusammenzulegen.
»Wenn ich diesen Bogen zweiundvierzig Mal falte, reicht er bis zum Mond. Soll ich?«
»Au ja!«
Er faltete und bedauerte nach ein paar Sekunden, leider nicht weiterfalten zu können: »Das Papier hier taugt nichts!«
Dann warf er den Brief in den Mülleimer.