St. Moritz einfach
ISBN 978-3-906064-59-8 E-Book
ISBN 978-3-906064-30-7 Buch
2., aktualisierte Auflage September 2016
© Somedia Production AG, Somedia Buchverlag,
Glarus/Chur 2014
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form, elektronisch, fotomechanisch oder in einem anderen Verfahren, auch nicht auszugsweise, ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Umschlagsmotiv: M. Daester: Frau mit rotem Mantel,
ca. 1925, Dokumentationsbibliothek St. Moritz
Gestaltung und Druck: Somedia Production AG, Chur
Einband: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf
Printed in Switzerland
St. Moritz einfach
Erinnerungen ans Champagner-Klima
Der letzte Kurdirektor bilanziert:
«Es gibt nichts, was es in St. Moritz nicht gibt!»
Grusswort des Verlegers
Hans Peter Danuser – zum Zweiten
Es ist weniger als zwei Jahre her, als Hans Peter Danuser, der bekannteste Touristiker des Landes und langjähriger Kurdirektor von St. Moritz, in unserem Verlag das Buch «St. Moritz einfach – Erinnerungen ans Champagner-Klima » publiziert hat.
Wir wollten das Buch als einen Longseller für die Einweihung des neuen Medienhauses in Chur herausgeben und zeigen, wie bedeutend das Berg- und Tourismusgebiet für uns und unsere Region ist.
Aber es dauerte nicht lange, bis das Buch knapp wurde. Der gute Verkauf machte aus dem Longseller einen Short- und Bestseller, sodass wir bereits jetzt eine zweite Auflage herausgeben können. An den Inhalten des Buches hat sich nur eines geändert: das Grusswort des Verlegers. Es ist beim Tempo des Buchverkaufes unter die Räder geraten und muss neu formuliert werden.
Ich freue mich, dass mein Freund mit seinem Buch, in dem er in seiner ungezwungen offenen Art sein Leben beschreibt und seine wichtigsten Überlegungen zugunsten des Tourismus darlegt, einen derartigen Erfolg hat. Das liegt in erster Linie am Autor und seinen kurzweiligen Geschichten, aber auch an der Art und Weise, wie Hans Peter Danuser 30 Jahre als Kurdirektor von St. Moritz an der Front wirkte und damit wesentlich zu dessen weltweitem touristischen Erfolg beigetragen hat.
Dass er seine Erinnerungen an seine Amtszeit, an seine Jugend und die Zeit bis heute schriftlich festgehalten hat, ist ein echter Gewinn.
Da Danuser mit seiner Heimat Chur und Felsberg stark verwurzelt ist und über St. Moritz hinaus sich stets mit dem Churer Rheintal identifizierte, passen Autor und der regionale Somedia Buchverlag wunderbar zusammen. Dass das Buch bei seinen Lesern auf so positive Resonanz stösst, freut uns beide umso mehr.
Um das Buch handlich und trotzdem abwechslungsreich und attraktiv zu gestalten, haben wir darin 15 sogenannte « Quick Response Codes» platziert. Das ist im Schweizer Buchdruck im Bereich Belletristik eine echte Innovation und ist beim Publikum sehr gelobt worden. Deshalb haben wir daran festgehalten, Filme, Fotos und Dokumente mittels dieser Zeichen in den Text zu integrieren, sodass der interessierte Leser nicht nur die gedruckten Seiten in der Hand hält, sondern dank hinterlegten Internetlinks auch bewegte farbige Bilder zu sehen bekommt. Das ist umgesetzte Medienkonvergenz und zeigt beispielhaft unsere heutigen publizistischen Möglichkeiten auf. Soweit mir bekannt, ist unser Verlagshaus das erste in der Schweiz, das diesen Schritt gegangen ist.
Hanspeter Lebrument, Verleger
Für Amelie-Claire und Lennart Leo
«Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt,
der andere packt sie an und handelt.»
Dante Alighieri
Inhalt
Vorwort
Prolog
Teil I: Die Zeit zuvor
Teil II: St. Moritz und die Welt 1978–2008
Die Wahl
Heidiland
Der Start in St. Moritz: Zwischen Schwimmfest und Kabarett
Die Deutsche Reiseakademie
Glacier Express
Schwesterstädte und «Kurvereinsreisen»
«Neues vom Kurverein»
Polo auf Schnee
Eintrag und Schutz des Namens « St. Moritz» als Marke
Top of the World
Die goldene Sonne von St. Moritz
Marketing-Credos und -Strategien von St. Moritz
Jeder Tag eine Wundertüte!
Für St. Moritz auf Reisen
Zürich – die grösste Bündner Stadt
Prominenz und Schickimicki
Der Kurdirektor im Militär
Engadin und Comersee
Jubiläen und Nostalgia
Die Kaderschmiede
Piz Matratz
Mit dem Alphorn unterwegs
St. Moritz Gourmet Festival
Clean Energy – saubere Energie
Alpine Ski-WM
Die Katastrophe
Die Venedig-St. Moritz-Connection
Die Ablösung – ein Schmierenstück
Das Glück ist zurück
Rückblick auf 30 Jahre
Teil III: Die Zeit danach
Dank
QR-Codes
Abbildungen
Vorwort
von Samih Sawiris, ägyptischer Investor
Im Leben lernt man viele Menschen kennen. Aber nur wenige bleiben einem schon nach der ersten Begegnung unvergesslich in Erinnerung. Nämlich jene, die über besondere Ausstrahlungskraft verfügen und eine positive Energie aussenden. Einer von ihnen ist Hans Peter Danuser.
Der Autor dieses Buchs war als CEO / Kurdirektor des Kur- und Verkehrsvereins unvergleichlich erfolgreich. Und das mit äusserst geringen finanziellen Mitteln! Hans Peter Danuser baute St. Moritz zur globalen Marke auf, er schuf neuartige Sport-Events und rief nachhaltige Projekte ins Leben. Es gelang ihm auf eindrückliche Weise, St. Moritz und das Engadin mit stichhaltigen Argumenten zu «verkaufen» – aber ebenso überzeugte er mit seiner wunderbaren Ausstrahlung, der Liebe zum Bündnerland und zu den Menschen. Mit seiner Offenheit ist der promovierte Ökonom ständig neue Wege gegangen. Wege, die es ihm ermöglichten, St. Moritz in der ganzen Welt ein sympathisches Gesicht zu geben. Kein Wunder, heimste er dafür zahlreiche Preise ein.
Zu Hans Peter Danusers gewinnendem Wesen gehört seine Grosszügigkeit. Als wir uns vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung in Zürich kennenlernten, meinte eine Fernsehreporterin, wir sollten uns doch vor der Kamera im Armdrücken messen – quasi Andermatt gegen St. Moritz. Wir sagten beide zu, und Hans Peter liess mich, den Newcomer in der Schweiz, vor laufender Kamera gewinnen. Auch das zeichnet Hans Peter Danuser aus: Nicht das Siegen bereitet ihm die grösste Freude, sondern andere am Erfolg teilhaben zu lassen. Das ist ein Zeichen grösster Souveränität! Ich werde es nie vergessen.
Zufriedenheit und Freude am Leben halten einen jung. Hans Peter Danuser ist deshalb einer der jüngsten Menschen, die ich kenne. Seine Liebe zu den Bergen, zu seiner Region, zu seinem St. Moritz versprüht er wie Funken auf sein Gegenüber, sodass man sich sofort und ohne Mühe selbst in diese Region verliebt.
Ich freue mich, dass Hans Peter Danuser uns alle mit diesem Buch an seinem spannenden Leben teilnehmen lässt. Es ist gespickt mit unzähligen interessanten und freudigen Gegebenheiten.
Die Lektüre ist ein Gewinn!
Samih Sawiris
Prolog
Die Schweiz, St. Moritz, Davos und andere Orte feierten im Winter 2014/15 das Jubiläum «150 Jahre alpiner Wintertourismus». Ich selbst habe gut 30 Jahre dieser Zeit, von 1978 bis 2008, als Kurdirektor von St. Moritz miterlebt: im Brennpunkt des Geschehens mit Gästen und Einheimischen im Engadin, aber auch draussen in der ganzen Welt.
Darüber berichtet dieses Buch. Aber nicht als Chronik, sondern in Form von Geschichten, wie ich sie erlebt habe. Das Buch will unterhalten, amüsieren, Anekdoten und Episoden erzählen, hinter die Kulissen schauen, Zusammenhänge zeigen und vom Leben schwärmen. Was für ein Privileg ist es doch, in dieser Zeit und in einem Land wie der Schweiz zu leben!
Basis meiner Geschichten sind nicht nur meine Erinnerungen. Mir stand umfangreiches Material zur Verfügung, wie etwa Tagebuchnotizen, Briefe und Dokumente, darunter Zeitungsausschnitte, Fotos, Reiseunterlagen, die ich seit meiner Konfirmation 1963 sammle und bis heute in etwa 80 Bundesordnern aufbewahre.
Weitere Quellen sind die gut 3000 Kolumnen, die ich während 25 Jahren von 1983 bis 2008 in praktisch jeder Ausgabe der «Engadiner Post» unter der Rubrik «Neues vom Kurverein» dreimal die Woche veröffentlichte und die beim dortigen Verlag sowie in der Dokumentationsbibliothek St. Moritz archiviert sind. Dazu kommen die Kolumnen im Tourismusforum vom «Bündner Tagblatt» seit 1998, sowie die wöchentlichen Blogs auf suedostschweiz.ch seit Oktober 2010 – mit mittlerweile über zwei Millionen Lesern.
Meine beruflichen Aktivitäten mit allen Reisen, Präsentationen, Vorträgen, Berichten und Sitzungen von 1978 bis 2008 sind in den rund 300 «Kurvereins-Bulletins» aufgezeichnet, die ebenfalls in der Dokumentationsbibliothek einsehbar sind.
So viel Quellenmaterial mag für Studenten und Forscher lustig sein – ich will mich auf die Rosinen konzentrieren. Der folgende Text ist – aus meiner Sicht – wahr, aber weder wissenschaftlich, noch vollständig. Die Auswahl der Inhalte folgt den Kriterien des Unterhaltungswerts sowie des öffentlichen Interesses und ist entsprechend subjektiv.
Noch ein Wort zum Aufbau dieses Buchs: Teil I – Die Zeit zuvor – und Teil III – Die Zeit danach – beinhalten die Vor- und Nachgeschichte meiner aktiven Zeit als Kurdirektor. Beide sind biografischer Natur und dadurch in chronologischer Abfolge. Teil II – St. Moritz und die Welt – enthält 30 in sich abgeschlossene Geschichten aus den 30 Direktionsjahren. Sie beziehen sich zum Teil aufeinander und sind zuweilen im Kontext meiner Kindheit und Jugend besser zu verstehen. Denn meine Heimat, das Churer Rheintal, ist eine komplett andere Welt als die von St. Moritz und des Engadins.
Hans Peter Danuser von Platen
St. Moritz
Teil I
Die Zeit zuvor
Silvester 1995 in St. Moritz. Leichter Schneefall, minus acht Grad Celsius. Auf der Plazza Murezzan bläst das Alphorn-Ensemble Engiadina St. Moritz um vier Uhr nachmittags sein traditionelles Altjahrkonzert. Der wogende Strom der Flaneure auf der Via Maistra, die am Platz vorbeiführt, wird langsamer und füllt bald den ganzen Raum vor der Chesa Cumünela, dem Gemeindehaus.
Es sind Gäste aus aller Welt anwesend, gut eingepackt in Pelz und Loden, die das romantische Ambiente bei Schneeflocken und Weihnachtsbeleuchtung geniessen. Sie staunen über die langen Hörner dieser fünf einheimischen Bläser in ihren sportlichen Bogner-Skianzügen. Und diese ruhige, archaische Musik! Echt, authentisch, «absolutely relaxing»! Applaus, Applaus!
Nach dem Konzert offeriert der Kurverein den Musikern ein Gläschen Weisswein. Dann verabschieden sie sich bis ins nächste Jahr. Jeder hat bis dahin noch einiges zu erledigen: Die beiden Polizeichefs, ein Bauunternehmer, ein Wirt und ich, der Kurdirektor.
St. Moritz ist ausgebucht. 15 000 bis 20 000 Personen werden an diesem Abend in St. Moritz das neue Jahr begrüssen. 5000 Einwohner leben hier übers Jahr. Das Oberengadin zählt an diesen Tagen sogar gut 100 000 Menschen, etwa gleich viel wie die Stadt Winterthur, die sechstgrösste Stadt der Schweiz, nur dass sie nicht auf 1800 m ü. M. liegt! Die Einheimischen haben über die Festtage alle Hände voll zu tun.
Ich schaue noch rasch die Post durch und bereite dann zu Hause die verschiedenen Kleider für den Silvesterabend vor: Smoking für den Cocktail im Palace-Turm, legeres Outfit für die anschliessende Raclette-Runde im alten Hühnerstall neben unserem Haus, warme Kleidung für den Champagnerempfang auf unserer Terrasse um Mitternacht. Ich bin parat.
Um 18.30 Uhr ruft mich der deutsche Verleger Prof. Dr. Hubert Burda an. Er ist verzweifelt, weil infolge schweren Schneefalls die Pässe geschlossen wurden, und die engagierte Band für seine Silvesterparty in Thusis festsitzt. Dabei stehen auf seiner Gästeliste wichtige Wirtschaftspersönlichkeiten aus Deutschland und Italien: die Agnellis, De Benedettis, Bogners, Langenscheidts, Oetkers und andere. Das Einzige, was ich so kurzfristig im eingeschlossenen Tal als Ersatz organisieren kann, sind möglicherweise die Alphornbläser, die jetzt überall verteilt sind.
Es klappt: Um 20 Uhr spielen wir im Schneegestöber bei Burdas am See zum Empfang der Gäste auf. Der Hausherr tanzt mit seiner Frau Maria Furtwängler, Ärztin und Fernsehstar, zum Talkirchdorfer Walzer im Neuschnee! Das Konzert kommt bei den Gästen so gut an, dass Hubert Burda uns in den zwei Folgejahren wieder engagiert.
Dank Vierradantrieb schaffe ich es den Berg hinauf wieder nach Hause, stürze mich in den Smoking und los geht es mit meiner Frau in langer Abendrobe in den Turm von Badrutt’s Palace Hotel, wo der Schweizer Verleger Jürg Marquard zum traditionellen Silvestercocktail lädt. Und da sind sie alle zusammen: die Schönen, die Reichen, Blut- und Geldadel. Ich treffe einige Newcomer und treue St. Moritz-Botschafter:
John Schnell, Prominenten-Zahnarzt aus Zürich, Hans «Hausi» Leutenegger, Unternehmer, Bob-Weltmeister und Schauspieler, Ljuba Manz, die rassige Chefin der Privacy Hotels, die Tanners von der Lindt (Schokolade), die Ueltschis von der Bernina (Nähmaschine), Rolf Sachs, der Künstler und Jazzkönig vom Dracula Club, Hugo Ivo Rütimann, der reitende Figaro von der Val Roseg, um nur einige zu nennen.
Nach kurzem Defilee durch Jürgs Turmgemächer geht es wieder nach Hause. Umziehen und ab in unsere rustikale Hütte, einem ehemaligen Hühnerstall, wo wir mit Familie und Freunden in gemütlicher Runde das Jahr ausklingen lassen.
Gegen Mitternacht treffen wir auf unserem grossen Balkon mit Nachbarn und Freundesfreunden zusammen. Hier stossen wir an und bewundern das Feuerwerk über Dorf und See. Um 24 Uhr läuten die Glocken der St. Moritzer Dorfkirche das neue Jahr ein. Nach der ersten Prost- und Glückwunschwelle trägt mich das Kirchengeläut in Gedanken nach Felsberg, wo die Glocken und ich herkommen, und wo ich die Silvesternacht jeweils ganz anders erlebt habe als im mondänen St. Moritz. Mit dem Bürgerchor zogen wir von Platz zu Platz und sangen alte Lieder, zu denen selbst gemachter Röteli offeriert wurde. Nie hätte ich damals nur im Traum daran gedacht, dass ich einmal in der Hochburg des internationalen Jetsets ein so vielseitiges und aufregendes Leben führen würde.
Felsberg am Calanda – «Zwischen St. Moritz und Zürich»
Früher gab es im Altdorf von Felsberg die Glockengiesserei Theus und im Neudorf die Orgelmanufaktur Metzler, die ihre Produkte auch über die Kantonsgrenze hinaus verkauften. In der Dorfkirche von St. Moritz zum Beispiel stammen sowohl Glocken wie Orgel aus Felsberg. Als während längerer Zeit auch der Gemeindeschreiber und der Kurdirektor zufällig aus Felsberg stammten, hiess es rasch am Stammtisch: «Alles, was in St. Moritz Lärm macht, kommt aus Felsberg!»
Felsberg liegt etwas westlich von Chur zwischen Rhein und dem Calandamassiv im Kanton Graubünden. Dem Calanda verdankt das Dorf seinen Namen, poltert dessen Fels doch seit Menschengedenken vom Berg auf Wald, Wiesen und Gebäude hinunter. Als Folge des grossen Bergsturzes von 1843 gibt es heute neben dem etwas erhöhten Altdorf am Bergfuss östlich davon ein weniger gefährdetes Neudorf in der Ebene.
Seit einiger Zeit sorgt der Calanda für Schlagzeilen, weil in seinen Wäldern nach etwa 150 Jahren das erste Wolfsrudel der Schweiz lebt und wächst. Calanda heisst auch das populäre Bier aus Chur, und Calanda nennen mich meine Verbindungskollegen der Uni St. Gallen – eher des Bergs als des Biers wegen.
Am Calanda oberhalb von Felsberg wurde auch schon Gold gefunden, und unten vis-à-vis Domat/Ems wächst «guter Wein am Alpenrhein»: «Goldene Sonne », ein trockener Riesling-Silvaner, sowie ein süffiger «Glockengiesser»-Blauburgunder.
Wirtschaftlich ist Felsberg stark auf die Kantonshauptstadt Chur ausgerichtet, wo die meisten erwerbstätigen Felsberger ihrer Arbeit nachgehen. Hier sind ebenfalls die höheren Ausbildungs- und Lehrstätten, die die Felsberger Dorfjugend frequentiert. Ein grösserer Arbeitgeber ist auch die Ems-Chemie der bekannten Zürcher Familie Blocher, die auf der anderen Seite des Rheins zwischen Domat/Ems und Reichenau steht.
Ebenfalls auf der Südseite des Rheins verlaufen die A 13, die Autobahn durch den San-Bernardino-Tunnel in den Süden, die Kantonsstrasse und die Rhätische Bahn. Die Brücke über den Rhein ist für Felsberg die physische Verbindung zur Aussenwelt – mit entsprechender Bedeutung.
Obwohl Felsberg in den 1950er- und 60er-Jahren nur knapp 1000 Einwohner zählte – heute sind es etwa doppelt so viele –, pflegte es eine vielfältige Dorfkultur mit Turnverein, Musikgesellschaft und Chören. Seit bald 30 Jahren hat der Ort mit Alfred Schneller einen Chronisten, der das Dorfgeschehen akribisch festhält, kommentiert und jährlich veröffentlicht.
Die älteren Familien Felsbergs sind zumeist walserischalemannischer Herkunft, sprechen Deutschschweizer Dialekt und sind reformiert – während das benachbarte Domat/Ems jenseits des Rheins romanisch spricht und katholisch ist.
Zwischen Felsberg und Domat /Ems gibt es seit jeher eine gewisse Rivalität. Die Emser Bauern machten sich früher einen Spass daraus, ihre Felder auf Felsberger Gebiet am Karfreitag zu güllen und zu misten. Die Felsberger revanchierten sich in Ems analog jeweils an Fronleichnam. Trotz der gegenseitigen Animositäten der beiden Dörfer kaufte mein Vater zwei Emser Maiensässe mit Wald und Weiden, was ihn seinen Nachbarn jenseits des Rheins mit den Jahren etwas näherbrachte.
Felsberg ist in der Schweiz bekannt durch die Familie Schlumpf mit der ehemaligen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und ihrem Vater, dem verstorbenen Bundesrat Leon Schlumpf.
Die Familie meines Vaters wohnte in einem Bauernhaus nahe der damals neuen Rheinbrücke im Neudorf. Der Grossvater war Förster und Bauer, seine Frau zog im Garten Gemüse, das sie mit anderen Felsbergerinnen auf dem Markt in Chur verkaufte. Ihre Wagen waren oft so schwer beladen, dass die Knaben den Müttern beim Schieben der Gefährte über die Brücke und die erste Steigung hinauf Richtung Chur helfen mussten. Die Felsberger Gemüsefrauen gehörten damals zum Churer Strassen- und Stadtbild.
Mein Vater machte eine Lehre, arbeitete in den 1930er-Jahren als Hausmechaniker in den Davoser Hotels Schweizerhof und Schatzalp, später in der Bierbrauerei Chur.
Ende der 1950er-Jahre machte er sich mit einer Baumschule für Lärchennachzucht in Felsberg selbstständig. Basierend auf Beobachtungen und Experimenten seines Vaters, hatte er ein spezielles Saat- und Belichtungsverfahren für junge Lärchen entwickelt, das deren Wachstumszeit bis zur Transportfähigkeit halbierte. Das und die Qualität seiner Setzlinge sorgten bei den Schweizer Förstern für Aufsehen und starke Nachfrage, insbesondere in den Kantonen Graubünden, Wallis und Tessin. In guten Jahren lieferte er eine halbe Million 17-monatiger Setzlinge aus.
Nach dem Krieg hatte er meine Mutter Trudi Bührer geheiratet. Sie stammte aus Lohn bei Schaffhausen, nahe der Grenze zu Deutschland. Nach einer kaufmännischen Lehre in Zürich arbeitete sie beim Kinderheim «Gott hilft!» im Haus der alten Glockengiesserei in Felsberg. Dass sie als «Auswärtige von so weit her» einen Einheimischen heiratete, kam damals in Felsberg schlecht an. Es dauerte Jahre, bis sie im Dorf akzeptiert wurde.
Kuhhirt und Schüler
In Felsberg wuchs ich mit meinen beiden jüngeren Schwestern auf und besuchte die Primarschule. Die Sommerferien dauerten damals etwa vier Monate – schön für die Schüler, mühsam für die Eltern, die tagsüber hart arbeiteten und wenig Zeit für rumhängende Kinder hatten. Also suchten uns die Mütter – meist über die Pfarrämter – Jobs als Hirten- und Aushilfsbuben bei Bergbauern. So arbeitete ich zwei Sommer bei der Familie Lerchi in Scheia oberhalb von Fidaz und Flims, direkt unter dem gigantischen Flimserstein, sowie zwei weitere Sommer bei den Stoffels in Camanaboda im hinteren Safiental. Ich war beide Male gut aufgehoben, litt aber anfangs schrecklich an Heimweh. Dafür lernte ich das Leben der Bauern eins zu eins kennen und gerade als Ziegen- und Rinderhirte auch Verantwortung zu übernehmen – bei jedem Wetter. Frühmorgens und abends musste ich melken, zweimal die Woche Butter machen, alle paar Wochen auch käsen, wobei hierzu der Bauer jeweils zu mir auf die Alp hinaufkam, die ich zumeist alleine bewohnte. Auch wenn die meisten Tätigkeiten simpel waren, alle fanden in engstem Kontakt mit der Natur statt und prägten mich so fürs Leben.
Den letzten Sommer vor dem Gymnasium wollte ich nicht bei den Bauern, sondern in einer Konditorei arbeiten, da ich Süssigkeiten überaus mochte und diesbezüglich auf der Alp etwas zu kurz gekommen war. Also platzierte mich meine Mutter – wiederum über das Kontaktnetz unseres Pfarrers – als Bote und «Mädchen für alles» im Tea Room des Hotels Bellevue in Wildhaus im Toggenburg. Jene vier Monate waren rundum grossartig. Ich erhielt ein altes Militärvelo mit Rücktrittbremse, holte jeweils das Personalessen vom Hotel Acker ab und lieferte Torten aus bis zum Grabserberg. Ging ein Kuchen infolge eines Sturzes kaputt, durfte ich ihn am Abend selbst essen.
Im Betrieb arbeiteten etwa 15 Serviertöchter, Büro- und Zimmermädchen, die mich Zwölfjährigen immer wieder neckten, verwöhnten, bemutterten und – aus heutiger Sicht – auch etwas aufklärten. Da das Essen aus dem Hotel Acker nicht immer gut ankam, versorgte ich meine Kolleginnen regelmässig mit frischen Forellen aus dem nahen Bergbach. Ich fing sie mit der Hand und liess sie in den Zubern der Waschküche schwimmen. Als Gegenleistung lieferten mir die Ladentöchter die unverkauften Süssigkeiten täglich zum Abendessen. Seither habe ich Wildhaus als eine Art Paradies in Erinnerung.
Die Zeit am Gymnasium der Bündner Kantonsschule in Chur brachte mir den Ernst des Lebens dann wesentlich näher. Bereits die Aufnahmeprüfung war für den Musterschüler aus Felsberg gar kein Spass. Der Stundenplan war ungleich dichter als früher, die Mitschüler kamen aus dem ganzen Kanton.
Pfadfinder und Griechenland 1963
Zusammen mit meinem Cousin Stefan Bühler gründete ich in Felsberg eine Pfadfindergruppe, die uns samstags und während der verschiedenen Zeltlagern den Schulalltag vergessen liess. So konnte ich den Kontakt zu Felsberg und der Natur aufrechterhalten (Abb. 1).
Die vier Pfadfinderjahre gipfelten 1963 in meiner Teilnahme am 11. World Jamboree, einem grossen Pfadfinderlager in Marathon Beach in Griechenland, wo ich erstmals das Meer sah und genoss. Ich führte das Fähnchen der zehn Pfadfinder aus Graubünden und Glarus, mit denen zusammen ich erstmals die «grosse Welt» erlebte: Etwa 8000 Jugendliche von 27 Ländern und aus allen Kontinenten hatten sich für das Lager zusammengefunden.
Es war die Zeit von Theodorakis, Melina Mercouri und dem griechischen (Segler- und Pfadfinder-)König Constantin von Griechenland.
Im Jamboree merkte ich rasch, wie klein die Schweiz und wie unbekannt die für mich bedeutende Stadt Chur war. Von Felsberg hatte erst recht keiner eine Ahnung, und meine Übersetzung als «Rocky Mountain of Switzerland» half auch nicht weiter. Also lokalisierte ich mich fortan und noch viele Jahre als « from in between St. Moritz and Zurich», was zumeist verstanden wird.
Die Teilnahme am Jamboree ermöglichten mir meine Eltern aufgrund einer Vereinbarung, die sie mir einige Jahre zuvor vorgeschlagen hatten: Wenn ich bis zum 16. Geburtstag keinen Alkohol und keine Zigaretten konsumiere, würden sie mir eine schöne Reise spendieren. Griechenland hat mir dann so gut gefallen, dass ich die Vereinbarung bis über das Alter von 20 hinaus verlängerte. Zu rauchen habe ich tatsächlich nie angefangen. Noch heute bin ich meinen Eltern für diese Abmachung sehr dankbar.
Die «Neue Bündner Zeitung», die Lieblingszeitung meines Vaters, veröffentlichte meinen Bericht über das World Jamboree in mehreren Folgen. Später hat sie auch meinen preisgekrönten Aufsatz für den Schultag 1966 des Europarats publiziert. Durch diese ersten journalistischen Erfahrungen und die tägliche Zeitungslektüre habe ich die Medien kennengelernt und mich mit ihnen vertraut gemacht. Mit Bewunderung verfolgte ich den Werdegang des Redakteurs, Chefredakteurs und heutigen Verlegers Hanspeter Lebrument, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet. Entsprechend gross ist meine Freude, dass dieses Buch in seinem Somedia Buchverlag erscheint, dessen neuer Hauptsitz auf dem Rossboden exakt zwischen Felsberg und Chur liegt.