Raffael Zeller
mit Iris Hadbawnik

SCHWEISS,
SCHLAMM UND
ENDORPHINE

Für meine Kinder Charlotte und Paul

Raffael Zeller
mit Iris Hadbawnik

SCHWEISS,
SCHLAMM UND
ENDORPHINE

ALLES ÜBER EXTREM-HINDERNISLÄUFE UND WIE MAN SIE MEISTERT

INHALT

Vorwort

Faszination Extrem-Hindernislauf:

MEIN WEG DURCH DEN SCHLAMM

Per aspera ad astra: durch das Raue zu den Sternen

Raus aus der Komfortzone

Schlamm, Blut, Schweiß und Tränen:

DER STOFF, AUS DEM DAS GLÜCK IST

Kurzer Ausflug in die Historie: Extrem-Hindernislauf damals und heute

Extrem-Hindernislauf in Deutschland? Niemals!

OCR made in Germany

Die Frage nach dem Warum

Am Anfang steht das Ziel:

WIE WERDE ICH ZUM TOUGH GUY UND CO.?

Mach dich dreckig! Aber besser mit dem richtigen Equipment!

No-Gos: Was sollte auf keinen Fall getragen werden?

Ideale Vorbereitung für den OCR:

IN DEN SCHLAMM, FERTIG, LOS!

Der Schlüssel zum Glück: läuferische Ausdauer und optimale Körperspannung

So machst du dich fit für einen Extrem-Hindernislauf

Lauftraining

Krafttraining: Eigenkörper-Gewichtstraining

Regeneration: Dehnung und Faszientraining

Hindernistraining:

SO MEISTERST DU DIE STRECKE!

Schrägwand oder Halfpipe

Mauer oder Eskaladierwand

Wasserhindernisse

Matsch – daran führt kein Weg vorbei!

Kriechhindernisse

Elektroschocks

Reifenelemente

Hangelhindernisse

In 12 Wochen zum Finisher:

TRAININGSKONZEPTE FÜR EINEN ERFOLGREICHEN OCR

Was ist vor dem Beginn des Trainings zu beachten?

Wie soll ich trainieren?

Trainingsplan für Einsteiger

Trainingsplan für Fortgeschrittene

Trainingsplan für Profis

Mentaltraining: die richtige Strategie zur Bewältigung der Hindernisse im Kopf

Man ist, was man isst: schlaue Sporternährung mit der F-AS-T Formel.

AROO:

AUF IN DEN MATSCH!

Das gehört in die Wettkampftasche: Woran muss ich denken?

Die nötige Energie für die richtige Performance

Auf in den Kampf: Aufwärmen vor dem Hindernislauf

Lauftaktik: Wie gehe ich am besten an die Sache heran?

Finisher!! Von Glücksgefühlen und neuen Zielen

Sachregister

Bildnachweis

Danksagung

Quellenverzeichnis

Die Autoren

VORWORT

von Markus Ertelt,
Mitbegründer des Getting Tough – The Race

Sport war schon immer ein Teil meines Lebens. Leichtathletik, Handball, Taekwondo und Kickboxen … um nur ein paar Stationen zu nennen. Doch meine echte Leidenschaft entdeckte ich erst mit 25 Jahren. Der Zufall brachte mich 2003 in die Rhön zum wohl ersten OCR-Lauf Deutschlands. Der XtremeMan – ein Hindernislauf, der seiner Zeit weit voraus war. Doch ohne soziale Medien und den Hype des Internets ging diesem spannenden Wettkampf schon nach zwei Jahren leider die Puste aus.

Für mich war klar: »Das ist es, was ich will!« Ich begann, zu recherchieren, und das einzige Rennen, das ich finden konnte, war der Tough Guy in England. Ein Rennen der etwas härteren Gangart, ein Rennen, das mich sofort in seinen Bann zog. Die ersten Pläne wurden geschmiedet, und ich versuchte, Freunde und Bekannte ebenfalls für einen Start und diesen Sport zu begeistern.

Die ersten Freiwilligen waren schnell gefunden, und für mich war klar: Wer in England durchkommen will, der muss sich entsprechend vorbereiten. Etwas übermotiviert gestaltete ich dann auch die ersten Trainingseinheiten. Drei gute Stunden, voll bepackt mit harten Kraftzirkeln, in Kombination mit Wassermärschen à la Kneipp, nur eben etwas länger und mit viel Laufen zwischendurch.

Schon nach der ersten, spätestens nach der zweiten Trainingseinheit erklärten mich dann die meisten für verrückt oder kamen einfach nicht mehr zum Training. So verlor ich dann auch leider den Tough Guy etwas aus den Augen, und den Rest erledigte mein sehr zeitaufwendiges Schauspielstudium.

Es dauerte weitere vier Jahre, bis ich den Mut hatte, das Thema OCR noch einmal ernsthaft zu vertiefen und ein Team zu gründen, mit dem Ziel: Tough Guy 2010. Ich erzählte im Herbst 2009 meinem Kickboxtrainer Ertekin Arslan, meinem Bruder und ein paar befreundeten Kickboxern von meinem Plan, 2010 nach England zu reisen und den Tough Guy zu laufen. Die Jungs waren sofort Feuer und Flamme. Mir war klar, wenn ich es jetzt noch einmal in Angriff nehme, dann aber richtig. Ein befreundeter Regiestudent filmte unsere erste Trainingseinheit (die Zusammenfassung der Einheit ist noch immer auf YouTube zu finden), ein befreundeter Hobbyfotograf fotografierte uns, und im Anschluss stellte ich das Material auf mein neues Facebook-Profil.

Meinen Bruder beauftrage ich, uns eine entsprechende Homepage zu basteln.

Die Reaktionen reichten von »Seid ihr jetzt alle völlig übergeschnappt, habt ihr noch alle Latten am Zaun?« bis »Wie geil ist das denn«. Dank Facebook und unserer Internetseite kamen bereits in der zweiten Trainingseinheit 16 Interessierte, und ab Trainingseinheit Nummer drei waren es mehr als 20 Menschen, die Spaß an der Quälerei hatten. Das war die Geburtsstunde meiner Gruppe. Ein Name war schnell gefunden, und so trainierten wir bereits in der ersten Trainingseinheit unter dem Teamnamen Getting Tough.

Facebook und die sozialen Medien veränderten einfach alles. Plötzlich gab es eine Plattform, auf der man sich nicht nur zu Trainingseinheiten verabreden konnte, sondern – und das ist in meinen Augen auch einer der Hauptgründe, warum OCR auf der ganzen Welt so erfolgreich ist – es wurde eine Plattform geschaffen, auf der man sich der ganzen Welt präsentieren konnte.

Diesen Vorteil machten wir uns natürlich zunutze.

Markus Ertelt, Mitbegründer des Getting Tough – The Race

Ende Januar 2010 war es endlich soweit, und ich konnte mir meinen Traum erfüllen. Zusammen mit meinen Gründungsmitgliedern reisten wir zum Tough Guy nach England. Wir waren alle aus dem Häuschen, als wir zum ersten Mal das Gelände betraten. Die Atmosphäre, die Registrierungsprozedur, die Hindernisse und die Menschen aus aller Herren Länder. Wir berichteten von unserer Ankunft, machten überall Bilder und drehten fleißig Videoclips.

Der Wettkampf selbst war ohne Wenn und Aber genau das, was ich mir insgeheim gewünscht hatte! Er war genau das, was OCR so attraktiv macht. Wir mussten alle an unsere Grenzen gehen und vielleicht auch ein Stückchen darüber hinaus, und doch hatte man immer das Gefühl, nicht allein unterwegs zu sein. Es war ganz selbstverständlich, dass man sich an den Hindernissen half. Dass man sich auf der Strecke gegenseitig motivierte und nach vorn pushte.

Genau das zeichnet diesen Sport aus. Er ist in seinem Ursprung knallhart, ehrlich und zeigt einem, sofern man das zulässt, seine Grenzen. OCR ist eigentlich ein Individualsport, doch nach dem Startschuss wird es zu einem großen Teamplay, denn sich gegenseitig zu helfen, gehört für jeden wie selbstverständlich dazu.

Wir haben es alle ins Ziel geschafft, und noch während wir völlig unterkühlt und verzweifelt versucht haben, einen Schluck heißen Kakao zu trinken, war uns klar: Wir kommen wieder!

Björn hahn, ein mittlerweile sehr guter Freund und Inhaber einer Werbeagentur, stellte nach wenigen Tagen unseren ersten Getting Tough – Tough Guy Clip auf YouTube. Wir teilten ihn alle fleißig auf Facebook, und mit einem Schlag war das Thema Tough Guy in Deutschland nicht mehr nur ein Insider.

Ein Jahr später reiste ich schon mit 30 Tough-Guy-Anwärtern nach England, dazu begleitete uns noch »Abenteuer Leben« (Kabel 1) und der SWR. Nach der Ausstrahlung im TV konnte ich mich vor Tough-Guy-Anfragen kaum noch retten. Anscheinend wollte jeder zum Tough Guy. Mittlerweile sind wir das erfolgreichste Tough-Guy-Team der Welt und konnten neben sechs Teamtiteln auch die Einzelwertung bei den Männern und Frauen gewinnen.

Wer hätte das bis vor ein paar Jahren für möglich gehalten? Tausende von Menschen stürzen sich zur kältesten Jahreszeit gemeinsam in Flüsse und Bäche, springen über jeden Baumstamm, den sie finden können, kriechen durch jedes Schlammloch, und wenn sie am Spielplatz ihrer Kinder vorbeilaufen, dann wird gezielt an Klimmzügen gearbeitet.

Während des Jahres trainierte ich mein Team, und so lernte ich 2010 auch meinen heutigen Geschäftspartner und besten Freund Michael Kalinowski kennen. Wir waren sofort auf einer Wellenlänge und schmiedeten die ersten Pläne, ein dem Tough Guy ähnliches OCR-Rennen in Deutschland auf die Beine zu stellen. Zwar erwachte auch Deutschland und der Rest der Welt aus seinem »OCR-Dornröschenschlaf «, doch es gab einfach kein Rennen wie den Tough Guy.

Genau das wollten wir ändern. Das war die Geburtsstunde von Getting Tough – The Race. Etwas blauäugig, aber mit unglaublich viel Herzblut setzten wir unsere Ideen um und veranstalten 2012 unser erstes eigenes Rennen. Mittlerweile zählt The Race nicht nur zu den härtesten OCR-Rennen der Welt, es wird regelmäßig von der Community zum besten Wettkampf Deutschlands gekürt.

OCR ist nicht mehr aufzuhalten und zählt zu den am schnellsten wachsenden Sportarten weltweit. Die Rennen variieren von Sommer-Spaß-Läufen bis hin zu knallharten 24-Stunden-Wettkämpfen in der Wüste. Interessant ist auch, dass Hindernisläufer bereit sind, weite Strecken zu überwinden, um an Wettkämpfen teilzunehmen.

Raffael Zeller hat diesen wunderbaren Sport verinnerlicht. Er hat viele Länder bereist und gesehen und miterlebt, wie sich dieser Sport in den letzten Jahren auf der ganzen Welt entwickelt hat, wie er gewachsen ist und welche Veränderungen er durchlaufen hat. Raffael ist ein Hindernisläufer der ersten Stunde. Er kennt die Szene wie kaum ein anderer und lebt diesen wunderbaren Sport.

Ihm ist ein Buch gelungen, das seinesgleichen sucht: modern, informativ und der beste Weg dahin, selbst OCR-Läufer, -Finisher und vielleicht -Gewinner zu werden!

Warum mir damals gerade jene Worte in den Sinn kamen, kann ich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Um mich herum sah ich Dutzende schmerzverzerrte Gesichter. Hart gesottene Sportler, die vor mehr als einer Stunde noch mit lautstarkem Geschrei in den Wettkampf gestartet waren, lagen nun ringsherum verstreut auf dem Boden. Wie die Maikäfer auf dem Rücken versuchten sie, mit Tränen in den Augen, ihre Beinmuskulatur zu dehnen. Ein schmerzhafter Krampf jagte unerbittlich den nächsten. Abrupt zog sich ein Muskel zusammen und schien dabei den gesamten Bewegungsapparat zu lähmen. Nichts ging mehr. Sanitäter und Streckenposten eilten herbei, um Abhilfe zu schaffen, doch jede noch so intensive Liebesmüh war vergeblich. Der Krampf biss unbarmherzig zu. Immer wieder. Auch bei mir.

Hindernisbahn bei der Weltmeisterschaft des Militärischen Fünfkampfs 2016 in Madrid

Es war der 28. Januar 2007. Die Temperaturen schwankten um den Gefrierpunkt. Die Sonne versteckte sich hinter einer dicken Wolkenschicht, und es war alles andere als reizvoll, sich kopfüber in eisige Tümpel zu stürzen. Ich war tropfnass, mein Longsleeve mit einer dicken Matschkruste bedeckt, und meine Beine spürte ich schon seit einigen Kilometern nicht mehr. Ich befand mich mittendrin im legendären Tough Guy, einem Extrem-Hindernislauf im britischen Wolverhampton. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Event in den 90er-Jahren in der Extremsport-Szene herumgesprochen. Ein Lauf über Hindernisse? Cool! Wie beim Militär? Nichts wie hin! Und das zu einer Zeit, in der in Deutschland vergleichbare Rennen noch lange nicht in aller Munde waren und man die passende Zielgruppe, geschweige denn derartige Wettkämpfe vergeblich suchte.

Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt kein unbeschriebenes Blatt, was Hindernisläufe betraf. Bereits 1989 kam ich in der Grundausbildung bei der Bundeswehr mit meiner ersten Hindernisbahn in Berührung. Für mich war das zunächst nichts Spektakuläres, auch wenn diese Trainingsform bei vielen meiner Kameraden gehasst bis gefürchtet war. Erst viele Jahre später, als ich mich für den Kader des Militärischen Fünfkampfs qualifizierte, spürte ich das erste Mal, dass mir das Hindernislaufen ganz besonders lag. Für viele war die vorgegebene Zeit, in der man die Bahn absolvieren musste, schlichtweg nicht machbar. Ich schaffte es zu meiner eigenen Überraschung in der Hälfte. Es schien, als ob genau diese Sportart eine tief in mir verborgene Leidenschaft befriedigte. In der Jugend hatte ich Fußball gespielt, Leichtathletik gemacht und mich später beim Boxen sogar bis zum Hessischen Meister im Superschwergewicht hochgeboxt – und ich hatte mittlerweile auch mit dem aktiven Laufen begonnen. Aber all das war mir auf Dauer zu eintönig geworden. Die Abwechslung, während des Laufens Hindernisse zu überwinden, war wie eine Erfüllung meiner gesamten sportlichen Bedürfnisse. Die Kombination aus Koordination und Konzentration, aus maximaler Kraft und elementarer Ausdauer, aus Vollgas und totaler Fokussierung – das war mein Element. Die Herausforderung.

Viele dieser Läufe hatte ich als Reserveoffizier bereits bestritten. Im Militärischen Fünfkampf, der aus Schießen, Hindernisbahnlauf, Hindernisschwimmen, Handgranatenwerfen und Orientierungslauf besteht, war ich damals schon für die Bundeswehr bei internationalen Wettkämpfen an den Start gegangen. Ich hatte Spaß daran, war schnell und belegte bei der Weltmeisterschaft 2002 in Frankreich den 1. Platz.

Als ich danach von kommerziellen Extrem-Hindernisläufen hörte, war ich wie elektrisiert. Der Tough Guy sollte meine Feuertaufe werden. Ich war perfekt vorbereitet und heiß darauf, dieses legendäre Rennen bestmöglich zu bestreiten. Doch dieser Wettkampf war anders und mit keinem meiner Militärwettkämpfe zu vergleichen. Während diese allesamt in den Sommermonaten stattfanden, ertönte beim weltweit bekanntesten Extrem-Hindernislauf das Startsignal in der kältesten Jahreszeit. Nämlich am letzten Wochenende im Januar. Eine besondere Herausforderung – wie ich recht bald zu spüren bekam.

PER ASPERA AD ASTRA: DURCH DAS RAUE ZU DEN STERNEN

Auf einer Strecke von etwa 11 Kilometern (7 Meilen) waren 21 teilweise gewaltige Hindernisse zu bewältigen. Vom Start weg ging es erst über eine reine Laufstrecke, immer wieder die Hügel hoch und runter, bis man die Killing Fields erreichte. Also das Schlachtfeld, auf dem die Läufer erstmals auf die künstlichen Hindernisse trafen. An Seilen hochziehen, haushohe Gerüste überklettern, über brennende Heuballen springen, Passagen mit herunterhängenden, stromgeladenen Kabeln durchqueren, durch Kanalröhren kriechen – und immer wieder durchs eiskalte Gewässer. Laufend, schwimmend oder tauchend. Teilweise zugefroren oder mit messerscharfen Eisschollen bestückt.

Grundsätzlich bereitete mir all das keine Probleme. Was jedoch für mich und rund 90 Prozent aller Teilnehmer völlig neu war, war die Tatsache, dass wir alle total auskühlten. Von der Taille abwärts war ich sprichwörtlich wie gelähmt. Meine Füße waren wie Eisklötze, und auch meine Beine schienen ab der Mitte des Rennens ihre Funktion gänzlich einzustellen. Wie zwei leblose Stumpen fühlten sie sich an, die ich mühsam zu beherrschen versuchte. Das war nicht nur äußerst strapaziös und hinderte mich daran, mein Tempo zu laufen, um Körperwärme zu produzieren, auch die Verletzungsgefahr erhöhte sich drastisch. Ich hatte keinerlei Kontrolle mehr darüber, wie ich meine Füße aufsetzte und wo ich dabei hintrat. Anderen ging es genauso. Stürze waren also vorprogrammiert – sehr zur Freude der johlenden Zuschauermassen.

Eines der letzten Hindernisse waren mehrere hüfthohe, in einer Reihe aufgebaute Abwasserkanalröhren aus Beton. Die Aufgabe war denkbar leicht: einfach überklettern oder, wer dazu noch fähig war, locker darüber hinwegflanken. Normalerweise ein Kinderspiel. Doch für uns total unterkühlte Sportler nun der größte Albtraum. Aus dem Laufen kommend, sollten wir urplötzlich die Beine in die Waagerechte bringen. Das war der Supergau! Die Krämpfe bissen gnadenlos zu. Kaum einer kam mehr ohne Schmerzen über dieses prinzipiell ganz einfache Hindernis hinweg. Viele wälzten sich am Boden und stöhnten vor Qualen.

»Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten«, registrierte ich blitzschnell, als die ersten Krämpfe mein rechtes Bein durchzuckten. »Du kannst ebenso die Maikäfer-Stellung wählen und dich am Boden wälzen oder aber bewusst mit dem Krampf zusammenarbeiten und schnellstmöglich das erlösende Ziel erreichen!« Per aspera ad astra – durch das Raue zu den Sternen.

Extremsport ist zu 80 Prozent reine Kopfsache. Glück und Erfolg erreicht man nicht, wenn man immer nur den Weg des geringsten Widerstands wählt, sondern man muss lernen, sich auch mal durchzubeißen. Das wusste ich. Also entschied ich mich, zu laufen und die Schmerzen mental zu bekämpfen. Das funktionierte eher schlecht als recht, aber ich biss mich durch. Und bereits wenige Minuten später wurde ich dafür belohnt: Ein unbeschreibliches Glücksgefühl übermannte mich, als ich zwar sichtlich angeschlagen, doch freudestrahlend die Ziellinie überquerte.

Aber nicht nur das. Ich erlebte nun, wie die anderen Sportler das Ziel erreichten. Manche taumelnd, sichtlich unterkühlt, matschverschmiert und mit Platzwunden an Beinen und am Kopf. Aber keinen der Läufer schien das zu stören. Alle hatten ein breites Lachen auf ihrem Gesicht und strahlten vor Stolz. Hier erlebte ich das erste Mal, dass nicht hoch motivierte Soldaten ins Ziel einliefen, die bis zum Ende um jede Sekunde gegen Kameraden kämpften, sondern Menschen – jung, alt, dick oder dünn –, die bis an ihr Limit gingen, um eine gewaltige Herausforderung zu meistern, aber dabei schlichtweg riesigen Spaß hatten.

WETTKAMPFLISTE VON RAFFAEL ZELLER (IN AUSZÜGEN)

1997:

Superschwergewichtsboxen, Hessische Meisterschaft, Platz 1

2002:

Militärischer Fünfkampf CIOR (WM Frankreich), Platz 1

2003:

Swiss Raid Commando (Schweiz), Militärischer Vielseitigkeitswettkampf, Platz 8

2007:

Tough Guy (England), OCR Finisher

2008:

Yukon Arctic Ultra (Kanada), 100 Meilen, Platz 5

2012:

Grenadier (Österreich), Militärischer Vielseitigkeitswettkampf, Platz 6

2012:

Namib Desert Challenge (Namibia), 228 Kilometer Ultratrail, Platz 7

2013:

Blue Nail (Dänemark), Militärischer Vielseitigkeitswettkampf, Platz 6

2014:

Viking Heros Challenge OCR (Deutschland), Platz 2

2014:

Gelita Trailmarathon (Staffel) (Deutschland), Platz 3

2014:

Fulda Challenge (Kanada), Arktischer Zehnkampf, Platz 2

2014:

Spartan Race (Super), OCR (Deutschland), Platz 9

2015:

Viking Heros Challenge, OCR (Deutschland), Platz 1

2015:

Gelita Trailmarathon (Staffel) (Deutschland), Platz 2

2015:

Spartan Race (Sprint), OCR (Deutschland), Platz 4

2015:

World’s Toughest Mudder, 100 Meilen 24h, OCR (USA), Finisher

2016:

Lombardia Raid (Italien), Militärischer Vielseitigkeitswettkampf, Platz 3

2016:

Mudiator Hockenheimring, OCR (Deutschland), Platz 4 (Einzelstarter), Platz 1 (Teamwertung)

RAUS AUS DER KOMFORTZONE

In der heutigen Zeit leben wir Menschen wie in einem künstlichen Kokon. Meist kommen wir gar nicht mehr in den Genuss, am eigenen Leib zu spüren, was Herausforderung, was Überwindung, was Natur wirklich bedeutet. Servolenkung, Fahrstühle und Klimaanlagen machen den Menschen bequem und lassen ihn in einer Komfortzone leben, die er nicht gern verlässt. Extremsportarten – und dabei insbesondere Extrem-Hindernisläufe – bilden den idealen (Aus-)Weg, um diese Komfortzone zu verlassen. Sie bringen uns dazu, unsere physischen sowie psychischen Grenzen zu erfahren und das Leben und nicht zuletzt uns selbst wieder intensiver zu spüren. Aber nicht nur das. Auch die Beantwortung der spannenden Frage: »Was ist mein Körper, aber auch mein Geist überhaupt zu leisten imstande, wenn ich etwas wirklich will?«, treibt mich immer wieder an.

Extrem-Hindernislauf oder Obstacle Course Racing (OCR) ist ein Thema, das mich nun seit mehr als 20 Jahren begleitet. Seit meinem ersten Jahr der Bundeswehrzeit ist es im Prinzip immer präsent. Ob als Teilnehmer beim Militärischen Fünfkampf, bei Militärischen Vielseitigkeitswettkämpfen und kommerziellen Extrem-Hindernisläufen oder als Trainer und Berater von Extrem-Hindernisläufen, bei dem es um die Planung oder den Ablauf eines Events geht. Dass die Faszination OCR in den letzten Jahren auch den deutschen Ausdauersportler ergriffen hat, finde ich persönlich im höchsten Maße spannend. Und obwohl das Thema in aller Munde zu sein scheint, sucht man bisher vergeblich nach deutscher Fachliteratur. Wie bereite ich mich auf einen Extrem-Hindernislauf vor? Welche Hindernisse erwarten mich, und wie kann ich diese effektiv überwinden? Was ist die für mich passende Ausrüstung? Wie kann ich mich mental auf ein Rennen einstimmen, und welche Ernährungsweise ist die optimale? Insbesondere durch meine Arbeit mit Schülern, aber auch mit zahlreichen erwachsenen Sportlern aus Vereinen und Fitnesscentern, die am Beginn ihrer Vorbereitung stehen, begann ich, zu begreifen, wie wichtig es ist, all dies zu hinterfragen. Die passenden Antworten dazu findet ihr in diesem Buch.

AROO!

Raffael Zeller, im Januar 2017

Militärische Vielseitigkeitswettkämpfe sind Wettbewerbe, die in einem realistisch dargestellten militärischen oder zivilen Szenario stattfinden. Es werden sowohl militärische, aber auch Erste-Hilfe-Fähigkeiten zu Land, Luft und Wasser abgeprüft. Zur möglichst realistischen Umsetzung kann der Veranstalter zusätzliche Personen (in der Regel Soldaten) einsetzen, um eine (Feind-)Lagedarstellung abzubilden. Bewusst realistische bis »chaotische« Szenarien sollen hierbei den Stresspegel der Wettkämpfer erhöhen. So müssen die militärischen Gruppen, bestehend aus mindestens zwei bis zehn Mann, soldatentypische oft infanteristische Aufgaben bewältigen. Im Einzelnen wird beispielsweise die Treffsicherheit beim Gefechtsschießen, Orientierung im Gelände, Schnelligkeit und Entschlusskraft bei der Auftragserfüllung sowie das zielstrebige Überwinden von Gelände- oder Gewässerhindernissen abverlangt.

Raffael Zeller feiert den 4. Platz beim Spartan Race 2015 in München.

Die Militärischen Vielseitigkeitswettkämpfe gehen meist über mehrere Tage. Sie können etwa in Form einer »Durchschlagübung« über mehrere Nächte ohne Schlaf aufgebaut sein, aber auch als Infiltrationsübung oder Patrouillen-Wettkampf, bei dem auf einer grob festgelegten Marschroute einzelne Stationen angelaufen werden müssen. Die Ausrichtung dieser Wettkämpfe ist überwiegend für aktive Soldaten und Reservisten bestimmt. Hierbei werden die militärischen Grundfertigkeiten jedes Einzelnen, aber auch von Gruppen überprüft und bewertet. Die Wettkampfausrichter, oft ein aktiver Militärverband oder ein Reservistenverband, vergeben nach einem Regelwerk Punkte bei der Erfüllung der einzelnen Aufgabenstellungen. Regierungen und Königshäuser verschiedener Länder stiften als Anreiz für das Erfüllen einzelner Wettkampfformate Abzeichen und Orden für die einzelnen Wettkämpfer.