Gertrude Stein
Das große Lesebuch
Ausgewählt, herausgegeben und übersetzt von Uda Strätling
FISCHER E-Books
und
Marcel Beyer
Ernst Jandl
Barbara Köhler
Oskar Pastior
Ulf Stolterfoht

Gertrude Stein, geboren 1874 in Allegheny, heute Pittsburgh, Pennsylvania, gestorben 1946 in Paris, war eine amerikanische Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin. In ihrem legendären Salon in Paris ging die künstlerische Avantgarde ein und aus. Neben Virginia Woolf zählt sie zu den ersten Frauen der literarischen Moderne.
Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u.a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, John Ashbery, Rae Armantrout, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Gertrude Stein hatte ein Imageproblem. Die ikonischen Aufnahmen aus ihrem Pariser Salon, Treffpunkt bedeutender Maler, Schriftsteller und Intellektueller, gehören längst zur Bildsprache der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts, als in Kunst und Literatur alles möglich schien.
Doch Gertrude Stein war viel mehr als Kunst- und Literaturmäzenin. Sie war vor allem eine leidenschaftliche Schriftstellerin, die mit ihren experimentellen Romanen, Gedichten, Theaterstücken, Libretti und theoretischen Texten zum Schreiben, zu Poesie und Interpunktion alle stilistischen Konventionen der damaligen Literatur sprengte.
Das vorliegende Lesebuch bietet einen umfassenden und faszinierenden Einblick in Steins literarisches Werk – ausgewählt und überwiegend neu übersetzt von Uda Strätling; etliche Texte erscheinen hier überhaupt zum ersten Mal auf Deutsch.
Die Arbeit der Übersetzerin an der vorliegenden Textauswahl wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Einzelnachweise: siehe Anhang
Coverabbildung: Horst P. Horst / bpk
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403669-4
Die Übersetzung folgt daher grammatisch-morphologisch wie interpunktorisch Steins Formexperimenten. Siehe hierzu auch ihre Anmerkungen in dem Vortrag »Poesie und Grammatik« (S. 307).
Unser aller Mutter.
rat zu rosen
Melanctha
The Making of Americans
Lucy Church Amiably
wie man seine art gewinnt
Zarte knöpft
Lucy Church Amiably
Radcliffe-Texte
Komposition als Position
Und worum geht es. Darum was vorgeht.
Was vorgeht führt ein anderes Wort ein
und das ist so gut wie ja.
Gertrude Stein, »Hört doch«
Gertrude Stein. Tochter des Enthusiasmus. Mutter der Moderne. Wir wissen von ihr zu viel und zu wenig. Wir kennen die Bilder und Namen, den Salon in der rue de Fleurus, die Anekdoten, Zitate und Sentenzen, und bis heute scheint vor allem dieser aufregende »Subtext ihres Lebens« zu fesseln. So vielgesichtig die öffentliche Persona, so vielgestaltig ist aber auch das Werk dieser Sprachversucherin. Ihr Leben lang arbeitete Stein an einer neuen Grammatik für die neue Zeit. In ihren Gedichten entwickelte sie Formen, die so aufregend fremd waren wie die visuellen Neuerungen Picassos und Braques, in ihrer Prosa hinterfragte sie die Funktion von Wörtern, Sätzen und Absätzen für Zeit und Erzählen.
Alle Antworten auf alle Fragen zu Stein, sagte sie, finde man in ihren Büchern. Um fast im selben Atemzug zu beteuern, richtig interessant werde es, wenn es weder Frage noch Antwort gebe. Zu jedem Diktum gibt es bei Stein das dialektische Komplement. »Ich rede nie wider. / Wider Erwarten«, heißt es in einem ihrer Gedichte. Stein muss man beim Wort nehmen, wieder und wider. Lassen wir also ihre Sprachschöpfungen für sich (und für sie) sprechen; es gibt keine bessere Einführung in Stein als Stein, als die Texte selbst, als das Lesen – und Hören.
Man sollte Stein nach Möglichkeit laut lesen, und man sollte unbedingt der Lautpoesie der Originaltonaufnahmen lauschen, die im Internet zu finden sind. Steins Stimme ist betörend, ein melodischer Alt mit dem Charme der Ostküstendiktion vergangener Zeiten. Die Aufzeichnungen tragen entschieden zu dem Vergnügen bei, das sie selbst als Schlüssel zu ihrem Werk propagierte. Sie offenbaren, weshalb Stein jede Interpunktion für überflüssig hielt, und sie bestätigen, was ein Besucher 1935 in den USA zu einem ihrer Vorträge bemerkte: »Hört man Miss Stein selbst aus ihrem Werk lesen, versteht man zum ersten Mal; man begreift, warum sie schreibt, wie sie schreibt: Mit jedem scheinbar gleichförmigen Satz bewegt sie sich weiter, und kaum meint man, sie habe vier- oder fünfmal dasselbe gesagt, stellt man mit Staunen fest, dass sie einen fast unmerklich, Schritt für Schritt, auf Neuland geführt hat.«
Neuland, ja. Und zum Staunen. Steins Texte sind voll subversiver Spiel- und Experimentierfreude, voller Humor, Musik – und subtiler Erotik. Kaum ein Text ähnelt dem anderen, und doch spürt man hinter allen denselben so rastlos wie lustvoll forschenden Geist. Schreiben war für Stein ein immer wieder mit dem Beginnen Beginnen, eine »Hymne an die Möglichkeit«.
Wo soll man aber mit dem Lesen anfangen? Stein hat unermüdlich geschrieben, vierzig Jahre lang. Fünfundzwanzig Titel erschienen zu ihren Lebzeiten und noch einmal so viele posthum; 571 Einzeltitel zählt der Katalog der Collection of American Literature in der Beinecke Rare Book & Manuscript Library der Yale University. Sie schrieb Romane und Biographien, Dramen, Szenarien und Opern, Gedichte, Porträts und Essays, Artikel und Reportagen, sie schrieb für Kinder und »für Fremde«. Doch haben The Making of Americans und Lucy Church Amiably mit Romanen, wie man sie von George Eliot oder Henry James kannte, wenig zu tun, »Hört doch« (Listen to Me) oder »1 Liste« (A List) wenig mit den Dramen eines Ibsen oder O’Neill – mehr schon mit absurdem Theater. Ihre »Strophischen Meditationen« (Stanzas in Meditation) wecken Erwartungen, die sie konsequent unterlaufen. Und was ist mit Textarrangements wie jenen von Zarte knöpft (Tender Buttons): sind sie Prosa, Poesie, Porträt, Metapoetik? Theorie und Praxis fallen bei Stein zusammen. Wörter und Sätze sagen nicht, sie sind.
Nach Umfang und Radikalität ihrer Sprachexperimente ist Stein in der englischsprachigen Literatur fast ohne Beispiel. Sie nimmt spätere Entwicklungen vorweg. Noch vor James Joyce – wie sie ihr Leben lang betont –, vor Dada, vor dem Surrealismus, vor den Beiträgen der Bloomsbury Group um Virginia Woolf und vor dem roman fleuve eines Romain Rolland schreibt Stein unerhört neuartige Texte (»extra extrem«, wie es in »Selige Emily« heißt). Sie stellt den Werkcharakter in Frage. Sie bricht mit literarischen Konventionen, lehnt lineares Erzählen und tradierte Formen ab. Auch, wie gesagt, die Interpunktion. Unsere Kategorien greifen bei ihr nicht. Keine Themen. Keine Genres. Keine Konventionen. Sie sprengt alle editorischen, redaktionellen und verlegerischen Raster.
Zwar gab und gibt es immer wieder Versuche, Steins umfangreiches und disparates Werk zu ordnen: nach Kategorien wie zugänglich/unzugänglich; innen/außen, also Veröffentlichungen, die für ein Publikum oder aber im Sinne eigener Formanliegen verfasst wurden; nach den Einflüssen von Lehrern und Mentoren; nach feministischen Kriterien; nach Fixpunkten wie Individualität, Essenz, Charakter (bottom nature) oder später Dingwelt und entkörperter Bewegung; nach Themen wie Bewusstsein, Sein, Zeit, Wahrnehmung, Erkenntnis, Empfindung.
Gerade weil Gertrude Stein aber ihre Texte so in Bewegung hält, weil sie ihr Projekt der Erneuerung der Sprache und der Versprachlichung eines (amerikanischen!) Geists der Zeit ein Leben lang verfolgte, weil Leben und Schreiben bei Stein so eng verwoben sind und ihr Schreiben immer auch autobiographisch ist, und ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst bei der Zusammenstellung ihrer Texte für Sammelbände wie Geography and Plays auf die Chronologie nichts gab und ohnehin meist parallel und vor und zurück arbeitete (so begann sie ihr experimentelles Großwerk The Making of Americans bereits, als sie an ihrer noch recht konventionellen Novelle Fernhurst schrieb), verspricht eine Orientierung an der Werkchronologie am ehesten Aufschluss über die Suchbewegungen, die Aufbrüche, Umschwünge, Stil- und Akzentverschiebungen in ihrem Werk.
Entsprechend werden die ausgewählten Texte hier erstmals nach ihrem Entstehungsdatum geordnet und kurz eingeführt. Sie zeichnen, in groben Zügen, Steins literarische Entwicklung nach. So machen etwa die frühen Aufsätze aus der Studienzeit und die Novelle Fernhurst deutlich, wie entschieden Stein mit der Arbeit an Drei Leben und The Making of Americans ihr Neuland betrat, und markieren »Susie Asado« oder »Selige Emily« den nächsten Aufbruch. Es wurden möglichst alle Textsorten berücksichtigt, und die Aufnahme einiger ihrer Stücke rückt die vernachlässigte Dramatikerin Stein stärker ins Licht.
Alle Texte mit Ausnahme der wunderbaren »Gastspiele« Ernst Jandls, Oskar Pastiors, Marcel Beyers, Barbara Köhlers und Ulf Stolterfohts wurden für diesen Band neu übersetzt, etliche zum ersten Mal. Einige konnten ihres Umfangs wegen leider nur in Auszügen berücksichtigt werden – aber selbst Stein hat gelegentlich Kürzungen zugestimmt, um Lesern wenigstens einen Eindruck zu erlauben und zu weiterer Lektüre einzuladen.
Ergänzt wird die Auswahl durch Querverweise, Anmerkungen und eine knappe Lebenschronik. Ein Literatur- und ein Namensverzeichnis dienen der weiteren Orientierung.
Die Übersetzung Stein’scher Texte ist im besten wie im schlimmsten Sinne eine Herausforderung. Sie stecken »voller möglichkeiten, rätsel und überraschungen«, sie zwingen oft zu unwillkommenen Festlegungen und machen dann aus Übersetzen »eher ein Setzen«, und erfordern ansonsten ein spannendes Jonglieren, den Versuch, möglichst viele mögliche Lesarten im Spiel und in der Schwebe zu halten: Hymne an die Möglichkeit.
Mir gefällt was ich tu – was es auch sei
Strophe zwei
Gertrude Stein, »Strophische Meditationen«
Gertrude Stein, Curie im Labor des Vokabulars. Mit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts schmeißt sie zum Entsetzen aller ihr Medizinstudium hin und widmet sich ganz dem Schreiben. Sie verfasst zunächst ausschließlich Prosa, erst die kurzen Schlüssel- und Seelenromane Q.E.D. und Fernhurst und das anfangs noch als Familienroman konzipierte »lange Buch« The Making of Americans, bricht aber schon 1905 mit dem Live-Streaming ihrer Drei Leben (vor allem »Melanctha«) radikal mit erzählerischen Konventionen; sie tut den »ersten definitiven Schritt fort vom neunzehnten Jahrhundert und ins zwanzigste Jahrhundert«. Es entstehen neuartige, die traditionsreiche Gattung des literarischen Porträts revolutionierende Wortskizzen – etwa der Geliebten Alice B. Toklas (»Ada«). Sie strebt nach größtmöglicher Präzision in der Darstellung innerer und äußerer Realitäten, verschreibt sich als Grammatikerin einer lebenslangen Erkundung besonders der Syntax und geht systematisch daran, »alle Konnotationen zu zerschlagen, die Wörter je gehabt haben, um sie wieder brauchbar zu machen«. Sprache ist Material und Thema.[1] Was sie unternimmt, ist, entgegen der Unterstellung B.F. Skinners, kein automatisches Schreiben. Sie weiß, was sie tut. Ihre Findungen sind nie zufällig, aber auffällig offen für Ambiguitäten und Amphibolien, für grammatische Kippbewegungen und Permutationen, für multiple Lesarten. Als Schülerin William James’ ist sie mit seiner Auffassung vom »Bewusstseinsstrom« bestens vertraut, sie kennt die Diskussionen um die Sapir-Whorf-Hypothese der linguistischen Relativität. All das fließt ein in ihre Experimente mit nicht-narrativen Erzählstrukturen, mit den Wiederholungen (bzw. der Insistenz) eines im Rhythmus des Bewusstseins und der gedehnten Erlebenszeit eines sich aus sich selbst heraus generierenden Jetzt (continuous present), es bestimmt frühe Porträts wie »Matisse«, »Picasso«, »Miss Furr und Miss Skeene« oder »Bon Marché Wetter«.
Dann ändert sich ihr Vorgehen im Ersten Weltkrieg während ihres Aufenthalts auf Mallorca abermals grundlegend (der sogenannten spanischen Periode). Eine neue Emphase, ein bewegter Sekundenstil sprunghafter, spontaner Kompositionen mit starken Bildwörtern führt zu kaleidoskopischen, erotischen Texten und Prosagedichten wie »Susie Asado«, »Selige Emily« und vor allem Tender Buttons.
Somit hat Stein bereits 1914 die beiden revolutionären Stilwechsel vollzogen, die ihr einen Platz im literarischen Kanon der amerikanischen Moderne sichern: die unmittelbare Wiedergabe der inneren Sprach- und Denkbewegungen ihrer Figuren und Erzählinstanzen ohne Anfang und Ende (vielmehr mit lauter Mitte, dem Mittendrin ihres continuous present) und die Kreation neuer, fragmentarischer – privater wie universeller – Momentaufnahmen für eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des Traditionsverlusts. Es entstehen erste (Lese-)Dramen wie »LadyStimmen«, und Stein nimmt wörtliche Übersetzungen dessen vor, was sie momentan sieht, hört und empfindet. In der nun folgenden romantischen Periode interessieren sie zunehmend Natur und menschliche Natur, sie entwirft Topographien sowohl konkreter Verortung als auch textlicher Dimensionen und Dynamik. Ab 1916 entstehen Montagen, Stücke oder Spiele und längere metapoetische Texte, deren Fokus auf dem Vorgehen liegt. Keine Handlung. Keine Protagonisten. Keine klare Szenenfolge. Ihre Dramen sind Konstellationen im Raum, sie erzählen nicht, was geschieht, sie geschehen.
In den 1920ern kombiniert Stein die neuen Darstellungsformen der spanischen wie der romantischen Perioden zu dichten literarischen »Kammermusikstücken«. Es entstehen Porträts in emphatischen Stilvarianten, Gedichte, Erzählungen, Langue-schaften wie Lucy Church Amiably: eine erstaunliche Assemblage feinsinniger Wortspiele, eine fließende Text- und Phantasielandschaft. Es entstehen dramatische Szenarien aus Listen, Objekten, Briefen, Sätzen, Aphorismen, in denen Städte, Kreise, Religionen, Berge auftreten und Akte wie Szenen mitreden. Die eigentlichen Darsteller sind immer die Wörter (»was vorgeht führt ein anderes Wort ein«). Stücke werden zu Geographie, sind einfach da, Raum und Bewegung, erzählen aber keine Geschichte.
Es überrascht kaum, dass Stein nach so viel Überschwang vorübergehend strengere, formalistische Töne anschlägt. Sie wendet sich quasi-mathematischen Anordnungen zu, den Zahlen und dem Zählen. Es werden Proportionen, Teile und Ganzes, geometrische Konfigurationen, Maße und absolute Räume ausgelotet. Sie verfasst erstmals Reflexionen (wie »Komposition als Position«) zur eigenen literarischen Praxis, die nicht nur ihr Vorgehen erläutern, sondern grundlegende Fragen literarischer Theorie behandeln. Ihr Interesse gilt der Grammatik und ihrem Verhältnis zur neuen Zeit, dem der Poesie zur Prosa und dem Erzählen von Geschichte, vor allem aber der direkten Beschreibung.
Sie arbeitet seit Jahren ohne nennenswerte Resonanz. Lange beruht ihr literarischer Ruf fast ausschließlich auf Beiträgen in obskuren Literaturzeitschriften: der Monatszeitschrift Ex libris der American Library in Paris, Harold Loebs Broom, Ford Maddox Fords the transatlantic review oder dem von T.S. Eliot herausgegebenen New Criterion. Vor allem Dichter und Schriftsteller, denen es selbst um eine Erneuerung der Sprache zu tun ist, schätzen ihre Arbeit. Ein Gutteil ihrer Werke muss sie selbst verlegen – oder Jahre auf die Publikation warten. Das ändert sich 1934 schlagartig nach dem Erscheinen der Autobiographie von Alice B. Toklas, der listigen Maskerade, die Stein berühmt macht, zum »frühen Pop-Ereignis«. Fortan gibt es Schreiben und wirklich Schreiben, gibt es Texte für Fremde – die an den Erfolg der Autobiographie von Alice B. Toklas anknüpfen sollen: publikumsfreundliche Memoiren wie Jedermanns Autobiographie (1946), Paris, Frankreich (1939), Kriege die ich gesehen habe (1942) – und Texte für sich, etwa die Abstraktionsübung der »Strophischen Meditationen«.
Stein befasst sich erneut mit Erzählstrukturen und – in einer Reihe von Essays – mit dem Konzept der Bewegung als Movens ihres literarischen Werks. Für sie besteht das »Amerikanische«, sprich die Moderne, in der Erschaffung eines kohärenten Ganzen aus Bewegungen »in jeder erdenklichen Richtung«, einer Art Concept-Mapping. William Carlos Williams zufolge gleichen ihre Texte zunehmend den »vom Flugzeug aus gesehenen Vereinigten Staaten von Amerika«. Zugleich wendet sie sich auch wieder den dramatischen Gattungen zu, es entstehen weitere Opern, Bühnenstücke, Romane, Memoiren, Essays und Meditationen, es gibt die kompromisslosen Erkundungen von Gedichten und Textinszenierungen wie »Identität« und am Schluss, in ihrem letzten Lebensjahr, das Libretto zu der gemeinsam mit dem befreundeten Komponisten Virgil Thomson konzipierten Oper »Unser aller Mutter«.
»Wie ungemein aufregend all das hier war«, fasst sie selbst ihr ständiges, programmatisches Um- und Neudenken, Suchen, Finden und erneut Überdenken 1946 zusammen.
Ihre Lebenspartnerin Alice B. Toklas, ohne die das Werk Steins nicht denkbar ist, hatte es bei anderer Gelegenheit so ausgedrückt: »Ein herrlicher Abend, Gertrude hat Dinge gesagt, die sie erst in zehn Jahren verstehen wird!«
▶ 1893 nahm Gertrude Stein, als Gasthörerin zunächst, ihre Studien am Radcliffe College auf – das Harvard damals noch als Frauen-»Annex« angegliedert war. Sie belegte Kurse in Philosophie und Metaphysik bei George Santayana und Josiah Royce und Psychologie bei William James, daneben aber auch Zoologie und Botanik. In ihrem zweiten Jahr schrieb sie sich für William Vaughn Moodys beliebten Kurs »English Composition 22« ein. Die Texte stellen die ersten ernstlichen Schreibversuche Steins dar, und während Themen und Aufgabenstellung für die einzureichenden Arbeiten durchaus die für Anfänger üblichen sind, erweisen sich Steins Beiträge von vornherein als oft unorthodox; ihr Lehrer Moody beklagte eine »Verve«, die die Syntax »überwältigt« und monierte ihre »Aversion gegen selbst die gängigsten Satzzeichen«.
Im Roten Grund
Die eher gewohnten Erscheinungen der äußeren Welt sind ja schön und gut für die Unglücklichen denen die Natur eine solche im Innern verwehrt. Ich aber die in ihrem kurzen Leben an Leid und Freud alles erlebt habe, was die menschliche Natur verkraften kann, lasse mich nicht dazu herab, auf solch armselige Details auch nur einen Federstrich zu verschwenden.
Von Kindheit an hatte mein Geist an sich selbst genug. Ich nutzte jede Ausflucht, um allein sein zu können, damit ich träumen, mich in den starken Gefühlen verlieren könnte, neben denen alles andere zur Bedeutungslosigkeit verblasste. Wie liebte ich gar noch die kalte, schneidende Luft, die meinen Leib beben und prickeln machte. Dann wieder den Genuss, mich im Schutz niederkauern zu dürfen und die wiederkehrende Wärme zu spüren, und dann erneut mich aufzurichten und zu frieren und schaudern und kribbeln vor Lust an der peinigenden Qual. An jedem Weh drückte ich, bis das Leid mich vor Wonne erschaudern ließ.
Nicht minder in der geistigen als der physischen Welt schwelgte ich im Leid. Nie gab ich mich mit den Grausamkeiten zufrieden, die ein Richard III oder Gessler ersannen, sondern erfand während ich von ihren Foltern träumte, weit schlimmere und genoss ihre Anwendung. So lernte ich die Freude am Leid anderer kennen.
Bald aber begehrte mein Unterbewusstsein auf und statt das Leid der anderen zu genießen graute mir nun davor vielleicht gezwungen zu sein, Leid zuzufügen. Damit ging eine schlimme und quälende Angst vor Kontrollverlust und folglich der Sucht nach ebenden Ungeheuerlichkeiten einher, von denen ich einst so gerne träumte. Diese Furcht erreichte ihren Höhepunkt an dem Abend, als ich ins Theater ging, um Mansfield in Dr. Jekyl und Mr. Hyde auftreten zu sehen. Dort wurde meine eigene Angst so getreu inszeniert und so entlarvend porträtiert, dass ich am Ende des zweiten Akts floh, die grause Geschichte unauslöschlich vor Augen. Kein Federstrich kann die Qualen beschreiben, die ich in den darauffolgenden Nächten litt. Wie Nacht um schlaflose Nacht schlaflos verstrich während ich mich im Bett wälzte, bis mein Geist bei Morgengrauen schließlich das Ringen mit den Schreckensvisionen vor Erschöpfung einstellte. Wie bedrängten mich, indem ich dem regelmäßigen Atem meiner Schwester lauschte, wüste Vorstellungen möglicher Schandtaten, bis ich Linderung suchen musste für meinen fiebernden Kopf. Indem ich ihn gegen die Wand schlug vor Verzweiflung; alles, um den Zwangsvorstellungen Einhalt zu gebieten. Wie oft habe ich den Himmel angefleht, wiewohl ich ach! an Hilfe von oben nicht glaubte und folglich keinen Frieden fand.
Eines Abends saß ich wie so oft allein lesend im Wohnzimmer. Das liebte ich, auch wenn mich dabei oftmals etwas anflog ohne dass ich mir hätte erklären können, wieso, eine plötzliche Furcht vor dem Unbekannten Unfassbaren das mich zu umzingeln schien. An diesem Abend las ich Shelleys Versdrama Die Cenci. Ich war bis zu der Stelle vorgedrungen, da Beatrice gerade vom Vater zurückkehrt zu Mutter und Bruder, das Gesicht schreckverzerrt, von Grauen gezeichnet; mir fiel das Buch aus den Händen denn vor meinen Augen erschien dicht vor der Wand die leibhaftige Beatrice in ihrem wallenden weißen Gewand. Dies war schlimmer als alles im Roten Grund. Ach, dieses schöne Antlitz! Nie werde ich vergessen, wie es mir an jenem Abend vor Augen stand, kein Maler könnte je den Blick einfangen, mit dem sie mich bedachte. Nein, bis heute bedenkt. Genug! Genug! Mehr kann ich nicht sagen. Ich fürchte ihn, ich fürchte ihn noch jetzt.
Frauen
Nie wieder werde ich den Versuch unternehmen, mit einer Frau vernünftig zu reden. Sie wird gleich hysterisch und hält sich doch für vollkommen gefasst. Sie gibt dir ein halbes Dutzendmal recht, beharrt aber, im Glauben, einen neuen Einwand gefunden zu haben, auf ihrer Behauptung. Am Ende deiner Geduld, lächelst du oder, je nach Temperament, runzelst die Stirn, und sie zieht ab, überzeugt von ihrer argumentativen Überlegenheit. Das ewig Weibliche ist ja schön und gut, nur quälend unlogisch.
Vor gar nicht langer Zeit noch mündete Selbstprüfung bei mir im Melodram; heute gerät sie mir zu sanfter Meditation mit einem Schuss Zynismus und begnügt sich mit der Produktion weiser Sprüche mit denen ich einen Aufsatz schmücke.
Bedrückend ist es wieder in Cambridge zu sein nach einer Woche im köstlich verträumten Süden. Baltimore, sonniges Baltimore, wo niemand in Eile ist und die Stimmen der Neger, die singend ohne Hast mit ihren Karren vorbeiziehen, einen in schläfrige Träumerei lullen. Es ist eine eigentümlich stille Stadt, selbst ihre geschäftigsten Straßen scheinen stille und das Bimmeln der Straßenbahn verliert sich im Frieden und verstärkt diesen. Auf der Veranda zu liegen, den seltsamen Klängen von Griegs Frühlingslied zu lauschen, die Negerstimmen in der Ferne zu hören und den Geist schweifen zu lassen wo er will, das ist Glück. Nicht einmal die Lotusesser kannten Freuden der Gelassenheit wie die Bewohner von Baltimore sie genießen. Lasst uns, denn unser ist die Zufriedenheit, die stille träumerische träge Muße der vollen sinnlichen Sonne.
Schlaf, ein wahrer Segen für unsere erbärmliche Spezies. Er ist mit nichts sonst zu vergleichen, Er ist der Inbegriff alles Guten, allen Friedens, aller Zufriedenheit. Was könnte gleichkommen dem Glück, schlaftrunken zu erwachen und zu wissen, dass man sich umdrehen und weiterschlafen kann? Ich verweile zu gern bei dem Wort Schlaf … mit seiner Somnolenz, seinem Pst. Es ist ein Wort wie geschaffen zur freudigen Offenbarung für Leidende und zur Verheißung größeren Glücks all jenen, die bereits die schönsten Früchte dieses irdischen Daseins genießen. Zu schlafen, zu erwachen und abermals zu schlafen, das ist der Himmel, den ich mir ausmale, und zu schlafen, zu wachen und nicht schlafen zu können: wer wüsste von einer Hölle, die verdammenswürdiger, einem Leid, das quälender wäre? Schlaf, du Krönung aller Freuden, du größtes Geschenk an uns Menschen, du Zustand der Glückseligkeit, läge ich doch in alle Ewigkeit in deinen Armen. In den Schlaf zu sinken, köstliche Schlaftrunkenheit im ganzen Körper zu spüren und sich an sie zu schmiegen, ach, das Bild ist so schön, dass ich mich von seiner Betrachtung nicht losreißen kann.
Die Geschichte des Philip Redfern
Erforschers der Frauen
▶ Wie schon ihr autobiographischer Kurzroman Q.E.D. (1903) handelt Gertrude Steins frühe Novelle Fernhurst von einem Dreiecksverhältnis, nur diesmal nicht dem eigenen (mit May Bookstaver durchlittenen), sondern dem Skandal am Frauencollege Bryn Mawr, der sie und das gesamte Collegeumfeld mehrere Jahre bewegte. Die Collegepräsidentin Martha Carey Thomas lebte dort mit ihrer »guten Freundin«, der Englischprofessorin Mary »Mamie« Gwinn zusammen. Mitte der 1890er stellte Thomas einen neuen Lehrer ein: Alfred Hodder, Gertrude Stein und ihrem Bruder Leo noch aus Harvard bekannt, einen vielversprechenden Schüler William James’, dessen Interesse allerdings offenbar weniger seinem Fach als den Frauen galt. Er traf mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern in Bryn Mawr ein, stürzte sich jedoch, zu Thomas’ Entsetzen, bald in eine Affäre mit Mary Gwinn. 1904 flohen Hodder und Gwinn vor dem endlosen Klatsch aller auch nur entfernt mit Harvard Verbundenen nach Europa.
Stein schrieb ihre Geschichte Ende desselben Jahres nieder. Das nach New Jersey verlegte College der Erzählung nennt sie interessanterweise – in Anbetracht der Verbindungen zwischen Carey Thomas und Bertrand Russell, der den Skandal 1896 als Gastprofessor in Bryn Mawr miterlebt hatte und dessen Frau Alys und Schwägerin Mary Berenson Kusinen Carey Thomas’ waren – Fernhurst, nach dem englischen Dorf Greenhill-Fernhurst, wo sie und Leo 1902 bei den Berensons zu Gast gewesen waren.
Stein zog eine Veröffentlichung ihrer in zweifacher Hinsicht entlarvenden Novelle Fernhurst nie in Betracht. Zum einen wäre in der Figur der Helen Thornton das Vorbild allzu leicht erkennbar gewesen, zum anderen eröffnet ausgerechnet sie ihre Geschichte mit einer heftigen Polemik gegen Frauencolleges. Stattdessen baute die Verfasserin den nur geringfügig überarbeiteten und mit anderen Namen versehenen Text in ihr episches Großprojekt The Making of Americans ein, wo sich der bei aller für Steins Frühwerk typischen bissigen Ironie noch »viktorianische« Ton schlecht mit dem vollkommen neuartigen Erzählfluss verträgt. An dieser frühen Erzählung im Stil eines »Campus-Romans« lässt sich ablesen, wie radikal Steins Bruch mit literarischen Konventionen in den kommenden Jahren war.
Der Ehrengast so will es der Brauch beginnt seine Rede mit schmeichelnden und launigen Worten und kleidet sein Lob ganz im Sinne der Ideale seiner Hörer in deren Vokabular. Nach Tisch lässt sich die Aufmerksamkeit bekanntermaßen anders kaum ködern und zögernd nur zu Interesse und Mühe anlocken. Also leitet der arme Bandar-Log sein anverwandelndes Geplapper mit dem Lob des Bewährten ein und eine gebildete Dame erfreut ihre Zuhörer mit Floskeln und heißt sie die Unfertigkeit feiern. »Wir Collegefrauen sind und bleiben College-Girls«, sprach sie und einige wenige hörten aus dem Kompliment die Kritik heraus und mokierten sich tuschelnd über düpierte Mithörer.
Die junge Frau von heute führt bis zum Alter von einundzwanzig Jahren das gleiche Leben wie ihre Brüder. Sie tollt ebenso frei durch ihre Kindheit und später besucht sie ein College und studiert Latein, Naturwissenschaften und höhere Mathematik. Sie widmet sich dort auch sportlichen Aktivitäten und macht auf den Spielfeldern eine gute Figur, beim Rudern und Cricket, sie verhält sich in jeder Hinsicht als gäbe es kein Geschlecht und wären die Menschen alle gleich geschaffen und herkömmliche Unterscheidungen eher eine Frage der Garderobe und Gestalt.
Ich habe Collegefrauen noch Jahre nach ihrem Abschluss den Typus verkörpern und der Norm des College-Girls treu bleiben sehen – das sein Lebtag vor den Mühen draußen in der wirklichen Welt verschont blieb und es sich zeitlebens im geistigen Inventar ihrer Collegezeit einrichtete – und bis zum Ende an dem Glauben festhalten die gleiche Macht zu haben wie Männer – doch sieht man von dem bisschen Latein und dem Cricket ab unterscheidet diese Norm vom einstigen Mädchenpensionat doch höchstens dass Kurse in klassischer Philologie und Aufklärung die Benimmkurse ersetzt haben. Nicht unähnlich der Arbeit eines Mannes ehe er Mann wird aber ganz anders als dieser sobald der Mann zum Mann gereift ist.
Wird die neue Frau frage ich mich die Grundtatsachen des Geschlechts je neu denken. Wird sie nicht einsehen müssen dass Collegenormen in der Welt der Arbeit wenig taugen.
Neulich sah ich eine Collegefrau verbittert dem Gerangel ihrer männlichen Kollegen um einen Posten zusehen – sie war bei aller Schulung doch immer noch eine amerikanische Frau und erwartete als solche entsprechende Vorrechte und ritterliches Benehmen und war so wenig geneigt im Konkurrenzkampf männliche Normen zu übernehmen wie ihre Großmutter. Sie war weder weniger weiblich noch war sie kämpferischer obwohl sie Latein beherrschte und einen Ball treffen konnte.
Werden Unterschiede denn nie unterschieden werden. Frauen sollen meinetwegen lernen so viel sie können aber Lernen nicht mit Tatkraft verwechseln oder glauben dass Männerarbeit für sie in Frage kommt nur weil sie die Ausbildung von Männern genossen haben. Kurz gesagt sollen die paar wenigen Frauen die es müssen ruhig ihren Anteil an der Arbeit von Männern übernehmen, aber die Masse der Frauen auf der Welt sollte sich mit der Reifung zur Frau begnügen.
Das Fernhurst College im Bundesstaat New Jersey wird von einer Präsidentin geleitet die wie die meisten Frauen ihrer Generation ganz und gar an die grundlegende Gleichheit der Geschlechter glaubt und die ihr Leben der Förderung dieser Überzeugung gewidmet hat indem sie selbst dazu etliche Pamphlete verfasst hat und ihre Doktrin den vielen Studentinnen einbläut die ihr College besuchen. Unzählige Absolventinnen der Institution habe ich diese Gleichheitsdoktrin vertreten, gar eine Überlegenheit des eigenen Geschlechts andeuten hören, indem sie eine wache Intelligenz und erworbenes Wissen mit Tatkraft beziehungsweise eine kultivierte Verständigkeit mit Befähigung verwechseln und indem sie das Wissen um kulturelle Belange höher werten als die Macht für die Prosperität des Landes zu sorgen.
Die besagte Collegepräsidentin von Fernhurst hat das Leben vieler Frauen geprägt. Sie besitzt große Zielstrebigkeit und grenzenlose Energie. Sie zeigt ein erstaunliches Gespür für Begabungen und irrt selten bei der Wahl ihrer Lehrer unter den besten Absolventen der Universitäten. Selten kann sie sie lange halten, denn entweder zeichnen sie sich in einem Maße aus dass die Eliteuniversitäten sie ihr bald schon wegschnappen oder sie müssen als nicht gut genug abgeworben zu werden gehen. Die Collegepräsidentin von Fernhurst ist eigensinnig, pragmatisch, unmoralisch insofern als Werte stets der Zweckdienlichkeit unterworfen bleiben und sie wird geleitet von einer aufrichtigen Begeisterung für die Emanzipation der Frauen und einem empfindsamen und mystischen Sinn für Schönheit und Literatur.
Nach dem Vorbild der Männercolleges wird Fernhurst in allen praktischen Belangen von den Studentinnen selbst geführt doch liegt diese Führung tatsächlich obwohl sie Sache der Studentinnen ist fest in der Hand der Collegepräsidentin die in ihrem Streben nach absoluter Macht in bewunderungswürdiger Weise auf Spitzel und Verbündete setzt wie auch gelegentlich ein ungeniertes Machtwort und nicht selten schmachvolle Rückzieher. Diese resolute und autokratische Persönlichkeit gibt den Ton für das gesamte College vor und prägt alle dort Studierenden nachhaltig. So ehrenwert und männlich auch die erklärten Ideale sind denen das College sich verschrieben hat, das unmoralische Regime der Collegepräsidentin und die Doktrin der Überlegenheit der Frau wie auch eine feinsinnige und mystische Wertschätzung vor allem ästhetizistischer Kunstanschauungen erweisen sich als die stärkere Prägung so dass manche Absolventin kummervolle Jahre ihres Nachlebens damit verbringt zu begreifen dass ihr Geist nicht feiner noch ihre Macht größer ist als die vieler ihrer weniger kultivierten Genossinnen und dass überkommene Werte und Methoden zugleich ehrbarer und effektiver sein können.
Was stünde uns besser an als die Treue zur alten Alma Mater. Was bewegte uns stärker als das Vorbild unserer Lehrer am College. Eine gewisse Rührung empfinden alle Söhne von Universitäten. Doch selbst schlichte Ergebenheit birgt Gefahren und kann sich in verschiedenen Leben auf verschiedenste Weise auswirken und Frauen an einem College im gleichen Alter wie ihre männlichen Kommilitonen sind diesen an emotionaler Reife viele Jahre voraus und nehmen aus der als so existenziell erfahrenen Studienzeit die geistige Prägung gerade ihres speziellen Colleges mit – zumal ihr Lebenshorizont sich nicht unbedingt gleich weitet und sie dieser Normung entwöhnt sobald sie in die Welt hinaustreten. Colleges lehren vielerlei, das eine erzieht zur kultivierten Verfeinerung ja zum dekadenten Ästhetizismus, das andere macht ungemein tüchtig und altjüngferlich, ein drittes steigert die Lernfähigkeit auf Kosten der Gesundheit und Interessensvielfalt, und so habe ich die Entscheidung welches College aus einer jungen Frau das Beste herauszuholen imstande ist stets als gravierend empfunden.
Über Helen Thornton die Collegepräsidentin von Fernhurst die ihre besten Jahre dem Kampf für die Sache der Frauen widmete – unbeirrbar – in hehrer Absicht – getrieben von dem Wunsch ihre Geschlechtsgenossinnen voranzubringen sollten wir, die Generation derer die unterdessen Rechte besitzen die wir auch verwerfen dürfen, wahrscheinlich schweigen und der Welt nicht die Augen öffnen für die Widersprüche ihrer Lehren und die Gefahren ihrer Methoden. Wie nun! da beginnt eine Reform hoffnungs- und glanzvoll und ist eine Spezies umzuschaffen und aller Sexus zu tilgen und das Ganze endet doch nur an denselben heimischen Herden mit denselben Männern und denselben Frauen am selben Platz. Wohlmeinende Lehren erweisen sich in der Umsetzung oft als verfehlt. Ihre Entwicklung bedenken und nachzeichnen sollte der Beobachter nicht ohne Bangen und Ehrfurcht. Ich habe zu viele Reformerfolge gesehen um den Hut hochzuschleudern und Hurra zu schreien wenn sie hymnisch gefeiert werden; lieber trage ich meinen bescheidenen Teil dazu bei begeisterte Zeitgenossen zu ermahnen nicht zu laut zu applaudieren und nicht allzu große Hoffnungen zu hegen. Ob es sich um die Manchesterschule handelt die England zur Freihandelsphilanthropie und zur Prosperität führen will oder Joseph Chamberlain der die Nation zu protektionistischer Selbstsucht und einer großen Zukunft antreibt. Ob es sich um Susan B. Anthony[2] handelt die lautstark das Wahlrecht fordert oder John Marshall Stone der es beschränken will; ich blicke auf diese Reformer und sehe dass es den Manchesterkapitalisten und Chamberlain gleichermaßen um Englands Größe zu tun ist und dass Miss Anthony wie Mr. Stone nach ausgleichender Gerechtigkeit streben.
Wäre ich voller Hoffnung und unerfüllbarer Sehnsüchte der vorigen Generation entsprungen würde auch ich die Gleichheit von Männern und Frauen proklamiert haben, da ich aber der heutigen Generation angehöre und Colleges und Berufswege mir offenstehen und ich habe erfahren müssen dass der Andere in der Tat stärker sein kann sage ich ohne mich. Also dann ohne dich sagt der Leser der diese Scharade leid ist; ich widerspreche nicht aber hoffe doch dass ich eine der seltenen Frauen bin die es sollten weil ich nicht anders kann.
Als Philip Redfern seinen Doktor der Philosophie erlangte und einige Zeit später für das nämliche Fach den Lehrstuhl am Fernhurst College im Bundesstaat New Jersey übernahm waren die zwei Lichtgestalten dort die Collegepräsidentin Miss Thornton und ihre Freundin Miss Bruce, Leiterin der Fakultät für englische Literatur.
Redfern hatte bis dato keine Erfahrungen mit Frauencolleges doch als intensiv am Zeitgeist interessierter Mann nicht ohne eigene Ansichten und Thesen zum Wert eines solchen Unterfangens war er durchaus willens Erfahrungen mit fünfhundert intelligenten Frauen spannend und erhellend zu finden und zu gestalten. Er war über die Collegepräsidentin einigermaßen im Bilde aber nicht über das sonstige Lehrpersonal so dass er seinem Antrittsbesuch mit freudig gespannter Erwartung entgegensah.
Die Collegepräsidentin hatte den neuen Philosophiedekan zum Tee gebeten um ihn zwei Tage nach seinem Eintreffen in den Kreis der Kollegen einzuführen.
Er betrat den Salon allein und wurde von der Collegepräsidentin empfangen, einer würdigen Gestalt mit noblem Haupt und abrupten, etwas barschen Umgangsformen. Sie hinkte ein wenig und ging an einem Schildpattstock dessen herrischer Takt ihr unweigerlich den Weg bahnte. »Sie müssen unbedingt Miss Bruce kennenlernen«, fiel sie dem neuen Professor, als Südstaatler zum vollendeten Kavalier erzogen, etwas rüde ins artige Wort. »Sie ist hier die einzige Philosophin.« Und sie führte ihn ohne viel Federlesens durchs Gedränge zu Miss Bruce und stellte die beiden einander vor.
Mit Interesse musterte Redfern diese Person mit der er sich in philosophischen Sphären bewegen sollte und die ihm auf nie dagewesene Weise als Personifizierung von Sanftmut und Intelligenz erschien. Sie war von hochgewachsener hagerer verhaltener Gestalt, das Gesicht milde und klug, der Blick scheu, das feine gewellte Haar grau durchwirkt, ihre gesamte Erscheinung in einem Maße die Verkörperung seines reifen Ideals dass sein Herz vor Schreck höher schlug.
Sie begrüßte ihn mit unbeholfener Scheu und sagte nach etwas kläglichen Versuchen zu höflicher Konversation abrupt »Was genau verstehen Sie nun eigentlich unter naivem Realismus?« womit sie auf einen theoretischen Ansatz anspielte den er unlängst in einem Artikel diskutiert hatte. Redfern war überrascht und amüsiert und stürzte sich munter in metaphysische Abstrusitäten während er sie mit wachsender Bewunderung betrachtete.
Ihre Einlassungen waren ernst eifrig und beharrlich, ihr Standpunkt klar, ihre Argumente stichhaltig und ihre Meinung differenziert. Alle Befangenheit legte sie im Eifer der Debatte ab ohne ihre linkische Zurückhaltung ganz aufzugeben, ihre Stimme blieb sanft und ihr Blick scheu. Redfern war noch nie einem so scharfen Verstand in solch vollkommen sanfter Gestalt begegnet und glaubte er stehe dem Ideal gegenüber von dem er immer geträumt aber in dieser zweigeschlechtlichen Welt zu begegnen sich nie erhofft hatte und so lauschte er ihr mit gebannter Zuwendung, neigte ihr seinen großen wohlproportioniert amerikanischen Körper mit dem klugen Kopf und den sorgsam rasierten Wangen, der müden Stirn und den wachen Augen zu.
Bis zur Stunde seines Todes sollte Redfern sie in Erinnerung behalten wie sie damals wirkte und sprach, die langen zart flatternden Finger, den linkisch verhaltenen Körper, das milde reife Gesicht und die scheuen Augen.
Während das Paar noch ganz in sein Gespräch vertieft war näherte sich ihnen eine blonde beflissene gutaussehende junge Frau die Redfern sobald er ihrer gewärtig wurde galant begrüßte und seiner neuen Bekannten als seine Gemahlin vorstellte. Hiervon aus dem Konzept gebracht verfiel Miss Bruce einer noch ärgeren scheuen Unbeholfenheit als zuvor und stammelte nach einem bestürzten Blick auf die eben Eingetroffene nach längerem Bemühen sich zu besinnen »Aber ja, Mrs. Redfern, natürlich, Ihre Frau, ich vergaß.« Sie setzte neu zu sprechen an gab sich aber dann plötzlich geschlagen und sah die beiden nur hilflos an.
»Sie waren gerade beim naiven Realismus«, sagte Mrs. Redfern eilfertig. »Bitte, fahren Sie doch fort, ich würde sehr gerne hören, was Sie von ihm halten«, und Redfern der Kavalier deutete vor seiner Frau eine Verbeugung an und nahm das Gespräch mit Miss Bruce wieder auf bis diese sich erneut fortreißen ließ in die Metaphysik und alle menschlichen Irritationen wieder vergaß.
Ein Außenstehender hätte Mühe gehabt dem Trio wie es sich hier darbot abzulesen welcher Art die Beziehungen der Drei untereinander seien. Miss Bruce hatte Sinn nur für ihre Reden und Gedanken und ging ganz auf in der Debatte, den scheuen Blick auf Redferns Gesicht geheftet und den langen verhaltenen Körper gespannt; Redfern lauschte und flocht abwechselnd Argumente und Epigramme ein, erwies beiden Damen dieselbe höfliche Ehre, das kluge Gesicht mit der breiten Stirn, dem langen kräftigen Kinn, den müden Zügen, dem resoluten Mund und den wachen Augen in gleichem Maße aufmerksam erst der einen und dann der anderen zugewandt; und Mrs. Redfern lauschte nervös konzentriert und unsicher beiden im Wechsel, das gutaussehende blonde Gesicht angespannt im eifrigen Bemühen zu folgen. Ihre kleine Runde hätte selbst gewieften Beobachtern Rätsel aufgegeben.
[…]
Nicht selten kommt es im neunundzwanzigsten Jahr eines Lebens dazu dass alle Kräfte die im Laufe der Kindheit, Pubertät und Jugend in wirrem und heftigem Widerstreit lagen sich neu ordnen – in den Jahren tumultarischer Reifung sind wir uns kaum jemals über Ziele, Sinn und Stärken im Klaren weil zwischen Hoffnung und Erfüllung keine Verbindung besteht und so werden wir im Sturm in der Zerreißprobe der Selbstwerdung wild und kurslos hierhin und dorthin geworfen bis wir schließlich im neunundzwanzigsten Jahr in die schmale Fahrrinne zur Reife gelangen und das Leben das zuvor ganz Aufruhr und Konfusion war sich zu seiner Grundgestalt und Ausrichtung verengt und wir eine vage erahnte Möglichkeit eintauschen gegen eine kleine harte Realität.
Zu beobachten ist in unserem amerikanischen Dasein das frei ist von den Zwängen der Tradition und uns daher freistellt den Beruf so oft zu wechseln wie wir wollen und können dass die Jugend sich oftmals über die ganzen ersten neunundzwanzig Jahre hin erstreckt und wir erst mit dreißig endlich zu dem Beruf finden für den wir uns bestimmt fühlen und für den wir wirklich bereit sind uns abzumühen. Belustigt blicken wir dann auf unseren erratischen Werdegang zurück – zuerst war es die Wissenschaft dann das Recht dann die Medizin dann das Geschäftsleben dann ein Dilettieren als Maler oder Schriftsteller, alles mit Begeisterung angepackt und eine Zeitlang mit Eifer betrieben bis es für sinn- und wertlos befunden und mit Erleichterung aufgegeben wurde und wir mit Elan den nächsten Beruf ergreifen und diesen wiederum erst in der Einsicht aufgeben dass er unserem wahren Selbst nicht genügen kann. Und während einzuräumen ist dass der Welt bei der Suche nach der einen wahren Berufung viel Arbeit verlorengeht, so bereichert dies doch immerhin das Leben des Einzelnen und wird sich am Ende vielleicht als nützlich auch für die Welt erweisen – und ebenso wie wir eine Entscheidung aus Liebe für bedeutsamer halten mögen als die aus praktischen Erwägungen können wir auch die Berufung für bedeutsamer halten als nur die Ausübung dessen was wir zuerst zu beherrschen gelernt haben und zum Broterwerb machen.