Christian Kleinschmidt
WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER NEUZEIT
Die Weltwirtschaft
1500–1850
Verlag C.H.Beck
Um 1500 übertraf die Wirtschaftsleistung Chinas und Indiens die Europas um ein Vielfaches. Um 1850 war Europa das unbestrittene Zentrum der Weltwirtschaft. Die Entstehung der Weltwirtschaft und der Aufstieg Europas zur führenden Wirtschaftsmacht waren die entscheidenden Entwicklungen in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Christian Kleinschmidt fragt nach den Bedingungen für den Erfolg Europas. Dabei führt er ein in die Bevölkerungsentwicklung der Neuzeit, in Warenströme und Handelswege, in Ideen und Weltanschauungen, in Technik und Wissenschaft sowie nicht zuletzt in die Politik und ihre Institutionen. Dabei zeigt sich, dass der Aufstieg Europas ein Janusgesicht hatte: Er war mit Innovationen und Institutionen ebenso verbunden wie mit hemmungsloser Gewalt, skrupelloser Verdrängung und kolonialer Expansion.
Christian Kleinschmidt ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Philipps-Universität Marburg.
1. «Hingehen, wo der Pfeffer wächst»
2. Mächte – Räume – Waren: Von der polyzentrischen Weltwirtschaft zur Dominanz Europas
Portugal, Spanien und die neuen Welten
Niederlande, Großbritannien und Frankreich
Asien und Afrika
Durchbrechung des «frühneuzeitlichen Gleichgewichts»
«Great Divergence»
3. Bevölkerungsentwicklung
Zeitalter der «malthusianischen Wirtschaft»
Migration
4. Ideen, Weltanschauungen, kulturelle Einrichtungen
Kultur der Offenheit – Kultur der Expansion
Eigennutz, Merkantilismus, Protektionismus
Aufklärung, Liberalismus und Freihandel
5. Technik und technisches Wissen
Schiffbau
Nautik und Navigation
Technologie- und Wissenstransfer
Vernetzung und Konvergenzen
6. Politik und Gewalt
«Protokolonialismus» und Aufstieg Europas
«Gunpowder Empires»
7. Institutionen, Recht, Märkte
8. Fazit
Danksagung
Literaturauswahl
Ortsregister
Sachregister
Der Pfeffer wächst vor allem in Indien, genau genommen in Malabar, an der Westküste Südindiens. Jemandem zu bedeuten, dorthin zu gehen, wo der Pfeffer wächst, gilt als Verwünschung und Ausdruck der Mißbilligung einer Person, die man möglichst weit entfernt sehen möchte. Die Formulierung geht auf den Geistlichen und Satiriker Thomas Murner zurück, der diese in seiner «Narrenbeschwörung» aus dem Jahr 1512 benutzte. Tatsächlich begaben sich seit dem 16. Jahrhundert viele Europäer dorthin, «wo der Pfeffer wächst», allerdings weniger aus Mißgunst, sondern weil Pfeffer ein wertvolles Luxusprodukt war, dem als Gewürz auch eine besondere Heilwirkung zugeschrieben wurde. Sie nahmen dafür erhebliche Strapazen, Kosten und Risiken in Kauf. So war auch für Kolumbus der Erwerb von Pfeffer ein wichtiges Motiv auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien, da Ende des 15. Jahrhunderts der Landweg durch islamische Wirtschaftsräume versperrt war. Vasco da Gama erreichte schließlich als erster Europäer im Jahr 1498 Indien auf dem Seeweg, und er landete in Calicut/Malabar, also genau dort, wo der Pfeffer wuchs. So wurde für die Portugiesen Pfeffer zu einem der wichtigsten Handelsgüter. Auch andere europäische Mächte, wie etwa die Niederlande, unternahmen große Anstrengungen, Pfeffer aus Südindien nach Europa zu importieren – und zugleich andere Handelsmächte davon fernzuhalten. Im Jahr 1719 formulierte die Direktion der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindienkompanie in einem Schreiben an die Kolonialverwaltung in Batavia (Indonesien), daß es «schon immer unsere Absicht gewesen ist, und an ihr halten wir fest, alle anderen Nationen so weit wie möglich aus dem Pfefferhandel auszuschließen und unter Einsatz aller merkantilen Mittel zu verhindern, daß sie sich in Indien größerer Mengen an Pfeffer, und das vielleicht gar noch zu niedrigen Preisen, bemächtigen, damit wir in Europa in den Stand versetzt werden, den betreffenden Markt zu beherrschen, dann können unsere Konkurrenten den Pfeffer – aufgrund der geringen Fehlmengen – mit nur sehr geringem oder mit überhaupt keinem Gewinn nach Europa importieren, obwohl dies oft ihre alleinige Geschäftsgrundlage ist».
Der Handel mit Pfeffer sowie mit anderen Gewürzen und Edelmetallen aus Übersee bildete eine wesentliche Grundlage für die Entstehung der Weltwirtschaft seit dem frühen 16. Jahrhundert – und Europa spielte dabei eine zentrale Rolle. Im Unterschied zur Wirtschaft des Mittelalters, die über den Fernhandel bereits unterschiedliche Kontinente miteinander verband, zeichnet sich die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien durch eine zunehmende europäische Expansion und Dominanz sowie durch die Verdichtung und Integration der globalen Wirtschaftsräume aus. Wolfgang Reinhard spricht dementsprechend von einer «Globalgeschichte der europäischen Expansion». Der Pfefferhandel steht geradezu prototypisch für diesen Prozeß, weil an ihm deutlich wird, daß sich die Schwerpunkte des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen dem 16. und der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich verschoben. Nicht mehr Asien mit den weltweit bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Regionen Indien und China war am Ende des hier zu betrachtenden Zeitraums die wichtigste Wirtschaftsregion, sondern Europa, das freilich kein monolithischer Block war, sondern aus unterschiedlichen Mächten bestand, die, wie das Beispiel des Pfefferhandels zeigt, miteinander im Wettbewerb um wirtschaftlichen und politischen Einfluß standen.
Mitte des 19. Jahrhunderts stellte Europa etwa die Hälfte der weltweiten Wirtschaftskraft – vor allem bedingt durch den Übergang zur Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert – und kontrollierte fast zwei Drittel der Landfläche weltweit. Diese weltwirtschaftliche Verschiebung sowie die ihr zugrunde liegenden unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen und -verläufe sind in die Wirtschaftsgeschichte als «Große Divergenz» («Great Divergence») eingegangen und haben seit der gleichnamigen Publikation von Kenneth Pomeranz umfangreiche Diskussionen ausgelöst, an der sich Wirtschaftshistoriker aus aller Welt beteiligten. Diese bilden für die vorliegende Publikation eine wichtige Grundlage, auch wenn es weniger um eine Geschichte des (globalen) Kapitalismus, um Aspekte des weltwirtschaftlichen Wachstums oder die Frage nach weltwirtschaftlichen Disparitäten geht, sondern um das Zusammenwachsen unterschiedlicher Wirtschaftsräume zu einer Weltwirtschaft, um Mechanismen der Verflechtung, der Integration und Interaktion, wobei auch nach Expansion und Durchdringung sowie nach Dominanz und Abhängigkeiten gefragt wird. Dabei kristallisieren sich fünf Faktoren heraus: 1. die Bevölkerungsentwicklung, und hier vor allem die (freiwillige und Zwangs-)Migration zwischen großen Wirtschaftsräumen; 2. Ideen und Weltanschauungen, die Handel und wirtschaftlichen Austausch beförderten oder auch behinderten; 3. der Austausch von Wissen und Technologie unter besonderer Berücksichtigung von Wirtschaftskontakten und Transporttechnologie (Schiffbau, Nautik, Navigation, Kommunikation); 4. die Rolle von Politik und Gewalt, wobei der Staat als Akteur und seine Wirtschafts- bzw. Handelspolitik sowie Militär, Kriegführung und Sklaverei in den Blick kommen, und schließlich 5. die Rolle von Institutionen, insbesondere hinsichtlich Handel, Recht und Märkten. Eine Gewichtung dieser fünf Faktoren erscheint wenig sinnvoll, wenn nicht gar unmöglich. Allerdings gibt es einige Aspekte, die sich über ihre Bedeutung als Antriebsfaktoren hinaus wie ein roter Faden durch die einzelnen Gliederungspunkte ziehen und somit als zentrale Thesen des Buches gelten können. Das betrifft die Rolle Europas in diesem Prozeß des Aufstiegs der Weltwirtschaft, die Gewalt als seine Begleiterscheinung sowie das Phänomen der Globalisierung, wonach die Entstehungsphase der Weltwirtschaft im Sinne einer «Proto-Globalisierung» (A. G. Hopkins; Ch. A. Bayly) als langfristiger ökonomischer Prozeß betrachtet wird, der schließlich in die erste Globalisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts mündete, die nach einem «Backlash» von fast einem Jahrhundert erst mit der Globalisierung seit den 1980er Jahren ihre Fortsetzung fand.
Von einer besonderen Bedeutung Europas, gar von einem «europäischen Sonderweg» im Zuge der Entwicklung der Weltwirtschaft zu sprechen, bedarf in Zeiten der Globalgeschichte und der Kritik am Eurozentrismus einer ebenso besonderen Begründung. Dabei kann noch einmal auf das Beispiel des Pfefferhandels verwiesen werden, welches zeigt, daß es in erster Linie europäische Initiativen waren, die die unterschiedlichen Wirtschaftsregionen der Welt miteinander verknüpften und durch die Entdeckung der Amerikas – auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien – einen Kontinent einbezogen, ohne den schwerlich von einer Weltwirtschaft gesprochen werden kann. Der Aufstieg der Weltwirtschaft wird somit auf die Zeit nach 1492 datiert. Dies unterscheidet sich von Ansätzen, die von unterschiedlichen regionalen und «kleinen Weltwirtschaften» (Immanuel Wallerstein) ausgehen oder die schon für das Spätmittelalter von einer Weltwirtschaft «before the European Hegemony» (J. L. Abu-Lughod) sprechen. Schließlich waren es vor allem die Europäer, die an Gewürzen und Edelmetallen außerhalb Europas interessiert und bereit waren, dafür die Risiken und Kosten eines interkontinentalen Handels in Kauf zu nehmen. Zwar gab es auch grenzüberschreitenden Handel und Mobilität von Chinesen, Indern, Japanern oder Osmanen, doch beschränkten sich diese auf Regionen des gleichen Kontinents (mit wenigen Ausnahmen). Umgekehrt gab es keine asiatischen (von afrikanischen oder amerikanischen ganz zu schweigen) Handelsstützpunkte in Europa oder Amerika, keine asiatischen Schiffe im Atlantik und keinen asiatischen Imperialismus in Amerika oder Afrika, und es gab auch wenig Interesse Asiens am Import europäischer Waren. Allein Europa war nach der Entdeckung Amerikas und Australiens auf allen fünf Kontinenten präsent und gewann somit einen «eindeutigen Vernetzungs- und Informationsvorsprung» (Bernd Hausberger). Dies zu betonen bedeutet nicht, einem eurozentrischen Weltbild zu huldigen, sondern der Tatsache Rechnung zu tragen, daß der «Drang zur Grenzexpansion» (Bernd Hausberger), die Herstellung und Verdichtung von Handelsbeziehungen und -netzwerken, der Wissensaustausch und der Technologietransfer seit dem 16. Jahrhundert in deutlich stärkerem Maße von europäischen als von außereuropäischen Mächten ausging – und schließlich in die bereits erwähnte Schwerpunktverlagerung von einer polyzentrischen hin zu einer europäisch dominierten Weltwirtschaft mündete.
Der Vorwurf des Eurozentrismus kann sich aber auch weniger auf den Untersuchungsgegenstand als vielmehr auf den Zugang zum Thema, auf Standpunkte und eine Perspektivenverengung sowie die ausgewertete Materialgrundlage beziehen. Hier stößt der Verfasser tatsächlich an Grenzen, da er – geprägt durch die westliche Historiographie – sich im Wesentlichen auf die inzwischen fast unüberschaubare Menge deutsch- und englischsprachiger Literatur stützt und originär chinesische, indische, osmanische oder japanische Literatur nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Auch die eurozentristische Periodisierung im Sinne der Epochen der «Frühen Neuzeit» sowie der «Neuzeit» wurden übernommen, denn die «Frühe Neuzeit» mit der Entdeckung Amerikas dient hier als Epochenschwelle, die auch den Beginn der Weltwirtschaft einläutet. Insofern handelt es sich hier tatsächlich um einen stark westlich bzw. europäisch geprägten Blick auf den Aufstieg der Weltwirtschaft.
Gewalt, so eine zweite These, war im Untersuchungszeitraum ein zentrales und legitimes Mittel zur Durchsetzung ökonomischer, politischer und kultureller Ziele. Dies gilt vor allem, aber nicht ausschließlich, für die europäischen Mächte und im Zuge des Aufstiegs der Weltwirtschaft. Eine Überhöhung der Gewalt, die im Sinne eines «Kriegskapitalismus» (Sven Beckert) als entscheidendes Movens europäischer Wirtschaftsinteressen erscheint, wird jedoch der Komplexität der Entstehung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge und den dabei maßgeblichen Antriebsfaktoren nicht gerecht. Als eine sicherlich auch reduktionistische und plakative, aber um ein entscheidendes Attribut erweiterte Formulierung für den gewaltbegleiteten Aufstieg der Weltwirtschaft bieten sich das Begriffspaar «Geist und Gewalt» oder auch das Wort «Neugier» an; Neu-Gier steht für die Gier nach Neuem, für Besitzergreifung, das Streben nach Unbekanntem, etwa nach Pfeffer und anderen Gewürzen, Lebensmitteln oder Edelmetallen sowie auch als Bezeichnung für Innovationen in diesem Zusammenhang. Die Gier steht zudem für die damit oftmals verbundene aggressive Haltung, die zur Erreichung entsprechender Ziele zum Einsatz kam und dabei auch die Anwendung von Gewalt einschloß. Dieser innovative Charakter des westlichen Ausgreifens kommt auch in der Formel von «Geist und Gewalt» zum Ausdruck. Ulrich Sieg hat damit das Spannungsfeld der deutschen Philosophie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus umrissen. Für das europäische Machtstreben und die weltwirtschaftliche Durchdringung sind «Geist und Gewalt» komplementäre Begriffe, die auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verknüpft sind. Sie bezeichnen nicht nur parallel verlaufende Prozesse technischer Innovationsfähigkeit und militärischer Macht, die einander verstärkend als Faktoren der weltwirtschaftlichen Integration wirkten. Sie zeigten ihre Wirkmächtigkeit auch im Rahmen der europäischen Mächtekonkurrenz, die einen (militär-)technischen Wettlauf mit enormem Innovationspotential und Spin-off-Effekten innerhalb Europas bewirkte, dessen Folgen auch außerhalb Europas spürbar wurden. Philip T. Hoffman hat jüngst den Zusammenhang von politisch-militärischem Wettbewerb und technischer Innovationskraft – ähnlich wie bereits Paul Kennedy oder Herfried Münkler – als wesentliche Grundlage europäischer Dominanz in Politik und Wirtschaft hervorgehoben. Dierk Walter, dem es in seiner Darstellung über die organisierte Gewalt in der europäischen Expansion vor allem um militärische Aspekte als Ausdruck europäischer Dominanz geht, räumt ein, daß auch der Wissensaustausch und die «Wissensgemeinschaft» westlicher Imperien einen wesentlichen Faktor dieser Entwicklung darstellen.
Drittens schließlich soll der hier aufgezeigte Prozeß des Aufstiegs der Weltwirtschaft als Phase der «Proto-Globalisierung», vergleichbar dem Begriff der «Proto-Industrialisierung», verstanden werden. Ähnlich wie die «Industrialisierung vor der Industrialisierung» (P. Kriedte/H. Medick/J. Schlumbohm) und in etwa zeitgleich verlaufend, vollzog sich ein Prozeß der «Globalisierung vor der Globalisierung», gekennzeichnet durch eine zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung, die als langfristige, jedoch nicht linear und zielgerichtete, sondern durch Brüche und Rückschläge gekennzeichnete Entwicklung zu verstehen ist. Die Phase der «Proto-Globalisierung», die im Unterschied zu den nachfolgenden Globalisierungsphasen nur ansatzweise Konvergenzentwicklungen (z.B. Preiskonvergenzen, Löhne) erkennen ließ, endete Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts. Für die Jahrhundertmitte als Epochenschwelle sprechen zahlreiche Indikatoren: der Abschluß des «Inkorporationsprozesses der kapitalistischen Weltwirtschaft» (I. Wallerstein), die Hochzeit der «pax britannica» als Ausdruck des britischen Imperialismus sowie, ebenfalls ausgehend von Großbritannien, der Beginn der (kurzen) Freihandelsära bzw. des «Freihandelsimperialismus» (P. Bairoch), verbunden mit der gewaltsamen wirtschaftlichen Öffnung Chinas und Japans, der Aufstieg der USA zur führenden Wirtschaftsmacht, die Einführung des Goldstandards, technische Innovationen u.a. im Schiffbau (Dampfschiffe) sowie in der Kommunikationstechnik (Telegraph/Atlantikkabel), die Zuspitzung der «Großen Divergenz» zwischen dem Westen und den asiatischen Wirtschaftsregionen sowie schließlich der Übergang zur ersten Globalisierungsphase gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit der eine neue Ära der weltwirtschaftlichen Verflechtung begann.
Im 15. und frühen 16. Jahrhundert war Asien das Zentrum der Weltwirtschaft. China war die größte Wirtschaftsmacht, und der muslimische Handel dominierte die interregionalen Wirtschaftsbeziehungen. Bei einer Welt-Gesamtbevölkerung von etwa 438 Millionen Menschen (um 1500) lebten 61 Prozent in Asien. Indien (110 Millionen) und China (103 Millionen) waren die bevölkerungsreichsten Länder. Die europäische Gesamtbevölkerung lag bei ca. 88 Millionen (20 Prozent der Welt-Gesamtbevölkerung), in Nord- und Südamerika lebten etwa 20 Millionen (ca. fünf Prozent) und in Afrika etwa 46 Millionen (etwa zehn Prozent). Die Bevölkerungsverteilung spiegelte in etwa auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der unterschiedlichen Regionen wider, wobei China um 1500 die größte und leistungsfähigste Volkswirtschaft der Welt besaß. Auch wenn die Daten aus dieser Zeit (etwa mit Blick auf Kennziffern wie das BIP) mit Vorsicht zu genießen sind, so geben sie doch einen Eindruck von den damaligen Größenverhältnissen. Danach hatte Asien um 1500 einen Anteil am weltweiten BIP von etwa 65 Prozent, Europa von knapp 24 Prozent, Nord- und Südamerika von 3,5 Prozent und Afrika von 7,4 Prozent. Allein der Anteil Chinas (25 Prozent) sowie Indiens (24,5 Prozent) am weltweiten BIP lag damit höher als derjenige Gesamteuropas (23,8 Prozent). Dies änderte sich seit dem 16. Jahrhundert grundlegend. 1870 schließlich lag der Bevölkerungsanteil Europas weltweit bei 25,9 Prozent, derjenige Asiens bei 51,7 Prozent, Nord- und Südamerikas bei 6,7 Prozent und der Anteil Afrikas war auf 7,1 Prozent gesunken. Die Wachstumsraten der europäischen Volkwirtschaften stiegen seit dem 16. Jahrhundert deutlich stärker an als in allen anderen Regionen der Welt (ausgenommen Nordamerika). Und während das BIP pro Kopf sich in Westeuropa zwischen 1500 und 1870 um das Zweieinhalbfache erhöhte, war es in Asien (mit Ausnahme Japans) sogar leicht rückläufig. Im Zuge der Industrialisierung waren die europäischen Staaten zum weltweit wichtigsten Industrieraum aufgestiegen, wobei deren Anteil am weltweiten BIP 1870 bei 45,2 Prozent lag. Großbritanniens Anteil allein machte 9,1 Prozent aus. Asien verfügte nur noch über 38,3 Prozent des weltweiten BIP, wobei der Anteil Chinas (17,2 Prozent) und Indiens (12,2 Prozent) noch immer über demjenigen der größten europäischen Wirtschaftsmacht Großbritannien lag. Nord- und Südamerika kamen zusammen auf 12,7 Prozent, während der Anteil Afrikas am weltweiten BIP sich gegenüber 1500 mehr als halbierte und jetzt bei 3,6 Prozent lag.
Dieser tiefgreifende Wandel hatte etwas mit den Verschiebungen der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge seit dem 16. Jahrhundert zu tun, in deren Folge Europa nicht länger der «ferne Westen Eurasiens» (John Darwin) war, sondern zum neuen Gravitationszentrum globaler weltwirtschaftlicher Verflechtungen aufstieg. Zuvor hatte es mehrere große Wirtschaftszentren gegeben, die als eigene Weltwirtschaften eine Entwicklungsstufe markierten, die man als «archaische Globalisierung» (A. G. Hopkins) bezeichnen kann. Sie war gekennzeichnet durch die Herausbildung überregionaler Netzwerke zwischen unterschiedlichen Imperien, wobei religiöse Entwicklungen, Migration, Handelsbeziehungen, insbesondere zwischen großen Städten, eine Rolle spielten. So lassen sich bereits für das Spätmittelalter grob drei weltwirtschaftliche Großräume mit insgesamt acht Subsystemen unterscheiden, in denen jeweils für sich intensive Handelsbeziehungen und Wirtschaftskontakte stattfanden. Diese bestanden darüber hinaus auch zwischen den weltwirtschaftlichen Großräumen, die vor allem das Gebiet Eurasiens und den Nordosten Afrikas umfaßten. Große Teile Afrikas waren hier ebenso wenig involviert wie die Amerikas und Australien, so daß es sich nicht um ein einheitlich globales, weltweites System handelte, sondern im engeren Sinne um eine polyzentrische eurasische Weltwirtschaft.
In Europa lassen sich grob zwei Subsysteme bzw. Handelsregionen ausmachen, einerseits in Nordwesteuropa mit Brügge und Gent, dem Nord- und Ostseeraum (Hanse) sowie den Messen der Champagne als Zentren, andererseits den süd- und südosteuropäischen Wirtschaftsraum inklusive des Mittelmeers, der durch die Handelsstädte Genua und Venedig dominiert wurde. Im Vorderen Orient sind es drei Wirtschaftsräume bzw. Handelsrouten, die wiederum miteinander in Verbindung standen: eine nördliche Route, die sich über das Schwarze und das Kaspische Meer und Samarkand bis nach China erstreckte und vor allem das Mongolenreich umfaßte. Eine mittlere Route zog sich vom östlichen Mittelmeer über Bagdad und Basra und den Persischen Golf bis zum Indischen Ozean, während sich die südliche Route von Tunesien über Ägypten zu beiden Seiten des Roten Meeres ebenfalls bis zum Indischen Ozean erstreckte. Gehandelt wurden u.a. neben Baumwolle, Flachs und Zucker auch gewerbliche Produkte wie Textilien, Leder-, Glas- und Metallwaren. Als dritter weltwirtschaftlicher Großraum kristallisierte sich Asien mit drei sich überlappenden Subsystemen heraus: der muslimisch dominierte Raum des westlichen Indischen Ozeans mit der südlichen arabischen Halbinsel und dem Horn von Afrika, der indische Subkontinent sowie der südchinesisch-südostasiatische Raum mit der Straße von Malakka. Indien importierte beispielsweise persische und arabische Pferde. Persien exportierte Seide, Teppiche und Farbstoffe. Aus Ostafrika gelangten Ebenholz und Elfenbein sowie Gold und Sklaven nach Indien, das wiederum Baumwollstoffe nach Afrika exportierte. Von den südostasiatischen Inseln wurden u.a. Gewürznelken und Muskat nach Westen exportiert, während vom indischen Subkontinent Baumwollstoffe nach Südostasien gelangten und auf dem Rückweg Gewürze und Porzellan aus China den Weg nach Indien fanden.
Zwischen diesen Großwirtschaftsräumen bestand, abgesehen von der unterschiedlichen Bevölkerungsverteilung und der ungleichen Wirtschaftskraft, insofern ein nichthierarchisches Gleichgewicht, als keine dieser Regionen den Handel kontrollierte oder eine hegemoniale Stellung innerhalb dieses Austauschsystems einnahm, auch wenn es durchaus Kernregionen und periphäre bzw. semiperiphäre Regionen gab. Die polyzentrische Welt der «archaischen Globalisierung» zeichnete sich durch eine mehr oder weniger «friedliche Koexistenz» der miteinander verflochtenen Subsysteme aus. Dieses Gleichgewicht verschob sich seit dem 16. Jahrhundert allmählich. Ausschlaggebend dafür war nicht allein das «Ausgreifen des Westens» (John Darwin) durch Portugal und Spanien, sondern auch der relative Bedeutungsverlust der asiatischen Wirtschaftsregionen, insbesondere Chinas.
John Darwin bezeichnet es als «größtes Rätsel in der chinesischen Geschichte», daß die Dynamik der reichsten Volkswirtschaft der Welt seit dem 15. Jahrhundert nachließ, nachdem China sich noch wenige Jahrzehnte zuvor angeschickt hatte, die Seeherrschaft in den östlichen Ozeanen zu erringen. China hatte bis ins 15. Jahrhundert eine wirtschaftliche Expansion erfahren, die nicht zuletzt auf einer intensiven Handelstätigkeit beruhte. Die Handelsflotte galt als die größte und seetüchtigste weltweit, deren technische Ausstattung und Navigationskunst den arabischen und europäischen Standards ebenbürtig war. China verfügte über leistungsfähige staatliche Institutionen und eine umfangreiche Verkehrsinfrastruktur, über starke Handelsorganisationen, vergleichbar den europäischen Gilden, sowie über ein effektives Finanz- und Kreditwesen. Der Kern der chinesischen Handelszentren umfaßte die südchinesischen Küstenregionen, von wo aus der Handel im Indischen Ozean zwischen dem Golf von Bengalen, dem Südchinesischen Meer und der Straße von Malakka betrieben wurde. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es unter der Ming-Dynastie zu einer Abkehr von der interregionalen Handelstätigkeit. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen litt auch Asien und insbesondere China seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts unter mehreren Pestwellen. Naturkatastrophen, Hungersnöte, Korruption und Bauernaufstände führten zu einer krisenhaften Entwicklung der Wirtschaft. Zusammen mit der Bedrohung durch die Mongolen entschieden sich die Herrscher der Ming-Dynastie zu einer Verlagerung der Ressourcen in Richtung Binnenwirtschaft und Landwirtschaft. Dabei konzentrierten sich die wirtschaftlichen Aktivitäten stärker auf den Norden Chinas sowie auf die Region um Peking. Eine tiefgreifende Wirtschaftskrise Mitte des 15. Jahrhunderts zwang China zu einem Abbau der Schiffskapazitäten und führte zu einem Niedergang der Handelsflotte – mit den entsprechenden Folgen für die interregionale Handelstätigkeit. Dieser Rückgang hatte schließlich aufgrund der hohen wirtschaftlichen Verflechtung in Asien Folgen für das seit dem 1313