Mischa Kopmann
Aquariumtrinker
ROMAN
Erste Auflage 2017
© Osburg Verlag Hamburg 2017
www.osburgverlag.de
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Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-126-8
Für Suse
(1) Die Wahrnehmung unseres Helden speist sich aus einer Ablehnung herkömmlicher Wert- und Wirklichkeitsbegriffe. In all seinen inhaltlichen Dimensionen ist dieses Buch fiktiv, was sich maßgeblich auf seine Protagonisten auswirkt: Sämtliche Handlungsträger, tot wie lebendig, sind selbstredend ebenso frei erfunden wie die Handlung selbst.
(2) Dies gilt nicht zuletzt auch für die Namensgebung, und hier insbesondere für den Widersacher unseres Helden, dessen Nachname ebenso einer Laune der Inspiration entsprungen ist wie die Tatsache, dass partout niemand ihn mit Vornamen anreden mag – nicht einmal Mrs. Kunstmann. Weder Doris noch Antje, an die der Erzähler ob ihrer Prominenz bei der ersten Nennung des Namens im Buch auf sehr respektable assoziative Weise denken muss, können irgendetwas dafür, dass ein Kunstmann durch die fiktiven Landschaften dieses Romans geistert, den mit Ausnahme der Namensgleichheit nichts, aber auch gar nichts mit den beiden Assoziierten verbindet.
(3) Bei allem Bemühen ist es dem Lektor nicht gelungen, dem Autor die vom Standard abweichende Kommasetzung auszureden. Diese orientiert sich auf idiosynkratische Weise an der Quelle des Erzählten und seines Erzählers: Leon Spihr ist Songschreiber. Jede poetische Einlassung innerhalb eines Satzes gestaltet sich für ihn wie eine neue Zeile innerhalb eines Songs.
»I am an American aquarium drinker
I assassin down the avenue«
Wilco, »I am trying to break your heart«
Das weiße Album. Doch nein, wie sehr man es sich auch vornimmt, niemals ist irgendetwas wirklich zu Ende. Und ja, jedem Anfang wohnt ein Abschied inne. Und wo wir schon bei Abschieden sind – John Lennon ist selbst schuld, dass er erschossen wurde. So jedenfalls Böttchers These, der immer und zu allem seine Meinung hatte und nie müde wurde, damit hausieren zu gehen, zu allen möglichen oder unmöglichen Gelegenheiten. Wurde so eine Art party piece mit der Zeit. Mit erstaunlichem beidseitigem Aggressionspotenzial. Ein paar gut gekühlte Drinks aus der Hausbar (oder dem Kasten auf dem Balkon) und Böttcher machte sich einen Spaß daraus, zu vorgerückter Stunde, ansonsten friedliebende Mitbürger solange aus der Reserve zu locken, bis sie bereit waren, die Ärmel hochzukrempeln und sich mit ihm zu prügeln. All die Innuendos, backward tapes und Selbstreferenzen, philosophierte Böttcher, das musste ja nach hinten losgehen, zumal bei einer Generation, die ungefähr so verzweifelt nach Antworten suchte wie der Verdurstende nach dem Wasser in der Wüste.
Und dazu auch noch alle voll bis obenhin, mit Amphetaminen und Mushrooms und Maharishi, möchte man ihm beipflichten, dieses eine Mal, dem alten Immerallesbesserwisser. Denn was waren die Neunzehnhundertsechziger anderes als eine Art mikroskopisches, comichaftes, ikonoklastisches Surrogat der Weltgeschichte: Nichts als graue, gutbürgerliche, neorealistische Nachkriegsstagnation (60–62). Plötzlicher Aufbruch (63/64). Hochfliegendste Träume (65/66). Ein bilderbuchblauer Sgt. Pepper-geschwängerter Technicolor-Summer-of-Love (67). Mittelalter, Barock, Aufklärung, Romantik. Im Schnelldurchlauf. Dann die Apokalypse. In zwei schwarzen, zerschossenen, egotistischen, drogenverseuchten Jahren (68/69) geht alles vor die Hunde. Die freundlichen Irren und Gipfelstürmer, die spätestens anno 65 die Anstalt oben auf den Hügeln im Handstreich übernommen hatten, liegen drogenvernebelt und erdrückt von ihren Millionenbankkonten im stillen Kämmerchen des Westflügels ihrer 38-Zimmer-Villa vor den Toren Londons oder LAs, während die wirklichen Irren draußen vor der Tür die Fenster einschlagen und das Kommando übernehmen. Mit den besten frommen Wünschen der Regierung und perfekt gefälschtem Diplom in der Tasche. Pathologie: James Earl Ray. Sirhan Sirhan. Alan Passaro. Deutsches Know-how: Josef Bachmann und Andreas Baader. Anstaltsleitung: Dr. M. D. Charles M. Manson. Eine vielköpfig bunte Schar, die uns über zwei Jahre hinweg schaurig schön zur besten Sendezeit unterhält. Kurze Werbepause, dann ab zu den Nachrichten: In Washington D. C., nur vier Jahre zuvor triumphaler Schauplatz hochhängender Bürgerrechtsbewegungsträume (»I Have a Dream!«), schießt die Polizei auf schwarze Demonstranten, in Paris knüppelt die Staatsmacht Studenten zusammen, in Prag rollen russische Panzer ein, in der Frankfurter Innenstadt gehen Brandsätze in Kaufhäusern hoch und irgendwo im orangefarbenen südostasiatischen Dschungel bekriegen sich Charlie und Uncle Sam im absurdesten, hässlichsten und grausamsten Gemetzel der Nachkriegsgeschichte bis aufs kommunistisch-kapitalistische Blut. Apocalypse Now!
John Lennon war das alles mehr oder weniger egal. Noch hatte Yoko das Regiment nicht übernommen, und Lennon, dessen überbordende Fantasie sich aus einem Gefühl totaler, exzessiver Einsamkeit und Ablehnung speiste (ein Gefühl, das auch die glühende Liebe von Millionen nicht lindern konnte), lebte seinen letzten großen Kreativitätsschub aus, weit weg von allem, in Indien, wo die Beatles, immer und allen einen Schritt voraus, Anfang ’68 ein paar Monate bei makrobiotischer Ernährung und Meditation ihrem eigenen Ende zuvorzukommen versuchten. Vergebens, wie wir heute wissen. Kaum aus der trügerischen Idylle zurück in die weltliche westliche Welt geworfen, traf man sich, angetrieben von Beatle Paul, der die Fab Four aus panischer Angst, die Band könnte sich trennen, unaufhaltsam in die Trennung trieb, zur Aufnahme des Nachfolgewerks der Apotheose der 1960’s: »Sgt. Pepper« ist ein Jahr jung und doch so alt, wie ein klassizistisches Magnum opus nur sein kann, in jenem unheilschwangeren Sommer 1968, als die Band in den Abbey Road Studios (nur wenige Meter vom Zebrastreifen entfernt) ein Werk aufnimmt, das, ganz im Gestus des rasanten Zeitenwandels, von unseren Helden schlicht und ergreifend »The Beatles« getauft wird, uns allen, seines schlicht und ergreifend blütenweißen Covers wegen, vom ersten Tag an jedoch nur als »The White Album« bekannt ist.
Ein Werk, das krude Theorien gebiert. Vom ersten Tag an. Von Manson bis Böttcher. Ein zerschossenes, drogenverseuchtes, egotistisches Album, vier LP-Seiten lang, das vom Licht des ersten zarten sommerlichen grillenzirpenden Morgens nach der Landung an den Gestaden einer vermeintlich besseren Welt nach und nach ins schwarze Nirwana der spätkapitalistischen Apokalypse abkippt. Vor unseren Augen zersplittern die vier unzertrennlichen Helden im Spiegel unserer Seele in tausend eisige Schneeköniginnenkristalle. Und mit ihnen eine ganze Generation. Und mit ihnen ein ganzes Jahrzehnt.
So groß ist die Dunkelheit, auf Seite 3 und 4, dass ich als Kind Licht machen muss, um aushalten zu können, was ich, ganz fasziniert von so viel Grauen, höre. Und dann hilft nicht mal mehr die Nachttischlampe und »Revolution #9«, Lennons klaustrophobische collagenhafte Wachtraum-Symphonie der Reaktion und Gegenreaktion, Realität und Gegenrealität, die McCartney bis zuletzt versucht vom Album zu vetoen, beendet alles, was je an Illusion verkündet wurde von unseren vier Aposteln der Sonne und des Friedens und der Freiheit und des Triumphs von Humor und Geist über den ganzen üblen mittelmäßigen MOR-Mainstream der Welt. Das alles ziemlich genau ein Jahr vor meiner Geburt, eines schönen »Abbey-Road«-Cover-mäßigen Augustmorgens kurz nach der ersten Mondlandung.
Mein erster Beatles-Hit mit etwa zweieinhalb Jahren: »Hey Jude«. Und auch wenn Lennon glaubte, McCartney hätte den Song für ihn geschrieben, und McCartney glaubte, er hätte den Song für Lennons Sohn geschrieben, so wusste ich es doch besser, vom ersten Hören an, obwohl ich kein Wort verstand und mich nur an den Lauten entlanghangelte beim Singen: Dieser Song war für mich geschrieben worden, der ich die Last der Welt nur allzu sehr auf meinen Schultern spürte und mich nach Erleichterung und Kontemplation nur so verzehrte in dieser faden und rätselhaften und zum Tode langweiligen Erwachsenenwelt. Und war das, liebe Fangemeinde, nicht die große Qualität unserer geliebten Fab Four? Uns Dinge über uns zu sagen, auf anrührende und komische und mitreißende Weise, die wir nie selbst hätten sagen können. Von Kollektiv zu Kollektiv sozusagen. Und ist dies nicht das, was alle große Kunst ausgemacht hat, in allen Jahrhunderten? Und brauchen wir nicht, wie die Dichterin schreibt, Geschichten zum Leben? Schöne, runde, auskomponierte Geschichten mit einem Anfang und einem Ende und wiederkehrenden Motiven und Schlüsselszenen und einem Mark-Chapman-Revolver, der auftaucht im zweiten und losgeht im fünften Akt?
Nur dass sich das Leben, das sich als eine fein ausgeklügelte, romanhaft logische Abfolge sprachlicher, inhaltlicher und dramaturgisch wirkungsvoll in Szene gesetzter Muster gestalten sollte, nach und nach als elliptische, fragmentarische und vollkommen zusammenhanglose Ansammlung von Schnappschüssen entpuppt. Bis alles in einem nahezu geräuschlosen Gewitter von Blitzlichtern kulminiert. The ultimate cutting room experience. Und ich mittendrin. Wie der Vacuum-Cleaner in »Yellow Submarine«, der wahllos alles, aber auch alles aufsaugt: Menschen, Häuser, Vögel, Farben, die Welt, das All, die Beatles und am Ende sich selbst. So wie ich aufsaugte, gewohnheitsmäßig, von klein auf, was es an Irrlichterndem in der Welt gab. Die Launen meiner Mutter. Die Tiraden meines Vaters. Die ganzen unverständlichen Worte und Handlungen und Geheimnisse von Bekannten und Onkels und Tanten und nahen oder entfernten Verwandten. Die rotweiß-schwarzen Fahndungsplakate an allen öffentlichen Schaltern und Plätzen. Das Schweizer Klappmesser in der Hand des Achtklässlers, der mir mein Taschengeld abnahm, am Morgen auf dem Weg zur Schule. Und mir in die Eier trat, wenn ich am Boden lag. Den Kopf in wohlig verdämmerten Lennon’schen Tagtraumwolken, um den Schmerz erträglich zu machen. Der geborene Träumer, wie meine Tante Minnie mit ihrem schweren amerikanischen Akzent zu sagen pflegte: Zu viel Fantasie und zu wenig Realitätssinn. Was vielleicht sehr viel enger miteinander zusammenhing, als Tante Minnie je wahrhaben wollte.
Also zog ich los, gelangweilt von der Welt und ihren fadenscheinigen Versprechungen, in der Nacht, schlafwandlerisch, wie Jack the Ripper, dessen pockennarbiges verunstaltetes Gesicht ich im Vorabendprogramm gesehen hatte, bewaffnet mit Schere und Taschenlampe und Feuerzeug, immer auf der Suche nach einem Nachbarsgarten, einem Blumenbeet, das sich plündern, einem Tierkäfig, der sich öffnen ließ, einem Benzinkanister in einem unverschlossenen Schuppen, einer angelehnten Terrassentür, einem Wohnzimmer, in dem die Eltern schnarchend vor dem Sendeschlussbildschirm saßen, während ich im blau und grün schimmernden, unwirklichen Licht des Kinderzimmers das Wasser aus Aquarien trank, die beflissene Bürgerkinder ihren Müttern und Vätern abgerungen hatten, um etwas im Leben zu haben, das ihnen gehörte. Die nichts wussten von Charles Manson und »Revolution #9« und Abba hörten, bestenfalls, und Schlager und was es sonst noch gab an erbärmlichem Dreck in den Siebzigern, die nichts anderes waren als ein langer, nikotinverhangener, kokaindurchsetzter Kater nach der großen Party.
1976 gründet Steve Jobs eine Firma, die denselben Namen trägt wie das Label, das die Beatles 1968 gegründet hatten, um sich unabhängig zu machen vom Establishment. Totale Ignoranz oder totale Hybris. Auf Jobs Seite. Wie bei jeder Sekte. Dann die Achtziger. John Lennon wird erschossen. Und sonst? Kokain. Kalter Krieg. Compact-Discs. Dann die Neunziger? Kokain. Kobalt. Kassiterit. Der Rest ist Selbstreferenz. Backward Tapes. Und Innuendo.
Symposion. »In Freiheit bejahen, was unweigerlich zum Leben dazugehört: Abschied, Angst, Kummer, Schmerz, Tod.« Dies die Schlussworte in Ana Ardens Abschiedsbrief, dem letzten in einer Reihe von zehn oder zwölf. Woher ich wusste, dass es der letzte war? Weil ich ihn auf Knien vom Boden auflas, vor dem Klo, nachdem sich der Klebestreifen, mit dem sie ihn befestigt hatte, im Dunst ihrer letzten Dusche vom Badezimmerspiegel gelöst hatte. Soweit zur Form. Was den Inhalt angeht: Nicht eben leicht, in Freiheit ein Leben zu bejahen, das ganz und gar von Ana bestimmt war. Mit allem, was dazugehörte: die pollenschweren Sommer, die wir uns am Abend gegenseitig von der Haut duschten, die winterlichen Wochenendausflüge in still verwunschene Hotels an Nord- oder Ostseeküste, der Osterurlaub im schottischen Hochland, um zu retten, was nicht zu retten war. Stumm vor uns hin frierend saßen wir da, bei Regen und Sturm in unserem Bed-and-Breakfast mit Blick auf die schneebedeckten Berge und dachten zurück an unsere Anfangstage, mit Zungenküssen in Anas Zimmer, die Köpfe zusammengesteckt bis zum Blackout, in einer rotblau karierten Karstadt-Plastiktüte. Dem ersten Cunnilingus (wie Ana es gewohnt sachkundig nannte) an der Fensterfront des Appartements mit Blick auf den Hafen, in dem sie alibimäßig einmal die Woche für einen Architektenfreund der Familie putzte. Der rauschenden Millenniumsparty, à deux, mit von Ana persönlich kreierten Cocktails, die ausnahmslos Namen berühmter Philosophen trugen. Heidegger: 8 cl Rüttgers Club, 3 cl Kirschgeist, 2 cl Kölnisch Wasser, ein Tropfen Élixier Végétal de la Grande Chartreuse (69 Umdrehungen) aus den Mönchsklöstern der Großen Kartause. Für alles hatte Ana ein Rezept im Leben und für alles ein philosophisches Konzept. Mit Ausdrücken wie Dialektik, Dekonstruktivismus und der Welt als Wille und Vorstellung jonglierte sie wie andere Leute mit explicit parental advisory language aus HipHop, HBO und Hollywood. Platon liebte sie abgöttisch. Schopenhauer zitierte sie in libertinösen Nächten im Mondlicht ihrer geräumigen Studentenklitsche mit gespreizten Beinen auf mir, die milchweißen Arme selbstvergessen hinter dem Nacken verschränkt. Doch mehr als alle anderen liebte sie Nietzsche, mit dessen Konterfei auf dem viel zu knappen T-Shirt sie schon dem Dorfpfarrer beim Konfirmationsunterricht zugesetzt hatte, wie sie im kleinen Kreis nach ein paar Gläschen gern und voller Stolz erzählte. Nur mit Marx hatte sie es nicht. Es machte ihr ein schlechtes Gewissen, wenn sie pünktlich am Monatsersten den Scheck ihres bourgeoisen Stiefvaters kassierte, der ein florierendes internationales Unternehmen im IT-Bereich führte.
Für eine Weile verlor ich den Faden, nachdem Ana gegangen war. Ich kehrte aus der Klinik zurück nach einem halben Jahr Traumatherapie unter der Ägide der dienstbeflissenen Frau Dr. Marslinger. Zog die Vorhänge zu. Trank zuviel. Sah die Welt die Farben verlieren, bis alles in einem bleischweren, selbstmitleidigen Grau versank und ich kaum aus dem Bett kam, am Morgen, am Mittag, am Nachmittag, und mir Vorwürfe machte: Klar, dass Ana sich einen anderen suchte, mit festem Job und einer festen Sicht auf die Dinge, einem philosophischen Konzept vielleicht, das über das hinausging, was ich ihr zu bieten hatte. Peripatetisch hatte Anna es genannt. Und nach einer Kunstpause hinzugefügt: wohlwollend betrachtet.
Schließlich raffte ich mich auf und kündigte die Wohnung, schriftlich, mit endloser Mühe, weil das Schreiben mir noch immer schwerfiel, und machte mich auf die Suche nach einer neuen Bleibe, die ich fand, auf den letzten Drücker, etwa zwei Wochen vor Ablauf der Kündigungsfrist, per Zufall, unten am Hafen. Ich nahm meinen Mut zusammen und sprach einen vierschrötigen Zimmermann an, der dabei war, eine Anrichte auf einem Anhänger zu verschnüren. Es stellte sich heraus, dass der Mann seine Werkstatt aufgab, um in sein Heimatdorf an der Küste zurückzukehren. Kannst die Bude haben, sagte er, bis auf den Schuppen, weil da mein Boot drinsteht. Ist etwas dunkel da unten und ziemlich zugig im Winter, aber nicht ungemütlich, wenn die Elbe an Deinen Fenstern leckt, der Ofen bullert und Du es Dir mit einem Mädchen und einer Flasche gemütlich machst. So zog ich um: eine Tageskarte, drei Bahnfahrten, hin und zurück, ein Haufen Plastiktüten, den Gitarrenkoffer und etwas Krimskrams. Den Rest transportierte ich im Taxi: vier Kartons mit Klamotten, ein paar Bücher, Platten, Gläser, Geschirr, Besteck. Verfluchte Ana Arden, die mir wenigstens ein Bild von den Kindern hätte lassen können. Und doch fand ich Gefallen an meinem neuen Zuhause – einem kalten L-förmigen Souterrainraum mit Waschbecken, Ofen und einem Klo auf dem winzigen Hinterhof. Ich ging an Hafen und Strand spazieren, sammelte Treibgut, kaufte ein paar zur Kulisse passende Seemannsdevotionalien bei einem russischen Trödler auf der anderen Seite des alten Elbtunnels und dekorierte die Wände damit: Kompass, Kapitänsmütze, eine Miniaturkanone. Ich richtete mich ein in meinem Reich, fest entschlossen, dem Winter zu trotzen, der eisgrau und wolkenschwer über dem windzerzausten Wasser heraufzog.
Diese Maschine killt Kapitalisten! Nach ein paar Wochen Party mit mir selbst, in den aquariumhaften Tiefen meiner winterfest verbarrikadierten Souterrainwohnung unten am Hafen, entdecke ich zwischen all den Flaschenreihen und durchgefetteten Pizzakartons etwas, das mir bekannt vorkommt. Ziehe das Ding aus dem Gerümpelhaufen hinter dem Sofa hervor, blase den Staub von der Oberfläche und setze mich auf eine der vier umgekippten Orangenkisten, die ich am Elbstrand gefunden habe. Betrachte das Ding. Eine ganze Weile. Als wäre es ein Wesen aus einer anderen Zeit. Dann entschließe ich mich, etwas zu tun, was ich seit Wochen nicht getan habe. Lehne das Ding gegen das Sofa und mache mich auf den Weg. Über den Flur. Langsam und immer dicht an der Wand entlang. Bis zum Badezimmer, wo ich Licht mache und mich im Spiegel betrachte. Nichts als eingefallene Haut, hervorstechende Wangenknochen und ein Paar fiebriger Augen über einem wild wuchernden Bart. Ich durchwühle die Schubladen und finde Seife, Pinsel, Becher und die Schere. Wasche und rasiere mich. Werfe die alten Klamotten auf den Berg vor der Waschmaschine und ziehe den guten Anzug an, den Ana mir zur Hochzeit geschenkt hat. Dann nehme ich Platz auf dem Sofa, wiege das Ding im Arm und greife einen ersten, gespenstischen, schaurig verstimmten Akkord. G7sus4.
Danach dauert es eine ganze Weile, bis ich den Mund aufbekomme. Und dann noch eine ganze Weile, bis ich mich aus dem Haus traue. Ich nehme die Gitarre eines verregneten Novembernachmittags, setze mich in die S-Bahn und fahre die drei Stationen Landungsbrücken bis Altonae Bahnhof. Stelle mich vors Mercado, den alten abgewetzten schwarzen Protestsängergitarrenkoffer aufgeklappt vor mir auf dem alten abgewetzten roten Fußgängerzonenboden, und spiele, was mir in den Sinn kommt. Erfülle Wünsche der Passanten. Beatles, Stones, Dylan. Der klassische Straßenmusikersongwriterkanon. Nur dass ich mich weigere, standhaft, in den klassischen Straßenmusikersongbookkanon einzustimmen. Kein »Let It Be«, kein »Wild Horses«, kein »Blowin’ In The Wind«. Spucke stattdessen Dylans beseelte Anti-Hymne »Positively 4th Street« in den wolkentreibenden Vorweihnachtshimmel und singe »Sexy Sadie«, John Lennons flirrend bittersüßen Abgesang an alle ewigen Summer-of-Love-Apostel – ein Meer aus ewig mäandernden Akkorden, das müde an einen morgendlichen kalifornischen Strand geworfen wird, hinter dessen dunstigen und drogenverhangenen, von makrobiotisch wertvollen Algen umspülten Dünen Charles Mansons Family, die Hells Angels im Schatten der Tribünen des Altamont Race Track und, noch sehr weit entfernt, Lennons persönlicher Apostel des Todes Mark David Chapman lauern, um jedwede Unschuld für alle Zeiten zu Grabe zu tragen. Bei Wind und Wetter stehe ich dort vor der Shopping Mall und verdiene nicht schlecht dabei. Hin und wieder kommt ein Mädchen vorbei und steckt mir sehr old-school-mäßig Kassetten zu, mit Songs, immer einer pro Tape, deren Titel wie Schlachtrufe klingen, sich am Abend zuhause beim Hören jedoch als ebenso wunderschön erweisen wie das Mädchen selbst: »I’ll Never Be Anybody’s Hero Now«!, »Pedestrian At Best«!, »Let’s Not Fall In Love«!, »I Am Trying To Break Your Heart«! Ich lerne die Songs, einen nach dem anderen, und singe sie, wenn sie das nächste Mal vorbeikommt. Zum Nikolaus schenkt sie mir einen selbstgebackenen Lebkuchenmann, dem ein Ohr fehlt. An Weihnachten lädt sie mich ein, einen Kaffee mit ihr trinken zu gehen. Sie heiße Vivi, sagt sie am Silvestermorgen, und küsst mich auf die Wange.
. Der Tod ist eine schwarze Amazone. Mit schwarzen Knopfaugen auf weißem Grund. Ich sehe ihn/sie auf dem Weg nach Hause, 78 Euro 57 in der Tasche, der Tagesverdienst von sechs Stunden, auf Großbildleinwand, gestochen scharf und ohne Ton, am Fuße der Rolltreppe des Media Markts im Altonaer Bahnhof. Etwas geschieht mit mir. Ich nehme die Rolltreppe, passiere das stoisch dreinblickende Sicherheitspersonal am Eingang und betrete die Hölle, Höhe siebter Kreis. Schnappe mir den erstbesten Azubi im roten Polo und frage ihn nach dem Film, der draußen im Kinoformat und hier drinnen an allen Ecken und Enden auf ungefähr zweihundert Flachbildschirmen läuft. Film, sagt der Azubi, was für ein Film? Mit dem Gitarrenkoffer weise ich auf die TV-Türme links und rechts und an den Wänden, die alle das gleiche Bild zeigen: die schwarze Amazone im tonlosen Moment des Ablösens von allem Irdischen. Der Azubi zuckt die Achseln. Alex, ruft er dem Kollegen am CD-Stand zu, was, meintest Du, läuft da für ein Video? Bowie, sagt Alex routiniert gelangweilt, während er einen Stapel der letzten Andrea-Berg-CDs aus einer Plastikwanne fischt. Bowie?, sage ich. Ja, Boh-wie, sagt der Azubi. Auf sehr deutschtümelnde Andrea Berg’sche Weise. Neues Video, sagt Alex. Sollten sich schämen, sowas zu zeigen, sagt die Kundin, die den Tisch mit den Billig-DVDs nach Schnäppchen abgrast, und rückt kopfschüttelnd ab in Richtung Kasse. Blackstar, sagt Alex. Danke, sage ich. Nichts für ungut, sagt der Azubi und sieht beifallheischend hinüber zu Alex, der den Eindruck macht, als würde er in Festanstellung hier arbeiten, seit Jahr und Tag, der fossile Fels in der Brandung, wenn in der Vorweihnachtszeit die Horden hereinbrechen, an hoffnungslos verregneten verkaufsoffenen Samstagnachmittagen, um ihre Liebsten mit den neuesten i-Phones, Pads und Pods zu beschenken.
Also zurück ins Mercado (sechster Kreis), die Rolltreppe hinauf bis unters Dach, in die zeitgemäß abgewrackte Bücherhalle mit dem PC, der jedem frei zur Verfügung steht. Und dort, im Dunste der von lesehungrigen Passanten hereingetragenen Dezemberdunstschleier, erlebe ich eine Offenbarung. Gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten der Popgeschichte, in der jeder Star seine Zeit hat, ein paar wenige Jahre, bevor er verglüht, für alle sicht- und hörbar, am Firmament, um für den Rest seiner Tage als mehr oder weniger rechtschaffene Imitation seiner Selbst die letzten Paragrafen seiner Plattenverträge auszusitzen. Wie David Bowie. Der seine Zeit hatte. In den Siebzigern. Und das von den Beatles installierte Pop-ABC der Sechziger umbuchstabierte, bis er es irgendwann leid war und das Pop-ABC der Achtziger auszubuchstabieren begann. Und in einem nicht unüblichen popmusikalischen Schnippchen des Schicksals im selben Moment vom Undergroundsuperhelden zum Weltstar aufstieg, als ihm, wie so vielen anderen seiner Generation, Anfang/Mitte der Achtziger die Inspiration ausging. Der als Imitat seiner Selbst die Neunziger überdauerte, um irgendwann, kurz vor dem totalen künstlerischen Bankrott, zum späten rechtschaffenen Schluss zu kommen, es wäre an der Zeit, sich ein für allemal ins Private zurückzuziehen, um den in den Seventies geschaffenen Mythos nicht dauerhaft vom Sockel zu stürzen, an dessen Fuß ihm Panther, Löwe und Wölfin grünspanübersät, doch ergeben wie eh und je huldigen.
Doch halt!, nein!, der Bowie, dessen Langspielplatten die Freundinnen meiner Mutter auflegten, wenn sie sich selbst verwöhnten, hinter bonbonfarben gestrichenen Hamburger oder Berliner Heroinchictüren, mit allerlei delikatem Spielzeug, teuren Lippenstiften und billigem Sekt und Kaviar vom Edeka um die Ecke, während ihre langmähnigen Hippiefreunde, die den thin white duke hassten wie die Pest, über eiskalte Februarflohmärkte pilgerten, auf der Suche nach dem neuesten Can-, King Crimson-, Cream-Bootleg, dieser faunenhafte, pfauenhafte, frauenhafte Bowie wäre unsterblich geblieben, was immer sich sein Schöpfer (Bowie selbst!) an Gemeinheiten ausgedacht hätte, seinen sphinxhaften Ruf zu ruinieren.
Doch wer, nach drei Jahrzehnten Leerlauf, Stagnation und ausgelutschten Hardrockstadionriffs, wäre in den allerkühnsten feuchtesten Träumen darauf gekommen, dass ER auferstehen würde, phönixgleich, aus den Aschen seiner früheren Inkarnationen, mit einem Song, der einem handstreichhaften pophistorischen Schlussstrich gleichkommt, nach sechs bewegten Jahrzehnten Rock and Roll? Ganz am Anfang der einsamen Straße steht Elvis, vor seinem Heartbreak Hotel, erstes Haus, linke Seite. Danach führt der Weg zu den Sternen. Beatles. Bob Dylan. Bolan. Blondie. Smiths. Prince. Kurt und Kanye. Am Ende des Weges steht der schwarze Stern. Mit seinem einzigen ewig einsamem Bewohner. Der schwarzen Amazone. Dünn und weiß unter dem divenhaften Gewand. Narzisstische Strippenzieherin hinter den Kulissen des schwarzen Todes. Manets letztem Gemälde entsprungen, das dieser nie fertigstellte, weil sich die Amazone aus dem Bild herausbewegte, auf ihn zu, und nein!, und ach!, und Tod! und Teufel!
Und doch liegt Trost in alledem und nicht alles ist nur Schmerz und Verzweiflung und ewiges Schmoren in Media Markt oder Mercado. Es ist licht dort, in der Finsternis. Im schwarzen Todesloch des schwarzen Planeten. Es ist Licht dort. Und ich weine, zum ersten Mal seit werweißwievielen Jahren, als Bowie, der immer groß war und Ehrfurcht gebietend und bedeutend, ein Jahrzehnt lang, doch niemals irgendjemanden zu Tränen rührte, die Stimme erhebt: »Something happened on the day he died«, singt er, majestätisch, seinem allerersten Alter Ego wiederbegegnend, dem ziellos und zeitlos im Universum dahintreibenden Astronauten Major Tom, ikonischer Held eines anderen Songs, aus einem anderen Zeitalter, Herbst 1969, dem Jahr meiner Geburt. Und alle Kreise schließen sich und mein übervolles Herz läuft über, mitten in der altehrwürdigen, heruntergekommenen Shopping-Mall-Bibliothek. Echte salzige, warme, brennende Tränen tropfen auf die speckig angelaufene Neunziger-Jahre-Tastatur.
Keine drei verkaufsoffenen Samstage, vier Adventssonntage, einen Heiligen Weihnachtsabend und eine unheilige Silvesternacht später ist David Bowie tot. Die Damen weinen, hinter verschlossenen weißgestrichenen Altbaueigentumswohnungskastentüren. Die Herren bestellen pflichtschuldig den letzten Best-of-Sampler bei Amazon/8ers