Intro
Anpfiff
Erste Liebe
Frauen, Männer und Fußball
Männer, Frauen und Fußball
Brot und Spiele?
»Beckenbauro«
Neuer, Schiller, Shakespeare
Endorphine
Die Sache mit dem Kaffeeservice
Verbuddelte Kaninchen
Aufstiegsträume
Ernst-Kuzorra-seine-Frau-ihr-Stadion
Schalke 05
Abpfiff
Danke
Biografie Dagrun Hintze
Impressum
»Die Frauen haben sich entwickelt in den letzten Jahren. Sie stehen nicht mehr zufrieden am Herd, waschen Wäsche und passen aufs Kind auf. Männer müssen das akzeptieren.«
Lothar Matthäus
Freund Jan und ich stehen nebeneinander am Tresen. Borussia Dortmund ist im DFB-Pokal gerade souverän gegen Paderborn weitergekommen, und wir hatten schon ein paar Biere zu viel.
Mit schwerer Zunge sagt Jan: »Ich habe nachgedacht. Du solltest mal was über Frauen und Fußball schreiben.«
»Und warum sollte das dann irgendwer lesen?«, frage ich und bestelle noch eine Runde.
»Weil du schlauer über Fußball quatschst als’n Mann.«
Eines Nachts im Herbst 1993 küsste ich am Brodtener Ufer einen jungen Schauspieler, in den ich mich während meiner Regie-Hospitanz bei einer Theaterproduktion verliebt hatte. Irgendwann zitterten wir vor Kälte, doch als ich vorschlug, einen wärmeren Ort – seine Wohnung – aufzusuchen, murmelte er plötzlich etwas von »Nichts überstürzen« und verabschiedete sich. Den Rest der Nacht verbrachte ich allein und einigermaßen gekränkt.
Schon am nächsten Abend war von »Nichts überstürzen« keine Rede mehr. Aber erst ein Jahr später – inzwischen lebten wir zusammen – brachte er den Mut auf, mir zu sagen, warum er mich damals nicht gleich mit nach Hause genommen hatte: wegen der Borussia-Dortmund-Bettwäsche.
Ich konnte ihm zu seiner Umsicht nur gratulieren. Denn dass ein Typ, der tagsüber die großen Rollen der Theaterliteratur studierte, nachts in Fußballvereinsbettwäsche schlief, hätte mich definitiv abgeschreckt – um nicht zu sagen: auf der Stelle die Flucht ergreifen lassen – geschweige denn, dass ich mir in dieser Bettwäsche irgendetwas hätte vorstellen können, das auch nur im Entferntesten mit Sex zu tun gehabt hätte. Zu dieser Zeit hielt ich Fußball nämlich für eine außerordentlich stupide Angelegenheit: Männer mit Schnauzbart und Bierfahne guckten 22 genauso unappetitlichen Geschlechtsgenossen dabei zu, wie sie einem Ball hinterherrannten, grölten primitive Schlachtgesänge und hauten sich nach dem Spiel gegenseitig auf die Fresse. Die schlimmsten von ihnen schwangen zudem Deutschlandfahnen und skandierten im Stadion »Sieg!« so, dass man das »Heil!« immer mithörte. Von den obszönen Geldsummen, die in diesem Betrieb unterwegs waren, gar nicht zu reden – für mich war Fußball eher Menschenhandel als Sport und außerdem ein System, in dem der ungezügelte Kapitalismus sich noch schneller ausbreitete als anderswo.
Bei der WM 1994 zeigte Stefan »Effe« Effenberg dem Publikum den Mittelfinger, und Deutschland flog im Viertelfinale gegen Bulgarien raus. Natürlich hatte ich mir das Spiel nicht angesehen, aber mein Schauspieler war so untröstlich, dass ich ihm zumindest die BVB-Bettwäsche aufzog, die in der hintersten Ecke unseres Schrankes verstaubte – was den Schmerz ein wenig linderte. Während des Champions-League-Finales 1997 stand er auf der Bühne und spielte den Ferdinand in Schillers Kabale und Liebe als besonders misanthropischen Helden – verpasste er doch gerade etwas sehr viel Emotionaleres als Luises romantische Liebe. Sein Bühnentod fiel deutlich kürzer aus als sonst, und kaum hatte er sich abgeschminkt, sprang er ins Auto, um die knapp 400 Kilometer nach Dortmund zu koffern, wo sämtliche Kantsteine schwarz-gelb angemalt worden waren und auf den Straßen das Freibier floss. Pünktlich zur Vorstellung am nächsten Abend war er zurück und hatte keine Sekunde geschlafen. Ich fand eine solche Verausgabung für – ja, was eigentlich? – vollkommen absurd. Und musste doch zum ersten Mal erkennen, dass es offenbar ein emotionales Zentrum gibt, das nur Fußball aktivieren kann. Und über das zu diskutieren beziehungsgefährdend sein würde.
Wir trennten uns dann wegen etwas anderem. Aber zur Geburt seines Sohnes schickte ich ihm vollkommen unironisch einen Satz BVB-Schnuller, schließlich kann man nicht früh genug anfangen mit der Identitätsbildung. Vor einiger Zeit traf ich ihn in Zürich – wir hatten einander lange nicht gesehen, nur gelegentlich SMS über die fußballerische Lage in Dortmund ausgetauscht und wollten eigentlich einen Spaziergang machen und uns unterhalten – doch er wirkte angespannt: »Ich kriege das Derby nicht aus dem Kopf.« Damit sprach er mir aus der Seele. Also suchten wir eine von deutschen Männern bevölkerte Kneipe auf, in der Bundesliga lief. Der BVB gewann gegen Schalke, und wir fühlten uns innigst miteinander verbunden, ohne dass wir jenseits knapper Kommentare zum Spielverlauf auch nur irgendein Wort gewechselt hätten.
Etwas musste mit mir passiert sein.
Wenn Frauen mir heute sagen, dass sie sich nicht für Fußball interessieren, weil sie keine Lust haben, 22 Typen dabei zuzusehen, wie sie einem Ball hinterherrennen, weil sie der Nationalismus bei internationalen Turnieren genauso abstößt wie Hooligan-Gewalt und weil das Ganze doch mit Sport gar nichts mehr zu tun hat, sondern nur noch mit Geld – geht es mir vermutlich wie den meisten Männern: Ich verdrehe innerlich die Augen und denke: »Jetzt geht das wieder los.« Dabei haben diese Frauen ja recht. Nur, dass das nicht der Punkt ist. Was sie nicht wissen können, denn sie haben offenbar nie erlebt, wie 90 Minuten lang alles außer Kraft gesetzt wird, was das eigene Leben ausmacht. Dann gibt es nichts Wichtigeres als die Frage, ob Boateng schon wieder fit ist oder ob das jetzt ein absichtliches Handspiel war oder nicht. Die Feststellung, dass Fußball eine größere Nähe zu den Dionysien der griechischen Antike aufweist als die meisten Theateraufführungen, die ich besuche, mag eine Plattitüde sein, zutreffend ist sie dennoch. An der Ekstase teilhaben zu können setzt allerdings zwei Dinge voraus: Wissen und Berührtsein. Wer sich nie mit den Grundlagen des Spiels beschäftigt hat, wird besondere technische Eleganz, die Genialität eines Spielzugs oder eine katastrophale Abwehrleistung nicht erkennen (und ergo auch nicht genießen oder verfluchen) können. Wer nie vor Wut über ein Kontertor oder eine Fehlentscheidung gegen den Couchtisch getreten hat, dem fehlt emotionale Identifikation. Und Empathie für Spieler, die nach einer Niederlage gemeinsam mit ihren Fans in Tränen ausbrechen und nach einem Sieg gar nicht mehr wegwollen von der Tribüne. Nicht nur für Fußball, sondern für jede Kulturtechnik gilt: Man muss sich schon intellektuell und emotional darauf einlassen, will man etwas erfahren. Eine Meinung zu entwickeln, die eine echte Meinung ist und nicht nur Gedöns, setzt Kenntnis und Vertiefung voraus.
Die Wahrheit liegt zunächst mal auf dem Platz. Und erst, wenn das jede und jeder kapiert hat, können wir all die kritikwürdigen Dinge besprechen, die der Fußballbetrieb zweifellos mit sich bringt. Das heißt nämlich auch, die Spannung auszuhalten, die es bedeutet, ein Spiel zu lieben und seine zum Teil unerfreulichen Begleitumstände trotzdem zu kritisieren und zu bekämpfen. Als Vergleich können wir gern den Kunstbetrieb heranziehen: Bloß weil die Ökonomisierung desselben Perversionen aller Art zeitigt (die zugegebenermaßen auch jede Menge Doofheit und Zynismus ins System einsickern lassen), ändert das nichts daran, dass die Kunst in ihrem eigentlichen Kern weiterhin eine utopische Möglichkeit birgt: Einen Platz außerhalb der Welt einzunehmen, um von dort aus den Hebel anzulegen.
Wo war ich? Bei Frauen, die Fußball mehrheitlich von außen betrachten und tendenziell ablehnen. Es sei denn, es ist zufällig WM oder EM und sie können lustige Ronaldo-Trikots anziehen, sich Schwarz-Rot-Gold auf die Wangen malen und das Video-Tagebuch von Cathy Fischer (seit 2015 Fischer-Hummels) scheiße finden. Dass sie damit in derselben Liga spielen wie jene Frauenmagazine, die »Fußball-Rezepte« und »die richtige Tischdeko zur EM« propagieren, scheint sie nicht zu stören. Wer auf solche Weise immer wieder die allerdämlichsten Geschlechterklischees reproduziert, muss sich nicht wundern, wenn in einer Studie aus dem Jahr 2014 fast 30 Prozent der deutschen Männer angeben, Fußballspiele lieber mit Kumpels zu gucken und sich durch die Anwesenheit ihrer Partnerin gestört zu fühlen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.
Es gibt unter all meinen Freundinnen nur eine einzige, mit der ich ernsthaft über Fußball reden kann. Sie heißt Tania, ist Schriftstellerin und im Besitz einer Dauerkarte für den FC St. Pauli. Ihre Stimme kann man auch im Stadion hervorragend verstehen, und ihre Spielanalysen sind so scharf wie ihre Ansichten zu Politik und Literatur. Nur einmal habe ich an ihrem fußballerischen Sachverstand gezweifelt und wurde dafür auf der Stelle bestraft: Ich war in Marseille und im Besitz einer Karte fürs Halbfinale gegen den Gastgeber der EM 2016. Tania schickte mir eine SMS, in der sie mich bat, falls jemand in meiner Nähe einen Rollkoffer mit sich führe und plötzlich laut auf Arabisch zu beten beginne, keinen interkulturellen Dialog zu versuchen, sondern zu rennen. In derselben SMS prophezeite sie, dass Deutschland bei diesem Spiel ausscheiden würde, und zwar wegen Hirnblockade, was uns als Schreibenden ja durchaus vertraut sei. Ich las die SMS in größerer Runde vor, alle reagierten mit Kopfschütteln. Wie die Sache ausging, ist bekannt und »Hirnblockade« nicht die schlechteste Beschreibung für das, was die arme La Mannschaft befiel. Niemals wieder werde ich die Kompetenz meiner Freundin infrage stellen. Und auch weiterhin mit ihr in die Kneipe gehen, um Fußball zu gucken – allerdings keine Champions-League-Spiele mehr, bei denen Bayern München auf dem Platz steht wie in der letzten Saison. Denn natürlich ist Tania gegen Bayern (ich bin auch gegen Bayern, aber nicht in der Champions League) und lässt das auch den Rest der Kneipe wissen, indem sie bei Gegentoren theatralisch jubelt. Achtzig Männer um uns herum schwanken zwischen Aggression und Faszination, einer pirscht sich heran und fragt: »Interessiert ihr euch wirklich für Fußball?« Den Rest des Spiels stellt er uns Testfragen, die wir leidenschaftslos beantworten. Als ein Bayern-Tor fällt und ich mich darüber freue, nennt Tania mich »Kapitalistenschlampe«.
Er: »Deine Freundin sagt Kapitalistenschlampe zu dir.«
Ich: »Ja, und?«
Noch am selben Abend finde ich von ihm eine Nachricht auf Xing, wir könnten doch mal einen Kaffee trinken gehen.
Wir gingen keinen Kaffee trinken, aber ich musste einmal mehr an die These von meinem Freund Jan, gebeutelter HSV-Fan, denken: »Eine Frau, die was von Fußball versteht, bekommt jeden Mann.« Ganz so weit würde ich nicht gehen, zumal ich nicht selten Männern begegne, die von Fußball wenig bis gar keine Ahnung haben und sich von zu viel diesbezüglicher Kompetenz auf weiblicher Seite eher bedroht fühlen. Derlei Kastrationsängste werden meist durch besonders selbstbewusste Bescheidwisserei kompensiert, was die Angelegenheit nur unerfreulicher macht: Nichts auf der Welt ist unsexyer, als sich Knalltüten-Kommentare anhören zu müssen, wenn’s auf dem Platz gerade ernst wird. Während Frauen sich gern damit hervortun, Mats Hummels »sooo süüß« zu finden (was zweifellos der Wahrheit entspricht, allerdings nicht das Geringste zur Sache tut, wenn der Elfmeter gegen Italien reinmuss), geben die fußballerisch unterbelichteten Herren lieber den Schlaumeier: »Wenn der HSV so weiterspielt, steigt er ab« (der HSV steigt nicht ab, ganz egal, wie er spielt), »Müller muss dringend ausgewechselt werden« (Müller wechselt man niemals aus, das hatte am Ende sogar Pep Guardiola begriffen und gilt selbst dann, wenn er an EM-Seuche leidet) oder, mein Lieblings-Idiotensatz, »Der Türke darf ja immer spielen, obwohl er nichts bringt« (wer Mesut Özil jemals live erlebt hat und ohne Blindenhund unterwegs ist, weiß, dass es sich bei diesem Typen um einen der feinsten Spieler des Kontinents handelt).
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