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Ein London-Krimi von

Edgar Wallace

Nacherzählt von

Alex Barclay

Das Silberne Dreieck

und

Der Tote im Park

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ISBN 978-3-03864-903-8

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin unter Verwendung von iStock-Fotos.

Copyright © 2017 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

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ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Das Silberne Dreieck
und
Der Tote im Park

1. KapitelDer Mann aus Dartmoor

2. KapitelDer Tote im Park

3. KapitelWer ist Mrs. Wilbraham?

4. KapitelDer geheimnisvolle Anruf

5. KapitelKeine Spur

6. KapitelEin Rattenloch in Soho

7. KapitelDas zweite Gesicht

8. KapitelFerngespräch

9. KapitelDie letzte Fahrt

1. Kapitel

Der Mann aus Dartmoor

Der Mann und die junge Frau trafen sich seit drei Wochen regelmäßig in einem kleinen schummerigen Lokal im Paddington Bezirk von London, ganz in der Nähe des Hydeparks. Zuvor hatten sie sich vier Jahre und zwei Monate nicht gesehen.

Weder der Wirt noch die Gäste in dem kleinen Lokal, das »Norfolk Inn« hieß, kannten den Mann oder die Frau.

Meistens war der Mann vor der Frau da. Und er kam mit dem Taxi. Die Frau hingegen reiste im eigenen Wagen an. So sah sie auch aus: hübsch, elegant und zumindest wohlhabend, doch auch darum bemüht, nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihr goldenes Haar hatte sie zu einer einfachen, straffen Frisur gekämmt. Sie trug keinen Pelz, obwohl es zu dieser Jahreszeit nachts kalt werden konnte und Sie sich zweifellos einen dieser teuren, modischen Mäntel hätte leisten können. Wenn sie hereinkam, redete sie mit niemandem, ging gleich zu dem kleinen Tischchen in der hinteren Nische, dort, wo so oft Liebespärchen Händchen hielten und einander tief in die Augen blickten. Dort hinten war es nahezu dunkel, besonders wenn die Kerze auf dem kleinen Tisch ausgeblasen wurde, und dagegen hatte der Wirt nichts einzuwenden, auch wenn er immer wieder dorthin schielte und sich vergewisserte, dass alles in Ordnung war, wenn ein Pärchen im Dunkeln munkelte, was immer man unter Munkeln auch verstehen wollte.

Der Mann gab dem Wirt noch mehr Rätsel auf als die Frau. Gut fürs Geschäft war er, denn er trank übermäßig viel Scotch, ohne Wasser und schien auch dann noch nüchtern, wenn andere schon sturzvoll gewesen wären.

Es handelte sich bei ihm um einen großgewachsenen, gutaussehenden Mann. Er schien immer aufgeräumt, lachte viel, scherzte mit der Frau, streichelte ihre zarten Hände, kniff sie sogar hin und wieder liebevoll in die Wange, und wenn sie verzweifelt schien, zog er sie schnell an sich.

Das auffälligste an dem Mann war seine ungesunde fahle Gesichtshaut und die stoppeligen Haare auf seinem

Schädel, die er unter einem schwarzen Hut verborgen hielt. Nur einmal, aus Versehen wahrscheinlich, nahm er ihn ab, und der Wirt bemerkte die Stoppeln.

Schnell setzte der Mann den Hut wieder auf, ging quer durch das Lokal zur kleinen Nische und hängte seinen schwarzen, eleganten Mantel über die Stuhllehne, bevor er es sich, mit dem Hut auf dem Kopf, bequem machte. Der Mann war in bestes Tuch gekleidet, trug einen maßgeschneiderten Anzug mit Nadelstreifen, Hemd und Krawatte und ein paar feine, rahmengenähte Lederschuhe, die mit äußerster Sorgfalt gepflegt zu sein schienen.

Der Wirt brauchte nicht mehr zu fragen, was der Mann zu trinken wünschte. Er brachte ihm den Scotch, und der Mann bezahlte immer gleich auch für den zweiten, den er noch trank, bevor die Dame erschien. Wenn sie da war, bemühte er sich offensichtlich, weniger zu trinken. Entweder wollte er vor ihr sein kleines Laster verbergen, oder er tat ihr einen Gefallen.

Der Hut blieb die ganze Zeit auf seinem Kopf und der Wirt fragte sich, ob er ihn auch im Bett tragen würde.

Betrunken war der Mann nie, wenn sie zusammen weggingen. Ab und zu, wenn gerade nichts zu tun war, blickte ihnen der Wirt durchs Fenster nach, wie sie die schmale Straße hinuntergingen, eng umschlungen wie jedes andere Liebespaar. Wahrscheinlich gingen sie hinunter zum Hydepark, setzten sich dort auf eine Bank und beguckten in romantischer Andacht die Sterne. Der Wirt wusste das natürlich nicht sicher. Der Wirt wusste überhaupt nichts. Aber er machte sich einen Reim, der für ihn passte.

Dienstag und Donnerstag war es, wenn sie sich trafen. Seit drei Wochen regelmäßig.

Der Wirt fragte sich, wie lange sie noch herkommen würden. Dies hing wahrscheinlich von vielen Umständen ab, die das Leben der beiden fortan bestimmen würden. Sie waren äußerst angenehme Gäste. Ungewöhnlich viel verdiente er zwar nicht an ihnen, nicht so viel wie zum Beispiel an Buddy Jones, der sich regelmäßig jeden Abend betrank, aber ein Pfund oder zwei ließ der Mann schon liegen, und der Wirt hatte sich bereits so sehr an die Anwesenheit des Mann und der Frau gewöhnt, wären sie an diesem Dienstag nicht gekommen, hätte er sich zumindest Gedanken gemacht.

Der Mann hieß Bernard Slane.

Vier Jahre und zwei Monate hatte er im Dartmoor-Gefängnis verbracht, und Dartmoor war alles andere als ein Ferienparadies, sondern ein sogenanntes Zuchthaus, in dem Schwerverbrecher untergebracht wurden, auch solche, die für ihre Taten mit dem Tode bestraft wurden.

Es gab Leute, die behaupteten, Dartmoor sei allein schon deshalb eine Filiale des Teufels, sozusagen ein kleines Nebengeschäft der Hölle, wo es leicht war, schwärzeste Seelen aufzutreiben. Tatsächlich war Dartmoor ein Gefängnis, das vor einer Ewigkeit gebaut worden war, mit schmutzigen grauen Mauern, Stacheldrähten, rostigen Gittern, Eisentüren, Wachtürmen und kahlen Zellen, in denen Männer dumpf vor sich hin brütend darauf warteten, dass eines Tages die Tür geöffnet würde und man sie herausholte, entweder in die Freiheit oder hinüber zum kleinen Hof, wo der Galgen stand.

Nein, wer vier Jahre und zwei Monate in Dartmoor verbracht hatte, wollte so schnell nicht wieder dorthin zurückkehren.

»Du machst dir unnötig Sorgen«, sagte der Mann deshalb an diesem Dienstagabend, während er die Hand der hübschen jungen Frau festhielt.

Die Kerze auf dem Tisch brannte, und der zuckende Flammenschein beleuchtete das schmale, scharfgeschnittene Gesicht von Bernard Slane. Eigentlich meinte er es ehrlich. Nie mehr wollte er sich dazu überreden lassen, ein Verbrechen zu begehen. Kein Plan konnte gut genug sein, kein Coup so verlockend, als dass er nicht mit leichtem Herzen hätte nein sagen können. Er war älter geworden in Dartmoor, und was nicht einmal die Experten erwartet hätten, auch vernünftiger. Sein Hitzkopf hatte sich abgekühlt, und er wollte nicht mehr versuchen, mit ihm gegen Mauern zu laufen, schon gar nicht gegen solche, die aus grauen Granitquadern gebaut waren, wie diejenigen dieses verrufenen Gefängnisses. Er hatte gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und er wusste jetzt, dass Verbrechen sich auf die Dauer nicht bezahlt machten. Man hatte ihn bestraft, und das war gut so. Jetzt würde er ein verantwortungsvolleres Leben leben. Jetzt würde er die Gesetze befolgen und niemandem mehr ein Leid antun. Das hatte er sich geschworen, am Tag, als das große Gittertor sich öffnete und er gehen konnte, wohin er wollte.

»Wir werden heiraten«, verkündete Bernard Slane an diesem Dienstagabend, und als er sah, dass ihr eine Träne über die Wange lief, blies er die Kerze aus. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich werde eine Arbeit finden, so dass ich eine Familie ernähren kann. Und ich werde gut sein zu dir und zu unseren Kindern, das verspreche ich dir!«

Die Frau sagte nichts. Mit einem Spitzentüchlein tupfte sie sich die Tränen vom Gesicht. Sie war wirklich eine sehr schöne Frau, mit glatten feinen Gesichtszügen und tiefen dunkelbraunen Augen, die einen eigenartigen Kontrast zu ihren blonden Haaren bildeten.

»Ich wünschte, wir könnten uns öfter sehen«, sagte Bernard Slane. »Hast du ihm noch nicht gesagt, dass wir uns treffen?«

»Nein. Wie könnte ich.« Die Frau lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.

»Fürchtest du dich vor ihm?«

»Nein. Er ist ein guter Mann.«

»Daran zweifle ich nicht.« Für einen Moment klang leiser Spott in seiner Stimme, die Frau hörte es deutlich, und es tat ihr weh, wenn er so war, so herablassend und spöttisch.

»Er trinkt nicht, nicht wahr?«, stichelte er weiter.

Sie holte tief Luft, gab ihm jedoch keine Antwort. Er dachte daran, noch eine Scotch zu bestellen, aber das tat er nicht. Stattdessen nahm er eine Schachtel Players aus seiner Anzugjacke. »Ich wollte dir nicht weh tun«, sagte er. »Dein Vater ist ein guter Mann. Ich verstehe, dass er sich um deine Zukunft Gedanken macht. Trotzdem wirst du ihm einmal sagen müssen, dass wir uns treffen.«

»Er weiß noch nicht einmal, dass du entlassen worden bist«, erwiderte die Frau leise.

Bernard Slane zündete eine Zigarette an.

»Er schuldet mir Geld«, sagte er, nachdem er die Flamme ausgeblasen hatte, nahm einen Zug von der Zigarette und blies den Rauch zur gewölbten Decke der kleinen Nische hinauf.

»Einmal hatte er viel Geld«, sagte die Frau, und jetzt klang ihre Stimme hart. »Seine Frau hat das Geld verschwendet. Bis auf den letzten Penny. Jetzt ist er fast pleite. Es fällt ihm sogar schwer, sich über Wasser zu halten. Das Geschäft läuft schlecht. Es ist eine schlimme Zeit für alle.«

»Und deine Kleider? Wer hat dir die Kleider gekauft und alles? Du machst nicht den Eindruck, als ob es dir schlecht ginge.«

»Du weißt, dass ich eine Anstellung habe! Ich verdiene mein eigenes Geld!«, sie löste sich von ihm. »Das habe ich früh gelernt, Bernard. Meine Mutter hat das immer zu mir gesagt, als sie noch lebte. Sei tüchtig in der Schule, hat sie gesagt, und lerne einen guten Beruf, damit du einmal von niemandem abhängig bist.«

»Abhängig wie sie es war?«

»Ja. Sie hatte keinen Beruf. Nichts. Vater hat sie geheiratet, als sie achtzehn war. Damals ging seine Praxis gut. Damals war er ein angesehener Arzt und einer der bekanntesten Chirurgen Londons. Die Eltern meiner Mutter wollten nur eine gute Partie für ihre Tochter. Alles andere war ihnen egal. So hat Mutter geheiratet, und sie hatte insofern Glück, dass Vater gut für sie sorgte, bis sie krank wurde und starb.«

»Und du hast dir jedes Wort zu Herzen genommen, das sie dir gesagt hat?«

»Ja. Ich ging zur Schule, und ich sah zu, dass ich vorankam. Nach der Schule arbeitete ich, um Geld für mein späteres Studium aufzubringen. Jetzt habe ich ein gutes Auskommen, Bernard, und ich bin auf niemanden angewiesen.«

»Trotzdem möchte ich für dich sorgen. Ich habe die ganze Woche nach einem Job gesucht. Von Pontius bis Pilatus bin ich gelaufen. Ohne Erfolg. Wir haben zu viele Arbeitslose in London. Wenn es so weitergeht, ziehe ich nach Wales und versuche, als Kumpel in einer Kohlengrube angeheuert zu werden.«

Jetzt lächelte sie, doch sein Gesicht blieb ernst.

»Glaube mir, ich meine es wirklich«, sagte er.

Sie nickte. »Ich glaube dir«, sagte sie, und er küsste sie ganz sanft auf die Lippen. Irgendwann verließen sie das kleine

Lokal und spazierten durch die Nacht hinunter zum Hydepark. Es war kalt. November. Nebel kroch durch die Stadt, und es war niemand auf der Straße. Die Parkbänke standen im nassen Laub. An den kahlen Bäumen glitzerte Raureif.

Nicht einmal Verliebte trafen sich in einer solchen Nacht im Park.

Bernard Slane wischte sich den Lippenstift vom Mund. Er schlenderte die Bayswater Street entlang, nördlich des Hydeparks. Die Bayswater gehörte zu den Hauptverkehrsstraßen Londons, aber es war jetzt etwa elf Uhr in der Nacht, und nur ab und zu fuhr ein Auto langsam auf dem glitschig nassen Asphalt vorbei.

Slane hatte kein Taxi gerufen. Er rechnete damit, dass ihm unterwegs eines begegnen würde, und so schaute er sich immer um, wenn er Motorengeräusch hörte, das sich ihm von hinten näherte.

An der Ecke Albion Street blickte er auf die Uhr. Er hatte richtig geschätzt. Fünf Minuten nach elf. Genau die richtige Zeit, ans Vergessen zu denken, sich zu überlegen, in welchem der Lokale an der Regent Street am Rande von Soho, er noch zu einem Drink einkehren sollte. Viel Geld hatte er zwar nicht mehr in der Tasche, aber für zwei, drei Whiskys in einer der billigen Pubs reichte es bestimmt noch.

Unschlüssig blieb Bernard Slane stehen, sah sich kurz um und entdeckte das beleuchtete Schild eines Pubs an einer Häuserecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Im Begriff, die Straße zu überqueren, fiel ihm ein, dass er ihr versprochen hatte gleich nach Hause zugehen. Vier Jahre und zwei Monate hatte er keinen Alkohol trinken dürfen, nur dünnen Kaffee der wie Wasser aus einem Fischteich schmeckte. Warum nur wollte Sie nicht verstehen, dass er ab und zu einen Scotch brauchte? Ein Schlückchen in Ehren half ihm, leichter mit allem fertig zu werden und einige Dinge aus der Vergangenheit zu vergessen.

Einmal war er ein erfolgreicher Makler gewesen. Einmal war die ganze Welt für ihn genauso in Ordnung gewesen wie für ihren Vater. Aber die Wettleidenschaft hatte ihn in den Ruin getrieben.

Das war alles lange her. Manchmal war ihm, als hätte er ein neues Leben angefangen. Manchmal schien es, als wäre seine Vergangenheit etwas, was er nur geträumt hatte und was nicht wirklich geschehen war. Jetzt hatte er noch einmal eine Chance, und die wollte er nicht vertun. In den vergangenen vier Jahren und zwei Monaten hatte sich alles verändert. Jetzt war er auf einer anderen Welt ein anderer Mensch.

Motorengeräusch schreckte Bernard Slane aus seinen Gedanken. Der grelle Lichtkegel eines Suchscheinwerfers traf ihn und erlosch. Aus den Nebelschleiern tauchte ein dunkles Auto auf, schemenhaft wie ein schwarzes, buckliges Monster. Das Auto fuhr dicht an den Bürgersteig heran, und erst jetzt konnte Slane erkennen, dass es sich um einen Streifenwagen der Paddington Polizei handelte.

Der Polizist neben dem Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter. Er hatte ein rundes, glattrasiertes Gesicht mit engstehenden kleinen Augen.

»Alles in Ordnung, Sir?«, erkundigte er sich.

Slane lächelte, obwohl er innerlich völlig durcheinander war. »Ich hoffe, dass bald ein Taxi des Weges kommt«, antwortete er.

»Wohin wollen Sie denn?«

»Nach Hause«, sagte Slane. »Ich wohne in der City.«

»Well, dann viel Glück.« Der Polizist lehnte sich wieder zurück, und während der Streifenwagen beschleunigte, kurbelte er das Fenster hoch.

Bernard Slane blieb stehen und holte erst einmal tief Luft. Allmählich wurde er ruhiger und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis ihm nicht mehr die Nerven zu flattern anfingen, wenn er einem Polizisten begegnete oder auch nur einen Streifenwagen vorbeifahren sah. Auf dem Kerbholz hatte er nichts mehr. Gemeldet war er, so wie man es ihm aufgetragen hatte, und an diesem Abend hatte er noch nicht einmal so viel getrunken, dass er sich duselig gefühlt hätte.

Der Streifenwagen war im Nebel verschwunden, als Big Ben elfmal anschlug. Die vertrauten Klänge der alten Glocke im Uhrturm des Parlaments hallten gedämpft durch die Nacht. Slane zählte mit, während er weiterging, den Hut tief in die Stirn gedrückt und den Mantelkragen hochgeschlagen. An der Park Lane, einer breiten Straße, die am östlichen Rand des Hydeparks entlangführte, würde er schnell ein Taxi auftreiben können, da dort mehr Verkehr war.

Der Marble Arch, ein mächtiger verschnörkelter Torbogen aus weißem Marmor und im Stil des römischen Konstantinbogens gebaut, ragte von Scheinwerfern beleuchtet aus den Nebelschleiern. Einmal, so wusste Slane, hätte dieses Tor der Eingang zum Königspalast werden sollen, aber dann wurde festgestellt, dass die mittlere Durchfahrt zu schmal war für die Staatskarossen, und so war dieses klotzige Gebilde einfach hier an der Nordostecke des Parks hingestellt worden. Etwas davon entfernt befand sich die alte Hinrichtungsstätte Londons. Heute war sie nur noch durch eine Mahntafel gekennzeichnet, wo einmal der Galgen gestanden hatte.

Slane wurde der Hemdkragen eng, als er schnell an Ort der schrecklichen Geschehnisse vorbeiging. Mit Glück war er davor bewahrt worden, am Galgen zu enden, denn hätte er damals beim Überfall auf die Bank seine Pistole gezückt und den Bankclerk getötet, wäre ihm die Todesstrafe sicher gewesen.

Nicht nur wurde Slane bei solchen Gedanken der Kragen eng, er geriet auch ins Frösteln, doch in diesem Moment bemerkte er ein Taxi auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer drehte den Kopf und blickte herüber. Bernard Slane winkte ihm zu und rief: »Taxi! Taxi!«

Erst schien es, als wollte der Fahrer nicht reagieren; das Taxi fuhr fast bis zum Marble Arch, bevor es wendete und ihm wieder auf der Straße entgegenkam.

2. Kapitel

Der Tote im Park

Der Hausportier des Albert Palace Mansion, eines der exklusivsten Mietshäuser im Zentrum Londons, hieß John Warren Dease. So stand es am Anmeldepult neben dem Hauptportal in der großen Marmorhalle, aber die meisten Leute die hier residierten, nannten ihn nur John.

John Warren Dease nahm seinen Beruf sehr ernst, und die Leute, die in den Wohnungen des Albert Palace Mansion residierten, schätzten die zuverlässige Art dieses einfachen Mannes, der auf seine Uniform so stolz zu sein schien, als wäre es die eines Genereals. Sie stand ihm gut, war für ihn maßgeschneidert worden, und nie konnte man auf dem dunkelblauen Stoff auch nur ein Stäubchen oder vielleicht gar eine Hautschuppe entdecken.

In dieser Woche hatte John Nachtdienst. Das machte ihm nichts aus. Er war nicht verheiratet und hatte nach Einbruch der Dunkelheit keine ernstzunehmenden Verpflichtungen. Manchmal besuchte er seine alte Mutter, die draußen in Shoreditch in einem Altersheim ein kleines Zimmer bewohnte. Das vergangene Wochenende hatte John mit ihr verbracht, hatte mit ihr Tauben gefüttert, unten an der Themse, wo sie glücklich war, wenn sie Schiffe sah, die Hörner ertönten und sie den Geruch des Meeres riechen konnte. Das alles brachte ihr Erinnerungen, und John Warren Dease war froh, dass er seine Mutter noch hatte und dass er sie ab und zu übers Wochenende glücklich machen konnte.

Jetzt war Dienstag.

John saß in seinem kleinen Office, von dem aus er einen freien Blick über die Halle hatte. Er brauchte kaum den Kopf zu bewegen, um die Treppe, die Tür des Aufzuges und das Portal im Auge zu behalten, und so entging ihm kaum je ein Gast oder ein Bewohner des Hauses, schon gar nicht des Nachts, wenn weniger Betrieb war.

In dieser Nacht war Mr. Slane noch nicht zu Hause. Das wusste er. Und Mr. Fredericks mit Frau und Tochter vom fünften Stock waren auch noch nicht von der Wohltätigkeitsveranstaltung zurückgekehrt. Im vierten Stock fehlte Mrs. Jones, doch die kam nie vor Mitternacht, weil sie als Bardame arbeitete, was natürlich außer John Warren Dease im Haus niemand wusste.

Es war fast Mitternacht, als der Portier seine Tasche hervorholte. In einer Thermosflasche hatte er Tee und, säuberlich in ein Papier eingewickelt, ein Sandwich: Käse, Schinken, eine zerhackte Essiggurke und zwei Zwiebelringe. John Warren Dease aß jede Nacht pünktlich um zwölf das gleiche. Er war sehr darauf bedacht, ein geregeltes Leben zu führen, und obwohl er es zu einer seiner Tugenden hatte werden lassen, sich niemals um das Privatleben seiner Mieter zu kümmern, konnte er doch den jungen Mister Slane nicht verstehen, der mal zu dieser, mal zu jener Zeit in seiner Wohnung war, scheinbar keiner geregelten Arbeit nachging und überhaupt einen recht leichtlebigen Eindruck machte.