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Übersetzung aus dem Englischen von Inge Leipold
ISBN 978-3-492-98251-1
Juli 2017
© 1996 Gemma O'Connor
Titel der englischen Originalausgabe: »Falls the Shadow«, Poolbeg Press Ltd, Dublin 1996
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2003
© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © Wesley Cowpar /Shutterstock
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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In liebevoller Erinnerung Kate O’Brien zugeeignet
Sämtliche Gestalten in dem Buch sind frei erfunden, ebenso die Handlung; jede Ähnlichkeit mit irgendwelchen – lebenden oder toten – Personen wäre reiner Zufall. Auch der Schauplatz des Geschehens ist meiner Phantasie entsprungen. Der Fluß Glár und sein Mündungsgebiet haben eher Ähnlichkeit mit einer bestimmten Bucht in Connemara als mit irgend etwas an der Küste von Cork. Und obwohl die Grafschaft sich eines Passage West und Waterford sich eines Passage East rühmen kann, sind jedoch Passage South wie auch Duncreagh, Trianach und Daingean fiktiv.
Die Ortsnamen sind meist gälischen Ursprungs: Daingean = Zitadelle; Glár = Treibsand, Schlick; Trianach = Nistgebiet der Seeschwalben. Daingean ist zudem das irische Wort für Dingle in Kerry, was eine (zumindest für mich) schöne Verbindung zu Recaldos Herkunft knüpft.
»Bemerkt habe ich sie, als ich gestern abend mit dem Boot eingelaufen bin«, erklärte John Spain. »Allerdings habe ich dem nicht allzuviel Bedeutung beigemessen. Abends sehe ich sie oft, vor allem bei Ebbe, wenn sie da unten bei der verkrüppelten Eiche steht.«
Gelegentlich lehnte die amerikanische Dame lässig und elegant wie eine Tänzerin an diesem Baum, rauchte und blickte schweigend auf das Wasser; etwas an der Art, wie sie sich so zur Schau stellte – nicht nur das schöne Gesicht und der geschmeidige Körper, nein –, die Gesamterscheinung war Balsam für seine Augen: der entrückt-romantische Blick des Weitsichtigen; er nahm sie durch einen verklärenden Schleier wahr. Ihre extravagante Art, sich zu kleiden, verzauberte ihn zusätzlich. Lange, fließende, durchsichtige Gewänder in fahlen Farben, immer ungemustert: blau, grün, hin und wieder weiß.
»Oft hat sie sich ein Tuch um den Kopf gewickelt«, fügte er unvermittelt hinzu. »Wahrscheinlich zum Schutz vor der Feuchtigkeit ... vor der Brise vom Meer her.« Einen Augenblick lang hielt der alte Mann inne und rieb sich fahrig den Nacken. »Möglicherweise hat das Licht mich getäuscht, aber nie wäre ich auf die Idee gekommen...« Dann verfiel er in eine Art Trancezustand; als er schließlich mit seiner Geschichte fortfuhr, klang seine Stimme, als wolle er sich selbst von dem überzeugen, was er gesehen hatte.
»Ich war ein bißchen früher draußen als sonst. Der Morgennebel war noch nicht ganz aufgeklart, als ich sie entdeckt habe. Es war, als wäre sie aus einem Gemälde getreten, aus einem Buch oder aus einem Film...« Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. »Atemberaubend, wunderschön war sie in dem seltsamen, geheimnisvollen rosafarbenen Licht.« Beinahe haßerfüllt sah er den Polizisten an, als schäme er sich seiner poetischen Entgleisung. Recaldo schwieg unnachgiebig, wartete, daß er weiterredete.
»Ich habe den Motor gedrosselt und das Boot mit der Strömung treiben lasssen, während ich mir eine Pfeife angezündet und zurückgelehnt die Dämmerung genossen habe. Man erlebt nicht oft so einen Tag, also versucht man, das Beste daraus zu machen.« Er schloß die Augen und holte tief Luft. »Erst als ich um die Biegung getrieben bin« – mit ausgestrecktem Arm beschrieb er den Verlauf der Küstenlinie an der Stelle – »habe ich sie gesehen. Sie war in strahlendes Licht getaucht, stieg aus wirbelnden Nebelschwaden empor. Anfangs wollte ich meinen Augen nicht trauen, Gott vergebe mir, aber es war, als wandle sie auf dem Wasser.«
Ein anderer bin ich denn unter der huldreichen Herrschaft Cynaras
Vergangene Nacht, oh, gestern nacht, senkte sich zwischen ihre und meine Lippen
Dein Schatten, Cynara! Dein Odem streifte
meine Seele inmitten der Küsse und des Weins.
Und verzweifelt war ich, erschauderte ob einer vergangenen Leidenschaft,
O ja, verzweifelt war ich und senkte mein Haupt:
Stets treu war ich dir, Cynara, auf meine Art
Wo der Glár sich weitet und bei dem unmittelbar an der Küste gelegenen Dorf Passage South ins Meer mündet, ist er fast einen Kilometer breit. Dort kräuselt das Wasser sich verspielt um eine Anhäufung schroffer Felsen, und dort läßt sich am besten fischen; wie eine Unmenge kleiner Fahnenstangen ragen die Markierungen der Hummerkörbe aus der See. Ihre zerfetzten Fähnchen tanzen flatternd auf dem Wasser, kleinen, von Windböen zerzausten Pferdeschwänzen gleich. Den jungen Seglern, die an den Wochenenden hierherkommen, dienen sie als eine Art Miniaturslalomstrecke, und wie wildgewordene Fledermäuse schlängeln die kleinen Laser sich zwischen ihnen durch.
Es war Mitte September. Nach etlichen Regentagen und nahezu jeder Spielart von Herbststürmen dämmerte ein heller, sonniger Dienstagmorgen mit herrlichem, wenn auch kühlem Wetter herauf, das wie durch ein Wunder mittags noch nicht umgeschlagen war. Oben auf der Klippe stand Sergeant Francis Xavier Recaldo – Amateurmusiker und gelegentlich Reiseschriftsteller –, der die gesamte Polizeieinheit von Passage South repräsentierte, und ließ seinen Blick übers Meer schweifen; sein starkes Fernglas hatte ein blau gestrichenes Fischerboot im Visier, das zwischen den Inseln auf der anderen Seite der Bucht Verstecken spielte.
Nach ein paar Minuten begann sein Funktelephon zu knistern. Er preßte den Hörer ans Ohr und lauschte. »Der versucht uns zum Narren zu halten«, antwortete er. »Aber jetzt müßte er eigentlich gleich in dein Blickfeld kommen ... jetzt. Siehst du ihn? Umrundet gerade Cormorant Island. Hast du ihn? In Ordnung, bis nachher, wie abgemacht.« Er schob die Antenne wieder zusammen und hakte den Hörer an seinem Gürtel fest.
Recaldo – für seine Freunde Frank und FX für diejenigen, die sich für seine Freunde hielten – war über einen Meter neunzig groß und sah seinen romanischen Vorfahren ähnlich. Üppige blauschwarze Mähne, tiefblaue Augen mit schwarzen Wimpern, von schweren Lidern verschattet. Adlernase und ein sinnlicher Mund. Ein zurückhaltender Mensch, der eine seltsame Ruhe ausstrahlte. Außergewöhnlich förmlich und äußerst höflich; nur selten vergaß er seine guten Manieren. Oberflächliches Geplauder fiel ihm allerdings schwer, und er schloß nicht so ohne weiteres Freundschaften. Im großen und ganzen fanden Frauen ihn anziehend, Männer hingegen weniger, da er kein besonderes Interesse daran hatte, mit ihnen zu klüngeln. Taktgefühl und Diskretion waren bei einem Vertreter des Gesetzes auf dem Land von Vorteil, und über beides verfügte Recaldo. Gleichgültig, welche Informationen ihm zugetragen wurden, er behielt sie eisern für sich: ein guter Polizist, aufgeschlossen, doch nie von aufdringlicher Freundlichkeit.
Mittlerweile ging es auf Mittag zu. Seit der Morgendämmerung war er auf seinem Überwachungsposten und fühlte sich jetzt irgendwie ausgelaugt. Er zog sich an einem großen glatten Felsen hoch und streckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Vor drei Jahren – damals war er achtunddreißig – hatte er nach einem anstrengendem Squashspiel einen Herzanfall gehabt. Streß und sechzig Zigaretten am Tag waren wohl mit daran schuld gewesen. Aber auch seine Gene hatten eine Rolle gespielt: Sein Vater war mit fünfundfünfzig an einem Herzinfarkt gestorben. Die Bypass-Operation war erfolgreich verlaufen – allerdings hatte die Erkrankung seiner vielversprechenden Karriere im Polizeihauptquartier von Dublin ein Ende gesetzt. Und seiner Ehe, obwohl die schon seit einiger Zeit zerrüttet gewesen war.
Ironischerweise war er, als er sich – entgegen seinen eigenen Erwartungen – allmählich erholte, zu dem Schluß gekommen, daß er sich nichts sehnlicher wünschte, als vom Fließband einer vorhersagbaren Laufbahn herunterzuspringen und seine Lebensweise von Grund auf zu ändern. Weil dieser Wunsch so stark gewesen war, hatte er seine frühzeitige Pensionierung beantragt und seine Frau nicht in diese Pläne eingeweiht. Für Sheila hatte dies – durchaus verständlich – das Faß zum Überlaufen gebracht. Ihre Scheidung war eine der ersten im Rahmen der neuen Gesetzgebung gewesen. Sie waren übereingekommen, sich zu trennen, noch ehe ihm klargeworden war, daß fünfzig Prozent von dem, was nach der Scheidung blieb, nicht einmal reichte, um sich ein Cottage zu kaufen, in das er sich als Pensionär zurückziehen könnte, ganz zu schweigen von dem Haus, das er in seinen Träumen auf dem Familiengrundstück in der Nähe von Dingle gebaut hatte. Das Ganze schien aussichtslos, bis ein Freund ihm den Tip für die Stelle in Passage South gab. Zwar lag das nicht in seinem geliebten Kerry, sondern in Cork, der angrenzenden Grafschaft, doch das war nahe genug.
Es bedurfte beträchtlicher Überredungskunst, seine Vorgesetzten dazu zu bringen, ihn dorthin zu versetzen – die Polizei stufte ihre Beamten nicht gerne herunter –, doch letztlich setzte er sich durch. Körperlich angeblich geheilt, jedoch mit völlig ramponiertem Gefühlsleben, traf er in Passage South ein. Seine gesamte weltliche Habe bestand aus einem frisch erstandenen Armeejeep, der bereits acht Jahre auf dem Buckel hatte, zwei Koffern voller Kleidungsstücke, einem Schrankkoffer mit Taschenbüchern, einem abscheulichen Kofferradio und einer umfangreichen CD-Sammlung.
Seine Söhne – beide im Teenager-Alter – weigerten sich, ihn in der »finsteren Provinz« zu besuchen, doch mit Sturheit schaffte er es, eine vernünftige Beziehung zu ihnen aufzubauen. Bei seinen Besuchen in Dublin richtete er sich nach ihnen; außerdem hatte er mit der Zeit gelernt, auf ihr Alter und die entsprechenden Vorlieben Rücksicht zu nehmen. Daß er Musiker war, half ihm dabei. Zu seiner eigenen Belustigung entwickelte er ein echtes Interessse an der Musik, die gerade in war. Seltsamerweise trug seine Liebe zur Musik auch dazu bei, daß man ihn in Passage South akzeptierte – obwohl seine hartnäckigen Versuche, segeln zu lernen, vielleicht noch wichtiger waren.
Und genau danach sehnte Recaldo sich heute vormittag, er wollte in seinem kleinen Boot sein. Unruhig ging er zum Klippenrand und blickte auf die Szenerie unter ihm. Das in der Sonne glitzernde Meer mit den wie Juwelen darin verstreuten Inseln stellte eine ungeheure Versuchung dar. Einige kleine Boote flitzten durch die Bucht – die Fischer und Segler genossen den Tag, der möglicherweise der letzte schöne in diesem Jahr war; mitten unter ihnen entdeckte er seinen Freund John Spain in seinem robusten Holzboot. Der Alte tuckerte fast jeden Morgen die paar Meilen von seinem Cottage aus die Bucht hinunter und verbrachte dann drei oder vier besinnliche Stunden damit, zu fischen, Köder zu fangen oder seine fünf Hummerkörbe zu überprüfen.
Von seinem Aussichtpunkt konnte Recaldo gerade noch den goldfarbenen Sandstrand von Trabuí auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht erkennen, wo er später mit Cressida Sweeney verabredet war, der er seit ein paar Monaten den Hof machte. Heimlich natürlich, und das hieß, verbunden mit all der Geheimniskrämerei und den Unannehmlichkeiten, die derlei mit sich brachte. Und Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Samstag und Sonntag hatte er bei seinen Söhnen in Dublin verbracht und sie daher seit vergangenem Freitag nicht mehr gesehen. Er hatte die Hoffnung, sie zu überreden, ihren widerwärtigen Ehemann zu verlassen. Und mit ihm zusammenzuleben. Wie stets weckte der Gedanke an sie maßlose Sehnsucht ihn ihm – er hatte entdeckt, was Liebe bedeuten kann, als er am wenigsten damit gerechnet hatte, und sie erfüllte ihn mit unbändiger Freude.
Trabuí lockte. Oder vielleicht war es der Gedanke an Cressie, der seine Vorstellungskraft beflügelte und ihn den Entschluß fassen ließ, den Nachmittag freizunehmen und über die Bucht zu segeln, um sich mit ihr zu treffen. Eine romantische Geste, um zu zeigen, daß das Glück es ausnahmsweise gut mit ihnen meinte. Am Tag zuvor hatte er einen einigermaßen akzeptablen Vertrag für seine erste Sammlung von Reisegeschichten unterschrieben. Er streckte die Arme aus und rief: »Ich danke dir, ich danke dir, Gott, oder wer auch immer seine Hand über mich hält.« Dann pfiff er seinem Hund.
Es dauerte etliche Minuten, bis Barker, ein Labradormischling, auf ihn zusauste und dabei wie wild bellte. Als sie am Hotel Atlantis vorbeikamen, rief der alte Gärtner ihnen einen Gruß zu. Recaldo winkte zurück, blieb jedoch aus Angst, aufgehalten zu werden, nicht stehen. Er war auf der Hut vor Finbarr Spillane, einem hingebungsvollen Klatschmaul.
Sein Zuhause war ein kleines, in neuerer Zeit hinten an die Terrasse einer der leerstehenden Ferienwohnungen angebautes Häuschen. Er nahm sich kaum Zeit, ein belegtes Brot hinunterzuschlingen, dann ging er ins Dorf hinunter, das in der Sonne friedlich vor sich hin dämmerte.
Passage South hatte den Vorzug einer atemberaubend schönen Lage. Die ursprüngliche, dichtgedrängte kleine Häuseransammlung war im Lauf der Jahre gewachsen und hatte sich im großen und ganzen ihren jahrhundertealten Zauber bewahrt. Das Dorf breitete sich von dem kleinen Hafen in der Ortsmitte fächerförmig einen sanft ansteigenden Hügel hinauf aus und war durch die Hauptstraße von Ost nach West zweigeteilt. Die Zahl der etwas mehr als tausend Bewohner des Dorfes und des zugehörigen Hinterlandes wuchs im Verlauf der Sommermonate gelegentlich auf das Dreifache an, doch ab Ende August glitt die kleine Ortschaft wieder in verschlafene Normalität ab. Das war die Zeit, in der die ortsansässigen Segler, zu denen jetzt auch Recaldo gehörte, zu ihrem Recht kamen, denn der September war manchmal der schönste Monat des ganzen Jahres.
Er ging weiter zu dem aus zwei Räumen bestehenden Polizeirevier, das sich in der Duncreagh Road, gleich neben der Hauptstraße und in der Nähe der Kirche, befand. Normalerweise verbrachte er dort so wenig Zeit wie möglich. Wie das Glück es wollte, warteten nur drei Leute auf ihn, und letztlich dauerte es nicht mehr als eine Stunde, bis er ihre Probleme geklärt hatte. Um Viertel vor zwei schaltete er endlich das offizielle Telephon auf den Anrufbeantworter um, steckte sein Funktelephon in die Tasche, stieg in seinen uralten Jeep und fuhr Richtung Bucht.
Recaldo hatte sein kleines offenes Dingi, die Peig, am Ostufer der Insel Trianach, etwa eine Meile flußaufwärts von der Einfahrt zur Bucht entfernt – mit dem Auto waren es allerdings fünf Meilen –, auf dem Trockenen verstaut. Man erreichte die Insel über einen Damm, der von der Straße nach Duncreagh abzweigte, einer geschäftigen, sieben, acht Meilen landeinwärts gelegenen Marktstadt. Trianach hatte die From eines Dreiecks; die längste Seite war dem Fluß zugewandt, an dem sich drei, vier ausgedehnte Grundstücke aneinanderreihten, sämtliche im Besitz von Nichtortsansässigen. Auf beiden Seiten der Bucht wohnten zahlreiche Neubürger, und es wurden immer mehr. Die Einheimischen nannten sie Hereingewehte.
Verlassen stand das Dingi auf einem Flecken Niemandsland zwischen den beiden größten, ungefähr dreißig Meter voneinander entfernten Häusern. Die aufwendigsten Besitze auf Trianach befanden sich auf der Südseite; von dort aus hatte man einen Blick über die Bucht. Der rechts von ihm gelegene war ein umgebautes ehemaliges Lagerhaus und gehörte Evangeline Walter, einer Amerikanerin. Zu seiner Linken stand ein abscheulicher Ferienbungalow im Stil einer Ranch, den ein deutsches Paar dort hatte bauen lassen und der elf Monate im Jahr leer stand.
Nach dem verregneten Wochenende befand die Peig sich in erbärmlichem Zustand. Die Persenning war heruntergerutscht, so daß sich fast zehn Zentimeter brackiges Wasser in dem Boot angesammelt hatten. Recaldo zog die Heckzapfen heraus und kippte die kleine Jolle um, damit sie abtropfen konnte; anschließend zerrte er den Bootsanhänger über den Kies ins Meer.
Auf beiden Seiten des Flusses waren etwa ein Dutzend Jachten unterschiedlicher Form und Größe vertäut. Die protzigste, eine etwa zehn Meter lange Ketsch, gehörte Cressidas Mann V. J. Sweeney, einst ein erfolgreicher Geschäftsmann, jetzt jedoch so etwas wie ein Säufer. Unter den anderen waren mindestens vier oder fünf, die offenbar das ganze Jahr nicht benutzt wurden. Die übrigen gehörten größtenteils Ortsansässigen. Eine davon, die Cynara, eine gepflegte, acht Meter lange Schaluppe, war im Besitz von Mrs. Walters und nicht weit von der Stelle entfernt vertäut, wo ihr Garten zum Meer hin abfiel.
Es war schon fast drei Uhr, als Recaldo an Bord kletterte, das Segel der Peig anschlug, sich an die Ruderpinne setzte und vom Ufer abstieß. Binnen kurzem blähte eine steife Brise das Segel und beförderte ihn in die Strommitte.
Ein herrlicher Tag, um auf dem Meer zu sein. »Schöner Tag heute«, rief John Spain im Vorbeirudern. »Passen Sie auf, Frank, flußaufwärts in der Nähe von Whelans Garten treibt ein Baum im Wasser.« Zu seiner Überraschung bemerkte er Cressidas kleinen Sohn Gil, der aufrecht vorn im Boot saß und auf irgend etwas im Wasser deutete. Die Sonne schimmerte auf seinen blonden Locken. Kaum hatte er Frank erblickt, winkte er ihm aufgeregt zu und rief: »Tank!« Recaldo winkte zurück. Vermutlich waren die beiden losgefahren, um die Robben auf den Felsen bei der Einfahrt zur Bucht zu beobachten. Wie jedesmal wunderte er sich auch jetzt, woher der alte Mann die Kraft nahm, mit seinem kleinen, aber schweren Holzboot zurechtzukommen. Nachdenklich sah er ihnen nach; zwei Gedanken gingen ihm müßig durch den Kopf: Erstens hatte er nie zuvor das Kind allein in John Spains Boot gesehen, und zweitens hielt Gil, der fast taub war, sich meistens in der Nähe seiner Mutter auf. Folglich hätten er und Cressie möglicherweise einmal ein wenig Zeit für sich allein. Regelrecht übermütig wurde er, als ihr Bild in seinen Gedanken Gestalt annahm. Recaldo beschloß, nicht gleich nach Trabuí, sondern vorher nach Coribeen – so hieß ihr Haus – zu segeln; er hoffte, sie abzufangen, ehe sie zum Strand ging. Ihr Mann war übers Wochenende nach London gefahren, und wenn sie etwas Glück hatten, war er noch nicht zurück.
Es war ein Augenblick vollkommener Zufriedenheit. Ich bin glücklich, dachte er, während sein kleines Boot übers Wasser glitt. Heute bin ich glücklich; alles wird gut. Irgendwie würde die Situation sich klären lassen. Zusammen würden sie es schaffen. Nie zuvor war er einer Sache so sicher gewesen. Er summte ein Stück der Corrs vor sich hin, das er am Wochenende gehört hatte – »What can I do to...«. Wie kam es, daß das, was dieser Popsong beschrieb, so furchtbar sentimental klang, wenn er versuchte, es in Worte zu fassen?
Während Recaldo durch die Bucht und aus dem Blickfeld von Trianach lavierte, trat Mrs. Evangeline Walter aus ihrem Haus und schlenderte durch den Garten zum Ufer; in der rechten Hand trug sie einen Picknickkorb. Sie war von mittlerer Größe, wirkte aber, da sie ungeheuer dünn war, um einiges größer; sie trug eine hellblaue weite Hose und dazu eine lange Kasakbluse. Um den Kopf hatte sie einen Seidenschal geschlungen, dessen Enden im Wind flatterten. Am Ufer setzte sie den Korb ab, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich an einen verkrüppelten Baum, dessen Zweige über das Wasser hingen.
Ein teures Motorboot aus Fiberglas raste mit hochaufragendem Bug flußabwärts. Der Lärm war ohrenbetäubend. Scheinbar ziellos schlängelte es sich zwischen den vertäuten Jachten durch. Mrs. Walter beobachtete, wie es näher kam, hob dann den einen Arm und rief etwas. Das Boot beschrieb langsam einen Halbkreis, ehe es anlegte. Geschickt fing Mrs. Walter das Seil auf, das der Bootsfahrer ihr zuwarf, und schlang es um den Baumstamm. Ein gutaussehender Mann in marinefarbener Hose, gestreiftem Hemd und Blazer kletterte gewandt ans Ufer. Seine gekräuselten Haare waren graumeliert, seine Gesichtsfarbe war frisch und sein Lächeln hinreißend. Jeremiah O’Dowd, auch der Lächler genannt, war ihr Nachbar, ein zuvorkommender Herr, den die Einheimischen allerdings nicht in gleichem Maße schätzten wie die Neuankömmlinge, die er mit seinem Charme, den er nur allzugern spielen ließ, einwickelte; Mrs. Walter war eine seiner treuesten Bewunderinnen.
»Hi, Jer«, rief sie und lächelte ihm entgegen – eine attraktive Frau mit makelloser Haut und vollkommenen Zähnen. »Ist alles vorbereitet?«
Jer O’Dowd legte ihr den Arm um die Schulter. »Bist du dir dieser Sache wirklich sicher?« fragte er liebevoll. »Glaubst du, daß du das durchstehst?«
Mit einem Achselzucken, doch immer noch lächelnd, tat sie seine Bedenken ab. »Natürlich bin ich mir sicher, mein Lieber. Vertrau mir.«
Er wiegte sich auf den Ballen seiner zierlichen Füße hin und her. »Na schön, ich halte es trotzdem für einen Fehler, Vangie. Du solltest es auf sich beruhen lassen. Schließlich hast du ihn dort, wo du ihn haben wolltest, oder etwa nicht? Dieser Mensch ist unberechenbar, und du willst ihn doch bestimmt nicht reizen. Du schaffst dir nur Probleme. Und verdirbst am Ende alles.«
»Ich weiß sehr wohl, was ich tue.« Ihre Stimme klang wie Stahl. Doch dann lächelte sie erneut, und ihr Gesicht wurde sanfter. Sie mochte ihn, eindeutig. »Jedenfalls bist ja du dabei, um auf mich aufzupassen. Wozu sich also Sorgen machen?«
»Du wirst auch bestimmt nicht auftrumpfen, Vangie, oder?«
»Keine Angst. Ich bring das Ding bestimmt nicht zum Kippen«, entgegnete sie mit einem Seitenblick auf die Jacht und grinste, stolz auf das Wortspiel.
Herausfordernd reckte er den Kopf und grinste ebenfalls. Er ließ sich nicht auf einen Streit ein. Eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, mit langen Haaren hüpfte von einem Felsvorsprung herunter und rannte auf sie zu.
»Mein Gott, Vangie. Du willst doch nicht etwa die da mitnehmen?«
»Natürlich kommt sie mit«, erklärte sie liebenswürdig, als das Mädchen zu ihr trat und sich an ihren Arm klammerte. Sie stupste O’Dowd einen langen, rosa lackierten Fingernagel an die Wange. »Worauf warten wir also noch, Jer? Los geht’s, Schätzchen.«
»Gott allein weiß, was du vorhast, Vangie; jedenfalls hoffe ich, du weißt, was du tust, mehr kann ich nicht sagen.« Er versuchte vergeblich, seine Verärgerung zu verbergen.
»Das Ganze ist nichts weiter als ein Vergnügungsausflug für meine Kleine.« Sie zog das Mädchen an sich und hakte es unter. »Ich schätze jedenfalls, es wird recht unterhaltsam.« Ihr Reptilienlächeln strafte ihre lässig hingeworfenen Worte Lügen.
Er sah sie von der Seite an und schürzte die Lippen. »Deswegen habe ich noch lange kein besseres Gefühl bei der Sache«, meinte er unbehaglich. »Hör auf mich, Vangie, es geht dir noch nicht so besonders ...«
»Zum Teufel, Jer, du bist manchmal überängstlich. Vergiß es! Ich weiß, was ich tue.«
Verdrossen sah O’Dowd sie an. »Na schön, aber gib nicht mir die Schuld, wenn es schiefläuft.«
»Nein, Jer, bestimmt nicht. Das zumindest kann ich dir versprechen.« Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn spöttisch an. »Du hast noch immer von allem profitiert, was ich ausgeheckt habe. Warum also mit einem Mal diese panische Angst?«
»Ich will nur nicht, daß irgendwas bei dem Verkauf danebengeht. Das ist alles.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Warum sollte es?«
Er zuckte die Schultern. »Ich verkaufe nicht gern das Fell des Bären, ehe ich ihn ...«
»Keine Angst, wir werden ihn erlegen.« Sie lachte. »Wir erwähnen es erst im letzten Augenblick. Ich kann es kaum erwarten, dann sein Gesicht zu sehen.«
»Hast du den Verstand verloren?« fuhr er sie an. »Ich stecke heute abend einen Zettel in seinen Briefkasten – der soll seine Wutanfälle allein austoben.«
»Das war doch nicht ernst gemeint.«
»Das will ich hoffen«, erwiderte er. Sie hauchte ihm ein Küßchen auf die Wange und fing an, ihn schelmisch zu necken. Bald grinste er ebenfalls und half ihr und dem Mädchen an Bord. Ein paar Minuten später drehten sie auf der ihnen zugewandten Seite von Sweeneys Ketsch bei. O’Dowd wartete ab, bis beide Frauen im Unterdeck außer Sichtweite waren, ehe er Kurs auf den Holzpier unterhalb von Coribeen nahm, wo er mit leerlaufendem Motor wartete.
Nach etwa zehn Minuten trat ein Mann aus dem spätgeorgianischen, von Bäumen umstandenen Landhaus und schlenderte über die Wiese auf ihn zu. Ehe er an Bord ging, blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Auch er trug eine marineblaue Hose und hatte ein weißes Tuch um den Hals gebunden. Auf den Kopf hatte er sich eine Kapitänsmütze aus weichem Stoff gestülpt. V. J. Sweeney war großgewachsen, in mittlerem Alter und blond. Ein gutausssehender Mann, dem man allerdings sein ausschweifendes Leben ansah. Er knurrte eine Begrüßung – sprechen konnte man das schwerlich nennen. O’Dowd legte den Gang ein und steuerte die Ketsch rückwärts vom Pier weg.
»Das gute Wetter dürfte noch ein paar Stunden lang halten. Wir lassen den Motor laufen, bis wir in der Bucht draußen sind, dann sehen wir weiter«, kündigte Sweeney an. Er machte einen ungewöhnlich umgänglichen Eindruck. »Auf dem Rückweg segeln wir.«
»Ich würde heute lieber nicht segeln«, wandte O’Dowd ein. »Ich muß erst noch ein bißchen sicherer werden, und das fällt mir leichter, wenn wir mit dem Motor fahren.«
»Oh, auf einmal?« VJ runzelte die Stirn. »Sie werden es nie schaffen, wenn Sie so feige sind. Auf dem Rückweg segeln wir«, bestimmte er kategorisch. »Und Sie werden, verdammt noch mal, genau das tun, was ich sage; ich will nicht noch mal ein solches Fiasko erleben wie letzte Woche.« O’Dowd schauderte. Angeblich brachte Sweeney ihm das Segeln bei, doch sein Jähzorn machte ihn zu einem hoffnungslos anmaßenden Lehrer und den Lächler zu einem ängstlichen Schüler.
»Sie schauen einfach zu, was ich mache, und halten sich an meine Anweisungen. In Ordnung?«
»Wie Sie meinen«, murmelte O’Dowd geistesabwesend. Den nächsten Minuten sah er keineswegs mit Freuden entgegen.
Erst als er an Sweeneys Pier anlegen wollte, sah Recaldo, daß Sweeney im Boot stand. »Scheiße«, murmelte er und schlug hastig einen anderen Kurs ein. Sein Herzschlag setzte fast aus, als er einige Minuten später sah, wie V. J. Sweeney Anweisungen brüllte. Einen Augenblick lang konnte er nicht erkennen, daß sie an O’Dowd gerichtet waren. Nun war Recaldos Neugierde endgültig geweckt. Sweeney, der seinem glücklosen Begleiter nach wie vor Anweisungen zurief, steuerte langsam und mühelos. Als das Heck in sein Blickfeld kam, bemerkte Recaldo, daß die Ketsch offenbar vor kurzem umbenannt worden war. Sie hieß nun nicht mehr Azurra; jetzt war in kühn geschwungenen weißen Buchstaben Halcyon auf das blaue Heck gemalt. Als dann die Jacht an ihm vorbeisteuerte, erlebte er eine weitere Überraschung: Aus dem Unterdeck tauchten zwei Frauen auf und schlossen sich Sweeney und O’Dowd an. Mrs. Walter erkannte er sofort, doch weit mehr zog die andere Frau seine Aufmerksamkeit auf sich. Aus der Entfernung konnte er sie nicht deutlich sehen; außerdem wandte sie ihm den Rücken zu. Die langen blonden Haare brachten ihn jedoch auf die Idee, es könnte sich um Cressida handeln.
Cressida? Aber das war doch kaum möglich, oder? Cressie war mit ihm am Strand von Trabuí verabredet. So war es abgesprochen. Außerdem haßte sie Segeln. Cressie? Zweifel überfielen ihn.
Augenblicklich ließ Recaldo seinen Entschluß, Cressie auf Coribeen zu überraschen, fallen und nahm, eher voller Hoffnung als Vorfreude, Kurs auf Trabuí. Selbst wenn es sich bei dem Mädchen auf der Jacht nicht um Cressie gehandelt hatte, war ihm doch klar, daß jetzt, nachdem ihr Mann wieder da war, kaum Aussicht bestand, daß sie kommen würde. Er behielt die Ketsch im Auge, bis sie in der Weite der Bucht verschwand. Die Namensänderung verwunderte ihn ein wenig. Allerdings machte VJs plötzliches Auftauchen ihm weit mehr Sorgen, bedeutete es doch möglicherweise, daß er sich nicht mit Cressie treffen konnte – und zwar etliche Tage nicht. Als er ihr das letzte Mal begegnet war, hatte sie erneut eine Verletzung gehabt. Nicht die einzige in letzter Zeit, deren Ursache sie nicht erklärte. Und das beunruhigte ihn.
Er war letzten Freitag im überfüllten Supermarkt in Duncreagh gewesen und hatte gerade versucht, sich für eine bestimmte Kaffeesorte zu entscheiden, als plötzlich eine bandagierte Hand eine Tüte aus dem Regal geholt hatte. »Probier den da«, hatte sie gesagt und angesichts seiner Überraschung gegrinst. Frank hatte ihr das Päckchen abgenommen. »Was ist denn mit deiner Hand passiert, Cressie?«
»Pst«, hatte sie geflüstert und sich besorgt umgesehen. »Ach, das ist nichts weiter. Nur eine kleine Verbrennung.« Und hatte die Hand in die Jackentasche gesteckt. »Sag Hi zu Frank, Gil.« Sie hatte sich zu ihrem Sohn hinuntergebeugt und langsam und sehr deutlich gesprochen. Lächelnd hatte der sechsjährige Gil aufgeblickt. »Hi«, hatte er hervorgestoßen; das H war unterwegs irgendwie auf der Strecke geblieben, aber trotzdem, es war eindeutig ein »Hi« gewesen. »Tank«, hatte er spitzbübisch hinzugefügt. Frank hatte die Hand ausgestreckt und ihm die blonden Locken zerzaust, auch wenn er die ganze Zeit eigentlich Cressie berühren wollte. »Hi, Gil. Wie läuft’s denn so mit dem Einkaufen?« Gil hatte eine lange Liste hochgehoben und schweigend auf den halbvollen Einkaufswagen gedeutet, ihn ein Stück weiter geschoben und noch mehr Sachen aus den Regalen geholt. Dabei hatte er jedesmal sorgsam auf die Liste geschaut und jedesmal seine Mutter angesehen, um sich zu vergewissern, ob er es richtig machte. Insgesamt hatte er äußerst zufrieden mit sich gewirkt.
»Freut mich ungeheuer, dich zu sehen«, hatte Frank reichlich täppisch erklärt; er hatte hundert Augen auf ihnen gespürt.
»Wir sind gerade auf dem Heimweg; wir haben Gils Hörgerät überprüfen lassen«, hatte Cressida laut erwidert und dann flüsternd hinzufügt: »Val fährt für ein paar Tage weg.«
»Wann?«
»Das hat er nicht gesagt. Morgen, glaube ich.«
»Ich kann es einfach nicht fasssen«, hatte er niedergeschlagen gestanden. »Ich bin auf dem Weg zu einer Besprechung im Hauptquartier, und anschließend fahre ich nach Dublin. Mein Wochenende mit den beiden Jungs. Ich komme erst am Montag zurück.« Er hatte sich näher zu ihr gebeugt. »Der Londoner Verleger, von dem ich dir erzählt habe, will sich in Dublin mit mir treffen. Verdammt. Ich sage ihm ab.«
»Tu das nicht«, hatte sie ihm eindringlich zugeredet und sich auf die Lippen gebissen. »Ich weiß nicht genau, wann Val fährt, und noch viel weniger, wann er zurückkommt; könnte jederzeit sein. Oder gar nicht. Du weißt doch, wie er ist. Nur ruf um Himmels willen nicht an. Ich melde mich, sobald ich kann.«
»Hast du genügend Zeit für eine Tasse Kaffee?« hatte er gefragt. Das verstieß gegen all ihre Regeln. Angst war in ihren Augen aufgeschimmert, doch ihre Stimme war freundlich geblieben. »Nein. Wenn er bis Dienstag nicht zurück ist, machen wir einen kleinen Ausflug nach Trabuí«, hatte sie geflüstert. »So gegen vier?« Sie hatte gelächelt, sich dann umgeschaut und die Hand an die Wange gelegt. »Paß auf, Frank, diese Walter-Kuh ist gerade reingekommen. Die hat uns gerade noch gefehlt.« Sie war ein Stück von ihm abgerückt. Mit »Also, auf Wiedersehen« hatte sie sich deutlich vernehmbar verabschiedet. »Ich laufe lieber Gil nach, sonst kauft er noch den ganzen Laden leer.«
Recaldo fuhr in eine kleine Bucht in der Nähe des Trabuí-Strands, sprang an Land und zog die Peig aufs Ufer. Die Erinnerung an ihre letzten Bemerkungen machte ihm klar, wie unwahrscheinlich es war, daß Cressie an Bord gewesen war. Sie konnte Evangeline Walter nicht ausstehen.
Fast eine Stunde lang schlenderte er über den Sandstrand, ehe er die Hoffnung aufgab, sie zu treffen. Als er zu seinem Dingi zurückkehrte, war der Himmel bewölkt; die Luft hatte sich in gleichem Maße abgekühlt wie seine Laune. Glücklicherweise wehte zumindest der Wind aus einer günstigen Richtung, und er schaffte es in einer Rekordzeit durch die Bucht. Ehe er das Boot ans Ufer zog, holte er sein Handy aus dem Auto – vielleicht hatte Cressie ja eine Nachricht hinterlassen. Nichts. Dann rief er bei ihr zu Hause an, unterbrach jedoch die Verbindung, als er hörte, daß der Anrufbeantworter eingeschaltet war. Ihr Handy war offenbar, wie schon seit einigen Tagen, abgeschaltet.
Es deprimierte ihn, derart machtlos zu sein. Sie durfte einfach nicht länger bei ihrem brutalen Mann bleiben. Bald schon, so schwor er sich, würde ihr Verhältnis sich klären, und sie könnten zusammenleben. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, dann schalt er sich einen romantischen Narren.
Auf dem Heimweg schaute er bei der respekteinflößenden Mrs. Imelda Ryan vorbei – ihr unterstand das Postamt von Passage South, das gleichzeitig als eine Art Delikatessengeschäft diente. Unter anderem kochte sie köstliche Suppen, die sie zum Verkauf anbot.
»Sie waren also draußen, Frank? Ein bißchen Sonne abgekriegt? Da haben Sie aber wirklich Glück gehabt, denn der Wetterbericht hat Regen angesagt.«
»Tatsächlich? Für heute abend?«
»Nein, auf längere Sicht. Morgen oder übermorgen. Das letzte Wochendende war schrecklich, finden Sie nicht?«
»In Dublin war es gar nicht so schlimm.«
»Ja, hab gehört, daß Sie dort waren. Wie geht’s Ihren Jungs?«
»Teenager«, erwiderte er lakonisch. »Wir haben uns ein paar Filme angesehen.« Zusammen mit all den anderen Teilzeitvätern, dachte er schuldbewußt. Diesmal war sein Besuch besonders unglücklich verlaufen: Die Jungs äußerten Wünsche, die zu erfüllen er sich finanziell nicht leisten konnte, und dann hatten sie seine angebliche Knausrigkeit mit der Großzügigkeit des Partners seiner Exfrau verglichen.
»Werden wir die hier eigentlich je zu sehen bekommen?« unterbrach Mrs. Ryan ihn in seinen Überlegungen.
Recaldo lachte. »Na ja, sobald es mir gelingt, ihnen klarzumachen, daß das Leben nicht südlich der O’Connell Street endet.«
»Haben Sie schon gehört – Marilyn Donovan ging es gestern gar nicht gut.«
»Nein, ich bin erst gegen Mitternacht zurückgekommen.«
»Gott steh ihr bei, sie hat das Baby verloren. Mrs. Sweeney hat sie ins Krankenhaus gefahren. Ist sie nicht eine herzensgute Frau?«
Er spitzte die Ohren. »Mrs. Sweeney? Warum nicht Steve?«
»Der hatte einen Auftrag drüben in Daingean und war erst so um neun wieder da.« Darauf konnte man sich verlassen: Mrs. Ryan versorgte einen mit allen Einzelheiten.
»Ich nehme einen Viertelliter Tomatensuppe und ein halbes gekochtes Huhn.« Er schien nicht sonderlich interessiert. »Ach ja, und ein Brot. Das Krankenhaus in Duncreagh, nicht wahr?«
»Nein, nein. Cork. Mrs. Sweeney hat sie bis nach Cork gefahren.«
»Ist sie schon wieder zurück?«
»Wer? Marilyn? Nein, die behalten sie ein paar Tage dort.« Wissend hielt sie inne, wartete, ob er sich nach Cressie erkundigte, doch den Gefallen tat er ihr nicht. »Wie ich gehört habe, ist Mrs. Sweeney die ganze Zeit über bei ihr geblieben.«
Natürlich. Im Krankenhaus mußte man ja sein Handy ausschalten. Augenblicklich besserte sich Recaldos Laune. Wie jeder, der wirklich liebt, war er begeistert, den Namen seiner Geliebten zu hören, und Mrs. Ryan hatte ihn binnen weniger Minuten dreimal genannt. Und was sie ihm berichtete, legte den Schluß nahe, daß die Frau an Bord des Schiffes unmöglich Cressie sein konnte. Jetzt war ihm klar, warum sie nicht ans Telephon ging und warum der alte Spain auf ihren Sohn aufpaßte.
Während Recaldo das Essen im Kühlschrank verstaute, hörte er sich die Sechs-Uhr-dreißig-Kurznachrichten an. Dann fuhr er zu John Spains Cottage, um herauszufinden, ob der eine Ahnung hatte, wo Cressie steckte. Doch John Spain war nicht zu Hause.
Der Bootsausflug verlief nicht gerade harmonisch. Als die beiden Frauen an Deck auftauchten, bekam Sweeney einen Wutanfall und drohte umzukehren. O’Dowd übernahm das Ruder und erklärte ein wenig hämisch, er könne ja zurückschwimmen. Dann ging Sweeney auf Mrs. Walter los. Die beiden beschimpften einander gehässig, wenn auch in gedämpftem Ton.
Das Mädchen schien in seiner eigenen Welt zu weilen. Es saß hinten im Schiff und beobachtete selbstvergessen die Bugwellen, schien wie gebannt von den Mustern; und das war auch gut so, denn niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Doch als es einmal unabsichtlich Sweeney berührte, sprang er mit einem Satz nach hinten.
Die Flut stand schon ziemlich hoch, als sie zurückkamen, und geschickt manövrierte Sweeney die Ketsch zu ihrem Vertäuplatz. Er blieb am Steuerruder stehen, während O’Dowd das Motorboot heranzog und hineinkletterte. Als er den beiden Frauen von der Jacht hinunterhalf, wechselten O’Dowd und Mrs. Walter einen Blick.
»Tu’s nicht«, murmelte er und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Mrs. Walter gab keine Antwort.
»Hey, Val«, rief sie. »Vielen Dank für die Bootsfahrt. Halcyon hat es großen Spaß gemacht.« Sie zog das Mädchen an sich. »Sie fühlt sich wirklich geschmeichelt. Jammerschade, daß das Schiff verkauft ist.«
»Wovon redest du?«
»Oh, hat Jer dir das nicht gesagt?« fragte sie leichthin. »Die Halcyon ist verkauft.« Sie wandte sich ab, um O’Dowds Blick auszuweichen. »Wäre gut, wenn du dich darum kümmerst, daß sie auf Vordermann gebracht wird«, fügte sie fröhlich hinzu. Sweeneys Gesicht lief rot an, und er klappte in Zeitlupe den Mund auf. »Einfach so?« Seine Stimme war nur mehr ein dumpfes Krächzen. »Was hast denn du damit zu schaffen? Ich habe mit O’Dowd verhandelt.«
»Nicht nur mit ihm, und jetzt ohnehin nicht mehr. Damit ist es vorbei. Und wenn dir das nicht paßt, kannst du ja gegen mich vor Gericht gehen.«
»Hör auf, das kannst du nicht machen!«
»Wir haben es schon gemacht.«
Zehn Minuten später gingen sie beim Alten Kornspeicher an Land. »Vielleicht hätte ich doch lieber auf dich hören sollen«, meinte Evangeline Walter. Sie wirkte völlig erschöpft und zitterte vor Kälte. O’Dowd zog seinen Blazer aus, legte ihn um ihre Schultern und stützte sie, als sie langsam zum Haus hinaufgingen. Hinter ihnen trottete das Mädchen herein. Mrs. Walter warf sich auf das Sofa und schloß die Augen.
»Ist mit dir alles in Ordnung? Vangie? Hörst du mich?« Der Lächler schob den Arm unter ihre Schultern und hob vorsichtig ihren Kopf an. Sie schlug die Augen auf; ihre Lider flatterten.
»Aber ja«, erwiderte sie leise. »Natürlich. Aber mit der da komme ich heute vermutlich nicht mehr zu Rande.« Mit dem Kopf deutete Mrs. Walter auf das Mädchen. O’Dowd nickte. Er half ihr aufzustehen und führte sie in die Küche, wo sie sich an den langen Tisch setzten. Sie warf ihm einen Blick zu. »Würde es dir etwas ausmachen, sie allein zurückzubringen? Bitte, Jer.«
O’Dowd antwortete nicht. Er ging zum Kühlschrank und schenkte jedem ein Glas Weißwein ein. »Hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, was das alles sollte? Was hast du mit diesem Schauspiel auf der Jacht bezweckt? Ich bin mir völlig fehl am Platz vorgekommen. Vangie!« Er sprach jetzt mit gefährlich erhobener Stimme. Keine Spur mehr von dem, worauf sein Spitzname beruhte.
»O Jer«, erwiderte sie müde. »Nicht jetzt. Dazu fühle ich mich wirklich nicht in der Lage.«
»Und du weißt auch, warum, oder? Du hättest zu Hause bleiben sollen, wie der Arzt es dir geraten hat. Und wie ich es dir geraten habe.« Besorgtheit verdrängte seine Verärgerung. »Vangie, das war eine verrückte Kapriole; du hast nichts weiter erreicht, als ihn wütend zu machen. Und damit hast du dir einen schlechten Dienst erwiesen. Gib’s auf. Was auch immer es ist. Gib’s auf. Ich hab dir gesagt, ich kümmere mich um dich. Warum vertraust du mir nicht?«
Sie umklammerte seine Hand. »Lieber Jer. Du weißt, du bist der einzige, dem ich vertraue.« Freudlos sah sie ihn an. »Die guten Nachrichten habe ich dir noch nicht erzählt«, fuhr sie fort. »Mure-Robertson wird mir seine Anteile am Hotel verkaufen.«
O’Dowds Augen weiteten sich. »Meinst du das ernst? Er hat tatsächlich eingewilligt? Schriftlich?«
Sorglos zuckte sie die Schultern. »Noch nicht. Wir treffen uns am Freitag. Dann unterzeichnet er.«
Das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. »Fast, aber nicht ganz also, so sieht es doch aus, oder?«
»Das geht schon in Ordnung; du weißt, er ist verrückt nach mir.«
»Da gibt es noch viele Wenn und Aber«, gab er düster zu bedenken. »Ich hoffe nur, daß du recht hast.«
»O Jer, reg dich nicht unnötig auf. Hab ich je etwas vermasselt? Sag schon, hab ich das?«
»Heute bist du zu weit gegangen«, meinte er bedächtig. »Sweeney ist den ganzen Aufwand gar nicht wert. Ich wünschte, du hättest sie nicht mitgenommen.« Er hielt ihrem Blick stand.
Sie schien verblüfft, doch nach ein, zwei Augenblicken nickte sie. »Ja, ich schätze, du hast recht. Und ich hätte ihm auch nicht sagen sollen, daß wir das Schiff weiterverkauft haben, stimmt’s?«
»Nein.« O’Dowd gab ein hohl klingendes, bellendes Lachen von sich. »Das nur nebenbei. Sag mir, was hast du dir von dem Ganzen versprochen? Ich meine, abgesehen davon, ihn zu ärgern.« Als sie nicht antwortete, fügte er leise hinzu: »Das alles ist zu persönlich geworden. Und das ist schlecht fürs Geschäft.«
Evangeline Walter lächelte: ein breites, träges, verschwörerisches Lächeln. Ein tapferer Versuch, doch er ließ sich nicht täuschen. »Bringst du sie nun zurück?« fragte sie.
»Was – jetzt? Heute abend?« Beunruhigt sah er sie an.
Unvermittelt verlor sie die Geduld. »Tu’s einfach, ja? Bitte. Ich ertrage sie keine Sekunde länger. Ständig schleicht sie um mich rum.«
»Aber sie sollte doch hierbleiben, damit du sie deinem Cousin vorstellen kannst. Deswegen hast du sie doch hergeholt, oder?«
Jetzt wurde sie richtig wütend. »Ja, aber der hat mich wie üblich versetzt. Sie kommen erst am Freitag. Irgendein Freund von ihm ist krank geworden.« Mit hochgezogenen Augenbrauen lachte sie verbittert auf und ahmte spöttisch-übertrieben eine schleppende Redeweise nach. »›Ach, Evangeline, Schatz, ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber jetzt kann ich gerade nicht weg.‹« Sie blickte zu O’Dowd auf. »Typisch«, erklärte sie zornig. »Ohne ihn säße ich jetzt nicht in der Klemme. Seine verfluchte Frau hat ihn dazu gebracht.«
Er seufzte tief auf. »Einverstanden, ich mach’s. Aber nur dieses eine Mal, wohlgemerkt.« Damit stand er auf. »Ich bring das Boot zu mir nach Hause und hole den Wagen. Dauert nur ein paar Minuten, mach sie also schon mal fertig. Ich will nicht unterwegs anhalten müssen.«
»Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben; wahrscheinlich schläft sie gleich ein«, erklärte sie, als er zurückkam. »Aber selbst wenn nicht, es sind ja nur zwei Stunden, und du weißt doch, wie sehr sie dein Auto mag. Ich verspreche dir, sie macht dir keine Schwierigkeiten«, redete sie ihm schmeichelnd zu.
»Kommst du denn nicht mit?«
»Nein, Schatz, aber das macht dir doch nichts aus, oder? Ich bin völlig fertig«, sagte sie leise und lächelte tapfer.
»Na schön, aber dann geh gleich ins Bett, Vangie. Ruh dich aus, um Himmels willen, du siehst grauenhaft aus.«
»Vielen Dank«, erwiderte sie und funkelte ihn wütend an.