Teilzeitrevue
Erste Auflage
© Verbrecher Verlag 2017
www.verbrecherei.de
Ebook: Christian Walter
Coverillustration: www.fernbedienen.com
Der Verlag dankt Marianne Heinze und Tristan Wagner..
ISBN Print: 978-3-95732-190-9
ISBN Epub: 9783957322449
ISBN Mobipocket: 9783957322456
Посвящается Юрию
Markus Binder
TEILZEITREVUE
Das Flugzeug, das langsam zur Startbahn rollte, sah aus wie ein riesiges Insekt aus Blech. Sie bauen Insekten nach, in 8000-facher Größe, stecken Düsen drauf, setzen sich hinein, fliegen irgendwohin, beobachten die Welt aus der Vogelperspektive, steigen wieder aus, lassen sich zum Strand bringen, trinken Cocktails, schreien das Personal an, fühlen sich im Recht, fühlen sich schlecht. Insekten in Originalgröße krabbeln über ihre Kehlköpfe, jucken, ätzen und laufen um ihr Leben, bevor sie erschlagen werden.
– Willst du tauschen?
– Wieso tauschen? Was tauschen?
– Dich. Mich. Die Stadt. Kontinent.
– Aber wir tauschen doch sowieso ständig.
– Was?
– Emotionen, Städte, Gedanken, Kontinente.
– Angeregt von?
– Der Verbindung. Es liegt an der Verbindung.
– Meinst du technisch oder menschlich?
– In diesem Fall handelt es sich um dasselbe.
– Wenn es so einfach wäre.
– Sage ja: Könnte.
Er sah aus dem Plastikfenster des Fliegers. 500 Jahre sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wenn die Leute heutzutage im Durchschnitt 100 Jahre alt werden, ist das gerade mal die Zeitspanne von fünf Menschenleben. Innerhalb weniger Stunden durchquerten sie einen Raum, der über tausende von Jahren allmählich besiedelt worden war.
In einer der letzten Nächte hatten sie sich verirrt in der großen Stadt, die zur Zeit ihrer Gründung im Jahr 1325 aus vielen kleinen Inseln inmitten eines flachen Sees bestanden hatte. Das wenige vorhandene Land hatte nicht ausgereicht, um die Stadt zu ernähren, also wurden große Flöße gebaut und mit Erde beladen. Auf diesen im See gelegenen Nutzflächen (Chinampas) wurde Gemüse gezüchtet. Die Spanier legten, nachdem sie die Stadt völlig zerstört hatten, den See trocken. Der Fahrer war verwirrt, er merkte, dass sie im Kreis gefahren waren und nun schon zum zweiten Mal an einem Schild vorbeikamen, das die Abfahrt nach Chapultepec (Heuschreckenberg) anzeigte. Der auf einigen hundert Metern erhaltene Aquädukt hatte die Stadt mit dem Wasser des Chapultepec-Waldes versorgt. Zerstörung am 28. Mai 1521. Sie hatte den Namen schon gehört, sie blätterte weiter in einem der Magazine über die Geschichte des Landes, schmunzelte und dachte: Alles was irgendwo aufgeschrieben worden ist, hat mit Lüge zu tun, Schreiben ist Lügen, genauso wie jede Musik, die irgendwann aufgenommen worden ist, eine Lüge ist, ein Produkt, elektrisch, Plastik, Lüge, real.
So wie hier fragten sich anderswo zur selben Zeit genauso wie zu anderen Zeitpunkten einzelne genauso wie mehrere und vielleicht manchmal alle: Haben wir nicht etwas vergessen? Etwas sehr Wichtiges vergessen?
Der Mann, der im Norden des einen oder im Süden des anderen Landes das Flugzeug sah, das wie eine fliegende, käferförmige Spraydose einen geraden weißen Strich in den blauen Himmel sprühte. Er dachte: Ich kann euch sehen. Aber ihr könnt mich nicht sehen. Und er erinnerte sich daran, dass er als Kind manchmal den Gedanken hatte, wie toll es wäre, in den Blick irgendwelcher Leute hineinzuschlüpfen, die er irgendwo sah. Das sehen können, was die sehen, die ich sehe.
Der Rückflug ließ zwischendurch ein Gefühl aufsteigen von: Jetzt kommt es wieder näher das Altbekannte, das Erlebte, die unendlich oft gegangenen Wege. Sie fühlten sich wie Autos, die in die Garage gefahren wurden. Öd.
Sie fragte ihn, ob er schon von der Geschichte gehört hätte, dass damals den Einheimischen die Europäer wie Außerirdische erschienen seien, weil sie, die noch nie zuvor ein Pferd gesehen hatten, Tier und Reiter für ein einziges, riesiges Wesen hielten. Außerdem waren die Spanier im Besitz von Feuerwaffen, hatten die Unterstützung der Stämme, die mit den Azteken im Krieg lagen und profitierten von der zögerlichen Haltung Moctezumas II, der in Killer Cortés den weißhäuptigen Gott Quetzalcoatl zu erkennen glaubte, der zurückgekehrt war, um eine alte Prophezeiung zu erfüllen. Als die Spanier am 8. November 1519 in die Stadt kamen, waren sie überwältigt. Die 300.000 Einwohner zählende Metropole auf dem See mit ihren prächtigen Bauten konnte es locker mit jeder damaligen europäischen Großstadt aufnehmen.
16. Jahrhundert 17. Jahrhundert
36 Stunden 18. Jahrhundert
500 Minuten 19. Jahrhundert
200 Sekunden 20. Jahrhundert
Er sah hinunter und verlor die Lust zur Beschreibung des Gesehenen mithilfe von Worten. Diese Worte immer, dachte er, diese ständigen Beschreibungen, die Sprache hatte eine totale Dominanz über alles. Verdammtes Sprachregime.
Der Angestellte des physikalischen Instituts irgendeiner großen Stadt, Sitz 87E: Ein Foto aus der Zukunft, nur ein einziges Foto aus der Zukunft, sagen wir ein Foto, das in 200 Jahren aufgenommen worden ist, und wir könnten das alles hier viel besser verstehen.
– Angenommen, du könntest eine Zeitreise machen. Was würde dich mehr interessieren? Zukunft oder Vergangenheit?
– Vergangenheit.
– Wie weit zurück?
– Ich möchte wissen, wie die damals geredet haben, bevor es Schrift und einzelne Sprachen gab, wie die vielleicht 100 Ausdrücke hatten, mit denen sie auskamen, Generationen lang, und alle 100 Jahre kamen wieder ein paar Ausdrücke dazu, Laute, keine Ahnung, wie das geklungen hat damals, deshalb möchte ich ja dahin, in diese Zeit, in der sich das Aufrichten der Körper und das Aufrichten der Sprache abgespielt haben. Die würden staunen, wenn ich da plötzlich auftauchen würde. Übrigens konnte ich diese Frage nie lösen: Wie tauchen die Leute, die eine Zeitreise machen, in dieser anderen Zeit auf, wie passiert das? Stell dir vor, die sitzen da vor vierhunderttausend Jahren am Strand von Tansania und braten einen Fisch und plötzlich tauche ich da aus dem Wasser auf oder komme aus dem Hinterland und setze mich zu ihnen, um ihre Sprache zu lernen. Ob das gut ginge?
– Warum nicht? Es kann allerdings passieren, dass sich die Zellstruktur deines Körpers an die Bedingungen in der anderen Zeit anpasst und du deshalb nicht mehr zurückkehren kannst in die jetzige.
– Bleiben ist aber auch keine futuristische Option.
Unsere Seeleute haben sich gefühlt, als wären sie auf einem anderen Planeten gelandet, damals vor 3500 Jahren, als sie mit ihren Schiffen nach Kreta gekommen und vor den Palästen von Knossos und Phaistos gestanden sind. So weit voraus waren die, sagte einige Sitzreihen hinter ihnen ein 50-jähriger Engländer zu seiner 25-jährigen Tochter, die ihm daraufhin von ihrer Freundin Ruby erzählte, der kürzlich ein Chip implantiert worden war, der die Leistung ihres Gehirns derart verbessert hatte, dass sie wieder in der Lage war, mit den Maschinen, die sie zu steuern hatte, auf demselben Level zu kooperieren.
– Was wolltest du sagen?
– Reden ist schwierig. Schweigen nervt.
– Niemand hat gesagt, dass es einfach wird.
– Steht schon im Naturkundebuch.
– 2. Klasse.
– Economy Class.
– Aber alle wollen in die Business.
– Die stürzen aber genauso tief ab.
– Stimmt nicht. Beim letzten Mal haben die sogar noch Gewinn gemacht.
– Und zwar mehr als je zuvor.
– Prozentuell aber nicht so viel wie die Conquistadoren.
– Gehen aber ähnlich vor. Die großen Piraten. Die Ausgebeuteten wissen nichts von den anderen Ausgebeuteten und wissen auch nicht, was die Ausbeuter mit dem Erbeuteten eigentlich machen.
– Und jetzt?
– Sind alle tot, die nichts bringen.
– Tot oder zumindest unauffällig.
– Das Essen kommt.
Innerhalb weniger Jahrzehnte (1520 bis 1560) war die einheimische Bevölkerung Südamerikas durch Krieg, Ausrottung, Krankheit, Überausbeutung und Verlust der sozialen und wirtschaftlichen Existenzgrundlagen auf ein Zehntel reduziert worden. Schätzungsweise 70 Millionen Menschen fanden als Folge ihrer so genannten Entdeckung den Tod. Sie waren später als 70 Millionen Goldstatuen aufgestellt worden, jede Frau, jeder Mann, jedes Kind originalgetreu nachgebildet, in der Steppe von Laguna Seca, gelegen zwischen Monterrey und Durango. Eine unübersehbar große Menge an goldenen Figuren.
Knapp unter ihrem Flugzeug flog ein kleineres Flugzeug durch, kreuzte ihren Weg. Als er es sah, blinkten zwei Worte in seinem Kopf auf: Privatjet. Privatangst.
Sie blätterte in ihrem Notizbuch, überflog ihre Aufzeichnungen, sah einen See vor sich und schrieb: Menschen liegen am Ufer auf Decken wie Verletzte, der Stress, die Verantwortung, die Entspannung, was wäre das Ufer bloß ohne seinen See, Schreiben und Sichern, beim Reden unmöglich, beim Reden fahren sie vorbei wie Züge die Worte, oft hätten viele gern mal die Undo-Taste gedrückt, das Ausgesprochene rückgängig gemacht, das Gesagte lieber nicht gesagt, das Geschriebene hingegen bleibt liegen, du kannst zurück blättern, du kannst nachsehen, beim Gesprochenen werden wir uns später um den Wortlaut streiten. Du hast absolut gesagt, werde ich sagen und du: Nie. Nie habe ich jemals absolut gesagt, absolut liegt mir nämlich überhaupt nicht. Und doch hast du es gesagt, werde ich sagen, auch wenn dir das jetzt nicht gelegen kommt und das ist jetzt kein blödes Gerede, ich sage das nicht nur so, ich sage es, weil es wahr ist, wahr mit h, weil nicht alles, was war, wahr war. Und wir wollten doch bloß aus dem Fenster schauen, um an den Zeichen am Boden abzulesen, wo wir uns befinden. Kürzel ohne Ende, jeder Buchstabe steht für ein Land, ein Wort, eine Geschichte. Die Bilder unterscheiden sich von einander in acht Punkten, in acht Punkten unterscheidet sich die Geschichte von dem, was sich tatsächlich abgespielt hat. Und wir rasen weiter mit großer Geschwindigkeit durch Parallelereignisse: Passagiere fliegen parallel gleich schnell, Lampen brennen parallel gleich grell, Ängste blühen auf engstem Raum gleich hell.
Er las in einem dieser amerikanischen Endzeit-Romane: Half of the population dead. Taking pills, drugs, receiving messages, killing and eating friends to survive. Hiding, missing, talking about better times. (Obwohl die Zeiten damals auch Scheiße waren, sprachen sie jetzt so darüber, als ob damals alles nur toll gewesen wäre.) It’s not easy to get happy. I dont want you, but I need you. In the shops everything is for free now, just take what you want, it’s alright, no one needs money, no one is in here. My children are safe. Another planet for the future. Bigger space. 3000 ft. of garbage. Dead people driving cars that are alive. Frontal crash of already dead people. No one cries. Only trees growing. Having so much time. Sounds of motorbikes. Flags. No music. Flames. Posttraumatic habits. Visions. Under-equipped world. Sleeping people dreaming. Dreams projected on empty buildings. Everybody’s got a kind of loneliness, handling it differently than anybody else. Shirts too short, eyes looking too far.
Bei der Zwischenlandung mussten sie eine Stunde lang in der Maschine sitzen bleiben. Ein Putztrupp kam, um das Flugzeug vor dem Weiterflug zu reinigen. Unter den Reinigungskräften ein Mann, auf dem Rücken seines T-Shirts der Spruch: Clean the Plane. Was für eine Arbeitskleidung, dachte sie. Erst als der Mann sich weiterbewegte, sah sie, dass in einer Falte, die sein Shirt geworfen hatte, ein t verborgen war und der nun vollständig sichtbar gewordene Spruch lautete: Clean the Planet.
Sie las im Bordmagazin der Airline: Erstens: Die Venus ist der einzige Planet in unserem Sonnensystem, der sich nicht gegen den Uhrzeigersinn dreht. Eine einzige Umdrehung dauert 248 Erdentage. An der Oberfläche herrscht eine Temperatur von 500 Grad. Zweitens: Auf dem Saturnmond Titan gibt es Wolken, Regen und Flüsse. Die Flüssigkeit, die über seine Oberfläche strömt, ist aber kein Wasser (das wäre bei Temperaturen von Minus 170 Grad hart wie Stein), sondern Methan. Künftige Besucher auf dem Titan könnten mit riesigen Wellen konfrontiert werden. Wegen der geringen Schwerkraft sollen die Brecher siebenfach höher sein als alles, was von der Erde bekannt ist.
Die Begegnung der Menschheit mit der Bewohnerschaft eines anderen Planeten ist aufgrund der enormen räumlichen Distanzen im hiesigen Universum sehr unwahrscheinlich. Es wurde berechnet, dass die Reise vom nächsten potentiell bewohnbaren Planeten zur Erde mindestens eine Million Jahre dauern würde und so lange hält es ja niemand in einem Raumschiff aus. Ich persönlich würde schon nach zwei Tagen aussteigen wollen. Ein Treffen mit Bewohnern anderer Planeten wäre aber insofern aufschlussreich, als sich das Einzelkind Menschheit endlich mal mit anderen vergleichen könnte. Und nicht weiterhin immer nur im eigenen Saft schmoren müsste. Das führt bekanntlich zu Depressionen.
Er las im Gossip-Magazin: Zwei Filmschauspieler sind bei Dreharbeiten in der angolanischen Hauptstadt Luanda von Polizisten erschossen worden. Sie hatten eine Szene von einem Raubüberfall drehen wollen und wurden irrtümlicherweise für echte Kriminelle gehalten. Wie die portugiesische Presse am Mittwoch berichtete, hatten die Filmemacher die Polizei vor den Dreharbeiten eigens um Unterstützung gebeten. Sie hatten gefürchtet, in dem als gefährlich geltenden Viertel überfallen zu werden. Die Polizisten wurden festgenommen. Eine Untersuchung soll klären, warum sie über die Dreharbeiten nicht informiert waren.
Kurz vor der Landung warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah eine mit Fahrzeugen vollgestopfte Autobahn. Alle waren auf dem Weg zur Arbeit. Wie immer um halb Acht am Morgen. Ihre innere Uhr stand allerdings auf halb Eins in der Nacht. Sieben Stunden Zeitverschiebung. Dadurch, dass alle mitmachten, wirkte der Anblick noch viel trostloser.
Nachdem Einbildung im Leben eine große Rolle spielte und das Gefühl des Nichtinvolviertseins seit jeher eine der beliebtesten aller Einbildungen war, gaben sie sich immer wieder gern der kleinen Illusion hin, in einem Flugzeug zu sitzen, das nie landen würde. Das Landen war immer eine kleine Enttäuschung. Es ging wieder raus in den nächsten Alltag, in die nächste an die globale Zentrale angeschlossene Filiale, Regale, Geldtaschen.
Flieger steigt. Flieger sinkt. Mitsamt den Leuten, die er bringt. Und aus den Lautsprechern kam etwas, das hörte sich an wie: We are not fully human. Irgendwo eine Aufschrift mit dem Text: Künstlich willkommen.
In der Gepäckausgabe eine Tafel mit unzähligen Licht emittierenden Dioden, zehn Meter breit. Auf der Tafel baute sich in unterschiedlichen Farben und Schriftarten immer wieder folgender Satz auf: A problem makes you forget a problem. Die Leuchttafel war so programmiert, dass jeden Tag 24 Stunden lang ein einziger Satz gezeigt wurde. Die Sätze der nächsten Tage: Unterhaltung ist kein Honiglecken (Dienstag). Die größte Blamage ist das Leben Müssen. Buster Keaton (Mittwoch). Glotzt nicht so überfordert (Donnerstag). Most people are not fit to rule themselves. Jenny Holzer (Freitag). Love is like a cigarette. Ivie Anderson (Samstag). Verbrauchte Luft ausatmen (Sonntag).
Unterhalb der Tafel standen Leute. Die sahen aus. Wie aus Stuttgart.
In größerer Entfernung winkte jemand ganz heftig mit ausgestrecktem Arm in ihre Richtung. Sie hatten nicht erwartet, erwartet zu werden, und fragten sich, wer das wohl sein könnte. Beim Näherkommen stellten sie fest, dass diese Person ein Putztuch in der Hand hatte und mit rhythmischen Bewegungen eine großflächige Glaswand reinigte, die sie allerdings nicht sehen konnten, weil sie wegen übermäßiger Sauberkeit so gut wie unsichtbar geworden war.
Sie sah hinüber zum Flughafensupermarkt und las Dirty Free Shop statt Duty Free Shop.
Als sie den internen Bereich des Flughafens verließen, sahen sie, wie die Zollfahndung den Koffer einer Frau durchwühlte, um daraus einen menschlichen Kopf hervorzuholen. Es war der Kopf eines Mannes, bereits einigermaßen verschrumpelt. Helle Aufregung. Einen derartigen Fang machten sie auch nicht oft. Die Besitzerin des Koffers, eine Haitianerin, erklärte den bleichgesichtigen Zollbeamten, dass es sich um den Kopf eines vor fünf Jahren verstorbenen Verwandten handle und sie diesen als Priesterin zur Abhaltung ihrer Voodoo-Zeremonien benötigen würde und ihn deshalb ständig bei sich tragen müsse.
Am Flughafen war eine unbeaufsichtigte Tasche entdeckt worden. Alarm. Viele haben eine Bürste in der Tasche. Jede Bürste hat ihre Borsten. Jede Tasche bleibt irgendwann irgendwo stehen. Jemand hat seine Tasche stehen lassen, tönte es aus den Lautsprechern. Diese Tasche kann eine Bombe sein. Diese Tasche wird, wenn das Gelände gesichert ist, gesprengt. Damit, falls sich eine Bombe darin befindet, diese auch wirklich entschärft ist. Es ist damit zu rechnen, dass sich kurz darauf eine bislang unbekannte Gruppe mit folgender Forderung an die Öffentlichkeit wenden wird: Sprengt alle Taschen.
In der Ankunftshalle saßen zwei junge Frauen an einem Tischchen, Hoffnungsschimmer und Himmelblau, uneins über die Gestaltung ihrer Fingernägel genauso wie des Lebens auch.
Die beiden hatten sich gefragt, ob sie dem aktuell gültigen Schönheitsideal entsprechen würden. Diejenigen nämlich, die dem aktuell gültigen Schönheitsideal nahe kamen, wurden von denen, die das nicht von sich behaupten konnten, bewundert, als ob sie etwas Außergewöhnliches zustande gebracht hätten. Und dabei hatte sich doch längst herumgesprochen, dass die Idee der physischen Schönheit eine der zerstörerischsten Ideen des menschlichen Denkens darstellt.
Sie gingen an den beiden vorbei und betraten einen Zeitschriftenladen, bestellten Tee und ließen sich von den professionell frisierten Gestalten auf den Covers der Pengpengmagazine anbellen. Sogenannte Prominente und ihre Liebhaber lächelten gekonnt auf sie ein, die Texte und Fotos in den Society-Gazetten handelten von den in der Öffentlichkeit bekannt gemacht Gewordenen und ihren persönlichen Schwierigkeiten oder vielmehr persönlichen Schicksalsschlägen. Wir wollten es nicht wissen, aber nun wussten wir es auch. Das jüngste Kind des Schlagersängers, das er seit einigen Monaten mit dieser jungen Frau hatte, es würde voraussichtlich nie gehen können, angeborene Muskelschwäche. Das Lächeln des Schlagersängers hatte deshalb auch diesen traurigen Ausdruck, seine junge Frau starrte ins Leere, das Kind auch. Dieses Bild, es war das Neunte, das von ihnen geschossen worden war beim Shooting, das musste es sein. Die Auswahl des Coverfotos war kurz umstritten, der leere Blick der jungen Frau setzte sich aber dann als Argument durch, auf den Bildern danach, von zehn bis 72, hatte sie nämlich ein bitteres Lächeln versucht, aber das kam nicht glaubhaft rüber, wirkte gestellt, unecht, aufgesetzt, bemüht, und das konnte es nicht sein, nein, da war Nummer Neun eindeutig besser, dieser leere Blick, der Blick in eine Zukunft voller Schwierigkeiten an der Seite des trübe lächelnden graumelierten Entertainers, das war schon oke, da ließ sich nicht viel dagegen sagen. Zudem war auch der Gesichtsausdruck des Kindes brauchbar, auch ins Leere gerichtet, so verloren. Toll.
Neben dem Celebrityblättchen ein sogenanntes Nachrichtenmagazin, auf dessen Titelseite der aktuell zu erwartende Weltuntergang thematisiert wurde. Womit wir allerdings sicher rechnen müssen ist, dass die Welt nicht untergehen wird. Pech für diejenigen, die schon länger darauf warten. Das wird nichts. Überhaupt dienen diesbezügliche und andere Prophezeiungen lediglich der Unterhaltung. Das einzige, das wirklich sicher eintreten wird, ist das Fernsehprogramm für die nächsten zwei Wochen.
Auf dem Monitor, der in einer Ecke des Ladens hing, sahen sie, wie ein etwas zerschrammt wirkender Mann interviewt wurde. Unter seinem Namen das Insert: Geisel.
Ein Besucher des Zeitschriftengeschäfts zeigte so etwas wie einen Me-too-Effekt, wie es im TV-Jargon heißt, wenn sich jemand betroffen fühlt.
Der letzte Satz, der aus dem TV-Gerät kam, bevor sie den Laden wieder verließen: Meine Frau war früher Krankenschwester und hat bei vielen Operationen mitgemacht. Sie müssen also keine Angst haben.
Draußen in der Halle. Sie sprachen in Sprachen. Gruppe für Gruppe. Leute aus irgendwo. Verzichteten nicht auf Rücksicht auf sich selbst. Zogen vorbei, textile Details und eigene Geräusche inklusive. Jede dieser Gruppen klang anders. Erstaunlich, wie es fast alle geschafft hatten, so gerüstet zu wirken, so herausgeputzt, so fit für alles, angezogen, hergerichtet, ausgebildet seit Jahren, um teilnehmen zu können. Sie wollten sich auch ihren Teil nehmen können, welchen auch immer.
Sie musste an das Phänomen denken, dass Leute, die ansonsten nichts gemeinsam haben, zumindest temporär etwas gemeinsam haben, wenn sie Teil derselben Gruppe sind, zum Beispiel derselben Reisegruppe, im Wartezimmer desselben Arztes sitzen, im selben Zugabteil, im selben Lift, im selben Flugzeug. Immer wieder sind wir Teil temporär existierender Gruppen.
Die Plastikräder der zahlreichen Trolley-Koffer, die von einer in dichter Formation sich fortbewegenden Gruppe von Flugbegleiterinnen, Stewards und Pilotinnen durch die Ankunftshalle gezogen wurden, erzeugten ein Schwirren, das zu einem massiven Brummen anschwoll, als sie unversehens in die Mitte dieses surrenden Schwarms gerieten. Sie blieben einfach stehen, das Trolleyorchester zog weiter und das Hummelbrummen mit ihm.
Immer wieder gingen Leute an ihnen vorbei, die, falls sie etwas zu einander gesagt hätten, voraussichtlich zu einander gesagt hätten: Irgendwie habe ich das Gefühl, wir arbeiten in derselben Branche.
So viel Bewegung, tausend Fotos pro Sekunde, eine Hand, die sich nähert, Schritte, die sich entfernen, Ausgänge, Wegweiser, Schilder mit Nummern, Passagiere. Lesen. Würden sich alle Pupillenbewegungen, die auf diesem Planeten tagtäglich gemacht werden, in elektrische Energie umsetzen lassen, eine große Stadt könnte lange hell leuchten.
Sie nahmen den Bus zum Bahnhof. Ein Teil der Innenverkleidung fing zu vibrieren an. Rhythmus funky, Sound wie elektronisch, schnell, Plastik auf Plastik. In ihrem Inneren bildete sich ein Offbeat aus Wortpartikeln. Nach ein paar Minuten fiel ihr dieser Text aus der Zeit vor den Castingshows ein, Cora E., 1992: Könnt ihr mich sehn, könnt ihr mich hörn. Ich könnte schwörn, ihr könnt mich sehn, ich könnte schwörn, ihr könnt mich hörn. Das Aufmerksamkeitsdefizit hat sich schon immer seinen Weg gebahnt.
Sie stiegen in den Zug. Von ihrem Sitzplatz aus betrachtete sie die weiße Rückwand einer Parkgarage, deren Ausmaße mindestens die Größe eines Tennisplatzes hatte. Dort ließ sie noch mal den Carl-Kidnap ablaufen. So wie er in ihrem visuellen Gedächtnis gespeichert war. Als Projektion auf eine selbst gewählte Fläche, die gerade im Angebot war. Sie startete die Vorführung:
Carl hing am Schirm. 15 Meter unter ihm glitzerten die Wellen des Pazifiks. Seit Stunden war er gezwungen, diesem stupid vor sich hin brummenden Motorboot hinterher zu schweben. Immer der gleiche Sound. Immer die gleiche Oberfläche. Er war mit Handschellen an den Haltegriff des Parasailingschirms gekettet, zwischen seinen Beinen konnte er die beiden Männer in ihrem Motorboot sehen. Sie hatten Benzinkanister an Bord, sie konnten noch viele Stunden weiterfahren. Er starrte auf das Wasser, er sah das Meer an wie Leute, die ins Leere schauen und nichts kommt zurück außer einer Menge eigener Gedanken.
Fliegen ist super. Wunderbar. In allen Sprachen liefen die Animateure am Strand entlang und lockten mit ihren Rufen die Touristen. Nur Carl, der kein Tourist war, war gewaltsam an den Schirm gebunden worden. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, aus Vergnügen mit so etwas herumzufliegen. Und nie im Leben wäre es dazu gekommen, dass der Schirm mit seinem unfreiwilligen Passagier vom Wind auf den Balkon eines direkt ans Wasser gebauten Hotels geweht worden wäre, dort von den Befreiern Carls von den Leinen, die ihn am Boot festhielten, getrennt worden wäre und damit Carl aus den Händen seiner Peiniger befreit worden wäre. Nie im Leben wäre es dazu gekommen, obwohl sie im Fernsehen genau das schon einmal so gesehen hatten. Möglich war es also. Alles, was im Fernsehen gezeigt worden war, ist eine Möglichkeit. Wenn auch nur eine kleine. Fernsehen ist klein. So wie alles, was in ihm stattfindet.
Neben Carl tauchte ein weiterer Parasailingschirm auf, bestückt mit einem Touristen, der sich zum Vergnügen über das Wasser ziehen ließ und zu ihm herüber rief: Everything alright? Carl konnte nur den Kopf schütteln, er war an dieses Freizeitvergnügen angekettet wie ein Häftling an die Kerkerwand. Es hätte ihm nicht geholfen, wenn er diesem blöden Touristen seine Lage geschildert hätte. Denn hätte der die Polizei oder die Küstenwache informiert, nichts Hilfreiches wäre geschehen, alle waren bestochen, es hätte ihm höchstes passieren können, dass die zwei Männer im Boot sich provoziert gefühlt hätten und ihn von ihrem Boot aus erschossen hätten und er dann tot am Schirm gehangen hätte. So schüttelte er nur den Kopf und rief dem Touristen zu: It’s alright. It’s hot. It’s crazy. Der Tourist, der dachte, die Handschellen wären eine Spezialvorrichtung für Touristen, die es besser haben als er selbst, dachte: Komischer Typ. So etwas erlebe ich auch nur im Urlaub.
Carl war Installateur. In einer Nacht zwei Wochen zuvor war er durch einen Notruf zur Banco Internacional bestellt worden, um dort einen Rohrbruch zu beheben. Als er versuchte, das Rohr an der lecken Stelle zu bearbeiten, brach es auseinander, ein riesiger Wasserschwall platzte heraus, war nicht zu stoppen, überschwemmte die Bank, das Wasser stieg, erfasste große Stapel von Geld, das Wasser stieg weiter, das Geld schwamm auf die Straße, ein Wolkenbruch kam dazu, das Desaster nahm seinen Lauf, Carl war ratlos, das Zerbersten des Rohres kam völlig unerwartet, das Wasser war nicht zu stoppen. Sie kamen ein paar Tage später, um ihn abzuholen. Sie hatten den Installateur im Verdacht, den Rohrbruch absichtlich herbeigeführt zu haben, um an das Geld des Kommandos zu kommen, das in der Bank gelagert war und in jener Nacht durch die Straßen schwamm.
Nach und nach verstand Carl den Plan, in dem er eine tragende Rolle zu spielen hatte. Er sah nämlich dem Boss des Kommandos Nord zum Verwechseln ähnlich. Und weil das so war, dachte das Kommando: Wir werden ihn dazu zwingen, sich zu stellen. Dann denkt die Polizei, sie haben ihn, es wird in allen Zeitungen stehen, er kann erzählen, was er will, während wir, aber nein, noch besser: Wir erschießen ihn und schicken seine Leiche der Polizei, und wenn die Polizei und die anderen Kommandos denken, er ist tot, nein, auch nicht gut, besser wir lassen ihn vom Kommando Nordwest entführen, und die sollen ihn als Pfand haben, können mit ihm machen, was sie wollen, und wir haben einen Anlass zurückzuschlagen. Oder noch besser: Wir hypnotisieren ihn und programmieren sein Gehirn, wie es für unsere Zwecke am besten ist. Ob wir das hinkriegen? Solange ihre Überlegungen zu keiner konkreten Entscheidung führten, beschlossen sie, dass es vorerst das Beste wäre, ihn erst mal weich zu kochen und an den Schirm gefesselt über das Meer schweben zu lassen.
Der Zug fuhr los. Es hatte zu regnen begonnen. Der Fahrtwind trieb Wassertropfen qu