1

Margarete erinnerte sich gerade, dass auf dem Brunnerhof stets um Punkt zwölf Uhr zu Mittag gegessen wurde, und das bereits seit dem Tag ihres Einzugs als junge Ehefrau vor gut sechzig Jahren. Wie die Zeit doch verging! Und so mischten sich noch immer, wenn sich die Familie an den Tisch setzte, die Glocken von der barocken Kirche St. Georg auf dem Moränenhügel in das eine Minute früher beginnende, etwas dünner klingende Geläut der viel älteren, romanischen Kirche St. Valentin im Ruhpoldinger Ortsteil Zell.

Seit zehn Jahren lebte sie nun bereits in dem neu gebauten, recht behaglichen Austragshäusl, wenn man das schmucke, mit allen Annehmlichkeiten der modernen Bautechnik versehene Häuschen überhaupt noch so nennen konnte.

Margarete rückte ihr Kopfkissen zurecht und steckte noch zwei Sofakissen hinter ihren Rücken, sodass sie bequemer essen konnte. Sie hörte, wie jemand die Haustür aufschloss und war gespannt, was es heute geben würde. Noch immer schmeckte es ihr. Sie hatte ihren guten Appetit, mit dem sie zeitlebens gesegnet war, auch jetzt nicht verloren, selbst wenn sie nicht mehr so große Portionen wie früher verdrücken konnte.

»So, hier Essen …«, bemerkte die ausländische Pflegerin und grinste. Aleksandra stammte aus Polen und sprach nur sehr wenig deutsch. Sie machte ihre Sache gut, aber Margarete wünschte sich manchmal ein wenig mehr Ansprache. Doch selbst wenn Aleksandra, was Margarete bezweifelte, den guten Willen gehabt hätte, sich ab und zu mit der Altbäuerin ein wenig zu unterhalten, wäre dies bei ihren schlechten Deutschkenntnissen schlichtweg nicht möglich gewesen.

»Heute Dampfnudeln«, sagte die junge, schwarzhaarige Frau und reichte Margarete das Tablett. »Gut schmecken. Ich habe drüben schon gegessen. Ist gut.«

»Ach ja, heute ist ja Freitag«, erwiderte die alte Frau und lächelte leicht. »Als ich noch Bäuerin war, hat es freitags bei mir auch immer Dampfnudeln gegeben, oder Butternudeln.«

Aleksandra zuckte mit den kräftigen Schultern. Sie verstand kein Wort.

»Es so gehen?« Sie schaute die Kranke fragend an.

»Ja, ja, es geht schon.« Margarete begann zu essen. Sie wusste, dass ihre Schwiegertochter gut kochte, da gab es nie etwas zu beanstanden. Und auch heute schmeckte es ihr wieder. Jedoch konnte sie einfach nicht mehr so viel essen. So ließ sie die Hälfte auf dem Teller übrig, worauf ihr Aleksandra, die sich während des Essens am Fenster die herrliche Frühlingslandschaft angeschaut hatte, einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

»Nicht aufessen?«

Die Altbäuerin schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr.«

Aleksandra verschwand mit dem Tablett in der Küche, und Margarete ließ sich erschöpft in ihre weichen Kissen zurückfallen. Selbst das Essen strengte sie an.

Sie war müde, aber sie durfte jetzt nicht einschlafen, denn gleich würde ihr Enkel Andreas bei ihr vorbeischauen. Er war der Einzige in der Familie, der sie regelmäßig einmal am Tag besuchte. Und wenn er nicht auf dem Feld draußen war, oft sogar zweimal.

Margarete hörte, wie sich Schritte auf dem Flur näherten, und ein stilles, warmes Lächeln huschte über ihre schmalen, trockenen und aufgesprungenen Lippen.

Kurz darauf betrat Andreas das gemütliche Wohnzimmer mit den hellen Bauernmöbeln.

Aleksandra hatte die Terrassentür einen Spalt breit geöffnet und die weißen Vorhänge mit dem kleinen bunten Blümchenmuster weit zurückgezogen, sodass die warme Frühlingsluft und die goldenen Strahlen der Sonne ins Zimmer dringen konnten.

Der weiche, bunte Schafwollteppich verschluckte Andreas’ kräftige Schritte. Durch den Luftzug, der bei seinem Eintreten entstanden war, bauschten sich die Vorhänge und spielten mit dem Wind.

Es war ein wunderbarer Tag Anfang April, hell und durchsichtig wie Glas und es war angenehm warm für diese frühe Jahreszeit.

»Na, wie geht’s denn heute, Oma?« Andreas war groß, schlank und muskulös. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Krankenbett, das man vom Schlafzimmer in die Bauernstube verfrachtet hatte.

»Wie es einem mit einem gebrochenen Bein so geht, das nicht mehr heilen will. Meine Knochen sind einfach zu alt, die lassen sich nicht mehr reparieren.« Margarete sah ihren Enkel an und seufzte gottergeben. »So ist es halt, wenn man alt wird. Wirst es selbst einmal sehen. Ich geh ja mittlerweile auf die achtzig zu.« Sie seufzte ein wenig und blickte auf ihre Hände, die in all den Jahren faltig und knotig geworden und von dicken, blauen Adern durchzogen waren. Auch ihr früher so rosiges, volles Gesicht war schon lange verwelkt und runzelig.

»Das wird schon wieder. Im Sommer wirst du wieder in deinem Garten werkeln können. Wirst es schon sehen«, redete der Enkel ihr gut zu.

»Ich weiß nicht recht, ob das jemals was wird. Es ist ja leider ein offener Bruch und die Infektion bekommt der Doktor auch nicht recht in den Griff.«

»Du hättest bei dem Glatteis im Januar eben nicht rausgehen sollen. Ich hatte es dir ja gesagt«, meinte Andreas vorwurfsvoll. Er konnte sich gut daran erinnern, wie er seine Großmutter davor gewarnt hatte, bei dem Glatteis ins Dorf zum Einkaufen zu gehen. Doch eigensinnigerweise war sie natürlich doch losgelaufen und dann auch prompt auf einer Eisplatte ausgerutscht. Dabei hatte sie sich einen komplizierten offenen Beinbruch zugezogen.

»Hätte ich nur auf dich gehört«, murmelte Margarete schuldbewusst. »Aber jetzt ist es zu spät.«

»Wirst schon wieder auf die Beine kommen.« Er streichelte mit seiner großen, rauen Hand über die zerknitterte Wange seiner Großmutter.

Dann wurde er plötzlich sehr ernst und blickte Gretel, wie alle zu ihr sagten, vorsichtig an. »Weißt du schon, dass uns die Aleksandra bald wieder verlassen wird?«

Margarete warf ihrem Enkel einen erschrockenen Blick zu. »Nein, sie hat gar nichts zu mir gesagt. Wer soll sich denn jetzt um mich kümmern? Die Lotte hat doch rein gar keine Zeit.«

Andreas senkte den Kopf und blickte auf seine schwieligen Hände. »Nein, die Mutter kann es nicht machen. Bald kommen die ersten Urlauber. Alle Ferienwohnungen und sogar das Doppelzimmer sind bis in den Oktober hinein ausgebucht.« Er blickte ratlos vor sich hin und fügte dann ein wenig spöttisch hinzu: »Die Mutter ist zu sehr mit ihren Urlaubern beschäftigt, denen sie jeden Wunsch von den Augen abliest.«

»Dass mir die Aleksandra aber auch gar nichts gesagt hat. Wann geht sie denn?« Margarete schaute besorgt auf. Sie hatte Angst, dass sie nun ins Altenheim müsste, wie so viele ihrer alten Bekannten.

»Ende des Monats. Wir werden schon Ersatz für sie finden. Das ist heutzutage nicht mehr so schwierig. Du musst nicht ins Heim. Dafür werde ich schon sorgen«, bemerkte er, als hätte er die Gedanken seiner Großmutter erraten.

Margarete atmete auf. »Jetzt geh wieder, Andreas«, meinte sie, »es pressiert dir doch, merke ich ja. Ist aber sehr schön, dass du jeden Tag bei mir hereinschaust.«

»Ich muss gleich ins Lagerhaus.« Er blickte ein wenig hektisch auf die Uhr.

»Lass dich nicht aufhalten. Ich weiß doch, dass du es immer eilig hast. Bist schon ein tüchtiger Bursche.«

»Hoffentlich ist der Dünger endlich eingetroffen. Ich wart schon seit drei Tagen drauf. Wahrscheinlich haben sie im Lagerhaus wieder einmal geschlampt und ihn zu spät bestellt«, murmelte Andreas. Er ging nicht auf die anerkennenden Worte seiner Oma ein. Immer wieder brachten sie ihn in Verlegenheit, denn sie bedeuteten unterschwellig, was sie selten aussprach: dass er ganz anders war als sein Vater. Ihm hatten der Hof und die Landwirtschaft niemals etwas bedeutet. Nein, ein Bauer war der Ignaz nicht, vielleicht ein Waldbauer, aber die Viecher hatten ihn nie interessiert. Er war in erster Linie Skilehrer und in seinen jungen Jahren wohl ein rechter Saisongockel gewesen.

Andreas erhob sich in seiner ganzen Größe und warf Margarete einen aufmunternden Blick zu. »Mach dir nur keine Gedanken, dass du jetzt ins Heim musst«, sagte er noch einmal. »Das wird unter keinen Umständen geschehen.«

»Haben sie schon darüber gesprochen, deine Eltern?«, fragte Margarete bedrückt.

»Nein, mit keinem Wort. Da kannst du wirklich ganz beruhigt sein. Wir werden schon einen Ersatz für die Aleksandra finden. Es pressiert zwar, weil sie uns so spät gesagt hat, dass sie nach Polen zurückgehen will oder muss. Doch es wird schon klappen. Die Mutter hat schon bei der Vermittlungsagentur für Pflegekräfte angerufen. Sie konnten ihr noch keine konkrete Zusage geben, sind aber zuversichtlich. Sie werden sich in den nächsten Tagen telefonisch bei uns rühren.«

»Wirst du die Aleksandra vermissen?«, fragte Andreas noch, als er schon bei der geöffneten Tür stand und dabei einen vorsichtigen Blick in die Küche warf, in der die polnische Pflegerin lautstark aufräumte. Er war sich sicher, dass sie kein Wort von dem verstanden hatte, was er mit seiner Großmutter besprach, auch wenn sie gelauscht hätte. Ihr Deutsch war einfach zu schlecht. Und den hiesigen Dialekt verstand sie gleich gar nicht.

Auch Margarete schielte nun zur Küchentür hin und meinte: »Wenn ich ehrlich bin: Ich werde es verwinden, wenn sie wieder geht. Sie hat ihre Sache so gut gemacht, wie sie konnte. Aber sie ist keine gelernte Pflegerin und besonders unterhaltsam war sie auch nicht. Kannst es dir ja denken. Sie hat die Stelle nur wegen der guten Bezahlung angenommen. Ich kann es ja verstehen«, fügte Margarete seufzend hinzu. Dann ließ sie sich endgültig in ihre weichen Kissen sinken. Sie war müde.

Andreas zwinkerte ihr ein letztes Mal zu. »Dann bis heute Abend.«

»Gehst du am Donnerstag nicht immer zum Kartenspielen in die ›Alte Post‹?«, fragte Margarete mit bereits geschlossenen Augen.

»Heute ist Freitag, Oma«, klärte Andreas sie grinsend auf. »Heute hat es Dampfnudel gegeben.«

»Ach ja, jetzt hatte ich das tatsächlich schon wieder vergessen.«

Wenig später fiel Margarete Brunner in einen kurzen, traumlosen Schlaf.

2

Mist! Hier muss ich doch raus!, fuhr es Martina Bürger erschrocken durch den Kopf. Fast hätte sie die Autobahnausfahrt »Siegsdorf« verpasst. Sie bremste verkehrswidrig und konnte gerade noch abbiegen.

Zehn Minuten später lag der vertraute Ort vor ihr. Sie verlangsamte die Geschwindigkeit und beschloss, noch nicht gleich auf den Brunnerhof zu fahren, sondern zunächst in der Nähe des Rathauses zu parken. An den schönen Bau mit seiner urigen Lüftlmalerei konnte sie sich gut erinnern.

Es war ein herrlicher Tag im April. Sie dachte daran, dass sie mit ihren Eltern zweimal im August und einmal zu Ostern hier Urlaub gemacht hatte. Sie war damals noch ein Kind gewesen: zehn, elf und zwölf Jahre alt. Bei ihrem Osterbesuch hatte sogar noch Schnee gelegen, und sie konnten am Westernberg Ski fahren. Sie musste lächeln, als sie daran dachte. Denn obwohl sie nicht unsportlich war, hatte sie sich nicht besonders geschickt angestellt.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Da sie ihre Ankunft im Laufe des Nachmittags angekündigt hatte, verblieb ihr noch Zeit. Ihre Fahrt von Nürnberg nach Ruhpolding war problemlos und zügig verlaufen und ihr Eintreffen früher als gedacht.

Martina schlenderte ein wenig durch das Dorf und stellte fest, dass sich in den letzten dreizehn Jahren doch einiges verändert hatte. Sie schlug den Weg zur imposanten Barockkirche ein. Und wieder wurden Erinnerungen in ihr wach. Sie dachte daran, dass ihr Vater, der eine Schwäche für sakrale Kunst hatte, während ihres Urlaubs oft mit ihr zur Kirche hinaufgewandert war. Ihre Mutter war diesbezüglich nicht so interessiert gewesen.

So spazierte Martina nach vielen Jahren wieder diesen Hügel hinauf, betrat die Kirche und sprach ein kurzes Gebet für ihre Mutter. Der düstere linke Seitenaltar hatte sie als Kind bedrückt und geängstigt und irgendwie tat er dies auch jetzt noch.

Nach zehn Minuten trat sie wieder ins Freie. Die grelle Sonne, die von einem wolkenlos blauen Himmel schien, blendete sie nach dem dämmrigen Licht in der Kirche. Vorbei an der alten Kriegerkapelle schlenderte sie gemütlich zum Parkplatz zurück. In Erinnerungen schwelgend trank sie auf der Terrasse des Café »Chiemgau« einen Cappuccino. Oft war sie mit ihren Eltern hier gewesen und hatte Eis geschleckt oder Schokoladenkuchen gegessen.

Als Martina schließlich auf dem Brunnerhof ankam, stand die Sonne bereits tief. Breite Schatten lagen über dem Ort, während der Zellerberg noch in rot glühendem Licht erstrahlte. Lotte und Ignaz Brunner hatten ihre neue Pflegekraft schon erwartet und kamen ihr entgegen, als sie aus dem Auto stieg.

Ignaz Brunner, der Frauenkenner, riss die Augen auf, als er die hoch gewachsene, schlanke Frau mit dem langen, blonden Pferdeschwanz erblickte. Die sieht ja wie ein Model aus, fuhr es ihm durch den Kopf.

Lotte Brunner runzelte die Stirn. »Ob die was für unsere Oma ist?«, flüsterte sie ihrem Mann zu. »Die gehört doch auf den Laufsteg.«

Martina, von der Natur mit einem natürlichen Selbstbewusstsein ausgestattet und sich ihrer Wirkung vor allem auf die Männerwelt vollends bewusst, ging lächelnd und beherzt auf die Bauersleute zu. »Schönen guten Tag! Ich bin Ihre neue Pflegekraft, die Martina«, stellte sie sich unbefangen vor.

Ignaz Brunner, immer noch stattlich, wenn auch um einiges kleiner als sein Sohn, sah jünger aus, als er war. Er besaß ein markantes, aber etwas verlebtes Gesicht. Als er Martina grinsend die Hand reichte, wurden seine Augen schmaler und Hunderte von winzigen Fältchen zerstreuten sich fächerartig von den Augen bis zu den Schläfen mit den grauen Koteletten.

»Willkommen auf dem Brunnerhof«, begrüßte er Martina mit seiner sonoren, dunklen Stimme, die früher so manches Skihaserl-Herz hatte höher schlagen lassen.

Auch Lotte reichte Martina Bürger freundlich die Hand, jedoch viel zurückhaltender als ihr Mann. »Haben Sie gleich zu uns heraufgefunden?«, fragte sie ihre neue Pflegekraft etwas verhalten.

»Das war nicht schwer. Ich besitze ein Navi«, antwortete Martina lachend.

»Ich bin froh, dass wir so schnell Ersatz für unsere Aleksandra gefunden haben«, bemerkte Lotte. Ihre Erleichterung darüber, dass es mit einer Nachfolgerin für die Polin doch schlussendlich so reibungslos geklappt hatte, überwog nun am Ende ihren Argwohn und ihre leise Eifersucht, die sie noch immer empfand, wenn ihr in die Jahre gekommener Mann einer schönen Frau gegenüberstand.

»Für mich war es auch eine sehr schnelle Entscheidung«, gab Martina zu, als sie den Hof überquerten, um gleich ins Austragshaus hinüberzugehen.

»Und Sie sind gelernte Krankenschwester?«, fragte Lotte.

Martina nickte. »Ja, ich habe lange in einem großen Nürnberger Krankenhaus gearbeitet.«

Ignaz öffnete die Haustür und ließ Martina den Vortritt.

»Da geht’s lang«, sagte er und deutete auf eine der schönen, hellen Ahorntüren.

»Das ist ja ein ganz neues Haus! Und wie außerordentlich schön es ausgestattet ist!«, rief Martina begeistert aus.

»Ja, so schauen heutzutage für unsere Alten die Austragshäusl aus«, meinte Lotte ein wenig spitz.

Wieder ging Ignaz vor, er öffnete die Tür zur Bauernstube und rief gut gelaunt hinein: »Da schau her, Mama, deine neue Pflegerin ist schon eingetroffen. Musst dir keine Sorgen mehr machen. Wir haben einen Ersatz für die Aleksandra gefunden. Hat jetzt zum Glück ganz schnell geklappt.«

Hoffentlich hält sie es länger als ihre Vorgängerin bei uns aus, fuhr es Lotte durch den Kopf. Nicht, dass wir uns nach ein paar Wochen wieder nach einer Neuen umschauen müssen. Denn die Gretel wird wohl so schnell nicht wieder auf die Beine kommen.

Margarete, die gerade wieder ein wenig eingeschlummert war, richtete sich auf. So eine hübsche Person, musste auch sie gleich denken. Sie sprach es jedoch nicht aus, reichte ihr nur mit einem feinen Lächeln die seit dem Winter so weiß und schlaff gewordene Hand.

Als Martina in die gütigen blauen Augen der alten Frau Brunner blickte, wusste sie sofort, dass sie sich beide gut verstehen würden. Da stimmt die Chemie, dachte sie. Sie freute sich auf ihre Arbeit, denn mit dieser Frau würde sie sicherlich gut auskommen.

»Dann zeige ich Ihnen jetzt ihr Zimmer«, meinte Lotte und führte Martina in den ersten Stock.

Auch mit dem sonnigen, geräumigen Zimmer war Martina mehr als zufrieden. Mit so viel Komfort hatte sie auf einem Bauernhof nicht gerechnet. Lotte führte Martina dann noch eine Zeit lang im Haus herum, zeigte ihr die Küche und ging mit ihr die Arzneimittel durch, die Margarete jeden Tag einnehmen musste.

Als die beiden Frauen wieder zurück in die Stube kamen, fragte Ignaz mit übertriebener Freundlichkeit, ob Martina denn alles recht sei.

Diese Frage brachte die junge Frau beinahe in Verlegenheit. »Aber natürlich«, sagte sie, »ich habe das alles gar nicht erwartet. So ein schönes Haus und so ein gemütliches eigenes Zimmer mit diesem fantastischen Ausblick auf die Berge. Das ist ja wie Urlaub.«

»Sie werden viel mit meiner Schwiegermutter zu tun haben«, dämpfte Lotte schnell ihre Euphorie. »Auch nachts müssen Sie sicherlich oft aufstehen.«

»Aleksandra war es zu einsam hier oben und auch zu weit weg vom Ortskern. Allerdings hatte sie auch kein Auto«, sagte Ignaz schnell, und an seine Mutter gewandt fragte er: »Du schläfst doch in der Nacht oder musste die Aleksandra oft nachschauen?«

»Selten«, erwiderte Margarete mit leiser Stimme. »Ab und zu muss ich auf die Toilette.«

Lotte schüttelte über das einschmeichelnde Benehmen ihres Mannes leicht den Kopf. Der wird nie gescheiter, dachte sie, hat sich wohl schon wieder verschaut, der alte Bock.

»Sie können bei uns drüben essen. Ihre Vorgängerin hat das so gehalten«, meinte Ignaz, und seine hellgrauen Augen blitzten dabei erwartungsvoll auf.

Jetzt reicht es aber langsam, ging es Lotte durch den Kopf, und ihr Mund verzog sich verärgert.

»Ich weiß nicht recht«, meinte Martina zögernd, »ich würde, wenn es möglich ist, lieber mit der Frau Brunner hier essen.«

Sie besitzt Anstand, dachte Lotte anerkennend. Doch gleich kamen ihr Zweifel. Vielleicht möchte sie aber auch nur einen guten Eindruck schinden. Da warten wir mal in Ruhe ab, was das für eine ist.

»Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, kommen Sie einfach zu uns ins Bauernhaus hinüber«, beeilte sich Lotte schnell zu sagen. »Jetzt denke ich mir«, sie bemühte sich, Martina dabei einen freundlichen Blick zuzuwerfen, »ist es wohl am besten, wenn wir Sie eine Weile allein lassen, damit Sie sich erst einmal mit Ihrer neuen Umgebung vertraut machen können.«

»Komm, Naz«, wandte sie sich ihrem Mann zu, »geh der Frau Bürger nicht auf die Nerven. Gell, ihr zwei werdet schon zurechtkommen«, fügte sie an Margarete gewandt hinzu.

Margarete lachte insgeheim in sich hinein. Natürlich hatte es die Lotte nie leicht mit dem Naz, dachte sie. Aber in ein paar Jahren wird er doch schon sechzig sein, und dieses Mädel erst gute zwanzig Jahre alt. Das ist doch lächerlich, wenn sie jetzt immer noch eifersüchtig ist.

Margarete nickte, und die beiden verließen das Haus: Lotte erleichtert und Ignaz sehr widerwillig.

»Du hättest sie schon noch zu uns herüberbitten müssen«, brummelte Ignaz, als sie über den Hof gingen, »und zu einer Tasse Kaffee einladen. Es hätte auch noch einiges zu besprechen gegeben.«

»Das können wir auch morgen noch erledigen. Sie ist sicher müde von der Fahrt.«

»Hast du ihr denn auch gezeigt, wie sie das Bein richtig verbinden muss?«, fragte Ignaz vorwurfsvoll.

»Sie kann doch wohl mit einem offenen Bruch umgehen. Sie ist ja schließlich gelernte Krankenschwester, examiniert, wie ich es in ihren Bewerbungsunterlagen gelesen habe. Das kann sie alles sehr viel besser als ich.«

»Dann haben wir ja jetzt die richtige Kraft«, meinte Ignaz schließlich zufrieden.

»Ja, wenn sie bei uns bleibt. Vielleicht ist es nur eine Notlösung für sie. Mir kommt es ein wenig seltsam vor, dass sie sich so schnell für uns entschieden hat. Sie ist ein Stadtmensch und nun soll sie monatelang auf einem abgelegenen Bauernhof leben? Die Aleksandra wollte auch länger bleiben und dann musste sie plötzlich heim, weil ihre Mutter krank geworden ist. Falls das überhaupt stimmt.«

Sie wollten gerade ins Haus gehen, als Harry Kovatsch aus der Garage kam. Sein runder Kahlkopf glänzte vor Schweiß. Seine groben Hände waren von Maschinenöl gebeizt.

»Hast du den Traktor in Ordnung gebracht, oder müssen wir ihn doch noch in die Werkstatt bringen?«, fragte Ignaz den Ruhrpottler, der nun schon seit drei Jahren auf ihrem Hof als Helfer lebte und arbeitete, weil er einst seine Unterbringungskosten nicht hatte bezahlen können.

»Der Traktor läuft wieder richtig rund, und zwar wie ein Einser«, erwiderte Harry grinsend und wischte sich über das rot angelaufene Gesicht, sodass sich nun eine Schmierölspur über seine Wange zog.

»Du bringst auch alles fertig!«, rief Lotte bewundernd aus. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, das war ihr klar, war dieser Harry Kovatsch ein Volltreffer für ihren landwirtschaftlichen Betrieb. Er war damals als Urlauber auf ihren Hof gekommen, ohne auch nur einen Knopf Geld zu besitzen. Daraufhin hatte Andreas ihn aufgefordert, seine Schulden abzuarbeiten. Und er war auf dem Hof geblieben. Wenn Lotte diese Geschichte ihren Bekannten und Verwandten erzählte, rief das jedes Mal schallendes Gelächter hervor.

Die Familie kam gut mit ihm aus, wenn sich auch der Ignaz mit seiner Anwesenheit noch immer nicht ganz anfreunden konnte. Doch auch er sah ein, dass Harry mittlerweile auf dem Hof unentbehrlich war.

»Tropft der Wasserhahn in der Garage immer noch?«, fragte Ignaz ein wenig barsch.

»Weiß ich nicht. Hab ihn nicht gebraucht«, erwiderte Harry, der mit seinen Gedanken noch beim Traktor war.

»So siehst du auch aus. Geh bloß erst duschen, ehe du dich zum Essen zu uns an den Tisch setzt«, bemerkte Lotte lachend.

»Ich werde mal nach dem Wasserhahn sehen«, brummte Ignaz.

»Nun bleib doch da, Bauer. Hab ja nur einen Scherz gemacht. Den hab ich gestern repariert. Da tropft nichts mehr.« Harry ging ins Haus und gleich in den Keller hinunter, wo sich eine Dusche befand, die nur von Andreas und Harry benutzt wurde. Lotte und Ignaz besaßen ein neues Bad mit schönen, dezent cremefarbenen Fliesen.

Ignaz kam sich wieder einmal überflüssig vor und murmelte irgendetwas vor sich hin.

Als sie wenig später in der Küche saß, dachte Lotte daran, dass er nie ein wirklich guter Bauer gewesen war. Vielleicht ein fähiger Kommunalpolitiker, engagiert in vielen Vereinen, und sicherlich auch ein perfekter Skilehrer, aber bestimmt kein guter Landwirt. Auch war Ignaz kein sonderlich begabter Handwerker und gleich gar kein Maschinist. Er hatte auf dem Hof immer nur die notwendigsten Arbeiten verrichtet. Nun erledigte das Harry. Ihr Sohn Andreas hatte hingegen oft in Chieming zu tun, wo die Familie aufgrund Lottes Erbe Weizen- und Maisfelder besaß.

Fünf Minuten ruhte sich die Bäuerin aus, saß still und gedankenverloren auf ihrem Stuhl und starrte ins Leere, dann erhob sie sich und bereitete das Abendbrot vor.

»Wir hätten Mutters neue Pflegerin wirklich an ihrem ersten Tag auf dem Hof zu uns rüberbitten sollen«, griff Ignaz das Thema später hartnäckig noch einmal auf. »Das hätte der Anstand schon erfordert.«

»Du hast doch selbst gehört, dass sie das nicht wollte. Die Aleksandra war da halt anders. Obwohl sie kein Wort verstanden hat und nie genau wusste, worüber wir sprachen, suchte sie unsere Gesellschaft.« Lotte schnitt die Wurst auf. Sie war noch immer schlank, hatte jedoch ihre frühere Biegsamkeit und Geschmeidigkeit völlig verloren. Ihre Gelenke waren steif geworden, ihr Rücken zeigte sich schon etwas gekrümmt – und das mit erst fünfundfünfzig Jahren.

Ignaz saß am Fenster und rauchte. Er blies den grauen Qualm ins Freie. Ab und zu sah er seine Frau von der Seite an. »Warum färbst du dir denn die Haare eigentlich nicht mehr?«, fragte er Lotte unvermittelt. »Die werden ganz schön grau.«

»Lass sie doch grau werden«, brummte Lotte mürrisch. »Ich habe wirklich Besseres zu tun, als mir die Haare zu färben.« Doch dann drehte sie sich um und sah ihren Mann erstaunt an. »Wie kommst du denn plötzlich darauf?«

»Ist mir bloß so eingefallen.« Er wollte ihr nicht sagen, dass er sich gerade daran erinnerte, wie er Lotte vor dreißig Jahren kennengelernt hatte. Schwarzhaarig und hübsch war sie gewesen, dabei klein und zierlich. Aber sie hatte eine gute Figur.

»Hast du heute Abend noch einen Termin?«, wechselte Lotte das Thema.

»Ich wüsste nicht. Morgen ist Gemeinderatssitzung und übermorgen Jahreshauptversammlung vom TSV. Aber heute fällt mir nichts ein.«

Lotte nickte. Sie wusste nicht recht, ob sie sich über die ungewohnte Anwesenheit ihres Gatten am Abend freuen sollte.

»Die Gerti hat letzte Woche angerufen, dass wir wieder einmal nach Trostberg kommen sollen. Sie hat ja im Mai Geburtstag, am fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten. Das kann ich mir nie merken«, bemerkte Ignaz ein wenig lustlos. Er fuhr nicht gerne zu seiner Schwester in die Stadt. Aber ab und zu musste das sein, schon um den Kontakt nicht ganz zu verlieren.

»Zu nichts kommt man vor lauter Arbeit«, seufzte Lotte. »So rauscht das Leben wie ein Sturm im Sommer an einem vorbei. Ehe man sich versieht, ist es vorüber.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du so eine poetische Ader hast«, antwortete Ignaz und betrachtete seine früh gealterte Frau ein wenig spöttisch. Er dachte wieder an die Pflegerin. So ein schönes Frauenzimmer war ihm schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Doch gleichzeitig gestand er sich ein, dass seine besten Jahre vorüber waren. Er merkte es vor allem, wenn er im Winter seine Skikurse gab. Die jungen Urlauberinnen standen schon lange nicht mehr Schlange, um von ihm unterrichtet zu werden. Um seinen Sohn, den Andreas, ja, um den rissen sie sich. Und dann gab es noch ein paar andere fesche Burschen, die ihm schon lange den Rang abgelaufen hatten.

Lotte stellte nun eine große Platte mit deftiger Wurst auf den Tisch und auch eingelegten Käse, dazu ganz frisches Bauernbrot, Butter, Bier und Limonade. Auf dem Brunnerhof wurde immer gut, herzhaft und viel gegessen. Da kam es fast einem Wunder gleich, dass die Familie dabei so schlank geblieben war. Außer Harry, aber der war ja auch von einem ganz anderen Schlag und außerdem aß er am meisten.

Harry war auch heute wieder der Erste, der sich an den Tisch setzte. Er schielte sofort nach der Wurstplatte. Der Mann aus dem Kohlenpott war groß und kräftig wie ein Bär, und mit jedem Jahr wurde sein Bauch dicker.

»Du brauchst Hosenträger«, bemerkte Lotte, als sie wieder einmal sah, wie sein riesiger Bauch seine Jeans immer weiter nach unten drückte.

»Woher kriegen, wenn nicht stehlen«, antwortete Harry lustig und öffnete dabei zischend die Flasche Bier, die Lotte vor ihn hingestellt hatte.

»Es gibt Kaufhäuser«, bemerkte Ignaz kühl.

»Aber da müssten doch noch welche von deinem Vater sein, oder?«, meinte Lotte und sah ihren Mann fragend an.

Ignaz zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Musst halt mal in der alten Truhe auf dem Dachboden nachsehen.«

Andreas setzte sich mit zehn Minuten Verspätung an den Tisch. »Ich glaub, die Viecher lechzen danach, auf die Weide zu kommen«, meinte er. »Und wenn das gute Wetter anhält, können wir in ein paar Wochen auch die Kalben auftreiben.«

»Ich möchte dieses Jahr unbedingt noch den Streichelzoo mit Hühnern, Hasen, Ziegen und ein paar Schafen haben«, sagte Lotte bestimmend. »Die Urlauber-Kinder wünschen sich das. Und wenn wir das Gehege heuer wieder nicht anlegen, werde ich viele Gäste, die schon jahrelang kommen, verlieren. Auf dem Sollacherhof haben sie schon seit ein paar Jahren dieses Angebot.«

Ignaz runzelte unzufrieden die Stirn. »Man muss doch nicht alles mitmachen. Was willst du denn den Gästen noch alles bieten?«

»Also, ich schaffe das in den nächsten paar Wochen wirklich nicht. Was meinst du denn, was ich jetzt an Arbeit in Chieming hab?«, warf Andreas ein.

»Dich habe ich auch nicht gemeint«, sagte Lotte und blickte dabei ihren Mann und dann Harry an.

»Mal sehen, ob ich es machen kann«, meinte Harry mit vollem Mund.

»Du wolltest doch die Rotbachwiese ausfilzen«, sagte Andreas. Er ärgerte sich über seine Mutter, die nur an ihre Feriengäste dachte und der dabei nicht bewusst war, wie viel Arbeit ein Bauer im Frühjahr auf den Feldern hatte. »Ich werde jedenfalls die nächsten Wochen nur in Chieming zu tun haben.«

»Wir hätten den Hof doch verkaufen sollen«, meinte Ignaz wieder einmal.

»Das wäre mit Sicherheit der allergrößte Fehler gewesen«, widersprach der Sohn zum wiederholten Male. Sie führten diese Diskussion immer wieder aufs Neue. »Der Weizen und der Mais bringen uns nun einmal mehr Geld ein als die Viecher.«

»Bekommst du denn die Drill-Maschinen nächste Woche?«, fragte Ignaz skeptisch.

»Ich hoffe.« Andreas griff nach einer Scheibe Brot und belegte sie dick mit dem in Öl, Paprika und Zwiebeln eingelegten Käse, der ihm so gut schmeckte.

»Das mit dem Maschinenring ist ja sicherlich eine gute Idee, aber man muss ewig auf die Maschinen warten«, meinte Lotte unzufrieden.

»Nächstes Jahr kaufe ich mir wenigstens eine eigene Ballenpresse«, kündigte Andreas an.

»Das hätte es alles nicht gebraucht«, brummte Ignaz. »Hätten wir das Maisfeld und die Getreidefelder weiter an den Gschwandtner verpachtet, könntest du dich mehr um unseren Hof kümmern.«

»Die paar Leiten und Wiesen, die wir hier haben, und die paar Kühe und Kalben, das wäre zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig gewesen. Da hätte ich mir einen Nebenjob suchen müssen wie der Großvater. Der hat neben der Landwirtschaft auf dem Bau gearbeitet.«

»Das muss jetzt nicht mehr sein, wir verdienen gut mit den Urlaubern«, warf Lotte ein.

»Freilich sind jetzt andere Zeiten«, gab Andreas zu, »aber ich bin nun einmal Bauer mit Leib und Seele. Ganz im Gegensatz zu dir.« Er warf seinem Vater einen herablassenden Blick zu.

Ignaz steckte die Kritik des Sohnes wortlos ein, meinte dann aber: »Da brauchen wir gar nicht streiten. Siehst doch selbst, dass du kaum mit der Arbeit fertig wirst.«

»Ich werde schon fertig mit meiner Arbeit, wenn man mir keine anderen Sachen aufbürdet. Für so einen Streichelzoo habe ich dann eben keine Zeit.«

»Ich kümmere mich um den Streichelzoo«, beruhigte Harry die Bäuerin. »Du musst mir nur Anweisungen geben. Zusammen schaffen wir beide das schon.« Er zwinkerte Lotte mit seinen kleinen, in dicken Fettwülsten verborgenen Augen zu.

Lotte warf Harry einen dankbaren und beruhigten Blick zu.

»Übrigens ist die neue Pflegerin schon da«, sagte Lotte, nachdem die Familie eine Weile schweigsam weitergegessen hatte.

»So?« Andreas hob den Kopf. »Wie ist sie denn? Auch eine Polin?«

»Du passt auch gar nicht auf, wenn man dir etwas erzählt. Ich hab dir doch schon gesagt, dass sie eine Deutsche ist. Sie kommt aus Nürnberg und ist eine gelernte Krankenschwester. Vielleicht bringt sie die Oma ja wieder auf die Beine. Die Aleksandra verstand ja nicht viel von Krankenpflege.«

Ignaz blickte schweigend vor sich hin. Er überlegte, ob er heute nicht doch noch ins Dorf zum Stammtisch fahren sollte. Eigentlich ließ er sich dort nur selten sehen. Er müsste sich dann aber beeilen. Vielleicht war es besser, gleich zu verschwinden, sonst kam sein Sohn noch auf die Idee, ihm irgendeine Arbeit aufzutragen. Er hatte zurzeit genug mit dem Holz zu tun.

Doch Andreas war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er dachte daran, dass er sich schon lange nicht mehr bei Anna hatte blicken lassen. Er fühlte sich zwar todmüde, aber sie hatten sich über eine Woche nicht mehr gesehen. Da wurde es wieder einmal Zeit.

»Wirst du heute noch zur Anna fahren?«, fragte die Mutter prompt, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Andreas schmunzelte. »Hast du telepathische Fähigkeiten, von denen wir bislang nichts wussten? Ich habe gerade überlegt, ob ich heute noch zu ihr fahren soll. Eigentlich müsste ich mich mal wieder bei ihr sehen lassen«, fügte er grinsend hinzu.

»Was heißt müssen?«, bemerkte Harry mit seiner tiefen, singenden Stimme. »Wenn ich so eine Freundin hätte, würde ich jeden Tag vor Sehnsucht vergehen.«

»Für dich werden wir auch schon noch eine finden«, antwortete Andreas lachend. »Aber meine lässt du gefälligst in Ruh.«

»Ich hatte gedacht, die neue Kellnerin von der ›Alten Post‹ hat es dir angetan? Bist ja mal eine Zeit lang jeden Abend hinunter in die Wirtschaft gefahren. Läuft da nichts mehr?«, fragte Lotte ihn neckend.

»Die ist doch gar nicht mehr da.« Harrys Gesicht verfinsterte sich. »War nur ein paar Monate in der ›Post‹ beschäftigt, dann hat sie wieder gekündigt. Das war nicht die Richtige. Um die ist es nicht schade.«

»So was! Da finden sich zwei Ruhrpottler in der Fremde und dann kommen sie nicht zusammen«, meinte Lotte lachend.

Harry winkte ab. »Die wäre nichts für mich gewesen.«

Ignaz nervte das Geplänkel plötzlich. Er erhob sich vom Tisch. »Ich werde noch ins Dorf hinunterfahren«, kündigte er an.

»Wolltest du nicht heute daheim bleiben?« Lotte hob fragend ihre schön geschwungenen, dunklen Brauen. »Ich hab gemeint, du hättest heute keinen Termin.«

»Will mich mal wieder beim Stammtisch sehen lassen«, brummte Ignaz.

»Du wolltest doch nicht mehr hingehen, weil dir dort ein paar Leute nicht passen.«

»Ach, man muss die Leute nehmen, wie sie sind«, meinte Ignaz. »Hab mich einmal über den Bauer Toni geärgert. Aber ich glaub, dass der gar nicht mehr kommt. Ich bin gegen zehn Uhr wieder daheim. Möchte bloß wissen, was im Dorf so los ist. Vielleicht erfahre ich was Neues.« Er nahm seine Schafwolljacke von der Stuhllehne und ging grußlos hinaus.

Andreas überlegte immer noch, ob er zu Anna fahren sollte oder nicht. Zur Oma wollte ich auch noch hinübergehen, dachte er. Und wenn es nur für ein Viertelstündchen ist. Aber sie wartet auf mich.

»Heute spielt die Borussia«, erinnerte Harry Andreas, »gegen die Bayern. Wolltest du nicht mit mir fernsehen?«

»Willst du, dass wir uns noch in die Haare kriegen?«, lachte Andreas laut.

Harry zuckte mit den breiten Schultern. »Da gibt’s doch nichts zu streiten. Die bessere Mannschaft soll gewinnen.«

»Vielleicht komm ich noch zu dir hinauf. Aber jetzt geh ich schnell mal rüber zur Gretel.«

Lotte und Harry sahen ihm nach.

»Ist das nicht eher ungewöhnlich, dass ein gestandenes Mannsbild so an seiner Oma hängt?«, meinte Harry und schüttelte dabei seinen kahlen Kopf.

Lotte zuckte mit den Schultern. »Warum ungewöhnlich? Ich bin froh, dass er ihr ab und zu Gesellschaft leistet. Ich hab ja rein gar keine Zeit für die Gretel, und der Ignaz … Der nimmt sich keine.«

»Ja, das Altwerden ist kein Vergnügen«, bemerkte Harry. Er überlegte, dass die Altbäuerin ja wenigstens eine Familie hatte, auch wenn diese wenig Zeit für sie aufbrachte. Wen dagegen hatte er? Im Grunde war er ganz allein auf der Welt. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Gleich spielte Dortmund gegen Bayern, das war das Einzige, was im Moment zählte und sonst nichts. Immer im Hier und Heute leben, ermahnte er sich. Er stand auf, verabschiedete sich von Lotte und ging hinauf in sein gemütliches Zimmer.