NEARLY DEAD
Am Ende stirbst du
Aus dem Amerikanischen
von Stefanie Frida Lemke
Kosmos
Umschlaglayout: Henry’s Lodge, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images/Photostock – Israel
© 2014, Elle Cosimano
Original English language copyright © Kathy Dawson Books, an imprint of
Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC
Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke
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© 2017, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15646-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für Connor und Nick
Ihr werdet immer das Wichtigste für mich sein
Die meisten wissenschaftlichen Gesetze lassen sich auf eine simple mathematische Wenn-dann-Gleichung herunterbrechen. Wenn man sich an die Regeln hält, dann bekommt man das gewünschte Ergebnis. Wenn man von den Regeln abweicht, dann hat das Konsequenzen. Die wissenschaftlichen Gesetze halten sich nicht mit Fragen nach dem Warum auf.
Meine Mutter hatte bloß drei Regeln für mich: a) Bekomm keine schlechten Noten, b) mach keinen Ärger und c) lass dich nicht von Typen begrapschen. a + b + c = Zulassung zu einer guten Uni. Für sie war das ein unanfechtbarer direkter mathematischer Beweis. Es war keine Theorie. Es war das einzig mögliche Ergebnis.
Früher habe ich das auch geglaubt. Doch das war, bevor ich angefangen habe, mich nach dem Warum zu fragen.
Manchmal ist der einzige Weg zu einer Lösung, die Regeln zu brechen.
»Wer kann mir Dr. Schrödingers Experiment erklären?« Mr Rankin ging zwischen den Tischreihen auf der anderen Seite des Klassenzimmers auf und ab.
Ich saß über mein aufgeschlagenes Lehrbuch gebeugt, unter dem ich den Teil der Zeitung mit den Kontaktanzeigen verborgen hatte, und analysierte die Worte auf eine versteckte Botschaft. Newton hat sich geirrt. Wir stehen Gelb gegenüber. Triff mich heute Abend unter der Tribüne. Es klang wie ein wissenschaftliches Rätsel und ich konnte nicht aufhören, daraufzustarren. Blöd.
»Niemand?« Rankin blieb mit seiner kreidebeschmierten Hose neben mir stehen. Langsam legte ich den Arm über die Anzeigen. Ich war noch nie so unvorsichtig gewesen, sie im Unterricht zu lesen. Vor allem nicht so kurz vor Schuljahresende, wenn es bis zu den Abschlussprüfungen nur noch ein paar Wochen waren. Blöd. Keine Kontaktanzeige war es wert, deswegen ein Stipendium zu verlieren.
Er ging weiter und ich schob das Lehrbuch ganz über die Zeitung.
An der Tafel unterstrich Rankin die Worte TOT ODER LEBENDIG. Er hatte sie gestern am Ende der Stunde zusammen mit unserer Hausaufgabe, einem verstörenden Vorgeschmack auf den heutigen Unterricht, dort hingeschrieben.
»Tot oder lebendig? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Quantenphysik, seit Erwin Schrödinger das Experiment 1935 erstmals aufgestellt hat. Mr Petrenko, würden Sie uns vielleicht aufklären?«
Alle Köpfe drehten sich nach hinten, wo Oleksander Petrenko mit ausgestreckten Beinen und im Nacken verschränkten Händen zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß. Die Schnürsenkel seiner schwarzen Sneakers waren rot, was, wie ich fand, irgendwie nicht zu ihm passte. Alles andere an ihm – die kurz geschorenen Haare, der kantige Unterkiefer, der schroffe ukrainische Akzent – wirkte abgehackt, karg und asketisch.
Er zuckte unter seiner Kapuze mit den Schultern. »Und zu welchem Zweck?« Die Konsonanten rollten von seiner Zunge und krachten dann gegen die quadratischen weißen Zähne. Er blinzelte mit seinen grauen, von dunklen Wimpern scharf umrandeten Augen. Er hatte die Augenlider gesenkt und sah ziemlich gelangweilt aus, als er schließlich sagte: »Schrödinger war Physiker. Wir haben gerade Chemie.«
Ich unterdrückte ein Lächeln. Ich hatte überhaupt nichts mit Oleksa gemein, aber in dieser Sache konnte ich ihm nur recht geben. Schrödingers Experiment hatte nichts mit Chemie zu tun, noch nicht einmal mit Physik. Es war eine philosophische Frage, und Philosophie hatte hier nichts zu suchen. Die Naturwissenschaft folgt Regeln. Die aufgestellten Behauptungen sind messbar und konkret. Wenn man die Fakten vor eine helle Lampe hält und zehnfach vergrößert, bis die Details absolut klar sind, muss man über die Wahrheit nicht mehr diskutieren. Sie ist einfach.
Rankin zog eine Augenbraue hoch, ging zu Oleksas Tisch und trommelte mit den Fingern darauf. Oleksa betrachtete sie, als würde er sich gerade genüsslich vorstellen, Rankin die Finger zu brechen.
»Wie immer mangelt es Ihnen an Fleiß, aber nicht an schlauen Kommentaren, Mr Petrenko. Das hier ist in der Tat Chemie, und zwar ein Chemie-Vorbereitungskurs fürs College. Weswegen ich auch davon ausgehe, dass Sie in der Lage sind, die weitreichenden Implikationen von Schrödingers Experiment zu erfassen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass jemand mit einem so großen Gehirn so engstirnig sein kann.« Ich zuckte innerlich zusammen. Ich war nicht engstirnig.
Oleksa verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich auf seinem Stuhl noch tiefer sinken.
»Anh Bui, wollen Sie es mal versuchen?« Rankin drehte sich um und meine Mitschüler wandten die Köpfe wieder nach vorn. Anh neben mir räusperte sich.
»Es ist ein Gedankenexperiment«, sagte Anh. »Schrödinger hat ein Szenario präsentiert, bei dem eine Katze zusammen mit einer tödlichen Substanz in eine Kiste gesperrt wird, um zu beweisen, dass man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob die Katze tot oder lebendig ist, bis man die Kiste wieder geöffnet hat.«
Rankin fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft und eilte zur Tafel. »Beweis!«, rief er und ließ Anh und mich zusammenschrecken, als er anfing, hektisch an die Tafel zu kritzeln. »Beweis durch Widerspruch! Ein indirekter Beweis, durch den eine Behauptung verifiziert wird, indem man beweist, dass sie unmöglich falsch sein kann.« Er schlug die Hände gegeneinander und fabrizierte eine Kreidestaubwolke. »Schrödinger setzt eine Katze in einen Stahlkasten mit einer Vorrichtung, die ein Fläschchen Blausäure und eine winzige Menge radioaktiver Substanz enthält. Wenn von der radioaktiven Substanz auch nur ein einziges Atom während der Testzeit zerfällt, wird durch den Geigerzähler über ein Relais ein Hämmerchen betätigt und das Fläschchen zertrümmert, sodass die Katze stirbt. Aber wie können wir es mit Sicherheit wissen?« Er hält kurz inne und sieht uns erwartungsvoll an. »Schrödingers Experiment ist ein Paradoxon. Die Katze kann nicht gleichzeitig tot und lebendig sein, und doch behaupten frühe Theorien der Quantenmechanik, dass die Katze für die Welt außerhalb der Kiste beides ist – tot und lebendig.«
»Die Katze ist tot«, murmelte TJ hinter mir. Rankin sah ihn an, woraufhin sich die Klasse kollektiv zu TJ umdrehte. Er verlagerte das Gewicht und knallte mit seiner Beinschiene gegen meinen Stuhl. TJs Mutter hatte sich vor fünf Jahren in ihrem Saab mit laufendem Motor in der Garage eingeschlossen. Für TJ war alles, was man mit Gift in eine Kiste steckte, tot.
»Da würden Ihnen viele zustimmen, Mr Wiles«, sagte Rankin, um das unangenehme Schweigen zu beenden, und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller wieder nach vorn. Aller bis auf TJ, der ein Loch in seinen Tisch starrte. »Schrödinger selbst war klar, dass die Vorstellung absurd ist, und er argumentierte trotzdem, dass wir nicht wissen können, wie der wahre Zustand der Katze ist, bis wir die Kiste öffnen. Bis wir den Beweis haben.«
TJ grummelte etwas Unverständliches. Anh saß mit hängenden Mundwinkeln neben mir. Als wir in Biologie Frösche seziert hatten, war sie zu Hause geblieben und hatte lieber eine Woche lang Extrahausaufgaben erledigt, um die Punkte wiedergutzumachen. Anh war Vegetarierin, die Spinnen mit einem Glas einfing und aussetzte, statt sie zu töten. Dass wir Labor-Partnerinnen und außerdem Freundinnen waren, war ihr damals egal gewesen. Wenn Rankin uns für unsere Abschlussprüfung etwas Schreckliches mit einer Katze anstellen ließ, würde ich damit allein klarkommen müssen. Was, so ungern ich es mir auch eingestand, vielleicht nicht das Schlechteste war. Unsere Punkte, aufs gesamte Jahr gerechnet, lagen etwas zu dicht beieinander, als dass ich deswegen hätte entspannt sein können.
Ich malte einen sterbenden Frosch auf den oberen Rand meiner Zeitung. Eine übertrieben lange Zunge hing ihm aus dem Mund, und die Augen waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah. Ich schob die Zeitung ein Stück zu Anh. Sie schlug sich die Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, und erregte damit Rankins Aufmerksamkeit. Ich zog mein Lehrbuch wieder über die Zeitung.
Rankin sah uns stirnrunzelnd an, sagte aber nichts. Stattdessen blickte er seufzend auf seine Uhr. »Apropos absurd, kommende Stunde findet in der Sporthalle eine Party zur Unterstützung des Fußballteams statt. Ihre Labor-Noten werden wie immer Montag aushängen, und nächstes Mal werden wir über Ihre bevorstehende praktische Prüfung reden, in der Sie in einem chemischen Experiment Ihr Verständnis vom Widerspruchsbeweis demonstrieren dürfen. Das, Mr Petrenko, ist der Zweck.«
Durch das einsetzende Papierrascheln und das Zuschlagen von Lehrbüchern waren seine letzten Worte gedämpft. Rankin hob die Stimme. »Mr Petrenko, kommen Sie nächste Woche bitte vorbereitet. Und Leigh Boswell, lassen Sie die Kontaktanzeigen in Zukunft bitte in Ihrem Spind, damit Sie sich auf meinen Unterricht konzentrieren können.« Die Klingel ertönte und Rankin nahm seinen Becher. »Sie können gehen.«
Mir wich die Luft aus den Lungen, als ob mich jemand geschlagen hätte. Ich hatte das Schuljahr fast überstanden, und Rankin musste mich ausgerechnet jetzt – am Ende des vierten Quartals – vor allen anderen lächerlich machen.
Anh starrte Rankin an, wie er über seinen Tisch gebeugt dasaß. »Mach dir nichts draus, Leigh. Ihm hat eh keiner mehr zugehört. Aber du solltest die Kontaktanzeigen vielleicht wirklich besser im Spind lassen. Wir kriegen sonst noch beide Ärger.«
Ich wischte meine von Tinte schwarzen Finger an meiner Hose ab. »Es sind keine Partnerschaftsanzeigen.«
»Was auch immer.« Sie verdrehte spielerisch die Augen, als wüsste sie etwas, wovon ich nichts wusste. Ich bewunderte Anh. Ehrlich. Aber in den letzten Wochen fiel es mir schwer, mich nicht über ihre leuchtend weißen Hemden und ihre perfekt geschnittenen Haare über ihren wohlgeformten Augenbrauen zu ärgern, und darüber, dass sie vor Prüfungen nie in Panik geriet.
Es gab nur ein Chemie-Stipendium und ich war einen Bruchteil von einem Punkt hinter ihr, was bedeutete, dass Anh zwischen mir und meiner Chance auf ein neues Leben stand. Das Schicksal hatte uns wegen der alphabetischen Reihenfolge die letzten drei Jahre als Labor-Partnerinnen bestimmt, und zusammen hatten wir immer die besten Noten im Kurs gehabt. Wir brauchten einander genauso, wie wir einander schlagen mussten. Meistens tat die Vorstellung, Anh zu schlagen, einfach nur weh. Und doch wollte ich sie so unbedingt überholen, dass ich es beinah schmecken konnte.
Ich verabscheute mich selbst für diese Gedanken, von denen ich hoffte, dass Anh sie mir nicht ansehen konnte. Ich fühlte mich wie Schrödingers verdammte Katze. Es war blöd zu denken, dass es mehr als ein Ergebnis geben konnte. Zu wünschen, dass wir beide Erste würden. Unsere Situation anders als schwarz-weiß zu sehen.
Ich stopfte die Kontaktanzeigen in meinen Rucksack, nahm meine Bücher und hielt inne. Da stand etwas auf meiner Tischplatte, was gestern noch nicht da gestanden hatte. Ich hatte es so eilig gehabt, die Zeitung durchzusehen, dass es mir vorher gar nicht aufgefallen war. Die Buchstaben waren in blauer, kräftiger Schrift und bildeten genau die Worte ab, die Rankin gestern Nachmittag an die Tafel geschrieben hatte. TOT ODER LEBENDIG? Mit den Büchern im Arm blickte ich auf. Das Klassenzimmer war fast leer.
»Ich wollte in die Bibliothek und für die Matheprüfung lernen. Gehst du mit Jeremy zur Fußballparty?«
Anh stand neben mir und wartete. Zögernd fuhr ich mit dem Finger über die Buchstaben. Sie fühlten sich unheimlich an, als steckte mehr dahinter. Die blaue Farbe verwischte nicht, aber ich konnte immer noch den Textmarker-Geruch wahrnehmen. Anscheinend war es der gleiche blaue Textmarker, den wir während der Laborstunden verwendeten. Irgendjemand musste sich vor dem Unterricht auf meinen Platz gesetzt und es für eine witzige Idee gehalten haben, mir Angst einzujagen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass jemand aus der Schule sich auf meine Kosten einen Scherz erlaubte. Da schien mir dieser hier noch recht harmlos.
Anh wartete immer noch. Gerade wollte ich nichts anderes, als mich so weit wie möglich von Mr Rankin und dem Gerücht, das er vor meinem ganzen Chemiekurs in die Welt gesetzt hatte, zu entfernen. Als wenn die Leute nicht so schon genug Stoff gehabt hätten, um über mich zu lästern. »Fußballparty. Klar. Wir sehen uns beim Essen.«
Jeremy wartete vor dem Chemieraum auf mich. Er lehnte an der Wand und fummelte an seiner Kameratasche herum. Der hellblonde Pony fiel ihm weich über die Augen. Er hielt kurz inne, um sich mit einem langen, schmalen Finger die Brille aus Drahtgestell die Nase hochzuschieben. Als ihn jemand im Vorbeigehen anrempelte, sah er mit seinen blassgrauen Augen auf und unsere Blicke trafen sich. Er lächelte.
Ich wollte sein Lächeln erwidern, aber nach der Stunde bei Mr Rankin war ich in viel zu düsterer Stimmung, um zurückzugrüßen.
»Na, mein Sonnenschein?«, sagte er und warf mir eine Packung Twinkies zu. Jeremys Lächeln kam mir in letzter Zeit strahlender vor. Anh behauptete, dass er nur so lächelte, wenn er mit mir zusammen war. Die einfache Tatsache, dass ich mich dafür verantwortlich fühlte, bewirkte, dass mir sein Lächeln vorkam wie Scheinwerferlicht. Und ich hatte heute schon genug im Scheinwerferlicht gestanden.
Er sah an mir vorbei, über meinen Kopf hinweg und runzelte die Stirn. »Kommt Anh nicht mit?«
»Sie will lernen.«
Ich drückte ihm den Zeitungsteil mit den Nachrichten aus aller Welt in die ausgestreckte Hand und behielt den Rest. Die Weltnachrichten waren Jeremy wichtig. Jeremys Welt war größer als meine. Seine Eltern hatten Ferienwohnungen auf Aruba und den Cayman-Inseln. Ich dagegen hatte noch nie besonders viel Sinn darin gesehen, mich mit globalen Themen zu beschäftigen, wenn meine ganze Welt in einen Wohnwagen und auf den Beifahrersitz von Jeremys Civic passte.
Ich gab ihm einen der beiden Twinkies zurück und futterte meinen mit wenigen Happen auf, während ich zwischen mich und das Labor immer mehr Abstand brachte. Jeremys Kamerahülle schlug ihm gegen die Brust, als er versuchte, mit mir Schritt zu halten.
»Guten Morgen, Jeremy«, sagte er mit vollem Mund. »Schön, dich zu sehen. Wie war dein Tag bisher? Großartig, Nearly, danke der Nachfrage. Hey, das freut mich. Meiner auch.«
Ich zuckte zusammen, als er meinen richtigen Namen aussprach. In der Mittelstufe hatten wir mal eine Schreibaufgabe bekommen, in der wir überflüssige Adverbien streichen sollten, und die Klasse hatte sich an meinem Namen festgebissen: Nearly Boswell. Ich war nur noch ein Adverb. Nearly. Beinah. Überflüssig.
Jeremy hatte sich überlegt, dass mir ein neuer Name mehr Selbstbewusstsein geben würde. Und sich Leigh ausgedacht.
Nicht dass es etwas geändert hätte. In der Grundschule war ich »Nearly A Freak« – Nearly, die fast Verrückte –, in der Mittelstufe dann »Nearly Has Boobs« – Nearly, die kaum Titten hat –, und jetzt auf der West River Highschool war ich für die meisten »Nearly Invisible« – so gut wie unsichtbar.
Jeremy nannte mich nie bei meinem richtigen Namen, es sei denn, er wollte mir etwas Bestimmtes sagen.
Er sah mich nachdenklich an. »Lass dich von Rankin nicht unterkriegen. Er wird dich nicht schlechter benoten, nur weil du im Unterricht Kontaktanzeigen gelesen hast.«
»Du hast schon davon gehört?« Ich blickte mich um, ob uns jemand zuhörte.
»Sollte ich eifersüchtig sein?«, neckte er mich. »Die Kontaktanzeigen waren doch mal unser Ding. Seit wann liest du sie mit Anh?«
»Wie lange hast du schon da draußen gestanden? Warum warst du nicht im Unterricht?«
Er wedelte mit einem rosafarbenen Blatt Papier. »Ich hab eine Entschuldigung. Meine wöchentliche Therapiestunde bei Dr. Matthews.«
Ich blickte ihm weiter in die Augen, um zu sehen, ob er log. Er ging zu Dr. Matthews, seit er mit zwölf versucht hatte, sich mit einer Überdosis Hustensaft umzubringen. »Und warum warst du dann nicht zur Therapie?«
Jeremy zog triumphierend ein zweites rosafarbenes Blatt Papier hervor. »Entschuldigung wegen Krankheit.«
Ich betrachtete ihn von oben bis unten. Er war eindeutig nicht krank. Aber er lächelte das gleiche strahlende Lächeln wie an dem Tag, als er mich zum ersten Mal zur Schule abgeholt hatte, nachdem ihm sein Vater gerade verboten hatte, mit dem Auto auch nur in die Nähe meines Viertels zu fahren. Er hatte das gleiche sorglose Funkeln in den Augen wie an den Freitagabenden, wenn meine Mom arbeiten war und ich ihn durch das Hinterfenster in den Wohnwagen zog, damit unsere neugierigere Nachbarin ihn nicht sah.
Normalerweise hätte ihn der bloße Gedanke daran, zu schwänzen, sofort hektisch nach einem Beruhigungsmittel greifen lassen. Jeremy tat schon sein ganzes Leben lang, was seine Eltern von ihm erwarteten – bis auf die Zeit, die er mit mir verbrachte. Sein Vater war viel zu streng, als dass Jeremy irgendetwas anderes riskieren würde. Und jetzt strahlte er, als hätte er von seiner eigenen Freiheit gekostet und als ob ihm der Geschmack gefalle.
»Wie viele Sitzungen hast du schon sausen lassen?«
Er ignorierte meine Frage und ging gelassenen Schrittes auf die Sporthalle zu.
Ich trabte hinter ihm her, machte zwei Schritte, wenn er einen tat, und wurde immer beunruhigter, als das Lächeln von seinem Gesicht verschwand. »Du wirst richtig Ärger bekommen, wenn deine Mutter spitzkriegt, dass du die Therapie geknickt hast.«
»Das ist ihr doch egal«, murrte er. »Sie hat ja noch nicht mal mitbekommen, dass ich mit Dads Pokergeld eure Miete bezahlt habe …« Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab und er verschluckte den Rest des Satzes, als ob er gerade erst gemerkt hätte, dass er es laut ausgeprochen hatte.
Ich riss die Augen auf. »Du hast was?«
»Keine große Sache«, sagte er und hakte mich unter, während er weiterging. »Dad ist gestern Abend ziemlich betrunken und mit einer Menge Bargeld nach Hause gekommen. Vince’ Dad hat ganz schön abgelost.« Er sah mich verschwörerisch an. »Ich hab ein paar Hunderter abgezweigt und sie meiner Mom gegeben. Hab gesagt, es wäre eure Miete. Das sollte sie deiner Mom für ein paar Tage vom Hals halten.«
»Das hättest du nicht tun sollen, J. Nicht dass du deswegen noch Ärger kriegst.« Seine Eltern waren unsere Vermieter, und seit mein Dad uns verlassen hatte, konnten sie uns nicht mehr leiden. Wahrscheinlich, weil wir die Miete immer zu spät zahlten.
»Keine große Sache.«
Er setzte ein papierdünnes Lächeln auf, aber mit irgendetwas hielt er hinterm Berg. Ich konnte keine verräterischen Anhaltspunkte dafür sehen, dass er und sein Dad einen Streit gehabt hätten, aber Jeremy war schon immer gut darin gewesen, seine gelegentlichen blauen Flecken zu verbergen.
Meine Finger in den Hosentaschen zuckten. Ich wollte ihn anfassen, aber ich wollte auch nicht schnüffeln. Wenn er es mir nicht sagte, dann war ihn zu berühren die einzige Möglichkeit herauszufinden, was er fühlte. Doch es kam mir falsch vor, als würde ich in jemandes Zimmer herumstöbern oder jemandem etwas wegnehmen, was mir nicht zustand. Ich würde seine Gefühle spüren, sie schmecken, als wären sie etwas Greifbares, was ich verzehrt hatte.
Als ich Jeremy zum ersten Mal angefasst hatte, waren wir zwölf. Unsere Finger berührten sich, als wir gleichzeitig nach dem letzten Keks auf dem Silbertablett in Jeremys Küche griffen, während unsere Väter Poker spielten. Bis zu jenem Abend hatten wir nie viel miteinander geredet, wenn mein Dad mich freitags abends mit nach Belle Greene schleppte, damit er mit Mr Fowler Karten spielen konnte. Ich fühlte mich in seinem Haus fehl am Platz. Es war voller teurer und zerbrechlicher Dinge. Dinge, die ich nicht hätte anfassen sollen, was ich aber trotzdem tat, weil sie so anders waren als die Dinge bei mir zu Hause. Doch als ich Jeremy berührte, fühlte er sich genauso an wie ich. Einsam. Er war bei sich zu Hause, in seinem Viertel, aber trotzdem passte er nicht rein. Ich kannte diese Art von Einsamkeit, denn es war auch meine.
Wir teilten uns den Keks an jenem Abend, und seitdem teilten wir alles. Wir waren zwar immer noch einsam, aber zusammen war die Einsamkeit irgendwie erträglicher, weil wir sie teilten.
Ich zog die Hände aus den Taschen, und als ich nach seiner griff, schnürten mir die Emotionen den Hals zu. Seine Depression schmeckte wie trockener Salzteig. Wenn sie durch die Antidepressiva, die Dr. Matthews ihm verschrieb, nicht gedämpft gewesen wäre, hätte ich kaum weiteratmen können. Trotzdem brannten meine Augen, als ob ich geweint hätte, und ich schluckte, bis der Knoten in meinem Hals zu einer geballten Faust in meiner Brust geworden war. »Was ist los? Du kannst es mir ruhig sagen.«
Jeremy schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.«
Doch das stimmte nicht. Es war stark und hatte einen bitteren Nachgeschmack und wollte sich schon wieder hochkämpfen. Jeremy war wütend, aber hatte die Wut tief in sich vergraben. Ich hatte das Gefühl, dass seine Wut sich gerade auch unter meiner Haut durchwühlte.
»Irgendwas ist doch.«
Er schüttelte es ab und mied meinen Blick. »Ich hab mich heute Morgen mit meiner Mom angelegt, das ist alles.«
Ich drückte seine Hand. Was auch immer es war, er würde es mir erzählen, wenn er so weit war. »Ich zahle dir die Miete zurück, versprochen. Ich will nicht, dass du deswegen Ärger kriegst.«
Er erwiderte meinen Händedruck, doch das kurze Gefühl von Zuneigung war mit Zweifel durchsetzt. Ich ließ seine Hand los und schob meine Brille hoch, sodass ich sein angespanntes Lächeln wieder schärfer sah. Noch vor einer Sekunde hatte ich Jeremy viel deutlicher gesehen, und jetzt wünschte ich, es nicht getan zu haben.
»Ist schon okay. Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte er, als ob auch er in mich hineinsehen könnte.
Wir näherten uns der Sporthalle, und schon auf dem Gang hörte man den ohrenbetäubenden Lärm klatschender Hände und das regelmäßige Stampfen von Füßen auf der Tribüne. Das Fußballteam der West River High hatte es ins Entscheidungsspiel um die Highschool-Meisterschaft geschafft. Die Spieler versammelten sich gerade vor der Vitrine mit den Pokalen, um ihre Spiegelbilder in der Scheibe zu begutachten oder sich selbst vor ihrem eigenen Altar anzubeten, bevor sie in die Sporthalle laufen würden. Als ich um den Pulk von blauen Trikots herumging, passte ich auf, dass ich sie nicht berührte.
»Achtung!«
Ich duckte mich und hielt die Luft an, als ein Fußball über Jeremy hinwegflog. Er prallte gegen die Wand und traf Jeremy dann seitlich am Kopf.
»Mann, entspann dich. Ist doch bloß Fowler.« Vince DiMorello sammelte seinen Ball ein und dribbelte damit zurück durch die Menge.
»Geht’s noch?«, rief ich.
»Leck mich, Boswell«, erwiderte Vince und zeigte mir den Stinkefinger. Ich schluckte einen ganzen Mund voll verschiedenster Beleidigungen herunter, die bei Vince’ eingeschränktem Vokabular und armseligem IQ die reinste Verschwendung gewesen wären, als eine perfekt manikürte Hand ihn gegen den Hinterkopf schlug. Und zwar ordentlich. Für alle anderen hatte es vielleicht wie ein spielerischer Klaps ausgesehen, aber ich kannte diese Cheerleaderin, und Emily Reinnerts Gesichtsausdruck war gerade alles andere als flirtend.
»Sei nicht so ein Arsch«, murmelte sie, als sie an ihm vorbei auf die Sporthalle zuging.
Sie sah mich nicht an, als sie an mir vorbeikam. Nicht direkt. Stattdessen zog sie den Mundwinkel hoch, sodass das Wild-Cats-Logo auf ihrer Wange sich wellte. Das Gedränge um uns herum wurde immer dichter, je näher wir den Türen zur Sporthalle kamen. Unauffällig drückte sie mir einen Zettel in die Hand, und bei dem unerwarteten Körperkontakt erschauderte ich. Eine Welle ihrer vielschichtigen Emotionen durchfuhr mich. Ein Übelkeit erregendes Kribbeln, das ich als Lampenfieber interpretierte. Dann folgte ein kühler Schauer von Dankbarkeit.
Ich knüllte den Zettel zusammen und zog die Hände in meine Pulloverärmel zurück, während Jeremy dem Saum ihres Cheerleader-Röckchens hinterherblickte, als sie in der Sporthalle verschwand. »Bilde ich mir das ein oder ist der Rock kürzer als sonst?«
»Jeremy!« Ich zog an seinem Kameragurt. »Warum machst du kein Foto? Das wird länger halten.«
»Ich hab eigentlich vor, gleich ein paar Dutzend zu machen«, sagte er. »Für die Schülerzeitung. Meinst du, sie gibt mir ein Interview?«
Ich schnaubte. »Wenn du an ihrem Freund vorbeikommst. Für deinen nächsten Akt der Rebellion würde ich vorschlagen, dass du TJs Freundin nach einem Date fragst. Bin gespannt, wie lange er braucht, um dich mit seiner Beinschiene totzuprügeln.«
»Das würdest du doch nicht zulassen.«
Er sagte es leichthin, als müsse er überhaupt nicht darüber nachdenken. Jeremy war Pazifist – das Gegenteil von seinem Dad –, wohingegen ich dazu neigte, für uns beide zu reagieren. Als wir vierzehn waren, hatte ich einmal mit dem Telefon am Ohr in seiner Küche darauf gewartet, dass das Sozialamt ranging. Jeremy hielt meine Hand umklammert, sein Handgelenk war voller blauer Flecken, und er schmeckte reumütig und unsicher, als hätte er es vielleicht verdient. Ich legte auf und Jeremy ließ mich los, aber ich verabscheute mich deswegen immer noch.
»Kommst du?«, fragte er und riss mich aus meinen Gedanken. Hinter ihm wogte zu der dröhnenden Musik und den lauten Rufen jetzt ein Meer aus blau-weißen Trikots und Pompoms.
»Nee, ist nicht so meins. Anh muss nach der Schule für ihren Bruder im Laden arbeiten. Wir könnten doch mal wieder was zu zweit machen«, sagte ich hoffnungsvoll. Wenn wir unter uns wären wie früher, würde er sich mir vielleicht öffnen und mir sagen, was los war.
»Ich kann nicht. Ich muss über das Spiel in North Hampton berichten.« Er hielt die Kamera hoch und winkte mir entschuldigend zum Abschied.
Die blau-weiße Masse verschluckte ihn, und über ihr war nur noch Jeremys blonder Schopf zu sehen, wie die Sonne über dem Meer. Ich drückte meine Hand, mit der ich eben noch seine gehalten hatte, und hoffte, dass er eine Weile ohne mich auskommen würde. Bereits im Rückwärtsgang winkte ich ihm hinterher, bis er ganz in der Halle verschwunden war.
Ich hatte immer noch Emilys zerknitterten Zettel in der Hand und stahl mich damit in die nächste Toilette, um ihn zu lesen. Alles daran blubberte, von den gruseligen Kringeln an den Buchstaben bis hin zu den dreifachen Ausrufezeichen.
Ich hab 79% in der Mathe-Arbeit. Bestanden!!!
Seufzend zerknüllte ich den Zettel und warf ihn in den Müll.
Es war beinah ein Dankeschön. Dass sie bestanden hatte, hieß, dass sie ihren Platz in der sozialen Rangordnung behalten konnte. Leider würde ihr Bestehen nichts an meinem Platz ändern, obwohl ich diejenige war, die ihr nach der Schule Nachhilfe gab.
Jede Woche.
Seit drei Monaten.
Gemeinnützige Arbeit. Fünf Tage die Woche. Eine Stunde am Tag. Obligatorisch für alle Kandidaten für ein Stipendium. Die Leute, die ein Auto oder das Geld für den Bus hatten, konnten in Krankenhäusern oder Laboren oder am Smithsonian in Washington arbeiten. Oleksas Dad hatte ihm einen Job irgendwo bei der Regierung besorgt, wo er mathematische Codes entschlüsseln durfte. Wohingegen wir, die wir uns etwas größeren Herausforderungen gegenübersahen, was die Fortbewegung anging, unseren Mitschülern nach dem Unterricht noch Nachhilfe geben durften.
Was sich auch durchaus gelohnt hätte, wenn ich dafür bezahlt worden wäre. Dann hätte ich mir das Geld für meine Zeitungen nicht aus der Keksdose stibitzen müssen, in der meine Mutter ihr Trinkgeld aufbewahrte, und ich wäre nicht auf Jeremys Twinkie-Gaben angewiesen gewesen, um meinen Junkfood-Hunger zu stillen.
Ich schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Wand knallen, was gegen die aufkommenden Kopfschmerzen allerdings nicht half. Jeremy zu berühren hatte mir richtig Stress bereitet. Die Kopfschmerzen und die ständige Übelkeit waren der Grund dafür, dass ich meine Mutter nicht mehr berührt hatte, seit mein Vater uns vor fünf Jahren verlassen hatte. Ich hatte es versucht, hatte gedacht, ich könnte die Lücke ausfüllen. Ich hatte geglaubt, ihren Schmerz lindern zu können, indem ich ihr nah war, um damit vielleicht auch meinen eigenen Kummer stillen zu können. Doch ich war nicht genug, und schließlich wurde sie so verbittert, dass ihr Schmerz, wenn wir uns berührten, noch tagelang an mir haften blieb und der Geschmack mir Übelkeit verursachte. Ich wurde immer dünner und schwänzte die Schule, versteckte mich unter der Bettdecke und in langärmeligen Shirts. Meine Mutter fing an, sich Sorgen zu machen, und ging mit mir zu verschiedenen Ärzten, die ihr aber durchweg bescheinigten, dass körperlich alles in Ordnung mit mir sei. Sie vermuteten, dass ich gestresst war, emotional labil, weil mein Vater uns verlassen hatte. Von nun an haftete der Trauer meiner Mutter eine Spur Erleichterung an – vielleicht auch, weil die Ärzte ihr einen weiteren Grund geliefert hatten, ihm die Schuld zu geben.
Doch damit lag sie falsch. Sie lagen alle falsch. Mein Vater war nicht für meine Gefühle verantwortlich. Meine Gefühle kamen nicht aus mir heraus. Es waren die Gefühle der Leute, die ich berührte. Ich wusste nicht, wie es funktionierte – es ist ja schließlich nicht so, dass man solche Dinge in der Schule lernen würde –, aber ich hatte eine Theorie. Gefühle sind Energie, und wenn Energie stark genug ist, kann sie sich zwischen zwei Punkten bewegen. Vielleicht war ich eine Art Medium, das anderer Leute Energien empfangen konnte. Und irgendwie erfuhr ich so Dinge über diese Menschen, die anderen verborgen blieben. Doch die meisten dieser Dinge hinterließen einen bitteren Nachgeschmack, sodass ich mir wünschte, den Leuten niemals nahegekommen zu sein. Also vermied ich es, andere zu berühren. Ich machte keinen Sport, ging auf keine Partys und auch nie mit Jungs aus.
Und ich erzählte niemandem davon.
Ich spülte zwei Aspirin mit einer Handvoll Leitungswasser herunter. Dann lehnte ich mich auf das Waschbecken und betrachtete mein Spiegelbild, betrachtete die Details in meinem Gesicht, an die ich mich noch von meinem Vater erinnerte, zwischen den Eigenheiten, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Ich sah immer nur fast, aber nie ganz einem von beiden ähnlich.
Ich war immer noch bloß Nearly.
Nach der Schule schlug ich in meinem Zimmer die Zeitung auf dem Fußboden auf. Ich interessierte mich nicht für die ganze Zeitung, sondern nur für den Teil mit den Kontaktanzeigen. In der Schule hatte ich sie nur überfliegen können, und ich klammerte mich an die Möglichkeit, vielleicht etwas Wichtiges übersehen zu haben.
»Was meinst du, Doc? Werde ich ihn diese Woche finden?«, fragte ich das Poster an meiner Wand. Es war ein Geburtstagsgeschenk von Anh, die es urkomisch fand, dass Albert Einstein der einzige Kerl war, der bisher in meinem Zimmer gewesen war, bis ich sie darauf hinwies, dass das immerhin einer mehr war als bei ihr.
Ich hatte Anh nie von den Freitagabenden erzählt, an denen Jeremy und ich früher gemeinsam auf dem Fußboden in meinem Zimmer gelegen und uns Twinkies essend über die Kontaktanzeigen kaputtgelacht hatten. Das war gewesen, bevor wir auf einmal drei waren.
Als ich die paar Kontaktanzeigen, die am Vormittag noch einen Funken Hoffnung in mir hatten aufglimmen lassen, jetzt genauer ansah, stellte ich fest, dass sie nichts weiter als bedeutungslose Anmachen waren.
Ich hab dich im Bus gesehen. Blaue Linie. Du bist Van Dorn ausgestiegen. Du hast rote Haare und tolle Titten. Ich glaube, du hast mich auch bemerkt. Wenn ja, morgen gleiche Zeit, gleicher Ort. Ich halte dir einen Platz frei.
Ich lachte schnaubend und hielt mir die Hand vor den Mund, um durch die dünnen Wohnwagenwände meine Mutter nicht zu wecken.
Du hast bei der Post auf der Wythe Street deine Briefmarken fallen gelassen und ich habe sie für dich aufgehoben, war aber viel zu nervös, um etwas zu sagen. Wenn du das hier liest, verrate mir, was ich anhatte, damit ich weiß, dass du es bist.
Seufzend ließ ich mich rückwärts auf den abgewetzten Teppich fallen. Fünf Jahre waren jetzt schon vergangen, und immer noch kein Zeichen von dem Mann, der jeden Samstag mit mir in den Belle Green Park gegangen ist, Pusteblumen hervorzauberte und mit einer einzigen Handbewegung Münzen verschwinden ließ.
Ich griff unter die Matratze meines Bettes und holte eine kleine Plastiktüte hervor, in der sich eine sorgfältig zusammengefaltete Kontaktanzeige von vor fünf Jahren befand, außerdem eine abgenutzte braune Brieftasche, ein goldener Ehering und ein Zugticket. Die Brieftasche und der Ehering waren alles, was von der persönlichen Habe meines Vaters noch übrig war. Meine Mutter hatte beides in seinem Auto gefunden, das er im Parkhaus am Flughafen hatte stehen lassen.
Ich hatte Mona dabei zugeschaut, wie sie die Ausweise und Bankkarten zerschnitten und alles, sogar den Ring, in den Müll geworfen hatte. Als sie sich weinend in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, fischte ich die Schnipsel, die von meinem Vater noch übrig waren, aus dem Müll und versuchte, sie wieder zusammenzukleben. Es waren unglaublich viele Teile. Sie passten zusammen wie ein Puzzle, und als ich schließlich fertig war, hatte ich vier Führerscheine, alle mit einem anderen Namen. Die Bilder sahen meinem Vater alle ähnlich, aber keiner davon war er. Ich überlegte mir verschiedene Theorien, warum er diese gefälschten Ausweise besessen hatte. Ich stellte mir vor, dass er in irgendeinem Zeugenschutzprogramm war und deswegen so viele unterschiedliche Namen hatte. Wir wohnten in der Nähe von Langley und dem Pentagon. Ich redete mir ein, dass er undercover für die CIA arbeitete. Mein Vater wäre nicht einfach so abgehauen. Er musste einen Grund gehabt haben. Und ich glaubte daran, dass er eines Tages zurückkommen würde. Dass alles eine notwendige Maßnahme gewesen war und er wie eine Karte bei einem Kartenspieltrick auf einmal wieder auftauchen würde, so als wäre er nie weg gewesen.
Ich hatte die falschen Ausweise wieder in den Müll geworfen und alles andere in einer Plastiktüte verstaut.
Die Kontaktanzeige hatte ich in der Mittelstufe gefunden. Jeremy und ich lasen die Anzeigen jeden Freitagabend, während unsere Väter zusammen Poker spielten. Ich hatte immer gedacht, wir wären wegen unser beider Einsamkeit so von den Anzeigen fasziniert. Dass wir vielleicht beide nach etwas suchten. Aber dann hatte ich eines Tages, ungefähr ein Jahr nachdem mein Vater verschwunden war, diese eine Anzeige gefunden, die alles veränderte.
Vorsichtig faltete ich das brüchige Papier auseinander. Ich musste es eigentlich nicht lesen. Ich kannte jedes Wort auswendig.
N., ich bin hier und es geht mir gut. Ich werde immer bei dir sein.
In Liebe, D.
Ich hatte keinen Beweis dafür, dass es mein Dad war. Jeremy meinte, N. könnte für alles Mögliche stehen. Aber ich wusste, dass ich gemeint war. Ich wusste, dass die Anzeige von meinem Vater war, auch ohne Beweis und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Es war einfach eine Gewissheit tief drin in meinem Herzen. Mein Vater hatte unser Freitagabendritual gekannt und er musste es für die perfekte Möglichkeit gehalten haben, mich unauffällig zu kontaktieren.
Danach hatte ich die Anzeigen nur noch allein lesen wollen. Ich fand sie nicht mehr lustig, konnte nicht mehr über die Verzweifelten lachen. Ich war selbst auf der Suche. Verzweifelt. Jeremy glaubte nicht daran, dass mein Dad mir eine Nachricht hatte zukommen lassen wollen, und ich war an nichts anderem mehr interessiert, als eine neue zu finden. Von da an brachte Jeremy die Kleinanzeigen nicht mehr mit, und ich kaufte sie mir selbst. Es war nicht mehr unser gemeinsames Ritual. Es war meins.
Jeden Freitag durchsuchte ich die Anzeigen. Einmal war ich mir ganz sicher, ihn gefunden zu haben.
Beinah ein Jahr seit meiner letzten Anzeige. Ich bin in der Stadt und will dich sehen. Triff mich Samstag an unserem alten Ort.
Gleich nach Sonnenaufgang war ich im Belle Green Park. Den ganzen Tag beobachtete ich den Parkplatz und die Wege, während die Eltern, die ihre Kinder auf den Schaukeln anschubsten, mich argwöhnisch beäugten. Das sind die Kinder, mit denen du dich anfreunden solltest, hatte mein Vater einmal auf meine Frage geantwortet, warum wir jeden Samstag in diesen Park gingen statt zu dem am Ende unserer Straße. Die Eltern der Kinder sahen mich jetzt genauso an, wie sie mich schon damals angesehen hatten. Als gehörte ich nicht hierher. Sie hatten recht. Als es dunkel wurde, ging ich nach Hause. Und eine Woche später fand ich die Antwort auf die Anzeige, die mir bestätigte, dass sie nicht von ihm stammte.
Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich in den Kontaktanzeigen immer nach meinem Vater gesucht. Aber jetzt? Manchmal las ich eine Anzeige, die so perfekt meine eigene Einsamkeit ausdrückte, dass ich sie ausschnitt und aufbewahrte. Ich sah sie mir genau an und überlegte, woran es lag, dass manche Anzeigen beantwortet wurden und andere nicht. Ich wusste gar nicht mehr genau, nach wem oder was ich suchte, aber manchmal fühlte es sich an, als suchte ich nach einem fehlenden Teil meiner selbst.
Ich las die ausgeschnittene Anzeige noch einmal, legte sie vorsichtig zurück in die Tüte und schob sie weit unter die Matratze. Dann blätterte ich zurück zu der Anzeige, die mich den ganzen Tag schon nicht losgelassen hatte, wegen der ich in Chemie Ärger bekommen hatte.
Newton hat sich geirrt. Wir stehen Gelb gegenüber.
Triff mich heute Abend unter der Tribüne.
Diese Anzeige war ganz anders als die triefend süßen Bitten, die ich freitags sonst so gewohnt war. Diese Anzeige hinterließ einen sauren Geschmack in meinem Mund. Irgendetwas daran … stimmte nicht. Aber nicht, weil es sich nach einem Perversen an der Bushaltestelle anhörte. Auch nicht nach einem unter Liebeskummer leidenden Vollidioten. Diese Anzeige war irgendwie anders. Anders als alles, was ich bisher in den Kontaktanzeigen gelesen hatte.
»Nearly!« Meine Mutter klopfte an meine Zimmertür und ich fuhr zusammen. Leise fluchend sprang ich auf.
»Nearly, mach die Tür auf!«
Ich wischte die Hände an meinen Shorts ab, was dunkle Flecken auf dem Stoff hinterließ.
Tief Luft holend entriegelte ich die Tür und öffnete sie einen Spalt. Mona stand mit einem leeren Kaffeebecher und einer Packung Menthol-Zigaretten in den Händen auf dem Flur. Da sie noch Zigaretten hatte, bedeutete das wohl, dass sie noch nicht in die Keksdose gesehen hatte. Meine Schultern entspannten sich, aber nur minimal. Meine kleinen Diebstähle aus ihrer Trinkgelddose waren bloß eine notwendige Umschichtung unseres Haushaltsgeldes – ich brauchte meine Zeitungen dringender als sie ihre Zigaretten. Doch auch wenn mich meine Sucht nicht umbringen würde, hatte ich trotzdem nicht vor, mich erwischen zu lassen.
Sie hob eine ihrer dünn gezupften Augenbrauen. Wenn ich ihr nicht ins Gesicht sah, konnte ich mir einbilden, dass sie unter dem Bademantel einen Flanell-Schlafanzug mit Teddybären und Herzen darauf anhatte. Wenn ich die Glitzersteine ignorierte, die an ihren Augen klebten, hätte sie irgendeine Mutter sein können. Aber sie war nicht irgendeine Mutter. Sie war meine.
Mona zündete sich eine Zigarette an und atmete eine lange Rauchfahne aus. »Ich gehe zur Arbeit.«
Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob ich ihr die Tür vor der Nase zuknallen oder uns beide sicher drinnen einschließen sollte.
»Jeremy hat gesagt, wir haben die Miete mal wieder nicht gezahlt.«
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, und für einen Augenblick fürchtete ich, dass wir dieses Mal tatsächlich nicht genug Geld hatten. Jeremy hatte uns mit dem Pokergeld von seinem Dad einen Tag Aufschub gewährt, aber ich musste ihm das Geld zurückgeben. Wo würden wir hinziehen, wenn seine Eltern uns kündigten? Fragend sah ich Mona an. Sie zog die Augenbrauen zusammen, sodass die Glitzersteine zusammenrückten und die Falten um ihre Augen tiefer wurden.
»Jim hat ein neues Mädchen eingestellt und mir wurden die Stunden gekürzt«, sagte sie. »Heute Abend hab ich die Miete zusammen. Du kannst Montag einen Scheck mit zur Schule nehmen.« Mona blickte an mir vorbei auf die auf dem Boden ausgebreiteten Kontaktanzeigen. Sie lachte spöttisch, als würde sie schlechte Erinnerungen abhusten. Es war das gleiche schneidende Lachen, das dafür sorgte, dass ich meine Gefühle der Einsamkeit lieber geheim hielt. Ich zog die Tür weiter zu.
»Das lohnt sich nicht«, sagte sie. »Keine Ahnung, was du in den Anzeigen zu finden hoffst, aber es gibt auf der ganzen Welt keinen Mann, der dein Leben in Ordnung bringen wird.«
Ich wollte ihr das Gleiche sagen. Dass es das Geld, das man ihr zuwarf, nicht wert war. Dass nichts dadurch in Ordnung gekommen war, dass sie sich für wildfremde Männer auszog. Aber uns war beiden klar, dass es hier nicht um irgendeinen Mann ging. Es ging um den einen, der uns mit einem Haufen Schulden zurückgelassen hatte, ohne irgendwelches Geld, um die Rechnungen zu bezahlen. Mona hatte das Auto verkaufen müssen und würde für immer bei Gentleman Jim’s arbeiten müssen, wo sie zu Fuß hingehen konnte und gerade genug verdiente, um die Miete für unseren Wohnwagen aufzubringen.
Dieses Thema hatten wir regelmäßig jeden Freitagabend – dass man Männern nicht trauen konnte, und wenn man sich von ihnen abhängig machte, hinterher mehr Probleme hatte als vorher. Genau so eine Unterhaltung hatte vor zwei Jahren dazu geführt, dass ich mir ein Zugticket nach Kalifornien gekauft hatte, weil ich langsam anfing, ihr zu glauben. »Und auch wenn er zurückkäme, würde es alles nur noch schlimmer machen«, sagte sie.
»Sieh dich doch um, Mona. Könnte es wirklich noch schlimmer werden?«
Sie zog nachdenklich an der Zigarette. »Sei vorsichtig, wem du vertraust«, sagte sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme, die traurig und weise klang, von der ich mich aber nicht beeindrucken ließ. »Du kannst dich glücklich schätzen. Du bist mit Intelligenz gesegnet. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich.« Sie zeigte mit der Zigarette auf mich. »Deine Bildung ist das Einzige, was dich hier rausholen kann. Wenn ich mehr Zeit in meine Bildung investiert hätte, statt einem Jungen hinterherzulaufen, wäre keine von uns beiden jetzt hier.«
Glücklich … Sie meinte, ich hätte Glück gehabt. Natürlich konnte sie sich nicht eingestehen, dass mein Vater mit seinen Genen möglicherweise auch etwas zu meiner Intelligenz beigetragen hatte. Für sie war er tot. Und an manchen Tagen taten mir ihre Wut und Trauer mehr weh als seine Abwesenheit.
Die Aschespitze ihrer Zigarette war inzwischen gefährlich lang geworden. Mona sah müde aus und um so vieles älter als ihre fünfunddreißig Jahre. »Ein Diplom. Ein Universitätsabschluss. Das ist das Einzige, was dich hier rausholt.« Sie schüttelte den Kopf und stieß eine Rauchwolke aus. Die Asche fiel auf meinen Fußboden.
»Hallo?« Seufzend zeigte ich auf das Schild an meiner Tür. »Das ist ein Nichtraucherzimmer.«
Mona zog belustigt eine Augenbraue empor. Ihr Lächeln war bloß aufgemalt, weit über den natürlichen Rand ihrer Lippen hinaus, sodass es voller aussah, als es in Wirklichkeit war. Aber ich wusste es besser. Seit mein Vater uns verlassen hatte, war unter dem Lippenstift kein Lächeln mehr.
»Überlegst du nie, wo er wohl steckt?«, fragte ich sie und warf ihr meine Hoffnung zu wie einen Rettungsring. »Ob er vielleicht an uns denkt?«
Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. »Er wird nicht mehr zurückkommen, Nearly. So viel ist sicher.« Sie drückte die Zigarette im leeren Kaffeebecher aus. Der verschmähte Rettungsring trieb zwischen uns im trüben Wasser. »Sieh zu, dass du deine Hausaufgaben machst.«
Ich stieß die Wohnwagentür auf und blickte links und rechts die Straße runter, bevor ich den vollen Müllsack auf die Veranda und die morschen Holzstufen hinunterzog. Die »Sunny View«- Wohnwagensiedlung hatte die Form eines Fisches. Oder besser gesagt die der Überreste eines verwesenden Fischskeletts. Heruntergekommene Wohnwagen standen in parallelen Reihen an den kurzen Wegen, die wie Gräten vom Sunny View Drive abgingen. Die schiefe Wirbelsäule der Siedlung fing als Sackgasse an, es war eine ausgefahrene, enge Teerstraße, die seit den 1960ern nicht mehr asphaltiert worden war. Der Spielplatz am Ende der Straße – der Schwanz des Fisches – war fast genauso alt und bestand aus einem Sammelsurium rostiger Metallrahmen, an denen Reste von Absperrband hingen. Am anderen Ende stieß der Sunny View Drive auf einen sechsspurigen Highway, und dahinter lag der Parkplatz einer abgewirtschafteten Einkaufsstraße mit dem Laden von Anhs Eltern, einem Waschsalon, Ink & Fear Tattoos, Gentleman Jim’s und einem Videoverleih, der ohne seine Kabine mit dem roten Vorhang im hinteren Bereich hätte dichtmachen können. Ein halbes Dutzend kleiner Läden, in denen die Bedürfnisse der kaputten Bewohner von Sunny View befriedigt wurden.
Unser Wohnwagen stand auf einer Eckparzelle in der Mitte des Sunny View Drive. Die Wohnwagen auf der gegenüberliegenden Seite standen versetzt und ein Stück von der Straße entfernt, sodass ich von unserer Terrasse aus die Scheinwerfer auf der Route 1 sehen konnte. Mona war fast am Ende der Straße angekommen. Ihr langer Mantel ging ihr bis zu den hohen Absätzen. Ich warf den Müllsack etwas zu heftig in die verbeulte Blechtonne, die scheppern umkippte und dabei noch ein paar Tonnen mitriss. Das Echo hallte von den rostigen Wänden der Wohnwagen wider. Die zugezogenen Gardinen unserer Nachbarin wurden vorsichtig zur Seite geschoben.
Mona drehte den Kopf und warf einen argwöhnischen Blick über die Schulter, während sie festen Schrittes weiter über den Schotter ging. Ich sah ihr hinterher, bis sie die helleren Straßenlaternen an der Kreuzung erreicht hatte.
Mona arbeitete, schon solange ich denken konnte, nachts bei Gentleman Jim’s. Als ich noch klein war, schlief ich auf Jims Sofa im Nebenraum, während sie die Leute an den Tischen bediente. Jetzt klebte ein gelber Notizzettel mit Jims Telefonnummer am Kühlschrank in der Küche. Ich hatte einmal dort angerufen, als die Erdnussbutter alle war. Jim hatte gesagt, er würde Mona einen Zettel hinlegen und dass sie gerade auf der Bühne sei – und nicht die Leute an den Tischen bediente – und dass sie mich zwischen den Auftritten zurückrufen würde. Er hat ihr nie Bescheid gesagt. Und ich habe nie wieder angerufen.
Ein Auto bog auf den Sunny View Drive und das blauweiße Licht der Halogenstrahler blendete mich. Ich schirmte die Augen ab, bis die Strahler wieder auf die Straße gerichtet waren, und als ich aufsah, war Mona verschwunden. Das Auto kam näher, es war ein schlanker, schwarzer Mercedes älteren Modells mit Diplomatenkennzeichen, der sich offenbar verfahren hatte. Langsam fuhr er auf mich zu, und ich wartete darauf, dass er umständlich in drei Zügen wendete. Was er aber nicht tat. Ich sah durchs Fenster auf den Fahrersitz und stellte überrascht fest, dass hinterm Steuer Oleksa Petrenko fläzte. Unsere Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment, während der Mercedes geisterhaft vorbeiglitt und scheinbar kaum den Kies berührte, bis er auf einem Parkplatz ein paar Türen weiter neben Lonny Johnsons Lexus hielt.