Veit-Jakobus Dieterich

Martin Luther

Sein Leben und seine Zeit

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Abb. 1: Luther ist die am häufigsten porträtierte Person der deutschen Geschichte. Bereits zu seinen Lebzeiten schuf der Wittenberger Hofmaler Lucas Cranach d. Ä. eine ganze Reihe von Lutherporträts, von denen viele auf Flugblättern weite Verbreitung fanden und das Bild des Reformators in der Öffentlichkeit prägten. Diese Miniatur aus dem sogenannten Stammbuch des Malers entstand im Jahr 1543.

Doktor der Heiligen Schrift, des Papstes Feind

Ein Mensch und sein Werk

Ich bekenne, dass ich Sohn eines Bauern bin, bin dennoch Doktor der Heiligen Schrift, des Papstes Feind.« Mit diesen knappen Worten charakterisiert sich Luther selbst einmal bei Tisch, und er tut dies auf dreierlei Weise: durch Herkunft, Beruf und Lebenswerk. Ich stamme aus einem Bauerngeschlecht, das heißt zugleich: Ich habe einen sozialen Aufstieg, der seinesgleichen sucht, geschafft. Denn als Doktor der Heiligen Schrift bin ich gar Professor der Theologie und gehöre so zur erlesenen Schar der Gelehrten in Deutschland. Als Wissenschaftler und tadelloser Mönch aber habe ich mich mit dem mächtigen Oberhaupt der Christenheit angelegt und den Wahrheitsanspruch der Kirche infrage gestellt. Damit ist alles Wesentliche über mich gesagt.

Und tatsächlich, der Mann hat mit seiner Selbstcharakterisierung recht. Als Feind des Papstes wurde Luther zu einer der zentralen Gestalten des 16. Jahrhunderts, darüber hinaus der deutschen wie der Religions- und Geistesgeschichte überhaupt. Eine ganze Epoche trägt den Namen des von ihm ausgelösten Umbruchs: die Reformationszeit. Eine Zäsur von fundamentalem Ausmaß, mit der die Neuzeit endgültig beginnt. Die Wirkungen dieses Aufbruchs sind bis heute lebendig, nicht nur in den lutherischen Kirchen in Deutschland, Europa, rund um die Welt, sondern in versteckter Form als mächtiges Ferment unserer westlichen Kultur: Mit der Reformation beginnt ganz offiziell der religiöse Pluralismus im christlichen Europa.

Aus Luthers kurzer »Autobiografie« erfahren wir aber zugleich noch etwas Persönliches: Ein Mann, der seine Identität in Abgrenzung und im Gegensatz zu etwas anderem bestimmt, der muss ein Querdenker und Charakterkopf sein, ein Dickschädel vielleicht, der ein Gegenüber braucht wie das Licht den Schatten, der Tag die Nacht. Als solchen lernten ihn seine Zeitgenossen kennen, so blieb er der Nachwelt im Gedächtnis – etwa als der »stiernackige Gottesbarbar«, wie Thomas Mann kraftvoll formulierte.

Ein solch notorischer Querulant bleibt nicht unumstritten. Und so scheiden sich an diesem Mann, der selbst polarisieren konnte wie kaum ein Zweiter, die Geister. Ja, man verspürt in sich selbst die Neigung, über diese große Persönlichkeit und ihr Lebenswerk ein gespaltenes Urteil zu fällen. Wie etwa Goethe, den Luthers Charakter faszinierte, der sein Werk einerseits als belanglosen, »verworrenen Quark« abqualifizierte, ein andermal aber wieder in den höchsten Tönen als Tat eines Heroen lobte:

Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponiert. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.

Goethe 1817 in einem Brief an Knebel

Wir wissen gar nicht, was wir Luther und der Reformation im Allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unsere gottbegabte Menschennatur zu fühlen.

Goethe 1832 im Gespräch mit Eckermann

Es sieht so aus, als werde man mit dieser Persönlichkeit nicht so leicht fertig. Ja, Luther selbst scheint mit sich und seiner Wirkung nicht ganz fertig geworden zu sein und zwischen stolzem Selbstbewusstsein und zagendem Zweifel immer wieder zu schwanken. Das wiederum macht ihn menschlich. »Und wie Paulus wider seine tollen Heiligen sich rühmet (2. Kor 11,22 ff.), so will ich mich auch wider diese meine Esel rühmen. Sie sind Doktoren? Ich auch. Sie sind gelehrt? Ich auch. Sie sind Prediger? Ich auch. Sie sind Theologen? Ich auch. Sie sind Disputatoren? Ich auch. Sie sind Philosophen? Ich auch. Sie sind Dialektiker? Ich auch. Sie halten Vorlesungen? Ich auch. Sie schreiben Bücher? Ich auch. Ich will (mich) weiter rühmen: Ich kann Psalmen und Propheten auslegen; das können sie nicht. Ich kann übersetzen; das können sie nicht. Ich kann die Heilige Schrift lesen; das können sie nicht. Ich kann beten; das können sie nicht. Und dass ich mich zu ihnen herablasse: Ich kann ihre eigene Dialektik und Philosophie besser, als sie selbst allesamt … In tausend Jahren hat Gott keinem Bischof solche Gaben gegeben wie mir; denn der Gaben Gottes darf man sich rühmen.« So äußert er sich selbstbewusst in seinem »Sendbrief vom Dolmetschen« und in einem Gespräch bei Tisch, um dann wieder ganz andere Töne anzuschlagen: »Doktor Martinus, gelehrter Ausleger der Schrift und dennoch der größte Ignorant: Ich hätte wohl gemeint, ich könnte etwas; aber ich sehe, wie viel mir fehlt … Ich habe gewiss fleißig studiert und habe dennoch kein Wort aus der ganzen Heiligen Schrift vollständig verstanden. Daher kommt es, dass ich die Kinderlehre noch nicht hinter mir gelassen habe; ja, ich wiederhole im Geist jeden Tag, was ich weiß, und suche die Zehn Gebote und das Glaubensbekenntnis zu verstehen. Das verdrießt mich keineswegs, dass ich, ein so großer Doktor, ob ich will oder nicht, mit all meiner Lehre bleibe bei der Lehre meiner Kinder Hänschen und Magdalenchen. Ich bin in derselben Schule, in der auch sie erzogen werden.«

Sein Leben verlief auf unterschiedlichen Ebenen, einmal in bürgerlicher Behaglichkeit, das andere Mal mit tiefen Krisen und unglaublichen Umbrüchen, mitunter gar wie eine Kriminalgeschichte: Nachdem der Mönch vor dem deutschen Kaiser und den Großen des Reichs einen zuerst zaghaften, anderntags aber heldenhaften Auftritt gehabt hatte, war er kurze Zeit später von der öffentlichen Bildfläche verschwunden, von Unbekannten entführt, sodass ihn ganz Deutschland tot glaubte. Luthers Leben taugt, vor allem in der Anfangszeit, tatsächlich zum Film.

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Abb. 2a: Luther wird heilig und andachtsfähig. Holzschnitt von Hans Baldung-Grien aus den Anfangszeiten der Reformation (um 1521). Entsetzt äußerte sich der päpstliche Gesandte Aleander: »So hat man ihn denn auch neuerdings mit dem Sinnbild des Heiligen Geistes über dem Haupte und mit dem Kreuz oder auf einem anderen Blatt mit der Strahlenkrone dargestellt; und das kaufen sie, küssen es und tragen es selbst in die kaiserliche Pfalz.«

Und es taugt zur Biografie. Erstaunlich reich ist die Quellenlage zur Rekonstruktion seines Lebens und Wirkens. Über den Reformator sind wir so gut informiert wie über keine andere Person seines Zeitalters und auch niemanden vor ihm. Luther selbst hinterlässt ein riesiges Werk an Schriften, Briefen und Notizen. Vor allem in Wittenberg, dem »neuen Rom« des deutschen Protestantismus, scheint sich alles um ihn zu drehen, darüber hinaus auch in ganz Deutschland und im mittleren und nördlichen Europa. Nahezu jeder, der des Schreibens mächtig ist, so scheint es, schreibt von ihm, an ihn, über ihn, die Altgläubigen natürlich auch gegen den Verhassten. Luther mit seiner Person und mit seiner Lehre lädt offensichtlich ein zur Auseinandersetzung: Eine ganze Zeit lang bestimmt sie den Büchermarkt, den öffentlichen Diskurs bis hinein in die Wirtshausstuben und das Gespräch am privaten Familientisch.

So reichhaltig sind wir mit Nachrichten von und über Martin Luther versorgt, dass wir für die meisten Phasen seines Lebens eine exakte Biografie, auf Tag und Stunde, erstellen könnten. Doch der Überfluss an Informationen bedeutet nicht nur eine schier unerschöpfliche Quelle, vielmehr auch eine Qual. Die notwendige Auswahl und Verkürzung macht eine Biografie über Luther zur Sisyphusarbeit.

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Abb. 2b: Lutherkarikatur. Auch die Gegenseite blieb auf dem Feld der Propaganda nicht untätig. Sie zeigte den Reformator etwa als siebenköpfige Missgeburt oder – wie hier – als des Teufels Dudelsack (Holzschnitt von 1521).

Die vorliegende Darstellung versucht, hier einen eigenen Weg zu gehen, der auf zwei Ebenen verläuft. Fakten und historische Ereignisse einerseits werden auf der Grundlage des neuesten Forschungsstandes schlicht dargeboten. Doch darüber, wie die Geschehnisse andererseits zu werten und zu deuten sind, gibt es unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Urteile. Von ihnen sollen möglichst viele zu Wort kommen, ohne eine einzige Interpretation zur allgemein gültigen zu erklären.

So entsteht kein Heldenporträt, vielmehr eine vielschichtige Zeichnung dieses vielseitigen, oftmals auch zerrissenen und widersprüchlichen Menschen und seines Lebenswerks.

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Abb. 3: Martin Luther. Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. 1526. Die Bildüberschrift verweist auf Luthers Doktortitel.

Ich bin eines Bauern Sohn…

Kindheit und Jugend (1483–1500)

Am 10. November 1483 wird dem in Eisleben in der Grafschaft Mansfeld ansässigen Hans Luder und seiner Ehefrau Margarete, geb. Lindemann, der erste (oder zweite) Sohn von insgesamt sieben oder gar neun Kindern geboren. Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Jungen – unter dem später geänderten Namen Luther – einmal einer der ganz großen Männer der Geistesgeschichte und geradezu ein deutscher Nationalheld werden sollte …

Am folgenden Tag wird der Säugling auf den Namen des Tagesheiligen Martin getauft. Man taufte rasch in jenen Zeiten, denn nur etwa jedes zweite Kind erreichte das Erwachsenenalter. Vor allem wegen der hohen Kindersterblichkeit lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei lediglich 35 bis 38 Jahren. Die Reformation, die Martin Luther einleitete, sollte gar an dieser Statistik etwas ändern: In protestantischen Dörfern wurden die evangelisch getauften Säuglinge länger gestillt, was ihre Widerstandskraft erhöhte und damit ihre Überlebenschancen.

Im folgenden Jahr siedelt die Familie in die Stadt Mansfeld über. Dort arbeitet sich der aus einer Bauernfamilie stammende Vater, der sein Fortkommen im aufblühenden Bergbau gesucht hatte, vom einfachen Hauer zum Hüttenmeister und Teilhaber an mehreren kleinen Bergbaugenossenschaften empor. Zeitweilig ist er sogar einer der Vertreter der Bürgerschaft gegenüber dem Magistrat der Stadt. Bei seinem Tod im Jahr 1530 hinterlässt er den Erben 1250 Gulden, ein Vermögen, das dem Wert zweier größerer Bauernhöfe entspricht. Er ist also ein sozialer Aufsteiger, ein Gewinner der ökonomischen Veränderungen, wir würden sagen: ein Neureicher. Während Martins Kindheit sind die Verhältnisse der Familie Luder allerdings noch recht beengt. Luthers spätere Selbstcharakterisierung als einfacher Bauernsohn ist somit eine Stilisierung und doch zugleich wahr: »Ich bin eines Bauern Sohn, mein Vater, Großvater, Ahnherr sind rechte Bauern gewesen. Ich hätte eigentlich ein Vorsteher, ein Schultheiß und was sie sonst noch im Dorf haben, irgendein oberster Knecht über die andern werden müssen.«

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Abb. 4: Eine weltberühmte Adresse: Lutherstraße 15 in Eisleben. In diesem Haus wurde Martin Luther geboren. In der Kirche St. Petri-Pauli taufte man ihn am Tag nach seiner Geburt. In der Marktkirche St. Andreas hielt er wenige Tage vor seinem Tod seine letzte Predigt. Nur einen kleinen Spaziergang vom Geburtshaus entfernt steht das Gebäude, das später als Luthers Sterbehaus galt.

Der Mansfelder Bergbau mit silberhaltigem Kupfer bildet den Kern der mitteldeutschen Wirtschaftskraft. Im Bergbau der Zeit herrscht allenthalben Goldgräberstimmung. Gefördert werden Eisenerz, Kupfer und Silber. In den Jahrzehnten vor 1500 steigen die Fördermengen stark an, beim Silber bis aufs Doppelte, um dann ab den dreißiger Jahren wieder deutlich abzufallen. Der Bergbau ist der Motor der einheimischen wirtschaftlichen Entwicklung, mit der es in diesen Jahren steil aufwärtsgeht, wie eben auch in der Familie Luder, die vom Boom profitiert.

Hans Luder betrieb als Hüttenteilhaber Schmelzöfen. Luther konnte sich also ein Urteil über den Bergbau erlauben, wenn er etwa später in einem Gespräch das Bergwerk als einen Ort charakterisierte, »wo der Satan viele Leute durch sein Zauberwerk äffe und sie betöre, dass sie einen großen Haufen Erz und Silber sehen, und ist doch nichts da.«

Wohl seit 1490 besucht Martin die Mansfelder Stadtschule. Sieben Jahre später wechselt er an die Domschule in Magdeburg, wo er in einer Art Schülerheim wohnt, und bereits ein Jahr später an die Pfarrschule in Eisenach, den Herkunftsort seiner Mutter. Dort drückt er für weitere drei Jahre die Schulbank. Auf den höheren Schulen der Zeit lernte man vor allem Latein, die Sprache der Gelehrten und der Geistlichen. Zudem gab es kirchlich-moralische Unterweisung, daneben Unterricht in Rhetorik und Musik, nicht zuletzt wegen der Mitwirkung der Schüler am Gottesdienst.

LUTHER IN LITERATUR, MUSIK UND FILM

An Kindheit und Schulzeit bewahrte Martin Luther zwiespältige Erinnerungen. Auf der einen Seite hing er voll Liebe und Verehrung an Mutter und Vater, auf der anderen war die häusliche und schulische Erziehung streng. Schläge, ja Prügel gehörten zur Tagesordnung. In einem Gespräch bei Tisch erinnert er sich: »Meine Eltern haben mich in strengster Ordnung gehalten, bis zur Verschüchterung. Meine Mutter stäupte mich um einer einzigen Nuss willen bis zum Blutvergießen … Mein Vater stäupte mich einmal so sehr, dass ich vor ihm floh und dass ihm bange war, bis er mich wieder zu sich gewöhnt hatte.«

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Abb. 5 und 6: Die beiden Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. (1527) zeigen Luthers Eltern Hans Luder (gest. 1530) und seine Ehefrau Margarete (gest. 1531). Luthers Beziehung zu seinen Eltern war einerseits geprägt von Liebe und Dankbarkeit, andererseits aber von tief greifenden Spannungen und Auseinandersetzungen, vor allem mit dem Vater.

Einmal bezog er in der Schule – vollkommen schuldlos – an einem einzigen Vormittag 15 Mal Schläge, weil er deklinieren und konjugieren sollte, doch hatte man es ihm noch gar nicht beigebracht! Manche Lehrer, folgerte er später, sind Einpeitscher und »grausam wie die Henker«. Diese Härte ist ein Zug der Zeit. Ein Schulmeister rühmte sich, im Lauf seines Berufslebens »911 527 Stockhiebe, 124 000 Peitschenhiebe, 136 715 Schläge mit bloßer Hand und 1 115 800 Ohrfeigen« ausgeteilt zu haben … Luther selbst hat später körperliche Züchtigung in der Erziehung einerseits als durchaus angemessen und biblisch begründet propagiert, andererseits jedoch recht kritisch kommentiert. Vor allem zu harte Prügel lehnte er ab.

Typisch für Luther wie für andere Reformatoren ist die kleinstädtische Herkunft. Eisleben hatte etwa 4000 Einwohner, Mansfeld zwar drei Schlösser, doch – ebenso wie Wittenberg – nur 2000 Bewohner, Eisenach immerhin wiederum gut doppelt so viele. Nur in Erfurt mit seinen ungefähr 20 000 Menschen und 36 Kirchen sollte Luther für einige Jahre – während des Studiums und der Klosterzeit – in einer wirklichen Großstadt leben. Alle anderen Stationen seines Lebenswegs waren überschaubar, eine eingegrenzte, wenn auch nicht enge Welt. Dies prägte seinen Horizont.

Das Beste, das aus meines Vaters Gut geraten, ist, dass er mich erzogen hat. Die Hauswirtschaft kann ja nichts Besseres tun, als Studierende großzuziehen.

Luther im Rückblick in einem Gespräch bei Tisch

Im Jahre 1500 wird Martin Luder siebzehn, er hat die Kindheit längst und die Schulzeit weitgehend hinter sich. Ein halbes Jahr später immatrikuliert er sich an der Universität Erfurt.

Jetzt, an der Schwelle zum Erwachsenenalter, beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung für ihn als jungen Mann bereits 57, für ein Leben auf dem Lande gar über 60 Jahre, für eines in der Stadt dagegen nur 48, vor allem wegen der dort herrschenden höchst problematischen sanitären und hygienischen Verhältnisse. Er hat also, rein statistisch gesehen, noch gut drei bis vier Jahrzehnte vor sich, genügend Zeit für ein Lebenswerk.

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Abb. 7: Der Maler Hans Holbein d. J. zeigte 1522 in einem Flugblatt Luther als »Hercules Germanicus« (deutschen Herkules), der den Augiasstall der Kirche ausmistet. Diese Darstellung zeigt anschaulich, dass sich mit der Reformation und dem Reformator vielfältige Hoffnungen auf Veränderungen und Verbesserungen im kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich verknüpften.

Ein sehr gutes Land, hat alles genug…

Deutschland um 1500

Den mächtigsten Mann Deutschlands, Kaiser Karl V., hat Luther persönlich kennengelernt. Doch während er die Kaiserwahl Karls 1519 noch mit den Worten »Gott hat uns ein junges, edles Blut zum Haupt gegeben und damit viel Herzen zu großer, guter Hoffnung geweckt!« kommentiert hatte, befand er in den dreißiger Jahren über denselben Herrscher: »Was soll ich sagen? Deutschland fehlt das Haupt.« Allerdings hat auch der Herrscher seine Meinung über Luther im Lauf der Zeit geändert. Hatte er ihn noch mit der respektvollen Anrede »Ehrsamer, Lieber, Andächtiger!« vor den Reichstag nach Worms zitiert, bereute er seine Zusage und Einhaltung des freien Geleits später bitter: »Ich irrte, als ich den Luther nicht umbrachte.«

Im Jahr 1500 war Maximilian I. (1493–1519) an der Macht, der Großvater Karls V. Er legte vor allem durch eine kluge Heiratspolitik den Grund für die Weltmachtstellung des Hauses Habsburg, nach dem Motto: »Andere mögen Krieg führen, du aber, glückliches Österreich, heirate.« Sein Enkel und Nachfolger, der spätere Kaiser Karl V., exakt zur Jahrhundertwende geboren, erntete die Früchte der großväterlichen Politik: Er wurde zum mächtigsten Herrscher Europas, ja der Welt.

Zu seinem Herrschaftsgebiet zählten die habsburgischen Stammlande in Österreich, Ungarn und Böhmen, weiter Süditalien sowie die norditalienischen Städte, ferner Burgund, das Reich zwischen Deutschland und Frankreich, dann die Niederlande, zudem Spanien und schließlich die neu eroberten Gebiete in Mittel- und Südamerika, das Aztekenreich in Mexiko und das Inkareich von Peru. Ein Reich, »in dem die Sonne niemals untergeht«, wie er stolz formulierte, gemäß seinem selbstbewussten, die Grenzen der Welt sprengenden Lebensmotto: »Immer weiter!« (»Plus ultra!«).

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Abb. 8: Karl V. (1500–1558), deutscher Kaiser von 1519 bis 1556. Bildnis von Bernaert van Orley um 1516

HERRSCHERGESTALTEN EUROPAS ZUR REFORMATIONSZEIT

1509–1547 Heinrich VIII., geb. 1491, König von England, von Günstlingen beherrschte Figur, launisch-wechselhaft

1515–1547 Franz I., geb. 1494, König von Frankreich, glänzender Stratege, in alltäglichen Regierungsgeschäften überaus unsicher, häufig unbeherrscht

1519–1556 Karl V., geb. 1500, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, sehr ambitioniert, nach außen stets beherrscht, korrekt, im Alter resigniert, gest. 1558

1520–1566 Suleiman II., geb. 1494 oder 1495, genannt der Große oder der Prächtige bzw. Kanuni (der Gesetzgeber), führte das Osmanische Reich durch zahlreiche Feldzüge und durch eine Neuorganisation zur Blüte und kam 1529 bis vor Wien; poetisch begabt, verfasste er zahlreiche Gedichte

1513–1521 Leo X., eigentlich Giovanni de’ Medici, geb. 1475, vernachlässigte die geistlichen Aufgaben über seinen großen Ambitionen auf politischem Gebiet und als Bauherr und Kunstmäzen – Höhepunkt der Renaissancekultur

Kam auch die Herrschaft wenigstens in Europa weitgehend auf friedlichem Wege zustande, musste sie doch in zahllosen Kriegen verteidigt werden, denn eine solche Herrschaftsballung schafft sich Feinde: im Westen Franz I., König von Frankreich, der sich von der habsburgischen Großmacht nord-, ost- und südwärts eingekreist sah und seinerseits auf Burgund und Oberitalien Anspruch erhob. Im Süden die Päpste, die sich ebenfalls von der kaiserlichen Herrschaft umklammert fühlten und im Ringen um die Vorrangstellung im christlichen Abendland nach wie vor sich selbst als Sonne verstanden, von deren Glanz der Kaiser als Mond abhängig ist. Im Südosten schließlich Sultan Suleiman II., der Große, auch der Prächtige genannt, der das Osmanenreich zu ungeahnter Blüte führte, auf den Balkan vordrang und 1529 dann gar bis vor Wien, ins Zentrum der habsburgischen Herrschaft.

Karl V. musste seine Herrschaft in unzähligen Kriegen behaupten, er zog nach Frankreich, Oberitalien und auf den Balkan, nach Rom und bis nach Tunis. Er hatte häufig recht passable Erfolge – doch eben den Rücken nicht frei für die andere große Lebensaufgabe, die sich ihm stellte: die Eindämmung der Reformation, der schweren Ketzerei, dieses gefährlichen Irrtums, wie es sich für ihn als treuen Sohn der römischen Kirche darstellte. Und so gab der Charakterkopf mit der markanten Nase und dem hervorstechenden Kinn denn als Sechsundfünfzigjähriger mit den Worten »und so wuchs dieser Irrtum ins Ungeheuerliche« erschöpft und entnervt auf und überließ die Macht einem andern. Für die letzten beiden Jahre seines Lebens zog Karl sich dann in ein abgelegenes Kloster zurück. Zugespitzt lässt sich also formulieren: Franzosen, Muslime, gar die Päpste leisteten einen wichtigen Beitrag dazu, die Reformation in Deutschland zu ermöglichen, indem sie die Kräfte des Kaisers banden.

LÄNGERE REISEN LUTHERS

außerhalb des kursächsischen Gebiets und längere Aufenthalte außerhalb Wittenbergs

Zahlreiche Reisen unternahm Luther von Wittenberg aus innerhalb des kursächsischen Herrschaftsgebiets, u. a. nach Torgau und Schmalkalden, sowie in seine Heimat (Mansfeld, Eisleben).

Im Reich selbst war der Kaiser nicht so mächtig, wie er gern sein wollte – ihm standen die Institutionen des Reiches zur Seite, man könnte auch sagen: gegenüber. Fünf Jahre vor der Jahrhundertwende hatte der historisch äußerst wichtige Reichstag in Worms eine umfassende Reichsreform beschlossen. Als Institutionen des Reichs wurden ein Reichskammergericht geschaffen, eine Art oberste Appellationsinstanz, und ein Reichsregiment, das die Regierungsgeschäfte führen sollte in den Zeiten der Abwesenheit des Kaisers. Denn der weilte eher selten in Deutschland. Auch hatte er hier gar keine feste Residenz, sondern logierte an verschiedenen Orten in den Kaiserpfalzen. Auf Reichstagen, die vor allem in süddeutschen Reichsstädten stattfanden, wurden die wichtigsten gesamtdeutschen Angelegenheiten beraten und beschlossen. Die politischen Reformen förderten also einerseits eine gewisse Zentralisierung im Reich, beschränkten aber zugleich die Macht des Kaisers. In den Zeiten, in denen man keine Gewaltenteilung in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt (Legislative, Exekutive und Jurisdiktion) im modernen Sinne kannte, erfolgten Herrschaftsbeschränkung und -kontrolle durch die exakt austarierten Befugnisse zwischen dem Kaiser und den Organen des Reichs.

Zudem hatte der Wormser Reichstag einen Ewigen Landfrieden verkündet, in der Absicht, die alten Fehden zu beenden und ein staatliches Gewaltmonopol zu begründen. Durch Luthers Reformation sollte dieser Landfrieden zum ersten Mal in großem Stil auf die Probe gestellt werden, die er dann auch tatsächlich beinahe glänzend bestand – allerdings auf Kosten der Ritter und Bauern. Deutschland um 1500 zeigt sich uns also als ein Reich im Wandel, ja im Umbruch.

Der Kaiser war politisch abhängig, vor allem von den mächtigen Kurfürsten, drei bis vier weltlichen und drei geistlichen Territorialherrschern, denen das Recht zustand, ihn zu küren, also zu wählen. Luthers Landesherr, der Kurfürst von Sachsen, gehörte zu ihnen, war in diesem erlauchten Kreis gar der mächtigste. Er konnte sich bei der Kaiserwahl im Jahr 1519 eine Zeit lang selbst Hoffnung auf den höchsten Posten im Reich machen, musste sich dann aber doch mit der Rolle des zentralen Gegenspielers begnügen, die er allerdings mit allergrößter Bravour ausfüllte.

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Abb. 9: In Deutschland, zersplittert in etwa 300 Herrschaftsgebiete, stellte das Kurfürstentum Sachsen (ernestinische Linie) eines der größten und mächtigsten Territorialgebiete dar. Hier und in den benachbarten Gebieten (wie seiner Heimat, der Grafschaft Mansfeld) hat sich Luther vorrangig aufgehalten. Nur wenige Reisen führten ihn darüber hinaus, vor allem in den frühen Jahren.

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Abb. 10: Leo X., Papst bei Beginn der Reformation, um 1518 von dem berühmten Renaissancemaler Raffael (eigentlich Raffaelo Santi, 1483–1520) porträtiert

Im dreigegliederten Reichstag stellte der Rat der Kurfürsten die einflussreichste Gruppe dar; es folgte der Fürstenrat, wiederum in eine geistliche und weltliche Bank geteilt, und zuletzt der Städterat mit den Vertretern der Reichsstädte sowie der freien Städte. Der Reichstag spiegelte somit die damalige Ständegesellschaft wider, mit dem Klerus als erstem, dem (hohen) Adel als zweitem, den Bürgern der Städte als drittem Stand. Ausgeschlossen von der politischen Verantwortung blieben der niedere Adel, das ländliche Rittertum, sowie die mitunter als »vierter Stand« bezeichneten Bauern, der »Nährstand« – also sämtliche ländlichen Regionen, die jedoch den Großteil des Territoriums in Deutschland ausmachten.

Zur Spannung zwischen den monarchistischen Tendenzen des Kaisers und den ständischen der Institutionen des Reichs traten als drittes Element die regionalen Tendenzen der einzelnen Landesherren sowie der Reichsstädte hinzu: Deutschland war um 1500 in etwa 300 Herrschaftsgebiete zersplittert – ein Flickenteppich ohnegleichen, der doch zugleich das Bewusstsein, zu Deutschland zu gehören, keineswegs ausschloss. Es war eine Nation ohne Nationalstaat (wie er in ersten Ansätzen in Frankreich und England zu erkennen ist), vielmehr mit einer Wahlmonarchie und regionalen Erbdynastien. Deutschland ist das Land der Fürstentümer und der Städte.

Hier hatte der Kaiser nur sehr bedingt etwas zu sagen. Unmittelbare Macht besaß er nur in den wenigen Gebieten in Deutschland, in denen er selbst oberster Landesherr war. Das vielschichtige politische Geflecht im Deutschen Reich eröffnete Luthers Reformation erst die Chance, sich zu entfalten, die sie dann freilich kräftig zu nutzen verstand.

Drei Dinge werden verkauft in Rom: Christus, Priestertum, Frauen.

Drei Dinge sind verhasst in Rom: ein allgemeines Konzil, eine Reformation der Kirche, und dass den Deutschen die Augen geöffnet werden.

Drei Übel erbitt ich für Rom: Pestilenz, Hunger und Krieg.

Das sei meine Trinität.

Aus einer Flugschrift des Ritters, Humanisten und Lutheranhängers Ulrich von Hutten

Den zweiten zentralen Mann auf europäischer Ebene, den Papst, hat Martin Luther nicht persönlich kennengelernt, obwohl er in seiner Zeit als Mönch für ein paar Wochen in der Heiligen Stadt weilte. Die Päpste waren in dieser Zeit zu weltlichen Herrschern mutiert. Um die Jahrhundertwende pflegte Alexander VI. Borgia (1492–1503) vom Balkon seines Palastes aus, den Arm um seine Tochter gelegt, die Hengste seines Gestüts zu bewundern – gestorben ist er wohl an dem Gift, das er selbst einem Widersacher zugedacht hatte. Julius II. (1503–1513), ganz Staatsmann, der seine zahlreichen Kriege zu Anfang des 16. Jahrhunderts persönlich zu führen pflegte, wurde in einer Streitschrift als »Julius exclusus« charakterisiert, als der vom Himmel »Ausgeschlossene«. Luther bezeichnete ihn später kurz und bündig als »Blutsäufer«. Leo X. (1513–1521), der Papst zur Zeit der beginnenden Reformation, ein glänzender Diplomat, scharfer Denker und feinsinniger Kunstkenner, schuf sich als Kunstmäzen, vor allem mit dem Neubau des Petersdoms, einen bleibenden Namen. Zugleich machte er sich damit viele Feinde, musste er doch für diese Liebhabereien gewaltige Summen vor allem aus Italien und Deutschland auftreiben. Dies sollte denn auch zum Anlass von Luthers Reformation werden.

Tatsächlich konnte man von den Päpsten lernen, was der politische Schriftsteller Niccolò Machiavelli (1469–1527) mit seinem 1513 entstandenen und bis heute bekannten und gelesenen Werk »Il Principe« (Der Fürst) unter vernünftiger Herrschaft verstand: die als »Machiavellismus« sprichwörtlich gewordene Macht- und Gewaltherrschaft.

Überhaupt glaube ich, das Papsttum sei der Antichrist, oder, wenn jemand den Türken noch dazunehmen will, so ist der Papst der Geist des Antichrist und der Türke das Fleisch des Antichrist. Sie helfen beide einander beim Würgen, dieser leiblich und durchs Schwert, jener durch die Lehre und den Geist.

Luther in einem Gespräch bei Tisch

Eine kurze Episode sollte das ganz anders geartete Pontifikat des Niederländers Hadrian VI. (1522/23) bleiben. Er sandte dem Reichstag von Nürnberg 1522 ein erstaunliches Schuldbekenntnis der Kirche, starb jedoch bereits im folgenden Jahr.

Wie das Haupt, so die Glieder, in manchem vielleicht noch schlimmer. Die Dummheit, Verderbtheit und Unverfrorenheit von Klerus und Mönchtum, allen voran des strengsten der Reformorden, der Franziskaner, soll geradezu sprichwörtlich gewesen sein. Eine hübsche Geschichte dazu findet sich in einem in der frühen Reformationszeit veröffentlichten Erbauungsbuch eines Franziskanerpredigers selbst. Ein Priester wird beim Bischof seiner Unwissenheit wegen angeklagt. Der Bischof will ihn strafversetzen. »Gern, Herr«, spricht darauf der Priester, »lasst mich Bischof sein und nehmt Ihr die Pfarre.«

Das Volk aber hielt man dumm. In der lateinischen Messe wurde vor seinen Augen »Hokuspokus« getrieben. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Begriff sich ursprünglich aus den Worten bei der Wandlung in der Eucharistiefeier ableitet: »Hoc est enim corpus meum« (»Dies nämlich ist mein Leib«). Reformatorisch Gesinnte nahmen diese Volksverdummung literarisch aufs Korn. In einem Dialog zwischen einem Geistlichen und einem alten Mütterlein antwortet dieses auf die Frage, was sie von der Messe begriffen habe: »Herr Gott behüte, was fragt Ihr? Ich habe kein einziges Wort gehört« beziehungsweise verstanden …

Wir befinden uns im Jahre 1500 im Herbst des Mittelalters, stehen an der Wende zur Neuzeit. Doch war dieses Mittelalter, das nun zu Ende ging, keinesfalls die »finstere« Epoche, als die sie in der Rückschau oft dargestellt wird, sondern eine Zeit, in der sich Lebenslust und Todesangst aufs Engste paarten. Trefflich drückt die heute noch geläufige Zeile aus einem Kirchenlied Luthers dieses Lebensgefühl aus: »Mitten wir im Leben sind/mit dem Tod umfangen.«

Die Zahl der arbeitsfreien Sonn- und Feiertage war mit etwa hundert pro Jahr gigantisch, die Angst vor Hölle und Fegefeuer aber mindestens ebenso groß. An beidem, der Höllenangst sowie den fröhlichen Festen, wird die Reformation Entscheidendes ändern: So trug die Reduzierung der arbeitsfreien Zeit durch Abschaffung der Heiligenfeiertage bald zu einer beträchtlichen Produktivitätssteigerung in protestantischen Ländern bei.

Und alles, Lebenslust und Höllenangst, war vollständig von der Religion durchdrungen. Unsere moderne Trennung von säkularer Gesellschaft und Frömmigkeit als Privatangelegenheit gab es noch nicht. Theologie wurde im Alltag getrieben. Jeder Stammtisch verstand sich als eine Hochschule der Theologie vor Ort. Die Ausstellung des Heiligen Rockes in Trier im Jahr 1512 zog 100 000 Besucher an, darunter gleich zweimal den Kaiser selbst, der sich davon die Heilung seiner Leiden versprach.

In den Wirtshäusern war wohl vor allem der Zustand der Kirche ein zentrales Thema. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurden auch in der hohen Politik regelrechte Beschwerdekataloge über die Zustände in der Kirche formuliert, die nach einer Reform geradezu schrien. Am Vorabend der Reformation war die anonyme Schrift »Reformatio Sigismundi« allenthalben verbreitet, mit ihrer zentralen Klage: Die geistlichen und weltlichen Häupter zeigten auf den Wunsch nach Verbesserungen hin »mit Verlaub nur den Hintern« und ließen weiterhin Habgier, Ämterkauf und Gewalt freien Lauf.

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Abb. 11: Auf seinem 1480–1490 entstandenen dreiteiligen Bild (Triptychon), bekannt unter dem Titel »Der Garten der Lüste«, hat der niederländische Maler Hieronymus Bosch (um 1450–1516) neben dem Paradies (linke Außentafel) den Lustgarten (Mitteltafel) und die Höllenstrafen (rechte Außentafel) dargestellt.

Der hier abgebildete Ausschnitt lässt sich unterschiedlich deuten: entweder als Darstellung der Welt, die in ihrer Sinnenlust im Grunde verderbt ist und dadurch die Höllenstrafen nach sich zieht, oder als Zustand einer Zeit, in der die Sinnenlust keine Sünde darstellt, sondern mit gutem Gewissen in vollen Zügen genossen werden kann.

Die kritischen Stellungnahmen zeitigten allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Doch der dringende Wunsch nach einer Reform war da. Luthers Thesen fielen auf einen vorbereiteten, fruchtbaren Boden.

Mit Himmelshoffnung und Höllenangst wurde beim Ablassgeschäft, einer Art geistlichem Emissionshandel, das große Geld eingespielt. Für Sünden drohten Fegefeuer und Jüngstes Gericht. Dagegen hatte die Kirche durch die guten Werke der Frommen, allen voran von Mönchen, Heiligen und Seligen, einen Schatz angehäuft. Mit Beichte und Buße wurden im Bußsakrament die ewigen Sündenstrafen und die höllische Verdammnis abgewendet. Die irdischen und jenseitigen zeitlichen Sündenstrafen aber, insbesondere die Frist, in der die Seele im Fegefeuer geläutert wurde, ließ sich durch Kauf von Ablässen aus dem Schatz der Kirche verkürzen.

Im Lauf der Zeit erfuhr der Ablasshandel so manche Ausweitung. Angehörige konnten für bereits verstorbene Verwandte Ablass lösen. Und für sich selbst erwarben sie durch sogenannte »Butterbriefe« partielle Befreiung von den strengen Fastenvorschriften. Die Ausweitung und Intensivierung des Ablasswesens hatte jedoch zugleich einen gewissen Überdruss zur Folge. Es wurde gekauft, aber nicht immer mit Lust. Das System hatte sich selbst überreizt.

Für sehr beschwerlich wurde auch gehalten, dass die päpstliche Heiligkeit täglich so viel Lossprechung und Ablass in die Deutsche Nation schicken, wodurch die armen Einfältigen verführt und rasch um ihr Vermögen betrogen werden …

Weil auf diese Weise für die armen christlichen Seelen vielfältige Verdammnis erwächst und auch die Deutsche Nation finanziell schwer bedrückt wurde, hält man es für nötig, dass diesbezüglich eine Besserung und allgemeine Reformation geschehe, um weiterem Missstand und Verderben unserer Nation zu wehren.

Aus den Beschwerden (Gravamina)
der deutschen Nation auf dem Reichstag zu Worms von 1521

Daneben gab es freilich auch ein ernsthaftes geistliches Leben. Um Reformen bemühten sich bereits im Mittelalter die sogenannten »Reformorden«. Die Armutsbewegung sah als Ideal ein schlichtes Leben in der Nachfolge Christi. Manche dieser Strömungen blieben am Rande der Kirche, manche bewegten sich über sie hinaus. Besonders radikale Kritik an der Kirche übten der Engländer John Wyclif (vor 1330–1384) und der Tscheche Jan Hus (um 1370–1415), der Luther deutlich beeinflusste. Durch ihn entstanden in Böhmen und Mähren rund hundert Jahre vor Luther eine reformatorische Bewegung und Kirche.

Am Vorabend der Reformation aber erblühte das geistige Leben im Humanismus. Männer wie der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) leisteten Bedeutendes für die Weiterentwicklung der Philologie wie ganz allgemein der Wissenschaft. Zugleich vertrat Erasmus eine praktische, ethisch ausgerichtete Frömmigkeit. Seine kritische Ausgabe des Neuen Testaments von 1516 bildete eine wichtige Grundlage für Luthers spätere Bibelübersetzung.

Die bereits Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgte Reform des Buchdrucks durch Johannes Gensfleisch den Jungen, genannt Gutenberg, erlaubte es dem Buch, zum Massenkommunikationsmittel aufzusteigen. Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, machten sich dieses Medium zunutze, um die eigene Auffassung rasch und weiträumig zu verbreiten. Die Reformationszeit war zugleich Geburtsstunde und erster Höhepunkt des propagandistischen Flugblatts und der modernen Karikatur.

Zuletzt eröffnete die Einrichtung einer Reichspost gegen Ende des 15. Jahrhunderts einen zuverlässigen Brieftransport. Auch dieser Möglichkeit hat sich Luther ausgiebig bedient. Er ist zu einem der großen Briefschreiber der Epoche geworden.

BERÜHMTE ZEITGENOSSEN MARTIN LUTHERS

Der Astronom und Mathematiker Nikolaus Kopernikus (1473–1543), ein um zehn Jahre älterer Zeitgenosse Luthers, revolutionierte mit seinem erst in seinem Todesjahr veröffentlichten Hauptwerk das Weltbild und ersetzte das alte, geozentrische durch das moderne, heliozentrische (kopernikanische) Weltsystem, das Luther allerdings nicht zur Kenntnis nahm.

Der Arzt und Philosoph Philippus Theophrastus (eigentlich Philipp Aureolus Theophrast Bombast von Hohenheim), genannt Paracelsussein