Craig Russell, Jahrgang 1956, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 23 Sprachen übersetzt. Er hat sich schon als Student für deutsche Kultur interessiert und lebt in der Nähe von Edinburgh.
Drei Romane um den Hamburger Polizisten Jan Fabel sind mit Peter Lohmeyer in der Hauptrolle für das deutsche Fernsehen verfilmt worden.
Der neue Roman »Auferstehung« erscheint bei Rütten & Loening.
Mysteriöse Verbrechen beunruhigen die Hamburger Bevölkerung, und nur eines scheint die Opfer miteinander zu verbinden: Bei allen finden sich Hinweise darauf, dass der Täter sich gezielt an den Märchen der Gebrüder Grimm orientiert.
Hauptkommissar Jan Fabel versucht verzweifelt, hinter das Motiv des Täters zu kommen. Zeitgleich sorgt ein Buch für Furore, in dem der Autor die Behauptung aufstellt, einer der Gebrüder Grimm sei ein Serienmörder gewesen, der nach Motiven der von ihm und seinem Bruder gesammelten Märchen Gewaltverbrechen begangen habe. Konfrontiert mit realen Verbrechen, zugleich aber auch überzeugt von der Kraft der Mythen und Märchen, müssen Jan Fabel und sein Team nach allen Regeln der Kriminalistik vorgehen, um dem raffinierten Täter das Handwerk zu legen.
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Wolfsfährte
Thriller
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
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Über Craig Russell
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Kapitel 3
Kapitel 4
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Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
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Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
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Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Danksagung
Impressum
Für Wendy
Fabel fuhr mit seinem Handschuh sanft über ihre Wange. Eine dumme Geste, wahrscheinlich eine unangemessene Geste, doch er hielt sie irgendwie für notwendig. Er merkte, wie seine Finger bebten, während sie über die Biegung ihrer Wange glitten. Panikartig schnürte sich seine Brust zusammen, als ihm bewusst wurde, wie sehr sie ihn an seine Tochter Gabi erinnerte. Er lächelte mühsam, und seine Lippen zitterten, als hätten sich seine Gesichtsmuskeln angestrengt gespannt. Sie blickte mit ihren großen Augen zu ihm auf. Mit starren, himmelblauen Augen.
Seine Panik wuchs. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Aber das konnte er nicht; nichts würde gut werden. Immer noch richtete sie ihre himmelblauen Augen unverwandt auf ihn.
Fabel spürte Maria Klee neben sich. Er zog die Hand zurück und erhob sich aus der Hocke.
»Wie alt?«, fragte er, ohne seine Augen von denen des Mädchens abzuwenden.
»Schwer zu sagen. Vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Wir haben noch keinen Namen.«
Eine Morgenbrise wirbelte Teile des feinen Sandes auf und rührte ihn um wie eine dicke Flüssigkeit in einem Glas. Einige Körner bliesen dem Mädchen in die Augen und ließen sich auf dem Weiß nieder, aber sie blinzelte trotzdem nicht. Fabel konnte sie nicht mehr ansehen und riss den Blick von ihr los. Er schob die Hände tief in die Manteltaschen und wandte, um etwas anderes vor sich zu haben als das Bild eines ermordeten Mädchens, den Kopf in Richtung der rotweiß gestreiften Spindel des Blankeneser Leuchtturms. Dann drehte er sich zu Maria hin. Er schaute in ihre blaugrauen, aufrichtigen Augen, die nie sehr viel über ihre Persönlichkeit zu verraten schienen. Das ließ auf eine gewisse Kälte, einen Mangel an Emotionen schließen, wenn man sie nicht gut kannte. Fabel seufzte, als hätte ihm ein mächtiger Schmerz oder eine tiefe Trauer den Atem aus dem Leib gepresst.
»Manchmal glaube ich, dass ich nicht mehr weitermachen kann, Maria.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie mit einem Blick auf das Mädchen.
»Nein …, wirklich, Maria. Ich mache diese Arbeit fast die Hälfte meines Lebens, und manchmal habe ich einfach genug davon. Herrje, Maria, sie hat so viel Ähnlichkeit mit Gabi.«
»Warum überlässt du die Sache nicht mir?«, schlug Maria vor. »Jedenfalls vorläufig. Ich rede mit den Spurensicherern.«
Fabel schüttelte den Kopf. Er fühlte sich zu dem Mädchen hingezogen. Er musste bleiben, musste sich die Szene ansehen, musste Schmerz empfinden. Ihre Augen, ihr Haar, ihr Gesicht – er würde sich an jede Einzelheit erinnern. Dieses Gesicht, das zu jung für die Spuren des Todes war, würde von seinem Gedächtnis gespeichert werden, genau wie all die anderen Gesichter aus den Jahren der Mordermittlung – manche jung, manche alt, alle tot.
Nicht zum ersten Mal war Fabel verbittert über die einseitige Beziehung, die er zu diesen Menschen knüpfen musste. In den kommenden Wochen und Monaten würde er das Mädchen kennen lernen. Er würde mit ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihren Freunden und Freundinnen reden, sich über ihren Tagesablauf, ihre Lieblingsmusik und ihre Hobbys kundig machen. Dann würde er seine Nachforschungen vertiefen: Er würde ihren engsten Freundinnen wichtige Geheimnisse abringen; er würde das Tagebuch lesen, das sie vor der Welt verborgen gehalten hatte, und Gedanken mit ihr teilen, die sie mit niemandem hatte teilen wollen; er würde die Namen der Jungen lesen, die sie in aller Stille auf ein Blatt gekritzelt hatte. Er würde ein vollständiges Bild der Hoffnungen und Träume, des Geistes und der Persönlichkeit aufbauen, die einst hinter jenen himmelblauen Augen gelebt hatten.
Schließlich würde Fabel das Mädchen durch und durch kennen, doch sie würde nie etwas über ihn erfahren. Seine Wahrnehmung ihrer Person begann damit, dass ihre Wahrnehmung ausgelöscht worden war. Durch ihren Tod. Es war Fabels Beruf, die Toten kennen zu lernen.
Sie starrte ihn immer noch vom Sand her an. Ihre Kleidung war alt – keine Lumpen, doch schäbig und abgetragen. Ein sackförmiges Sweatshirt mit einem verblassten Aufdruck und verwaschene Jeans. Selbst als die Kleidungsstücke noch neu waren, mussten sie billig gewesen sein.
Sie lag mit halb untergeschlagenen Beinen auf dem Sand. Ihre Hände waren gefaltet und ruhten auf ihrem Schoß. Es war, als hätte sie auf dem Sand gekniet und wäre in dieser Haltung umgekippt. Aber sie war nicht hier gestorben. Daran hatte Fabel keinen Zweifel. Allerdings wusste er nicht, ob ihre Gliedmaßen zufällig so angeordnet waren oder ob es sich um eine absichtliche Pose handelte, in der der Täter sie zurückgelassen hatte.
Fabel wurde durch Holger Brauner, den Chef des Spurensicherungsteams, aus seinen quälenden Gedanken gerissen. Brauner näherte sich über auf Ziegeln ruhende Holzbretter, die er als einzigen Zugang zum Fundort der Leiche hintereinander gelegt hatte. Fabel nickte ihm zur Begrüßung grimmig zu.
»Was haben wir, Holger?«, fragte er.
»Nicht viel«, erwiderte Brauner betrübt. »Der Sand ist trocken und fein, und der Wind verweht ihn immer wieder. Er bläst sämtliche Spuren weg. Ich glaube nicht, dass dies der Tatort ist. – Und du?«
Fabel schüttelte den Kopf. Brauner schaute mit bewölkter Miene auf die Leiche des Mädchens hinunter. Er hatte ebenfalls eine Tochter, und Fabel erkannte in der Düsterkeit des Mannes Spuren seines eigenen dumpfen Schmerzes.
Brauner atmete tief durch. »Wir machen eine vollständige forensische Untersuchung, bevor wir das Mädchen zur Autopsie an Möller weitergeben.«
Fabel sah schweigend zu, wie die Spezialisten des Spurensicherungsteams in ihrer weißen Kleidung die Szene absuchten. Wie altägyptische Balsamierer, die eine Mumie einhüllen, bedeckten die Männer jeden Quadratzentimeter des Körpers mit Tesastreifen, die jeweils nummeriert und fotografiert und dann auf eine Polyäthylenfolie geklebt wurden. Dann hoben zwei Angestellte der Pathologie den Körper des Mädchens behutsam hoch, legten ihn in einen Vinylsack und zogen den Reißverschluss zu. Darauf hievten sie den Sack auf eine Karre, die sie halb über den nachgebenden Sand schoben und halb trugen. Fabel wandte die Augen nicht von dem Leichensack ab, bis er aus dem Gesichtsfeld verschwand – ein undeutlich werdender Fleck vor den hellen Farben des Sandes, der Felsen und der Uniformen der Angestellten. Er drehte sich um und ließ den Blick über den gelblich-weißen Sand zum Blankeneser Leuchtturm, über die Elbe hinweg zum fernen, grünen Ufer des Alten Landes und zurück über die gepflegten, grünen Hänge von Blankenese mit seinen eleganten, teuren Villen schweifen.
Fabel hatte den Eindruck, nie ein elenderes Bild gesehen zu haben.
Die Oberschwester beobachtete ihn vom Korridor her. Dabei verspürte sie eine bleierne Schwere im Herzen. Er saß, ohne etwas von der Beobachtung zu ahnen, nach vorn geneigt auf dem Stuhl am Bett, und seine Hand ruhte auf der grau-weißen, gefurchten Stirn der alten Frau. Gelegentlich fuhr seine Hand sanft und langsam durch das weiße Haar, und währenddessen murmelte er ihr leise etwas, das nur sie hören konnte, ins Ohr. Die Oberschwester merkte, dass eine ihrer Kolleginnen hinter sie getreten war. Auch die zweite Schwester lächelte voll bitterer Sympathie, während sie den nicht mehr jungen Sohn und seine alte Mutter betrachtete, die in ihr eigenes Universum versunken waren.
Mit einer schwachen Bewegung des Kinns deutete die Oberschwester auf die Szene. »Er lässt nie einen Tag aus.« Sie lächelte freudlos. »Von meinen wird sich keiner einen Dreck um mich kümmern, wenn ich in dem Alter bin, das kann ich dir sagen.«
Die andere Schwester verzog wissend das Gesicht. Die beiden Frauen standen einen Moment lang schweigend da und musterten das Bild. Beide waren in trübsinnige, erschreckende Gedanken über ihre eigene ferne Zukunft vertieft.
»Kann sie überhaupt hören, was er sagt?«, fragte die zweite Krankenschwester.
»Mit höchster Wahrscheinlichkeit. Der Schlaganfall hat sie zwar so gut wie gelähmt und der Sprache beraubt, aber soweit wir wissen, funktionieren ihre Sinne noch.«
»Mein Gott … lieber würde ich sterben. Stell dir vor, in deinem eigenen Körper eingesperrt zu sein.«
»Wenigstens hat sie ihn«, meinte die Oberschwester. »Er bringt ihr jeden Tag Bücher, liest ihr daraus vor und sitzt dann noch eine Stunde lang da, um ihr über das Haar zu streichen und leise mit ihr zu sprechen. Wenigstens hat sie das.«
Die andere Krankenschwester nickte und seufzte traurig.
Im Zimmer merkten weder die alte Frau noch ihr Sohn, dass fremde Augen auf sie gerichtet waren. Sie lag regungslos – unfähig, sich zu bewegen – auf dem Rücken, sodass sie ihrem Sohn, der nach vorn gebeugt auf dem Stuhl saß, ihr geradezu edles Profil mit der hohen Stirn und der Adlernase präsentierte. Hin und wieder tröpfelte ihr Speichel aus den Mundwinkeln, und der fürsorgliche Sohn wischte ihn ihr mit einem gefalteten Taschentuch ab. Er strich ihr das Haar erneut aus der Stirn und lehnte sich wieder so weit vor, dass seine Lippen fast ihr Ohr berührten. Während er leise sprach, gerieten die silbernen Haarsträhnen an ihrer Schläfe durch seinen Atem in Bewegung.
»Ich habe heute wieder mit dem Arzt geredet, Mama. Er sagt, dass sich dein Zustand stabilisiert hat. Das ist schön, nicht wahr?« Er wartete nicht auf eine Antwort, die sie ihm ohnehin nicht geben konnte. »Jedenfalls meint der Arzt, dass du nach deinem großen Schlaganfall noch eine Reihe kleiner Anfälle hattest, die den Schaden angerichtet haben. Aber die sind nun vorbei, und dein Zustand wird sich nicht verschlimmern, wenn ich dafür sorge, dass du deine Medikamente bekommst.« Er machte eine Pause und atmete langsam aus. »Das bedeutet, ich könnte mich zu Hause um dich kümmern. Der Arzt war zuerst nicht sehr begeistert von dem Gedanken, aber du lässt dich doch nicht gern von Fremden versorgen, stimmt’s, Mama? Das habe ich dem Arzt erklärt. Zu Hause, mit mir zusammen, würdest du dich viel wohler fühlen. Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Pflege für dich organisieren kann, wenn ich bei der Arbeit bin, und die übrige Zeit … na ja, die übrige Zeit hättest du ja mich, oder? Die Gemeindeschwester kann uns in der gemütlichen kleinen Wohnung besuchen, die ich gekauft habe. Der Arzt meint, dass du möglicherweise gegen Ende des Monats entlassen werden kannst. Ist das nicht wunderbar?«
Er wartete, damit sie den Gedanken verarbeiten konnte, und musterte die geschwächten grauen Augen, die sich in dem starren Kopf träge bewegten. Wenn sich hinter den Augen irgendeine Emotion verbarg, so konnte sie nicht an die Oberfläche dringen. Er schob den Stuhl, der auf dem polierten Krankenhausfußboden quietschte, noch dichter ans Bett heran. »Natürlich wissen wir beide, dass es nicht so sein wird, wie ich dem Arzt weisgemacht habe, nicht, Mama?« Die Stimme blieb sanft und beruhigend. »Aber schließlich konnte ich dem Arzt nichts über das andere Haus erzählen … über unser Haus. Oder darüber, dass ich dich in Wirklichkeit tagelang in deiner eigenen Scheiße liegen lassen werde, richtig? Oder dass ich Stunden damit verbringen werde, deine noch vorhandene Schmerzempfindlichkeit zu testen. Nein, nein, das wäre unangebracht, findest du nicht auch, Mama?« Er lachte leise und kindlich. »Ich glaube nicht, dass der Arzt dich zu mir nach Hause zurückkehren lassen würde, wenn er das wüsste. Nur keine Sorge, ich werde ihm nichts verraten, wenn du es nicht tust – aber du kannst es ja nicht, stimmt’s, Mama? Schließlich hat Gott dich geknebelt und gefesselt. Das muss ein Zeichen sein. Ein Zeichen für mich.«
Der Kopf der alten Frau blieb reglos, doch eine Träne sickerte aus ihrem Augenwinkel und erreichte die Falten an der Haut ihrer Schläfe. Er sprach noch leiser und ging in einen verschwörerischen Tonfall über. »Du und ich, wir werden zusammen sein. Allein. Und wir können über die alten Zeiten reden. Über die guten Zeiten in unserem großen, alten Haus. Als ich ein Kind war. Als ich schwach war und du stark.« Die Stimme zischte nun, und er atmete Gift in das Ohr der alten Frau. »Ich habe es wieder getan, Mama. Noch eine. Genau wie vor drei Jahren. Aber diesmal kannst du dich nicht einmischen, weil Gott dich in deinen eigenen grässlichen Körper eingesperrt hat. Diesmal kannst du mich nicht aufhalten, und ich werde es immer wieder tun. Es ist unser kleines Geheimnis. Am Ende wirst du dabei sein, Mama, das verspreche ich dir. Aber wir sind erst am Anfang …«
Auf dem Korridor wandten sich die beiden Schwestern, die nicht ahnen konnten, was sich zwischen Sohn und Mutter abspielte, von dem Krankenzimmer und dem rührenden Bild des versiegenden Lebens und der beständigen Kindesliebe ab. Sie beendeten ihren kurzen Blick auf eine traurige Existenz und kehrten zu praktischen Dingen wie dem Dienstplan, den Fieberkurven und der Verabreichung von Medikamenten zurück.
Die frische, helle Morgenkälte war einer ungemütlichen Diesigkeit mit natriumfarbenem Himmel gewichen, der sich träge von der Nordsee vorgeschoben hatte. Ein schwaches Nieseln besprenkelte Fabels Bürofenster, und die Aussicht auf den Winterhuder Stadtpark schien ihr Leben und ihre Farbe verloren zu haben.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen zwei Personen: Maria und ein stämmiger, schroff wirkender Mann von Mitte fünfzig, auf dessen Kopf schwarz-graue Borsten schimmerten. Kriminaloberkommissar Werner Meyer arbeitete seit vielen Jahren mit Fabel zusammen, länger als jeder andere im Team. Der rangniedrigere, doch ältere Werner war nicht nur Fabels Kollege, sondern auch sein Freund und häufig sein Ratgeber.
Werner hatte den gleichen Dienstgrad wie Maria Klee, und die beiden bildeten Fabels unmittelbare Zuarbeiter im Team. Doch Werner war die Nummer eins, denn er besaß mehr praktische Erfahrung als Maria, die sich während eines Jurastudiums und dann später an der Polizeifachhochschule und an der Landespolizeischule hervorgetan hatte. Ungeachtet seines groben Äußeren und seines massigen Körpers zeichnete sich Werner durch methodische Gründlichkeit und Aufmerksamkeit für Details aus. Er befolgte stets die Vorschriften und hielt seinen Chef oft im Zaum, wenn dieser sich zu weit auf einem seiner »intuitiven« Pfade vorwagte. Er sah sich als Fabels Partner, und es hatte einige Zeit – und etliche dramatische Ereignisse – erfordert, bevor er sich an die Arbeit mit Maria gewöhnte.
Inzwischen waren die beiden jedoch ein erfolgreiches Gespann. Fabel hatte sie wegen ihrer Unterschiede zusammengebracht: weil sie verschiedenen Polizeigenerationen angehörten und weil sie Erfahrung mit Fachkenntnis, Theorie mit Praxis kombinierten. Doch was sie wirklich zu einem schlagkräftigen Team machte, war ihre Gemeinsamkeit: ein kompromissloser Einsatz für ihre Aufgaben als Mitglieder der Mordkommission.
Es handelte sich um das übliche Planungstreffen. Bei Mordfällen gibt es zwei Ermittlungsmöglichkeiten: die energische Jagd, wenn man eine Leiche kurz nach dem Tod gefunden hat oder wenn klare Beweise den Weg vorgeben; oder die Verfolgung einer kalten Spur, wenn sich der Mörder bereits zeitlich und geografisch von der Tat entfernt hat und der Polizei nur bruchstückhafte Hinweise hinterlässt, die sie mühselig zusammenfügen muss. Die Ermordung des Mädchens am Strand war ein Fall der zweiten Art: ohne erkennbare Spuren und Motive. Sie würden umfangreiche Nachforschungen anstellen müssen, bevor die Sache Formen annahm. Das Treffen am Nachmittag war deshalb typisch für derartige Vorbesprechungen. Sie sichteten die dürftigen Fakten und verabredeten weitere Sitzungen, um die kommenden Berichte der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin unter die Lupe zu nehmen.
Die Leiche war der Ausgangspunkt: kein Mensch mehr, sondern eine Ansammlung materieller Einzelheiten, die Aufschluss geben über Zeit, Art und Ort des Todes. Mögliche DNS-Daten und andere Spuren des Täters auf der Leiche würden den ersten Schritt für die Identifizierung des Mörders einleiten. Im Mittelpunkt der Besprechung standen die verschiedenen Ermittlungsaufgaben. Zunächst mussten sich fast alle mit der Feststellung der Identität des toten Mädchens beschäftigen. Fabel wollte ihre Identität unbedingt herausfinden, aber zugleich war dies auch der Moment, den er am meisten fürchtete, denn dadurch wurde die Leiche zu einer Person und die Fallnummer zu einem Namen.
Nach dem Treffen forderte Fabel Maria auf, noch in seinem Zimmer zu bleiben. Werner nickte seinem Vorgesetzten wissend zu, wodurch er die Peinlichkeit der Situation unterstrich. Maria Klee – sie trug eine teure schwarze Bluse und eine graue Hose, ihre Beine waren übereinander geschlagen und ihre langen Finger um ihr Knie verschränkt – saß ausdruckslos und etwas förmlich da und wartete darauf, dass Fabel das Wort ergriff. Wie immer drückte ihre Haltung Verschlossenheit und Beherrschung aus, und ihre blau-grauen Augen unter den fragend gewölbten Brauen blieben distanziert. Alles an ihr deutete auf Zuversicht, Selbstkontrolle und Autorität hin. Aber im Moment gab es etwas Unbehagliches zwischen Fabel und ihr.
Sie hatte ihre Arbeit einen Monat zuvor wieder aufgenommen, und dies war der erste große Fall seit ihrer Rückkehr. Deshalb wollte Fabel, dass das Ungesagte ausgesprochen wurde. Die Umstände hatten Fabel und Maria zu einer einzigartigen Intimität gezwungen, einer engeren Intimität, als hätten sie miteinander geschlafen. Neun Monate zuvor hatten sie mehrere Minuten gemeinsam unter einem Sternenhimmel auf einem einsamen Feld im Alten Land verbracht. Der Atem der beiden hatte sich miteinander vermischt, und die selbstbewusste Maria Klee war durch die sehr reale Furcht, sterben zu müssen, in ein kleines Mädchen verwandelt worden. Fabel hatte ihr den Kopf gehalten, die Augen nicht von den ihren abgewandt und unablässig beruhigend auf sie eingesprochen, damit sie nicht in einen Schlaf abglitt, aus dem sie nicht mehr erwachen würde. Er hatte ihr nicht gestattet, den Blick von seinem loszureißen und nach unten zu richten, wo der hässliche Schaft eines Messers mit breiter Schneide aus ihrem Brustkorb ragte.
Es war die schlimmste Nacht in Fabels Karriere gewesen. Sie hatten den gefährlichsten Psychopathen gestellt, dem er je begegnet war – ein Ungeheuer, das eine Reihe teuflischer ritueller Morde begangen hatte. Die Jagd hatte zum Tod zweier Polizisten geführt: eines intelligenten jungen Beamten namens Paul Lindemann aus Fabels Team und eines uniformierten Schutzpolizisten vom örtlichen Kommissariat. Zuletzt war der flüchtende Psychopath auf Maria gestoßen. Statt sie zu töten, hatte er ihr eine lebensgefährliche Verletzung zugefügt, weil er Fabel dadurch zwang, sich zwischen der Rettung seiner Mitarbeiterin und der Fortsetzung der Verfolgung zu entscheiden. In Wirklichkeit hatte Fabel natürlich keine Wahl gehabt.
Seither trugen Fabel und Maria unterschiedliche Narben. Fabel hatte nie zuvor im Dienst einen Beamten verloren, doch an jenem Abend waren zwei Kollegen ermordet worden – und fast wären es drei gewesen. Maria hatte eine gewaltige Menge Blut eingebüßt und war dem Tod auf dem Operationstisch sehr nahe gewesen. Es folgten zwei kritische Wochen auf der Intensivstation, in denen Maria in dem unsicheren Niemandsland zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, zwischen Leben und Tod schwebte. Fabel wusste, dass Maria die beiden letzten Monate ihrer Erholung vorwiegend in einem Fitnessstudio verbracht hatte, um nicht nur ihre physische Kraft, sondern auch die eiserne Entschlossenheit zurückzugewinnen, die sie als erfolgreiche Polizistin ausgezeichnet hatte.
Nun saß sie hier vor Fabel: dieselbe vertraute Maria mit ihrem harten, unerschütterlichen Blick und den ums Knie verschränkten Fingern. Doch während Fabel ihre selbstsichere Körpersprache registrierte, hatte er noch immer die Nacht vor Augen, in der er ihre kühl gewordene Hand hielt und ihrem schwachen Atem lauschte. Gleichzeitig hatte sie ihn mit einer Kleinmädchenstimme angefleht, sie nicht sterben zu lassen. Das war etwas, das sie beide verarbeiten mussten.
»Du weißt, warum ich mit dir sprechen möchte, Maria?«
»Nein, Chef. Hat es mit diesem Fall zu tun?« Aber ihre ernsten blau-grauen Augen wurden unsicher, und sie tat so, als entferne sie einen unsichtbaren Fleck von ihrer makellosen Hose.
»Ich glaube, du weißt Bescheid, Maria. Ich muss sicher sein, dass du einem anstrengenden Fall gewachsen bist.« Maria wollte protestieren, doch Fabel brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Hör zu, Maria, ich will ehrlich sein. Ich könnte ganz einfach den Mund halten und dich in allen kommenden Ermittlungen mit nebensächlichen Aufgaben betrauen, bis ich sicher bin, dass du bereit bist. Aber so gehe ich nicht vor. Das weißt du doch.« Fabel stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch. »Ich schätze dich zu sehr als Beamtin, um dich so respektlos zu behandeln. Andererseits schätze ich dich auch zu sehr, um deine Gesundheit – und deine Effektivität in unserem Team – dadurch zu gefährden, dass ich dich zu früh mit zentralen Aufgaben in einer Ermittlung betraue.«
»Ich bin bereit.« Stählerner Frost knisterte in Marias Stimme. »Ich habe alles bewältigt, was ich bewältigen muss. Und ich wäre nicht an meine Arbeit zurückgekehrt, wenn ich befürchtet hätte, die Effektivität des Teams aufs Spiel zu setzen.«
»Verdammt noch mal, Maria, ich fordere dich nicht heraus. Ich stelle deine Fähigkeiten nicht in Frage.« Fabel fixierte ihre Augen. »An jenem Abend hätte ich dich fast verloren, Maria. Ich habe Paul verloren, und dich um ein Haar auch. Ich habe dich und das Team im Stich gelassen. Nun ist es meine Pflicht, mich davon zu überzeugen, dass du einsatzfähig bist.«
Marias eisige Miene schmolz ein wenig. »Es war nicht deine Schuld, Chef. Zuerst dachte ich, es sei meine gewesen. Weil ich nicht schnell genug oder nicht richtig reagiert habe. Aber einem Menschen wie ihm waren wir noch nie begegnet. Etwas so Böses ist einzigartig. Höchstwahrscheinlich werde ich nie wieder auf jemanden … auf etwas … wie ihn stoßen.«
»Und die Tatsache, dass er noch in Freiheit ist?«, fragte Fabel und bedauerte seine Worte sofort. Es war ein Gedanke, der ihn in mehr als einer Nacht um den Schlaf gebracht hatte.
»Er ist inzwischen weit weg von Hamburg«, erwiderte Maria. »Wahrscheinlich fern von Deutschland oder sogar von Europa. Aber falls nicht und falls wir seine Spur wieder aufnehmen sollten, wäre ich bereit für ihn.«
Fabel wusste, dass sie es ernst meinte. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er selbst bereit war, dem Blutadler-Mörder erneut gegenüberzutreten. Jetzt oder in Zukunft. Aber diesen Gedanken behielt er für sich.
»Es ist keine Schande, sich erst einmal wieder einzuarbeiten, Maria.«
Sie lächelte auf eine Weise, die Fabel noch nie bei ihr gesehen hatte – ein erstes Anzeichen dafür, dass irgendetwas in ihrem Innern anders geworden war. »Es geht mir bestens, Jan. Das versichere ich dir.« Sie hatte seinen Vornamen noch nie im Büro benutzt und ihn überhaupt zum ersten Mal ausgesprochen, als sie auf dem langen Gras eines Feldes im Alten Land irgendwo zwischen Leben und Tod lag.
Fabel lächelte ebenfalls. »Es ist schön, dass du wieder da bist, Maria.«
Maria wollte gerade antworten, als Anna Wolff an die Tür klopfte und ohne abzuwarten eintrat.
»Entschuldigung, wenn ich störe«, sagte Anna, »aber die Spurensicherung hat mich gerade angerufen. Es gibt etwas, das wir uns sofort ansehen müssen.«
Holger Brauner sah nicht wie ein Wissenschaftler und auch nicht wie ein Akademiker aus. Er war ein mittelgroßer Mann mit dunkelblondem Haar und dem kräftigen Äußeren eines Naturfreundes. Fabel wusste, dass Holger in seiner Jugend Sportler gewesen war und sich seine muskulöse Gestalt bewahrt hatte. Er arbeitete seit einem Jahrzehnt mit dem Leiter der Spurensicherung zusammen, und aus ihrem gegenseitigen fachlichen Respekt hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt.
Brauner gehörte dem LKA 3 an, das heißt der Abteilung Kriminaltechnik, die für die Sicherung und Auswertung sämtlicher Spuren zuständig ist. Er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit im Institut für Rechtsmedizin, doch daneben hatte er auch ein Büro neben der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle im Präsidium.
Als Fabel sein Zimmer betrat, war Brauner über den Schreibtisch gebeugt und musterte einen Gegenstand durch ein schwenkbares Vergrößerungsglas mit integrierter Beleuchtung. Brauner blickte auf und begrüßte Fabel nicht mit seinem gewohnten breiten Grinsen, sondern winkte ihn ernst heran.
»Der Mörder hat sich mit uns in Verbindung gesetzt«, sagte er grimmig und reichte Fabel ein paar OP-Handschuhe. Dann trat er zurück, damit Fabel das Objekt auf dem Schreibtisch betrachten konnte. Auf einer kleinen Plastikscheibe lag ein rechteckiges Stück gelbes Papier, das ungefähr zehn Zentimeter breit und fünf Zentimeter hoch war. Brauner hatte den Zettel zwischen zwei Scheiben aus durchsichtigem Plexiglas gelegt, um sämtliche darauf vorhandenen Spuren zu sichern. Die Schrift aus roter Tinte war eng, gleichmäßig, sauber und sehr klein.
»Das haben wir in der Faust des Mädchens gefunden. Ich vermute, jemand hat es ihr in die Hand gelegt und die Finger darum geschlossen, bevor die Leichenstarre eingesetzt hat.«
Obwohl die Schrift winzig war, konnte man sie mit bloßem Auge gut lesen, doch Fabel inspizierte sie mit Brauners beleuchtetem Vergrößerungsglas. Durch die Linse sah er nicht nur Worte auf dem Papier, sondern jeder kleine rote Strich wurde zu einem langen Band auf einer zerklüfteten gelben Landschaft. Fabel schob das Vergrößerungsglas zur Seite und las die Botschaft.
Nun bin ich gefunden worden. Ich heiße Paula Ehlers und wohne im Buschberger Weg, Harksheide, Norderstedt. Ich bin unter der Erde gewesen, und nun wird es Zeit für mich heimzukehren.
Fabel richtete sich auf. »Wann hast du das entdeckt?«
»Wir haben die Leiche heute Morgen hinüber zum Butenfeld gebracht, damit Dr. Möller die Autopsie vornehmen kann.« Butenfeld ist die Straße in Eppendorf, in der das Institut für Rechtsmedizin liegt, und ihr Name dient als polizeiliches Kürzel für das dortige Leichenschauhaus. »Bei der vor der Autopsie üblichen Untersuchung haben wir den Zettel in ihrer Hand bemerkt. Wie du weißt, schieben wir Beutel über Hände und Füße, damit unterwegs keine Spuren vernichtet werden, und diese Notiz war, nachdem die Leichenstarre nachgelassen hatte, an ihrer Handfläche kleben geblieben.«
Fabel las den Zettel noch einmal. Er spürte einen Druck in der Magengegend, und eine leichte Übelkeit stieg in ihm hoch. Paula. Nun besaß sie einen Namen. Die himmelblauen Augen, die zu ihm heraufgestarrt hatten, gehörten Paula. Er zog ein Notizbuch aus seiner Tasche und schrieb den Namen und die Adresse nieder. Fabel hatte keinen Zweifel daran, dass nicht das Opfer, sondern der Mörder die Botschaft zu Papier gebracht hatte. Hätte der Mörder das Mädchen gezwungen, die Worte zu schreiben, wäre ihre Schrift bestimmt nicht so sauber und präzise ausgefallen. Er wandte sich zu Brauner um.
»Ich bin unter der Erde gewesen … Bedeutet das, dass sie irgendwo begraben wurde und man sie dann wieder ausgrub, zum Strand in Blankenese brachte und dort zurückließ?«
»Das habe ich zuerst auch gedacht, als ich den Zettel las, aber ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass diese Leiche nie begraben worden ist. Aus der postmortalen Blässe und der bis vor kurzem vorhandenen Starre lässt sich schließen, dass sie erst etwas länger als einen Tag tot ist. Vielleicht handelt es sich um einen Hinweis darauf, dass man sie vor ihrem Tod in einem Keller oder etwas Ähnlichem eingesperrt hat. Wir untersuchen ihre Kleidung auf Staub und einzelne Substanzen, die uns Aufschluss über die Umgebung liefern können, in der sie in den letzten Stunden vor ihrem Tod festgehalten wurde.«
»Habt ihr noch etwas anderes gefunden?«
»Nein.« Brauner nahm einen Ordner von seinem Schreibtisch und blätterte ihn durch. »Natürlich wird Dr. Möller uns noch die vollständigen pathologischen Details liefern, aber nach unseren Anfangsbefunden war der Strand nicht der Tatort, sondern das Opfer wurde irgendwo anders getötet und später am Strand zurückgelassen.«
»Nein, Holger.« Fabel ließ die Bilder vom Strand durch seine Erinnerung gleiten. »Nicht zurückgelassen. In Pose gelegt. Das macht mir seit heute Morgen zu schaffen. Sie schien sich auszuruhen oder auf etwas zu warten. Es war keine beliebig zurückgelassene Leiche, sondern eine Art Statement … Ich weiß bloß nicht, was es bedeutet.«
Brauner dachte über Fabels Worte nach. »Kann sein«, meinte er schließlich. »Aber ich muss sagen, dass ich die Sache etwas anders sehe. Zwar wurde sie mit einer gewissen Sorgfalt am Strand abgelegt, aber ich konnte keine absichtliche Pose erkennen. Vielleicht verspürte er Reue über das, was er getan hatte. Vielleicht ist er so krank, dass er ihren Tod nicht vollauf begriffen hat.«
Fabel lächelte. »Das ist nicht auszuschließen. Aber entschuldige, du wolltest fortfahren …?«
Brauner richtete die Augen erneut auf den Ordner. »Es gibt nicht viel hinzuzufügen. Die Kleidung des Mädchens war von keiner hohen Qualität und ziemlich abgetragen. Vor allem waren die Sachen nicht frisch. Ich würde sagen, sie hat dieselbe Kleidung – einschließlich der Unterwäsche – mindestens drei oder vier Tage lang vor ihrem Tod angehabt.«
»Ist sie vergewaltigt worden?«
»Du weißt ja, dass Möller mich zur Schnecke machen würde, wenn ich seine Befunde vorausnähme, und, um ehrlich zu sein, kann nur er dir eine definitive Antwort geben. Jedenfalls habe ich keine Spuren sexueller Gewalt an ihrem Körper entdeckt. Überhaupt konnte ich außer den Würgemalen an ihrem Hals kein Zeichen von Gewalt finden. Und auch an ihrer Kleidung deutet nichts darauf hin.«
»Vielen Dank, Holger«, erwiderte Fabel. »Ich gehe davon aus, dass du das Papier und die Tinte untersuchen wirst?«
»Ja. Es trägt kein Wasserzeichen. Ich werde dir bald das Gewicht, den Typus et cetera nennen können, aber es wird einige Zeit dauern, bis ich Auskunft über die spezifische Marke geben kann.« Brauner sog sich die Luft durch die Zähne. »Ich befürchte, dass wir ein weit verbreitetes Massenprodukt vor uns haben, was bedeutet, dass es fast unmöglich sein wird, die konkrete Verkaufsstelle aufzuspüren.«
»Das bedeutet auch, dass unser Freund die Sache durchdacht hat und seine Spuren verwischt.« Fabel seufzte und klopfte Brauner auf die Schulter. »Sieh zu, was du tun kannst, Holger. Während du dich mit dem Medium befasst, werde ich mich mit der Botschaft beschäftigen. Kannst du ein paar Fotokopien zur Mordkommission schicken lassen? Im Idealfall auf das Dreifache vergrößert?«
»Kein Problem, Jan.«
»Und ich sorge dafür, dass du ein Exemplar von Möllers Autopsiebericht bekommst.« Fabel wusste, dass Möllers brüske Art Brauner noch stärker verärgerte als ihn selbst. »Damit du prüfen kannst, ob er irgendetwas Wichtiges enthält.«
In die Mordkommission zurückgekehrt, blieb Fabel an Anna Wolffs Schreibtisch stehen. Er reichte ihr das Blatt mit dem Namen und der Adresse des Mädchens, die der Mörder auf dem Zettel angegeben hatte. Annas Lächeln verschwand, als sie die Notiz las.
»Sind das die Daten des toten Mädchens?«
»Genau das sollst du herausfinden«, sagte Fabel bitter. »Der Mörder hat dem Opfer einen Zettel in die Hand gedrückt. Darauf stand, dass dies der Name und die Adresse des Mädchens sind.«
»Ich kümmere mich sofort darum, Chef.«
Fabel schloss die Tür hinter sich, als er sein Büro betrat. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaute durch die gläserne Trennwand, die ihn vom Großraumbüro der Mordkommission abgrenzte. Er hatte sich nie völlig an das neue Polizeipräsidium gewöhnen können. Das alte Hauptquartier Beim Strohhause unweit des Berliner Tors hatte ihm viel besser gefallen. Die Polizei Hamburg wurde umstrukturiert, und das meiste davon sagte Fabel nicht sehr zu. Sie waren nun in einem nagelneuen, fünfstöckigen Gebäude untergebracht, das sternförmig um ein zentrales Atrium angeordnet war.
Nicht alles war so glatt abgelaufen, wie man geplant hatte. Ursprünglich hatte sich im Atrium ein Teich befunden, der jedoch zur Heimat von wolkenartigen Mückenschwärmen geworden war. Als das Präsidium daraufhin von großen Spinnenpopulationen heimgesucht wurde, die sich an der reichen Beute des Teiches labten, schüttete man den Teich mit Kies zu. Und es kam zu weiteren Änderungen: Die Uniformen der Hamburger Schutzpolizei sollten nach und nach durch blaue Dienstkleidung ersetzt werden, die sich vom Beige-Grün der bundesdeutschen Polizeikräfte unterschied. Was Fabel jedoch nur mühsam verkraften konnte, war die Militarisierung von Teilen der Hamburger Polizei. Seine Vorgesetzten versicherten ihm, die Mobilen Einsatzkommandos – oder MEKs – seien ein notwendiges Übel, und Fabel selbst forderte manchmal selbst bewaffnete Einheiten zur Unterstützung an, besonders nachdem er ein Mitglied seines Teams verloren hatte, aber er hegte schwere Vorbehalte gegen die Einstellung mancher MEK-Angehöriger.
Fabel betrachtete sein Team durch die Trennwand. Diese Mannschaft würde die Jagd auf Paulas Mörder aufnehmen. Die Beamten würden in unterschiedliche Richtungen ausschwärmen, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, bis alle im entscheidenden Moment der Lösung zusammenkamen. Für Fabel galt es, die Übersicht zu behalten und über die Details hinauszublicken. Sein Urteilsvermögen und seine Organisation der Ermittlung würden darüber entscheiden, ob man Paulas Mörder fand oder nicht.
Er zog es vor, nicht über diese Verantwortung nachzusinnen, denn wenn er es tat, wurde die Last nahezu unerträglich. In solchen Momenten hatte er Zweifel an den Entscheidungen, die er treffen musste. Wäre es so schlimm gewesen, sich mit dem Leben als Hochschullehrer an einer Provinzuniversität abzufinden? Oder als Englisch- oder Geschichtslehrer an einer friesischen Schule? Vielleicht wäre seine Ehe mit Renate dann nicht zerbrochen. Vielleicht würde er dann nachts ruhig schlafen, ohne von den Toten zu träumen.
Anna Wolff klopfte an die Tür und trat ein. Ihr hübsches Gesicht mit den dunklen Augen und den allzu roten Lippen war umwölkt. Sie nickte ernst und beantwortete damit Fabels unausgesprochene Frage. »Ja. Paula Ehlers ist auf ihrem Heimweg von der Schule verschwunden. Ich habe mir die Datenbank angesehen und dann mit dem Polizeirevier Norderstedt gesprochen. Auch ihr Alter könnte stimmen. Aber es gibt etwas, das nicht zu den übrigen Umständen passt.«
»Was denn?«
»Wie gesagt, ihr Alter würde dem des toten Mädchens entsprechen … heute jedenfalls. Nur, Paula Ehlers ist vor drei Jahren verschwunden, als sie dreizehn war.«
Normalerweise dauerte die Fahrt vom Präsidium nach Norderstedt nur rund eine halbe Stunde, doch Fabel und Anna Wolff legten eine Pause ein, um etwas zu essen. Der Rasthof war leer, abgesehen von zwei Männern, die, wie Fabel annahm, zu den beiden draußen geparkten Fahrzeugen – einem LKW und einem großen Lieferwagen – gehörten. Die Trucker saßen am selben Tisch und arbeiteten sich stumm und finster durch einen Lebensmittelberg. Fabel warf einen flüchtigen Blick auf die beiden Fahrer, die beide den schlaffen Bauch der lethargischen mittleren Jahre hatten. Aber als er dicht an ihnen vorbeiging, bemerkte Fabel, dass einer der beiden nicht älter als Ende zwanzig oder Anfang dreißig sein konnte.
Eine solche Verschwendung der Jugend deprimierte den Hauptkommissar. Er dachte an das, was Anna und ihm bevorstand: die Begegnung mit einem Leben und einer Jugend, die nicht verschwendet, sondern gestohlen worden waren, und mit einer zerbrochenen, nicht mehr vollständigen Familie. Das, was ihm bei seiner Arbeit als Mordermittler am stärksten zusetzte, war die Begegnung mit den Familien von Vermissten. Besonders wenn ein Kind verschwunden war. In solchen Haushalten breitete sich immer ein Gefühl des Unvollständigen, Ungelösten aus. In den meisten Fällen war es einfach die überwältigende Empfindung des Wartens: darauf, dass der Mann, die Frau, der Sohn oder die Tochter heimkehrten. Oder darauf, dass jemand das Warten beendete, indem er die Familie über den Tod des Vermissten unterrichtete. Jemand wie Fabel.
Fabel und Anna Wolff setzten sich an einen Tisch am Ende des Cafés, möglichst weit weg von den Truckern, damit ihr Gespräch nicht belauscht werden konnte. Anna bestellte eine Bratwurst und einen Kaffee. Fabel entschied sich für ein belegtes Brot und bestellte ebenfalls Kaffee. Dann legte Anna die Akte, die sie aus dem Auto mitgebracht hatte, auf den Tisch und drehte sie um, damit Fabel den Text lesen konnte.
»Paula Ehlers. Sie war dreizehn Jahre alt, als sie verschwand. – Genauer gesagt, sie wurde am Tag nach ihrem dreizehnten Geburtstag vermisst und wäre heute sechzehn Jahre alt. Wie es auf dem Zettel heißt, wohnte sie im Buschberger Weg in Norderstedt, und zwar im Bezirk Harksheide. Das Haus war zu Fuß etwa zehn Minuten von ihrer Schule entfernt, und laut dem Bericht der Norderstedter Kripo verschwand sie während dieses zehnminütigen Weges.«
Fabel schlug die Akte auf. Das Gesicht, das ihm von dem Foto entgegenlächelte, war das eines sommersprossigen Mädchens. Eines Kindes. Fabel runzelte die Stirn. Er dachte an die Leiche am Strand und an das Gesicht, das ihn von dem kalten Sandboden her ausdruckslos angeschaut hatte, und verglich es mit dem Foto vor ihm. Die Gesichter waren ähnlich geschnitten, doch die Augen schienen nicht die gleichen zu sein. War es bloß der Unterschied zwischen der Androgynie der Kindheit und der schon fast vollständig ausgebildeten Weiblichkeit einer Sechzehnjährigen? Waren die Veränderungen des Gesichts das Ergebnis von drei Jahren unvorstellbarer Pein? Die Augen. Er hatte die Augen des toten Mädchens, das scheinbar lebendig am Strand von Blankenese lag, lange gemustert. Diese Augen beunruhigten Fabel.
Anna biss in die Bratwurst. Als sie weitersprach, pochte sie mit dem Finger der einen Hand auf die Akte, während sie sich die andere Hand vor den Mund hielt, als wolle sie die Akte vor Fettspritzern schützen.
»Die Norderstedter Polizei hat alles Notwendige getan und auch ihren Spaziergang nach Hause rekonstruiert. Einen Monat später hatte man immer noch nichts gefunden und stufte die Sache als Vermisstenfall und gleichzeitig als möglichen Mordfall ein.«
Fabel blätterte die übrigen Seiten der Akte durch. Brauner hatte ein halbes Dutzend vergrößerter Fotokopien des Zettels angefertigt. Eine war nun ans Schwarze Brett im Hauptbüro der Mordkommission geheftet, eine weitere lag in der Akte vor Fabel.
»Ein Jahr später haben sie den Fall wieder aufgerollt«, fuhr Anna fort. »Sie haben jeden befragt, der am Jahrestag von Paulas Verschwinden durch die Gegend ging oder fuhr. Wieder blieben sämtliche Bemühungen ergebnislos. Die Ermittlung wurde von einem Kriminalkommissar Klatt von der Norderstedter Kripo geleitet. Ich habe ihn heute Nachmittag angerufen. Er steht uns zur Verfügung und hat mir sogar seine private Telefonnummer gegeben, falls wir ihn nach unserem Gespräch mit der Familie Ehlers anrufen wollen. Laut Klatt wurden keine echten Hinweise gefunden, obwohl er einen von Paulas Lehrern sehr genau unter die Lupe nahm …« Anna drehte die Akte teilweise wieder zu sich um und überflog rasch die Seiten, die die Norderstedter Polizei dem Präsidium zugefaxt hatte. »Da … ein Herr Fendrich. Klatt gibt an, keine Handhabe gegen Fendrich zu haben, nur ein ungutes Gefühl wegen der Beziehung zwischen dem Lehrer und Paula.«
Fabel betrachtete das sommersprossige Gesicht auf dem Foto. »Aber sie war erst dreizehn …«
Anna setzte eine »Das weißt du doch besser«-Miene auf. Fabel seufzte. Es war ein naiver, wenn nicht gar dummer Kommentar gewesen. Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Spitze einer Mordkommission sollte ihn kaum noch etwas überraschen, wozu Menschen fähig waren, schon gar nicht die Möglichkeit, dass ein pädophiler Lehrer eine Leidenschaft für eine seiner Schutzbefohlenen entwickelte.
»Jedenfalls konnte Klatt nichts Konkretes finden, um seinen Verdacht zu erhärten?«, fragte Fabel.
Anna biss wieder in ihre Bratwurst und schüttelte den Kopf. »Er hat ihn mehrere Male verhört.« Sie sprach mit vollem Mund und hielt ihre Fingerspitzen erneut vor die Lippen. »Fendrich begann von Schikanierung zu reden. Klatt musste ihn schließlich in Ruhe lassen. Man kann Fendrich zugute halten, dass keinerlei eindeutige Indizien gegen ihn vorlagen.«
Fabel schaute durch das Fenster, in dem sich sein Gesicht dunkel spiegelte, auf den beleuchteten Parkplatz. Ein Mercedes bremste, und ein Paar in den Dreißigern stieg aus. Der Mann öffnete die hintere Tür, und ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren sprang hinaus und griff automatisch nach der Hand seines Vaters. Es war eine instinktive, gewohnheitsmäßige Geste: die angeborene Erwartung eines Kindes, beschützt zu werden.
Er wandte sich wieder Anna zu. »Ich bin nicht sicher, dass es dasselbe Mädchen ist.«
»Bitte?«
»Ich behaupte nicht, dass sie es nicht sein kann. Aber ich bin mir nicht sicher. Es gibt Unterschiede. Vor allem die Augen.«
Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schürzte die Lippen. »Dann ist es ein verdammt seltsamer Zufall, Chef. Wenn es nicht Paula Ehlers ist, dann ist es zumindest ein Mädchen, das ihr verteufelt ähnlich sieht. Und das außerdem noch ihren Namen und ihre Adresse in der Hand hatte. Wie gesagt, ein verdammt seltsamer Zufall … und wenn ich gelernt habe, Dingen zu misstrauen, dann sind es Zufälle.«
»Ich weiß. Aber es passt einfach nicht recht zusammen.«
Die B 433 führt auf ihrem Weg nach Norden, das heißt nach Schleswig-Holstein und Dänemark, durch Norderstedt. Harksheide liegt nördlich des Ortszentrums, und der Buschberger Weg verläuft rechts von der B 433. Kurz bevor sie die Abzweigung zum Buschberger Weg erreichten, bemerkte Fabel, dass die Schule, die Paula besucht hatte, in einiger Entfernung links von der Hauptstraße lag. Paula musste diese verkehrsreiche Straße also auf ihrem Heimweg überquert haben und konnte eine Weile an ihr entlanggegangen sein. Hier war sie vermutlich entführt worden – höchstwahrscheinlich am Rand der nach Hamburg führenden Fahrspur.
Als sie bei der Familie Ehlers ankamen, war es, wie Fabel vermutet hatte: Es knisterte eine finstere Elektrizität – etwas zwischen Vorahnung und Entsetzen. Das Haus selbst war ein ganz gewöhnlicher Bungalow mit einem steilen, roten Ziegeldach – die Art Behausung, wie man sie von den Niederlanden bis zur Ostseeküste, von Hamburg bis zur Nordspitze Jütlands immer wieder sieht. Ein gepflegter, doch fantasieloser Garten mit üppiger Bepflanzung umgab das Haus.
Frau Ehlers war Anfang vierzig. Ihr Haar war offensichtlich so blond gewesen wie das ihrer Tochter, doch die Jahrzehnte hatten seinen Glanz um eine Nuance gedämpft. Ihr nordisches Aussehen war typisch für die Menschen von Schleswig-Holstein: hellblaue Augen und vorzeitig durch die Sonne gealterte Haut. Ihr Mann, den Fabel auf rund fünfzig Jahre schätzte, wirkte ernst. Er war hoch gewachsen und schlaksig. Auch er hatte blonde Haare, doch es war noch ein wenig matter als das seiner Frau. Seine dunkelblauen Augen stachen aus seinem blassen Gesicht hervor. Während Fabel Anna Wolff und sich selbst vorstellte, verglich er das, was er sah, mit den Bildern in seinem Gedächtnis: das Ehepaar Ehlers, das Mädchen auf dem Foto in der Akte und das Mädchen am Strand. Wieder hakte sich etwas in seinem Hirn fest – ein kaum wahrnehmbarer Widerspruch.
»Haben Sie unser Kindchen gefunden?« Frau Ehlers blickte Fabel so sehnsüchtig an, dass er es kaum ertragen konnte.
»Ich weiß es nicht, Frau Ehlers. Es ist möglich. Sie oder Ihr Mann müssen die Leiche identifizieren.«
»Also besteht eine Chance, dass es nicht Paula ist?« Ein Anflug von Trotz war aus der Stimme von Herrn Ehlers herauszuhören. Fabel erhaschte Annas Blick aus dem Augenwinkel.
»Durchaus, Herr Ehlers, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es Paula sein könnte. Die Tote ist größer, als es Paula bei ihrem Verschwinden war, aber sie könnte in den letzten drei Jahren entsprechend gewachsen sein. Außerdem gibt es Indizien, die das Opfer mit Ihrer Adresse in Verbindung bringen.« Fabel verschwieg den beiden den Zettel, den der Mörder dem toten Mädchen wie ein Etikett in die Hand gedrückt hatte.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte Frau Ehlers.