Die Polizei nennt ihn den Network-Killer. Er sucht sich seine Opfer im Internet, ausnahmslos Frauen. Anschließend lockt er sie zu sich, vergewaltigt und erdrosselt sie und wirft sie ins Wasser. Hauptkommissar Jan Fabel und sein Team widmen ihre ganze Aufmerksamkeit den brutalen Morden. Eines Tages taucht eine weitere Wasserleiche auf: eine Frau, angespült am Hamburger Fischmarkt, nach dem großen Sturm. Der Leiche fehlen sämtliche Gliedmaßen. Ist sie ebenfalls ein Opfer des Network-Killers?
Jan Fabel vertieft sich in den Fall. Wie sich herausstellt, führt die Spur zu einer Organisation, die noch viel skrupelloser ist als der Network-Killer ...
Tiefenangst
Thriller
Aus dem Englischen von
Bernd Rullkötter
Inhaltsübersicht
Über Craig Russel
Informationen zum Buch
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Prolog
1. Fünfzehn Jahre vor dem Sturm
2. Zwei Wochen vor dem Sturm
3. Die Nacht des Sturmes
4.
Erster Teil
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Zweiter Teil
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Danksagung
Impressum
Für Jonathan und Sophie
And the sea gave up the dead which were in it.
Revelations, King James Bible
Und das Meer gab die Toten, die darin waren.
Offenbarung, Lutherbibel
Thalassophobie ist eine Furcht vor großen und tiefen,
dunklen Gewässern, etwa Meeren und Seen,
deren Boden nicht zu erkennen ist. Als phobische Störung
ist sie nicht mit der Aquaphobie und anderen
Wasserängsten verwandt, sondern sie hat mehr
mit agoraphobischen Zuständen gemein.
Es ist keine Furcht vor dem Wasser selbst,
sondern eine Angst vor der Leere, die sich unter
der Oberfläche verbirgt.
Der Klabautermann ist eine alte Gestalt im Aberglauben
norddeutscher Seefahrer.
Es gibt zwei Sichtweisen vom Klabautermann: zum einen
die eines freundlichen Meereskobolds, der hilft,
undichte Schiffe zu reparieren, oder sie in sichere Gewässer
geleitet; zum anderen die eines bösartigen Dämons,
der den Seeleuten grausame Streiche spielt und
Schiffe ins Verhängnis führt. Für beide Versionen galt:
Der Klabautermann konnte von fast niemandem
gesehen werden.
Für Menschen, die ihn zu Gesicht bekamen, bedeutete dies
nur eines: dass sie sterben würden.
Zu tief.
Korn schaltete die Kommunikationsverbindung der Pharos One erneut ein. Er hörte Wiegands Stimme, doch dann brach die Verbindung ab. Kein Knistern oder Zischen, denn das digitale Kommunikationssystem hatte keine Abstufungen – das Signal war entweder zu hören oder nicht. Wiegands Besorgnis drang in Form von abgehackten Silben und Pausen zu Korn durch. In Form von scharfkantigen Wortscherben.
Er betrachtete den Tiefenmesser des Tauchboots. Herrje, zu tief, zu tief. Und er sank immer noch. Dreitausend Meter. Dreitausendzweihundert. Dreitausendsechshundert. Kein Gefühl des Fallens, des Abstiegs. Nur der unerbittliche Sturz der Anzeige auf dem Tiefenmesser.
Unter ihm der Graben. Um ihn herum das Wasser: kalt, dicht, überwältigend. Schwarz.
Es war ein anderes Universum. Eine andere Realität.
Pharos One hatte nur eine sehr kurze Strecke zurückgelegt. Eine Entfernung von dreieinhalb Kilometern. An Land konnte man sie bequem zu Fuß in einer Dreiviertelstunde hinter sich bringen. Aber Korn befand sich nun an einem Ort, der so weit von der Menschheit entfernt zu sein schien wie der Weltraum. Wie der Mond.
Viertausend Meter.
Jetzt war Korn am Rande des Abgrunds. Buchstäblich. Denn hier begann die abyssopelagische Zone. Das Wasser außerhalb des Bootes hatte nichts mehr mit dem gemein, was normalerweise unter Flüssigkeit verstanden wird. Es bewegte sich tief in den dunklen Schichten des Ozeans, wo sämtliches Leben blind in einem lichtlosen Universum war. Laut den Anzeigen näherte sich die Wassertemperatur dem Gefrierpunkt, doch es blieb wegen seines hohen Salzgehalts flüssig. Zugleich hatte es eine unvorstellbare, zermalmende Dichte. Korn wusste, dass der Druck bereits vierhundertmal so hoch war wie am Meeresspiegel und dass er nach jeweils zehn Metern, die die Pharos One sank, um eine Atmosphäre stieg.
»Ich habe die Kontrolle verloren«, rief er ins Mikrofon. »Das Steuerpult ist völlig tot. Ihr müsst versuchen, mich per Fernbedienung hochzuholen.«
Weitere scharfe Wortscherben drangen zu ihm. Korn wusste, dass er für das Mutterschiff an der Oberfläche genauso klang – Wenn die Grundkommunikation nicht funktionierte, bestand auch kaum eine Aussicht, dass sich eine verlässliche Fernkontrolle ausüben ließ. Denn das Systemversagen, das ihm die Kontrolle raubte, hatte vermutlich auch die Verbindung zu dem fernen Navigations-Computer gekappt.
Ein weiteres Silbengewirr.
Korn machte keinen Versuch zu antworten. Er bemühte sich zu denken. Oder, genauer gesagt, er versuchte, seine Gedanken zu verlangsamen, die Panik aus ihnen zu verdrängen, damit er denken konnte. Warum waren die Hauptmotoren von Pharos One ausgefallen? Warum hatte er keine Kontrolle mehr über das Ruder? Und warum hatte das Tauchboot einen so katastrophalen Auftriebsverlust erlitten? Das gesamte System schien zusammengebrochen zu sein. Er war sich sicher, dass die Motoren und das Ruder in Ordnung waren. Es handelte sich um einen elektronischen, nicht um einen mechanischen Fehler. Warum wusste er nicht, woran es lag? Er hatte geholfen, die Pharos One zu entwerfen. Er hatte ihre elektronische Steuerung persönlich geplant und zusammen mit Wiegand ausfallsichere Systeme geschaffen. Wie war es hierzu gekommen?
Da Korn an der Entwicklung der Pharos One beteiligt gewesen war, wusste er, dass sie im Gegensatz zu einer Tauchzelle keine optimale Auftriebskraft hatte. Der Auftriebskörper mit Petroleum und Eisenschrotballast hatte eine begrenzte Kapazität. Korn hatte auf einem Tauchboot bestanden, das erhebliche Tiefen erreichen und gleichzeitig durch seine Umgebung »hindurchfliegen« konnte. Ohne Antriebskraft sank es durch sein Gewicht.
Korn blickte durch die verschmolzenen Quarzfenster in das dunkle Wasser hinaus. Die Strahlen der Jodscheinwerfer ließen einen nach oben gerichteten Strom heller Partikel erkennen. Dann wurde etwas Blasses von den externen Navigationslichtern erfasst. Ein vielfältig verzweigtes Gorgonenhaupt trieb wie ein verlorenes Spitzendeckchen am Fenster vorbei in die Höhe. Es war das einzige Lebewesen, das er bemerkte. Das einzige Lebewesen, das er sehen konnte. Wenn es denn als Lebewesen zu bezeichnen war. Blutlos, fähig, Teile von sich zu regenerieren und sogar aus einem abgerissenen Tentakel ein völlig neues Geschöpf zu reproduzieren. Es war ein Wesen mit einem 65 Millionen Jahre alten Stammbaum.
Ich sollte nicht hier sein. Der Gedanke überraschte Korn, während er beobachtete, wie das Gorgonenhaupt nach oben trieb und sein Sichtfeld verließ. Es war kein flüchtiger Gedanke, sondern eine Offenbarung. Die Ablehnung jahrelanger Studien und millionenschwerer Investitionen. Seiner Lebensaufgabe. Ich sollte nicht hier sein. Plötzlich begriff Korn, dass seine Anwesenheit an diesem Ort so widersinnig war, als würde sich das Gorgonenhaupt, an dem er vorbeigedriftet war, daranmachen, die Höhen des Mount Everest zu erforschen. Ich habe kein Recht, hier zu sein. Dies ist nicht unsere Welt. Er dachte an die Zeit, die Mühen, das Geld, die er für das Pharos-Projekt aufgebracht hatte. Millionen.
Abwerfen. Korn hörte Wiegands einziges vollständiges Wort, bevor die Sprechverbindung völlig verstummte. Abwerfen. Was abwerfen? Wiegand hatte versucht, ihm etwas mitzuteilen. Korn bemühte sich erneut, Kontakt zum Mutterschiff herzustellen, aber er hörte keine Antwort. Er drückte auf die zentrale Motorsteuerung. Nichts. Das Pult war immer noch tot.
Ich werde hier sterben, dachte er. Ich werde sterben, und niemand wird meine Leiche je finden, und das habe ich verdient, weil ich nicht hier sein sollte.
Ein Knarren.
Es war ein leises Grollen wie von einem Meerestier, das im Abgrund ächzte. Doch Korn wusste, dass es die protestierenden Rippen des Druckkörpers waren. Er blickte sich verzweifelt in der Kabine um und musterte den beängstigend engen Raum aus Betonstahl, der ihn umgab, ebenso wie die dicken Quarzscheiben der Bullaugen. Vielleicht würde es rasch vorbei sein. Er hatte sich vorgestellt, am Boden des Grabens liegen zu bleiben. Gefangen und bewegungslos, bis er allmählich – schreiend und kratzend – wahnsinnig wurde, während die hundert Stunden verstrichen, in denen er noch Sauerstoff hatte. Aber ihm wurde klar, dass bald die Belastungsfähigkeit der Pharos One überschritten sein würde, und vielleicht würde ihn dann eine Niete töten, die durch den intensiven Wasserdruck aus ihrer Fassung schoss. Oder er würde, was wahrscheinlicher war, durch die Implosion des Stahls im nachgebenden Rumpf wie ein Käfer zwischen zwei Fingern zu Tode gequetscht werden.
Erneut Wiegands Stimme. Diesmal klarer.
»Dominik!«
Korn betrachtete den Tiefenmesser. Viertausendachthundert Meter. Fünftausend. O Gott, nein. Zu tief. Zu tief.
»Dominik!«
»Hier«, erwiderte er, überrascht darüber, wie trübe seine Stimme klang. Ein Geräusch. Nicht laut, doch beständig: ein sanftes, mechanisches Surren. Die Motoren.
»Wir haben die Steuerung außer Kraft gesetzt. Dominik, hörst du mich?«
»Ich bin hier«, sagte er. »Ich sollte nicht hier sein.«
»Dominik, hör mir zu. Konzentrier dich. Zieh deinen Evak-Anzug an.«
»Evak-Anzug?« Plötzlich wurde Korn aufmerksam. Eine Stimme, die fünf Kilometer und ein Universum entfernt war, hatte etwas in ihm geweckt. »Was zum Teufel soll ein Evak-Anzug bewirken? Ich bin fast fünftausend Meter unter der Oberfläche.«
»Wir haben deine Messwerte bekommen. Etwas hat die Zellen beschädigt. Wir glauben, dass wir dich hochholen können. Vielleicht bis ganz nach oben, vielleicht nicht.«
Korn schaute wieder auf den Tiefenmesser. Eine Sekunde lang, die ewig zu dauern schien, blieb die Anzeige unverändert. Dann, unerträglich langsam, ließ sie ein Aufsteigen erkennen.
»Hörst du mich, Dominik?«
»Ich höre dich.« Nun war er völlig wach und litt den quälenden Schmerz der Hoffnung. »Sofort. Ich bin dabei.« Wild mit dem Sicherheitsgurt hantierend, mühte er sich in der sargähnlichen Kabine ab, den Anzug aus dem Gehäuse hinter dem Kommandostuhl zu zerren. Er zwängte sich hinein. Die Manschetten aus Neopren und Gummi schnürten ihn ein, während der leuchtend orangene Evak-Anzug ihn wie ein lockeres Zelt umgab. Ein zweites Gefängnis.
»Du musst dich beeilen, Dominik …« Wiegands Stimme klang gepresst und gleichmäßig. Gezwungen. Künstliche Ruhe, hinter der sich Panik verbarg. »Hör zu, Dominik. Wenn die Leistung nachlässt, werden wir sämtlichen Ballast abwerfen. Schlagartig. Wir hoffen, dass der Schub dich an die Oberfläche bringt. Aber du wirst schnell hochkommen. Zu schnell. Verstehst du?«
»Ich verstehe.« Korns Stimme wurde durch den Plastikschirm an seiner Anzughaube gedämpft.
»Du könntest wieder die Verbindung mit uns verlieren. Lass den Tiefenmesser nicht aus den Augen. Wenn dein Aufstieg stoppt, musst du raus und im Evak-Anzug hochkommen. Möglicherweise können wir dich ohne Evakuierung an die Oberfläche bringen. Aber wenn nicht, musst du rasch handeln. Sonst fällst du wie ein Stein nach unten. Ist das klar, Dominik?«
»Völlig. Hol mich hier raus, Peter.«
»Wir schalten die gesamte Energie ab, außer für die Motoren und die Verbindung. Warte, bis wir die Gerätebeleuchtung wieder einschalten.«
Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die schwärzer war als jede Nacht. Zuerst konnte er nichts sehen, dann trieb etwas an dem Quarzbullauge vorbei. Etwas glühte in der Ferne. Ein einzelner heller Punkt. Biolumineszenz: ein Seeteufel oder Zigarrenhai, der im Abgrund seinen eigenen Lichtflecken erzeugte. Wie ein Leuchtfeuer. Eine Sekunde lang widmete Korn seine ganze Aufmerksamkeit dem schwachen Schimmer, der eine tiefere, nicht ganz zu begreifende Bedeutung zu haben schien.
Das Armaturenbrett vor ihm leuchtete wieder auf. Die blinkenden Knöpfe und das LED-Display des Tiefenmessers waren nach der Pechschwärze des Abgrunds plötzlich blendend hell. Dreitausend Meter. Am Anzug war eine Ortungssignallampe befestigt. Er schaltete sie an. Ein neues Knarren. Das Meer wollte ihn immer noch zermalmen.
»Dominik …«, ließ sich Wiegand vernehmen.
»Nur zu.«
»Wir müssen dich auf mindestens hundertachtzig Meter hochholen. Der Evak-Anzug ist bis zu dieser Tiefe getestet worden. Entspann dich und lass dich von uns hochbefördern. Der Anzug steigt nicht mehr als drei Meter pro Sekunde auf. Du brauchst dir also keine Sorgen wegen der Dekompression zu machen. Aber du musst aussteigen, sobald es das geringste Anzeichen gibt, dass die Kapsel es nicht bis zur Oberfläche schafft.«
Eintausendfünfhundert Meter.
»Ich sollte nicht hier sein«, sagte Korn vor sich hin. »Wir sollten nicht hier sein.«
»Wiederholen, Dominik …«
»Wir sollten nicht hier sein. Dazu haben wir kein Recht. Wir sollten nicht die Frechheit, die Arroganz haben …«
»Ich möchte, dass du dich nicht ablenken lässt.« Wiegands Stimme übertönte ihn. »Konzentriere dich. In Ordnung?«
Neunhundert Meter. Achthundert.
»Ich bin konzentriert, Peter. Konzentrierter, als du denkst …«
Das Wasser draußen wurde weniger dunkel. Nicht heller, nur weniger dunkel.
»Lass den Tiefenmesser nicht aus den Augen, Dominik …«
Das ständige, beruhigende Surren der Motoren verstummte.
»Peter …«
»Halt dich fest, Dominik!« Wiegands Stimme war eindringlich. »Ich muss die Tanks leeren. Halt dich fest!«
Etwas donnerte neben Korn. Betäubend. Nicht komprimierbarer Petroleumballast wurde aus den Auftriebtanks entleert, Eisenschrotballast dem elektromagnetischen Griff der Pharos One entzogen. Nun spürte er Bewegung. Durch den Schub wurde er an seinen Stuhl gepresst. Er klammerte sich an die Armlehnen und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu halten. Sein Puls pochte in seinen Ohren.
»Peter?«
Die Sprechverbindung war erneut zusammengebrochen. Er war wieder allein, doch er schoss zu der Umgebung hinauf, in die er gehörte. Zu seinem wahren Platz auf der Welt. Aus den Tiefen. De profundis.
Fünfhundert Meter. Vierhundert. Dreihundert. Er ließ den roten Deckel über dem Auslöser des Notsprengbolzens zurückschnappen und legte seinen Finger auf den Abzugsbügel. Er musste den richtigen Zeitpunkt finden. Genau den richtigen. Zweihundertachtzig Meter. Nur noch ein bisschen mehr.
Korn begriff, was er sah, aber er wollte es nicht sehen. Sein Aufstieg verlangsamte sich. Zweihundertvierzig … zweihundertzwanzig … zweihundert. Zu tief. Immer noch zu tief. Die Anzeige blieb eine Ewigkeit lang bei hundertsiebzig stehen.
Jetzt. Tu es jetzt. Seine Vernunft schrie geradezu auf. Er wusste, dass die schlagartige Entleerung der Tanks keine Kraft mehr lieferte. Nun konnte nur noch eines geschehen: die Rückkehr in den Abgrund. Doch irgendetwas ließ ihn erstarren – die irrationale Hoffnung, dass das Tauchboot die allgemeinen Gesetze der Physik besiegen würde.
Hundertachtzig.
Korn hatte zehn wichtige Meter verloren und eine Atmosphäre zusätzlichen Drucks gewonnen. Er vergewisserte sich, dass seine Sicherheitsgurte geschlossen waren, und legte den Schalter um, sodass der Sprengbolzen abgefeuert wurde und die Luke öffnete.
Es war wie der Aufprall eines Autos. Das Wasser wälzte sich nicht in die Kabine, sondern es rammte sich wie eine feste Masse in die Rückenlehne des Kommandostuhls. Ein scharfer Schmerz durchfuhr seinen Arm und seine Schulter. Er wusste, dass sein Unterarm gebrochen war, doch er betastete seinen Ärmel nicht, um den Bruch zu untersuchen, sondern um sich zu überzeugen, dass der Evak-Anzug nicht eingerissen war. Er konnte keinen Riss entdecken.
Korn schlug mit seiner unverletzten Hand gegen den Klemmbügel und löste den Sicherheitsgurt. Er achtete nicht auf die bohrenden Schmerzen in seinem Arm, sondern schob sich durch die einzige Luke am Heck der Pharos One hinter seinem Stuhl. Da das Tauchboot rasch sank, musste er es schnell verlassen. Wenn ein Ärmel oder ein Gurt hängen blieb oder wenn er sich am Roboterarm verhakte, konnte er mit der Tauchkapsel zurück in die Tiefe gerissen werden. Ohnehin hatte er wahrscheinlich zehn, wenn nicht zwanzig Meter verloren. Plötzlich war er draußen im offenen Wasser und stieß sich von dem Gefährt ab. Der Überlebensanzug, von der eingefangenen Luft aufgebläht, isolierte ihn gegen die Kälte und widerstand dem schlimmsten Druck, doch sein Auftrieb drückte Korn nach oben ans Heck des sinkenden Tauchboots.
Er stemmte die Beine an den hellgelben Rumpf und stieß sich mit den Füßen ab. Er war frei. Frei und ungehindert.
Er sah, wie die Pharos One unter ihm verschwand. Ohne einen Laut. Sie wurde im dunklen Wasser kleiner und dann allmählich unsichtbar. Er schaute auf den Tiefenmesser an seinem Handgelenk. Hundertsechzig und steigend.
Es war gefährlich, aber hier konnte er eindeutig überleben. Er würde es schaffen.
Korn trieb mit dekompressionssicherer Geschwindigkeit weitere siebenundneunzig Meter in die Höhe. Über sich konnte er den abgeschwächten Glanz des Tages, vage und fern, erkennen.
Die Oberfläche.
In diesem Moment platzte sein Evak-Anzug, der sich ohne Korns Wissen an einer Niete des Kapselrumpfes verfangen hatte und nach seiner Flucht aus der Pharos One überdehnt worden war. Die Explosion setzte eine Flut von Luftblasen frei.
Meliha glitt so dicht an der Straßenmauer entlang, als wären die roten Ziegel magnetisiert. Sie waren hinter ihr her und würden sie finden. Ihre Verfolger fanden jeden. Und wenn sie Meliha gefunden hatten, würden sie sie wahrscheinlich töten. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht nicht einmal so, wie sich die meisten einen Mord vorstellten. Sie konnten den Geist eines Menschen töten, seine Persönlichkeit vernichten und den Körper, der sich weiter bewegte und atmete., am Leben lassen. Doch als Person, als Individuum würde sie so gut wie tot sein.
Es war kalt. So kalt. Und feucht. Und dunkel. Und die Füße schmerzten ihr. Sie hatte eine sehr große Strecke zurückgelegt. Aber vor allem hatte Meliha Angst vor denen, die sie verfolgten, weil das keine Menschen mehr zu sein schienen. Irgendwie hatten ihre Verfolger das erreicht, was sie sich immer gewünscht und für sich beansprucht hatten. Sie waren nichtmenschlich geworden. Meliha erschienen sie nicht mehr als Einzelne, sondern als Kollektivwesen. Als Einheit.
Ein Gesamtwesen.
Meliha versuchte, ihre Furcht zu verdrängen. Furcht war eine Emotion, der sie nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie war ein kluges, mutiges, wissbegieriges Kind gewesen. Ein kühnes kleines Mädchen, das der Welt kämpferisch gegenübergetreten war. Furchtlos. »Benim küçük cesur kaplanim …« – so hatte ihr Vater sie immer genannt: »Meine mutige kleine Tigerin.« Sie dachte zurück an jene Zeiten, an die Stunden, in denen sie mit ihm zusammengesessen, mit ihm geredet und verwegene Fragen nach der Welt gestellt hatte. Auf jede Frage wusste er eine Antwort. Nicht immer die richtige Antwort, wie er betonte, doch eine Antwort.
Einmal hatte er ihr einen Briefbeschwerer aus Kristall gezeigt, den er auf seinem Schreibtisch aufbewahrte. Ein Souvenir, das an seine vielen Jahre und zahllosen Reisen als Geologe erinnerte. Er erzählte ihr, dass überall auf der Welt schöne Dinge wie Kristalle und Juwelen verstreut seien und nur darauf warteten, gefunden zu werden; manchmal seien sie tief in Felsen verborgen, manchmal würden sie dicht unter der Oberfläche liegen. Hin und wieder könne man sie zufällig entdecken, und bisweilen müsse man schwer arbeiten – sorgfältig Ausschau halten und tief graben –, um zu ihnen vorzudringen.
Mit Antworten, hatte er erklärt, sei es genauso. Sie seien über die ganze Welt verteilt und am kostbarsten, wenn man sie selbst gefunden habe.
Das war ihr Leitprinzip geworden. Sie hatte nach Antworten, nach der Wahrheit, gesucht. Und nun war sie hier, in einer fremden Stadt im kalten Norden, und wurde wegen der Antworten gejagt, die sie entdeckt hatte.
Meliha war in der Hamburger Speicherstadt, einer Stadt innerhalb der Stadt. Die alten Lagerhäuser für zollfreie Waren ragten neben ihr und am dunklen Wasser des Kanals an ihrer Seite empor. Ein Licht, hoch oben an einem der Warenhäuser angebracht, ließ eine helle Pfütze entstehen, und der Hamburger Regen tanzte silbern plätschernd über die Pflastersteine. Sie versuchte, sich zu orientieren. Das Lagerhaus, das sie ansteuerte, lag in der Nähe. Wenn sie es erreichen konnte, würden die anderen sie vielleicht nicht finden. Zumindest würde sie Zeit haben, um über ihren nächsten Schachzug nachzudenken.
Meliha kramte wieder in ihren Taschen. Das Handy war weg. Sie hatte es in dem Café, das sie am Mittag aufgesucht hatte, hegen lassen. Sie hatte es eingeschaltet auf den Tisch gelegt und mit ihrer Serviette zugedeckt. Als sie dann aus dem Café hinausging, hatte sie es auf dem Tisch liegen lassen.
Noch eine Nachprüfung. Unlogisch, weil sie wusste, dass es im Café geblieben war, aber sie wollte sich noch einmal überzeugen. Sicherheitshalber.
Möglicherweise hatte das Personal im Café das Handy gefunden und es beiseitegelegt, damit sie es später abholen konnte. Aber das Café befand sich in einem heruntergekommenen Teil von Wilhelmsburg, und Meliha hielt es für wahrscheinlicher, dass jemand das Handy eingesteckt hatte. Sie dachte an den fetten Mann am Nachbartisch, der beim Essen ekelhafte Geräusche gemacht hatte. Doch in erster Linie hatten nicht seine Essgewohnheiten ihre Aufmerksamkeit erregt, sondern die Tatsache, dass er ein Smartphone oder einen PDA besaß, auf den er, wenn er sich nicht gerade den Mund vollstopfte, ständig mit einem Griffel eintippte.
Vielleicht hatte er ihr Handy an sich genommen. Oder vielleicht spazierte ein anderer Cafébesucher damit durch Hamburg.
Genau das wollte sie. Meliha hatte ihre Taschen erneut durchsucht, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Mobiltelefon nicht mehr bei sich hatte. Nun war es irgendwo dort draußen wie eine Flaschenpost, die man dem Meer anvertraut hatte. Vielleicht würde jemand die Bedeutung des Klingeltons erfassen und die Botschaft des Handys entschlüsseln. Zumindest würde es ihre Verfolger auf eine falsche Fährte locken.
Meliha zog ihren Stadtplan aus der Tasche. Ein Büchlein, auf Papier gedruckt, kein Satnav- oder GPS-Gerät. Sie stellte ihren Standort fest, indem sie ihren Weg vom Eingang in die Speicherstadt über die Brücke, am Kibbelsteg und dann am Sandtorkai entlang nachvollzog. Das Lagerhaus war in der Nähe. Wenn sie sich nicht geirrt hatte, brauchte sie nur um die Ecke zu biegen und einen weiteren Block hinter sich zu bringen.
Die Lagerhäuser in der Speicherstadt waren riesige Handelskathedralen aus roten Ziegeln. Man hatte sie im neunzehnten Jahrhundert gebaut. Doch nun änderte sich alles. Die ursprüngliche Speicherstadt war durch eine für das einundzwanzigste Jahrhundert sehr typische Version ihrer selbst erweitert worden: Der mächtige Kaispeicher A, das westlichste Lagerhaus der Speicherstadt, das einst gewaltige Tee- und Tabakvorräte verwahrt hatte, wurde zu einem enormen Segelschiff ausgebaut, das den Horizont beherrschte. Dieses Bauprojekt zog sich über Jahre hin und diente dazu, das Lagerhaus in einen grandiosen Konzertsaal mit angegliederten Hotels und Apartments zu verwandeln. Wie die Speicherstadt im neunzehnten und die Köhlbrandbrücke im zwanzigsten Jahrhundert sollte die Elbphilharmonie das Wahrzeichen werden, das Hamburg im einundzwanzigsten Jahrhundert und darüber hinaus charakterisierte – so einzigartig wie das Opernhaus von Sydney und zugleich eine Erinnerung an die maritime Vergangenheit der Stadt.
Selbst dieser Teil der ursprünglichen Speicherstadt wandelte sich. Werbeagenturen und trendige Bar-Restaurants schoben sich heran – hauptsächlich, weil die Eigentümer in der Nähe der eleganten neuen HafenCity sein wollten, die sich bis zu den alten Lagerhäusern erstreckte.
Aber die Gebäudereihe, die Meliha nun erreichte, hatte sich kaum verändert. Wie seit zwei Jahrhunderten war die gepflasterte Kanalgasse mit gigantischen Speichern gesäumt, die Teppiche und Textilien aus der Türkei und dem Iran sowie aus Aserbaidschan, Kasachstan und Pakistan enthielten.
Sie trat aus dem Lichtkegel der Lampe des Lagerhauses und blickte das Kopfsteinpflaster der Kanalgasse hinauf und hinunter. Niemand. Kein Zeichen von ihnen. Aber sie wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Es war ihre Aufgabe, andere ungesehen zu beschatten; die Verfolgten zu finden und ihre eigene Anwesenheit erst im letzten Moment preiszugeben. Und natürlich verfügten sie über eine Technologie, die man normalerweise nur beim Nachrichtendienst einer Supermacht vermuten würde. Vielleicht beobachteten sie Meliha nun in der Dunkelheit. Vielleicht war sie ein helles Infrarotlicht in der kalten Finsternis der Speicherstadt.
So nahe. Meliha lief weiter. Ihre Füße schmerzten von Schritt zu Schritt mehr. Sie hatte etliche Kilometer zurückgelegt. Ohne Taxi. Ohne öffentliche Verkehrsmittel. Ohne alles, was sich über ein Computersystem oder ein Funknetz oder eine andere Technologie kontrollieren ließ, hatte sie die Stadt durchquert. Sogar die wenigen von Videokameras überwachten Bereiche, die auf ihrer Karte mit Rotstift markiert waren, hatte sie durch weitläufige Umwege gemieden.
Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte das gesuchte Lagerhaus erreicht. Die Schilder trugen türkische, englische und deutsche Aufschriften. Kein Zweifel. Es gab kein mit einem Alarm verbundenes elektronisches Türschloss, nur ein altmodisches Messingschlüsselloch in einer stabilen, traditionellen deutschen Lagerhaustür aus festem, mit Messingblech verstärktem Holz. Beruhigend einfach: eine Tür, die den Inhalt des Lagerhauses seit mehr als hundert Jahren schützte. Meliha nahm den schweren Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete die Tür. Sie schlüpfte in die Dunkelheit des Gebäudes, nachdem sie einen letzten Blick in die Kanalgasse geworfen hatte.
Vielleicht würde sie hier in Sicherheit sein. Meliha griff nach einer aufladbaren LED-Lampe in ihrer Handtasche und sah sich um. Sie befand sich in einer Eingangshalle, und eine Tafel mit den Namen der Mieter zeigte an, dass sich die Firma, nach der sie suchte – Demeril Importing –, in der dritten Etage befand.
Sie stieß die Glastür auf und gelangte in den Hauptbereich des Speichers. An einer Seite war ein großer Lastenaufzug, doch Meliha beschloss, lieber die Treppe zu benutzen, um so wenig Lärm wie möglich zu machen. Bei Demeril Importing angekommen, holte sie einen zweiten Schlüssel aus der Tasche und öffnete die kunstvolle Jugendstiltür. Sie schwenkte die Taschenlampe und ließ den Strahl über hoch aufgestapelte Läufer und Teppiche gleiten, darunter zahlreiche Kelims. An den Falträndern waren reichhaltige türkische Muster zu sehen. Auf Etiketten standen Namen, die sie so gut kannte: Kayseri, Yeşil-hisar, Kirsehir, Konya, Dazkiri … Aus irgendeinem Grund wurde sie durch die Vertrautheit der Namen getröstet.
Neben der Tür standen ein robuster, verschnörkelter Holzschreibtisch und ein mit einem Kelim bedeckter Stuhl. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere und Hauptbücher. Auf zwei Spießen steckten Rechnungen und Auftragsformulare. Hier wurden Geschäfte wie in den vergangenen Jahrhunderten gemacht. Ohne Computer. Ohne Websites. Ohne Elektronik.
Meliha ging suchend weiter, bis sie am Ende der Hauptspeicherfläche eine Nische fand, in der weniger sorgfältig gestapelte Teppiche lagen. Sie wählte einen relativ niedrigen Stoß im hintersten Winkel der Nische aus, ließ sich darauf nieder und schaltete ihre Taschenlampe aus. Nun konnte sie sich ausruhen, durfte jedoch nicht schlafen. Das wäre gefährlich. Bis zum Morgen würde sie hier in Sicherheit sein. Dann … dann würde sie versuchen, mit Berthold Kontakt aufzunehmen. Wie sie das ohne Telefon oder ein anderes elektronisches Hilfsmittel bewerkstelligen konnte, hatte sie sich noch nicht überlegt. Aber sie musste Berthold erreichen und ihm mitteilen, was sie wusste. Bis dahin durfte sie sich ausruhen, doch nicht schlafen.
Sie schlief ein.
Es war vermutlich ein sehr leises Geräusch gewesen. Vielleicht war es vom Haupteingang, drei Etagen unter ihr, heraufgedrungen: ein undeutlicher, dumpfer Laut, der ihr schlafendes Gehirn wie eine Kugel getroffen hatte. Wie auch immer, nach ihrer Schlafpause war sie nun nervenzermürbend wach. Einen Sekundenbruchteil lang fragte sie sich, ob sie die Nacht durchgeschlafen und die Ankunft des Lagerhauspersonals überhört hatte. Aber es war draußen noch dunkel. Meliha hob nur den Kopf und blieb still auf dem Teppichstapel liegen. Sie hielt die Luft an und lauschte angespannt nach weiteren Geräuschen. Ein paar Sekunden der Stille vergingen durch das ihren Körper überflutende Adrenalin unerträglich langsam. Dann ließ ein weiteres Geräusch sie zusammenschrecken. Schwach und gedämpft. Stimmen. Zwei, drei, vielleicht mehr. In dem Stockwerk unter ihr. Weit voneinander entfernt, doch ruhig und gelassen.
Sie konnte die Worte nicht verstehen, aber sie wusste, dass ihre Verfolger sich auf Englisch verständigten. Wie immer. Ihr Herz hämmerte. Natürlich brauchten sie nicht lauter zu sprechen. All ihre Sinne waren geschärft. Sie konnten sich über eine große Distanz verständigen, im Dunkeln sehen und das geringste Geräusch wahrnehmen.
Wahrscheinlich durchsuchten sie die Etage unter ihr. Systematisch, methodisch. So, wie sie alles taten. Ein einziges Bewusstsein. Ein Gruppengeist. Ein Egregor.
Meliha richtete ihre Taschenlampe in die Dunkelheit, um ein Versteck oder eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Das LED-Licht war trübe. Hinter ihr, ganz am Ende der Nische, befand sich ein Abstellschrank, kaum sichtbar hinter einem Stapel Teppiche, von denen einige auf den Boden gefallen waren. Wenn sie sich dort verbergen und vielleicht eine Teppichrolle vor die Tür schieben konnte, würde man sie möglicherweise nicht entdecken.
Sie streifte ihre Schuhe von den schmerzenden Füßen, glitt vorsichtig den Teppichstapel hinunter und überquerte den groben Holzfußboden bis zum Abstellschrank. Dieser war viel größer, als sie gedacht hatte, und enthielt nur ein paar Musterbücher in einer Ecke und eine anderthalb Meter lange Stoffrolle, die an der Wand lehnte. Der Stoff wirkte zu leicht für Teppiche, doch zu schwer für Vorhänge.
Meliha schob sich hinter die Musterbücher und ordnete sie neu an, bis sie ein notdürftiges Versteck bildeten. Zusätzlich wollte sie die Rolle vor sich hinstellen, aber das Gewebe war schwerer, als sie erwartet hatte, und rutschte ihr langsam aus den Fingern. Meliha griff verzweifelt danach und konnte in letzter Sekunde verhindern, dass die Rolle an die Holzwand des Schrankes schlug und so die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger weckte. Mit äußerster Anstrengung lehnte sie die Textilrolle schräg vor sich an die Wand wie die Diagonalstange eines Gittertores. Dann zog sie sich so weit wie möglich an die Schrankwand zurück, schaltete ihre Taschenlampe aus und war sofort in Schwärze getaucht. Nachdem sich ihre Augen an diesen neuen Grad der Dunkelheit gewöhnt hatten, spähte sie zwischen dem obersten Musterbuch und der schräg an der Wand lehnenden Stoffrolle durch einen Spalt in der Tür. Aber sie konnte nur einen schmalen Ausschnitt der Nische und nichts von der Hauptfläche des Teppichlagerhauses sehen.
Und sie konnte nichts hören. Keine Bewegung. Keine Stimmen.
Dann schien ein Schatten an ihr vorbeizuhuschen.
Genau vor ihr. Jemand oder etwas bewegte sich rasch und geräuschlos durch ihren engen Blickwinkel. Von rechts nach links. Ein dunkles Flattern, das sich nicht als Person identifizieren ließ.
Sie fuhr zusammen, beherrschte sich jedoch sofort, rührte sich nicht und hielt die Luft an. Ihre Verfolger waren angekommen. Auf ihrer Etage. Nun vernahm sie die schwachen Geräusche von Bewegungen. Einige leise englische Worte.
Der Schatten huschte erneut vorbei, diesmal von links nach rechts. Näher.
Meliha regte sich nicht. Sie hielt immer noch den Atem an, weil sie Angst hatte, sich zu verraten. Eine Träne stieg ihr ins Auge und lief an ihrer Wange hinunter. Die Qual des Wartens auf den Moment, in dem sie in ihr behelfsmäßiges Versteck stürmen würden, wurde unerträglich. Weitere Geräusche. Dann Stille.
Minuten vergingen. Meliha konzentrierte sich so sehr auf die Stille, dass sie ein wenig zusammenschrak, als sie beendet wurde. Aber diesmal waren die Geräusche gedämpfter. Und über ihr. Im nächsten Stockwerk.
Langsam und ruhig atmete Meliha aus. Sie waren nun eindeutig über ihr. Und sie agierten nicht so geschickt, wie sie dachten. Sie hatten immer noch sehr menschliche Schwächen.
Es fiel ihr schwer festzustellen, wie viel Zeit verstrichen war, denn ihre Furcht ließ ihr jede Sekunde unermesslich lang werden. Aber sie vermutete, dass es eine Stunde her war, seit ihre Verfolger die Etage über ihr durchsucht hatten. Keine Geräusche, keine ruhigen, Englisch sprechenden Stimmen. Sie spähte in die Dunkelheit. Nichts. Vorsichtig, langsam, ohne etwas zu berühren, drehte sie ihr Handgelenk, doch da ihre Uhr kein Leuchtzifferblatt hatte, konnte sie die Anzeige nicht erkennen. Ihre Beine verkrampften sich, doch Meliha bewegte sie nicht. Der Schmerz wuchs und wuchs, während sich ihre Muskelfasern zusammenzogen. Aber sie konzentrierte sich erneut darauf, ihre Furcht zu vertreiben.
»Benim küçük cesur kaplanim …« Sie erinnerte sich an die Stimme ihres Vaters. An den sanften Tonfall seiner Worte und seinen Stolz. »Benim küçük cesur kaplanim …«
Meliha wartete eine weitere Stunde. Außerhalb des Lagerhauses wurde es fast unmerklich heller. Ein Hauch von Morgen.
Sie hatte nichts mehr gehört. Ihre Verfolger waren gescheitert. Oder vielleicht hatten sie nicht gewusst, sondern bloß vermutet, dass sie sich in diesem Gebäude aufhielt. Es gab weitere Orte, von denen sie möglicherweise wussten und die sie nun vielleicht absuchten.
Meliha beschloss, an keinen ihrer früheren Aufenthaltsorte mehr zurückzukehren. Aber sie musste in Bewegung bleiben. Das Versagen ihrer Verfolger bot ihr die Gelegenheit, den Vorsprung zu vergrößern. Sie konnte die Stadt und auch das Land verlassen, wenn sie sofort handelte.
Meliha hob die Stoffrolle so sachte wie möglich und ohne jedes Geräusch an. Nachdem sie hinter den Musterbüchern hervorgekrochen war, musterte sie den sichtbaren Teil des Lagerraums und trat vorsichtig aus dem Schrank und dann aus der Nische heraus.
Vier von ihnen warteten auf sie. Sie standen reglos in der Mitte des Lagerhauses. Vier dunkle Silhouetten. Schatten. Geschlechtslos, alterslos. Sie hoben sich von dem milchigen Glühen des breiten Fensters ab. Zwei von ihnen hatten etwas Unförmiges vor den Augen. Nachtsichtbrillen. Keiner rührte sich, als Meliha erschien; keine Spur einer Reaktion. Sie hatten seit zwei Stunden hier gestanden und darauf gewartet, dass Meliha aus ihrem Versteck kam. Auf diese Weise war es effektiver, ruhiger.
Sie waren das, was Meliha vermutet hatte. Was sie am meisten fürchtete.
Konsolidierer.
Der Verfolger, der Meliha am nächsten stand, hob jetzt langsam den dunklen Arm, als zeige er auf sie. Ein Knall, und sie spürte einen scharfen Schmerz in der Brust.
Während sie auf denselben Teppichstapel zurücksank, auf dem sie zuvor geschlafen hatte, glaubte sie, die Stimme ihres Vaters zu hören.
»Benim küçük cesur kaplanim …«
Kein Sturm wütete. Man sah nur ein weites, offenes, dunkles Meer. Kein Land, keine Schiffe. Niemand konnte die nächtliche Geburt des Sturmes miterleben. Aber es gab eine Syzygie: eine ekliptikale Gleichstellung von Sonne, Mond und Erde, wobei der Mond der Erde am nächsten war und das sehnsüchtige Meer den Rücken unter der Anziehungskraft des Mondes wölbte.
Über dem Meer war die Luft kühl. Trocken. Und weiter oben verharrte eine gewaltige Masse noch kälterer Luft, die irgendwo im Norden und im Osten entstanden und über den Baltischen Schild nach Südwesten gedriftet war. Gleichzeitig hatte sie sich höher in die Troposphäre erhoben. Ihre sibirische Kälte hatte sich noch verstärkt. Und nun, äußerst kalt und äußerst hoch, schob sie sich still und verachtungsvoll über den Atlantik.
Aber sie würde nicht weiterziehen können.
Etwas bewegte sich dicht über den gewölbten Rücken des Meeres hinweg; etwas, das genauso enorm war wie die Kälte hoch oben. Diese Luftmasse, in den Tropen entstanden, trug Wärme und Feuchtigkeit in sich. Und genau wie ihr Gegenstück kälter als im Durchschnitt war, wies sie ganze drei Wärmegrade mehr auf als die übliche Drift.
Warme Luft steigt auf, kalte Luft sinkt hinab – eine schlichte Tatsache der Physik, der Meteorologie. Der Sturm wurde geboren. Er sog die warme, feuchte Luft in einem heftigen mesozyklonalen Wirbel nach oben, wodurch die nun zerrissene Luft Geschwindigkeiten von 180 Stundenkilometer erreichte. Eine Wasserhose bildete sich und verband das Meer mit dem Himmel. Der sich kondensierende Wasserdampf aus der warmen Luft knisterte vor Elektrizität. Wolken schwollen kochend und tobend an.
Über dem Atlantik bildete sich eine mächtige Superzellen-Sturmwolke, einem gigantischen Amboss gleich, und die Nacht wurde noch dunkler. Mit Millionen Tonnen Wasser gefüllt, drehte sie sich langsam und böswillig und wälzte sich auf das Land zu.
Kreysig erkannte das Flattern in seiner Brust schuldbewusst als Adrenalinstoß. Eine Katastrophe war passiert. Gebäude waren beschädigt und Menschen verletzt worden; einige hatten vielleicht sogar ihr Leben verloren. Kreysigs Heimatstadt hatte einen wütenden, unbarmherzigen, gnadenlosen Angriff erlebt. Doch Kreysig, umgeben von Tumult und Lärm, war erregt. Er fühlte sich in seinem Element.
Die Nacht war erfüllt vom Donnern schwerer Geräte und Maschinen und mobiler Generatoren, vom durchdringenden, hartnäckigen Piepen zurücksetzender Feuerlöschfahrzeuge und dem unerbittlichen Gurgeln der Wasserpumpen. Von Menschen gemachter Donner wetteiferte mit dem Wind- und Regensturm der Natur. Alles glänzte feucht und funkelte unter den Bogenlampen und den rot, blau und orange blitzenden Lichtern der Löschzüge, der Einsatzfahrzeuge und der schweren, mit Raupenketten versehenen Bulldozer. Der Höhepunkt des Sturmes war vorbei, und die Ebbe hatte eingesetzt, doch der Wind der verachtungsvollen Natur zerrte weiterhin an Kreysigs gelbem Schutzanzug, und Regenkügelchen trommelten wütend auf seinen Helm.
Wie der Hals eines unwirklichen, nachtaktiven Dinosauriers schwang der massive Arm eines Gittermastkrans vom Typ Liebherr LTM 1130-5.2 über Kreysig hinweg, wobei schwere Kabel und Ketten aneinander schlugen. Mehrere Feuerwehrleute befestigten die Ketten an einem Gewirr aus Holz und Metall, das auf den überfluteten Boden neben dem Fischmarkt geschwemmt worden war. Der Gittermast hievte das Treibgut hoch und senkte es auf einen Tieflader.
Ein zweiter, kleinerer Kran ließ einen gepanzerten Entleerungsstutzen nieder. Dieselben Feuerwehrleute eilten vor und schlossen die Camlock-Kupplung, die den Stutzen nun mit dem Rest eines Rohres verband. Danach brüllte Kreysig einen Befehl in sein Funkgerät, und zwei weitere Pumpen kamen zum Einsatz.
Immer noch genoss er die Erregung der Schlacht. Hier kämpfte der Mensch gegen die Natur, und er war mittendrin.
Er hatte seit Stunden gewusst, dass sich der Sturm näherte, und schon vorher waren überall in Frankreich und England Verwüstungen angerichtet worden. Das Norddeutsche Klimabüro und der Deutsche Wetterdienst hatten die Entwicklung des Unwetters verfolgt und zudem festgestellt, dass sich ein weiterer Sturm über der Nordsee, hundertachtzig Kilometer südwestlich von Jütland, zusammenballte. Es war, als sammelten sich zwei Heere, um ihre Kräfte zu einem Angriff auf die Niederlande, Dänemark und Norddeutschland zu vereinen.
Kreysig erlebte nicht zum ersten Mal, dass Hamburg von einer Flut übel zugerichtet wurde. Die Flut von 1953 hatte sich vor seiner Geburt ereignet, und er war noch ein Kleinkind gewesen, als der Sturm von 1962 zuschlug, mehr als dreihundert Menschen tötete und sechzigtausend Stadtbewohner obdachlos machte. Aber an 1976 erinnerte er sich noch sehr genau, und 2007 war er als hoher Beamter des Feuerwehr- und Rettungsdienstes im Einsatz gewesen. Jedes Mal hatte das Wasser einen höheren Stand erreicht, doch jedes Mal war Hamburg ein wenig besser vorbereitet, ein wenig besser geschützt gewesen.
Diesmal hatten sich Millionen Euro teure Flutsperren auf einen Schlag dadurch bezahlt gemacht, dass sie die Sturmflut eindämmten und kanalisierten. Aber eine gewisse Überschwemmung war unvermeidlich, und sie hatten gewusst, wo es bereitzustehen galt und wo die Schlachtlinien gezogen werden würden. Zum Beispiel hier am Fischmarkt, wo St. Pauli und das Stadtzentrum zusammentrafen.
Sein Stellvertreter Tramberger kam auf ihn zu, wandte ihm sein wettergegerbtes Gesicht zu und rief laut, um den Lärm des Sturmes und der Maschinen zu übertönen: »Alle elektrischen Tauchpumpen und alle Dieselpumpen sind nun im Einsatz. Wir haben Ebbe und sind runter auf plus drei Meter.«
Kreysig grinste und klopfte seinem Stellvertreter auf die Schulter. Sie würden siegen. Er blickte sich nach seinen Teams um. Alle waren noch mit voller Kraft im Einsatz. Es war eine schwere, zermürbende Arbeit gegen einen viel stärkeren Gegner, doch niemand ließ ein Zeichen der Erschöpfung erkennen, die mittlerweile jede Bewegung bleiern werden ließ. Es waren gute Teams, verdammt gute Teams. Er hatte sie selbst zusammengestellt, indem er die besten Angehörigen des Hamburger Feuerwehrdienstes, der Hafenpolizei und der Abteilung Ingenieurwesen auswählte.
Er ließ sich von seinen anderen Mannschaften, weiter im Westen in der Klopstockstraße und der Königstraße, auf den laufenden Stand bringen. Die gleichen Informationen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Es war fast fünf. Sie kämpften seit zwölf Stunden gegen die Flut. Kreysig schaute zum immer noch dunklen Himmel hinauf und sah, wie die schweren Wolken boshaft über die Stadt hinwegeilten. Es war, als beobachte er ein Bombergeschwader, voll von potenzieller Vernichtung, das über ihm vorbeijagte. Er wusste, dass diese Wolken anderswo Verheerung anrichten würden. Aber Hamburg war nicht mehr an der Reihe. Vorläufig nicht.
Dann bemerkte er, dass eines der Teams nicht mehr arbeitete. Die Feuerwehrleute hatten einen Kreis gebildet und betrachteten etwas auf dem gerade leergeräumten Asphalt der Elbstraße. Der Teamführer bückte zu Kreysig und Tramberger hinüber und winkte sie hastig heran.
Kreysig war klar, dass etwas nicht stimmte.
Jan Fabel wachte auf. Nach und nach. Er hatte geträumt. Davon, dass er in dem Haus in Norddeich, in dem er aufgewachsen war, im alten Arbeitszimmer seines Vaters saß und sich mit einem jungen Mann unterhielt, der, wie Fabel wusste, tot war und das ebenfalls wusste. Fabel wollte den Traum hinter sich lassen und ihn vergessen.
Langsam tauchte er aus den Tiefen seines Schlafes auf und wurde sich des Klanges von Stimmen bewusst. Der Radiowecker. NDR. Eine Debatte. Eine der Stimmen schien er zu kennen.
Einen Moment lang betrachtete er die Decke, fügte die vom Schlaf zerstreuten Stücke seines Bewusstseins zusammen und versuchte zu erfassen, wovon die Stimme im Radio sprach. Und wem sie gehörte. Fabel begriff, dass er die Männerstimme tatsächlich aus irgendeinem Bereich seiner wachen Welt kannte, doch er war noch zu schläfrig, um sie zu identifizieren. Er rollte sich auf die Seite; Susanne hatte ihm den Rücken zugewandt. Fabel schüttelte ihre Schulter, und sie gab ein Geräusch von sich, das zwischen schläfriger Zufriedenheit und Ärger lag.
»Zeit aufzustehen«, sagte er.
Ein weiteres leises, nun schläfrig unzufriedenes Murmeln.
Er schwenkte die Beine nach draußen und setzte sich auf den Bettrand. Berthold Müller-Voigt. Das war die Stimme des Mannes im Radio. Er war sicher gewesen, dass er sie nicht zum ersten Mal hörte. Müller-Voigt war Umweltsenator in Hamburg und jemand, mit dem er früher zu tun gehabt hatte.
Fabel runzelte die Stirn und schob sich das blonde Haar aus den Augen. Er schüttelte Susanne erneut: noch eine mürrische Reaktion. Nachdem er den Radiowecker abgeschaltet hatte, stand er auf, streckte sich und schlurfte zur Dusche. Susanne und er lebten seit mehr als zwei Jahren in dieser Wohnung zusammen, doch er musste sich frühmorgens noch immer an ihren Grundriss gewöhnen. Er duschte und rasierte sich und zog sich an. Rollkragenpullover, teure englische Tweedjacke, Chinos, feste Schuhe.
Gerade hatte er Kaffee gekocht, als Susanne, immer noch im Morgenmantel, in die Küche kam. Ihr dichtes dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht und bekundete ihren anhaltenden Widerwillen, sich dem Tag zu stellen.
»Du wirst dich verspäten«, sagte Fabel. Er meinte damit, dass sie sich verspäten würden. Susanne arbeitete gewöhnlich in ihrem Büro im Institut für Rechtsmedizin in Eppendorf, doch an zwei Tagen in der Woche war sie dem Polizeipräsidium zugeordnet. An solchen Tagen benutzten beide nur ein Auto, und an solchen Tagen regte Fabel sich immer über ihre Saumseligkeit auf. Heute Morgen war er noch nervöser, denn Susanne würde an einem Seminar im Bundeskriminalamt in Wiesbaden teilnehmen, und er hatte ihr angeboten, sie zum Flughafen zu fahren, damit sie den Frühmorgenflug nach Frankfurt erwischte.
»Ich schaffe es schon.« Sie griff nach der Tasse Kaffee, die er ihr hinhielt, und lehnte sich an den Küchentresen. »Hast du gut geschlafen?«, fragte sie. »Der verflixte Sturm hat mich die halbe Nacht wach gehalten.«
»Ich glaube, er hat mich geweckt«, log Fabel. Es war nicht der Sturm gewesen, der ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, aber sie sprachen nicht mehr über seine Träume. Seine Albträume.
Susanne schaltete das kleine Fernsehgerät in der Küche an. Es war einer der Kompromisse, die Fabel akzeptiert hatte. Er selbst war kein großer Fernsehfan und hatte nie verstanden, weshalb manche Menschen mehr als ein Gerät in ihrer Wohnung benötigten. Doch eines Tages war er von der Arbeit zurückgekehrt und hatte ihn auf dem Tresen vorgefunden. Einen neuen, glänzenden Eindringling in seine Welt. Ein Fait accompli, einen weiteren Hinweis darauf, dass er seine Wohnung und sein Leben nun mit jemandem teilte.
»Sieh mal«, sagte Susanne. Im Fernsehen wurde über schwere Überschwemmungen an sämtlichen Elbufern berichtet. Ein Teil des Filmmaterials handelte von den Flutsperren, die am Hafen und am Fischmarkt errichtet worden waren. Der Reporter sprach mit geübter Eindringlichkeit in die Kamera.