18, pleite und planlos,
aber immerhin sehen wir
gut dabei aus
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Todesflirt
Frostherz
Schmetterlingsschrei
Engelmord
1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: FAVOURITBUERO, München
ISBN 978-3-401-80681-5
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1
Der dümmste Party-Prank
Überraschung!«
Jella, Alwa und ich schreien so laut, dass sich Mai erschrocken die Ohren zuhält. Was insofern unpraktisch ist, als sich Jella gerade bemüht, Mai das Tuch von den Augen zu ziehen, das ihr bisher die Sicht versperrt. Mit einem Ruck gelingt es Jella schließlich, die Binde zu entfernen.
Mais »Wow« ist noch lauter als unser kindisches Geschrei eben. Sie macht ein paar Schritte in den riesigen Raum hinein, der leer ist bis auf eine großzügige Essecke und ein schneeweißes, mit einem Plastiküberzug verhülltes Sofa, das für Schneewittchen, die sieben Zwerge und sämtliche ihrer Verwandten Platz bietet, und dreht sich um ihre eigene Achse. Das Strahlen in ihrem Gesicht lässt keinen Zweifel zu: Sie ist überwältigt!
Ich bin froh, dass ich ihren Ausdruck mit meiner Handykamera festhalten kann. Ein Moment für die Ewigkeit!
»Ihr spinnt«, ruft sie, kommt zu uns zurück und zieht uns in ihre Arme. »Boah, ihr seid echt crazy!«
Sie küsst uns auf die Wangen und zu viert hüpfen wir im Kreis herum. Ich halte mein Smartphone hoch, sodass ich unseren Tanz von oben filmen kann. Ganz schön wackelige Angelegenheit.
»For she’s a jolly good fellow, for she’s a jolly good fellow«, fängt Jella zu singen an und wir fallen ein. An der Eingangstür hinter uns klopft es laut und wir lassen Mai los.
»Du solltest deinen Gästen aufmachen«, empfiehlt Alwa und grinst ihr geheimnisvollstes Lächeln. Mai kichert, geht zur Tür und öffnet sie vorsichtig.
Ungefähr 40 Leute stürmen herein. Manche tragen Bierkästen in den Händen, andere Schüsseln mit Salat oder Nachtisch. Irgendwer bringt Baguettestangen, Flaschen mit durchsichtigem Inhalt, eine Batterie kleiner Schnapsgläser und Stapel von Einweggeschirr.
»Happy Birthday«, grölt Flo und fällt Mai als Erster um den Hals. Sie kann sich seiner Küsse kaum erwehren und schiebt ihn halb lachend, halb stöhnend von sich.
»Sorry«, zische ich ihr zu. »Der war leider unvermeidbar.«
Während das Partyvolk hereinströmt und all die Mitbringsel auf dem ewig langen Esstisch abstellt, führen Alwa, Jella und ich Mai herum. Mein Handy habe ich zur Abwechslung weggesteckt.
Ehrlich gesagt, wissen auch wir nicht so genau, was uns hinter den zahlreichen Türen erwartet – wir sehen die Wohnung wie Mai zum ersten Mal. Viel zu entdecken gibt es nicht – bis auf das Wohnzimmer und die Küche stehen die meisten Zimmer komplett leer. Im über und über verspiegelten Bad fragt Mai schließlich: »Wo sind wir hier eigentlich?«
Alwa zuckt mit den Schultern, Jella macht ein Duckface. Mai sieht mich erwartungsvoll an.
»Okay, du musst jetzt ganz stark sein«, fange ich an. Mai lacht verwundert auf.
»Die Wohnung hat Flo organisiert«, gestehe ich. Obwohl Mai sonst zu einer gewissen Strenge neigt, scheint ihr heute alles egal zu sein. Lachend zuckt sie mit den Schultern. Für ihre Geburtstagsparty nimmt sie sogar Flos Anwesenheit in Kauf.
»Flos Ma ist doch Maklerin«, erklärt Alwa. »Sie hat ihm erlaubt, dass wir hier feiern – die Wohnung wird ab nächster Woche komplett renoviert. Dann fliegen wohl auch die restlichen Möbel, die hier noch rumstehen, raus.«
»Es ist also vollkommen wurscht, wie wir uns benehmen!« Jella verziert den Spiegel über dem Waschbecken mit einem quietschroten Lippenstiftabdruck.
»Na ja, die Wände sollten wir schon stehen lassen«, wage ich einzuwenden. Und ehrlich gesagt, frage ich mich sogar, was renoviert werden soll. Es sieht alles picobello aus. Ich hoffe, Flo hat nicht schon wieder Schmarren erzählt. Aber schließlich hatte er ja einen Schlüssel und den wird er wohl kaum geklaut haben. So abgebrüht ist nicht mal er.
»Wo bleibt ihr denn?«, ruft Flo und wir gehen zu ihm ins Wohnzimmer zurück. Jetzt erst bemerken wir die riesige Dachterrasse vor der Glasfront.
»Wahnsinn!« Mai läuft sofort nach draußen. Obwohl es kaum Mitte April ist, fühlt sich die Luft lau und seidig an. Ganz dunkel ist es auch noch nicht. Die Lichter Münchens sind dennoch gut zu erkennen. Gegen den dunkelblauen Himmel sieht man die charakteristischen Türme der Frauenkirche in der einen Richtung, den Olympiaturm in der anderen und irgendwo das Hypo-Hochhaus. Und ein paar Sterne blinken ebenfalls.
»Mann, Mädels.« Mai seufzt wieder tief. »Ich hab echt befürchtet, ich muss meinen 18. Geburtstag zwischen Babybreigeschmiere auf dem Küchentisch und dem Windelabfalleimer feiern.«
»So gut müsstest du uns eigentlich inzwischen kennen«, sagt Alwa, »um zu wissen, dass wir das nie zugelassen hätten.«
»Stimmt!« Mai ist mit wenigen Schritten im Wohnzimmer und schnappt sich vier Bierflaschen, die sie uns reicht. »Aber jetzt müssen wir endlich anstoßen!«
Das laute Aneinanderklirren der Flaschen lockt Flo an. Er legt seine Arme um Mais und meine Schultern und versucht dabei, mir meine Bierflasche aus der Hand zu reißen. Ich schiebe ihn mit dem Ellenbogen ein Stückchen fort, aber leider ist er stärker und umklammert weiter die Flasche. Ich spüre, wie mir die Gesichtszüge entgleisen, vor allem, weil mir kein Spruch einfällt, um ihn loszuwerden. Am besten, ich gebe ihm einfach das blöde Bier. Ich hätte sowieso viel lieber einen Prosecco.
Doch da hält ihm jemand eine eigene Flasche direkt vor die Nase. Flo lässt Mai und mich los und greift nach ihr. Kaum hat er sie umfasst, zieht ihn Henry, einer seiner Kumpels, mit der Flasche dicht an sich heran.
»Wenn du betrunken wärst, könnte ich ja verstehen, dass du nervst«, sagt er laut. »Aber da du es noch nicht bist, fände ich es cool, wenn du dich benehmen würdest.«
»Spießer«, zischt Flo, stößt dann aber mit seinem Bier gegen Henrys und nimmt einen tiefen Schluck. »Ahhhh«, macht er und rülpst laut.
Henry schüttelt den Kopf, verdreht die Augen und hält dann mir seine Flasche zum Anstoßen hin. Ich spüre, wie eine heiße Röte von meinem Dekolleté aus rasend schnell nach oben wandert. Am liebsten würde ich die kalte Flasche gegen meine Wangen drücken. Doch ich proste Henry zu, und während wir gleichzeitig trinken, lassen wir uns nicht aus den Augen. Ich habe noch nie bemerkt, dass er eine unglaubliche Augenfarbe hat: Grünbraungold. Oder eher Goldbraungrün? In jedem Fall kann ich meinen Blick nicht abwenden und muss mich zwingen, nicht dümmlich zu grinsen.
»Henry, Henry«, trommelt es hinter meiner Stirn und ich versuche in Sekundenschnelle alles, was ich über ihn weiß, gedanklich aufzulisten. Ist seit zwei Jahren an unserer Schule. Wir hatten noch nie einen gemeinsamen Kurs. Hängt mit Flo, Leon, Chris und gelegentlich Alwas Freund Yannis ab. Hat keine Freundin. Hat keine Freundin? Zumindest weiß ich von keiner. Fällt mir immer wieder auf, weil er so eine tolle Ausstrahlung hat. Er wirkt lässig, aber nie arrogant. So unauffällig selbstbewusst, als wisse er, dass er es nicht zur Schau stellen müsse. Auch sein Klamottenstil ist eher zurückhaltend. Zur Jeans trägt er ein schlichtes graues T-Shirt, dessen Knopfleiste so weit offen steht, dass man darunter einen ziemlich muskulösen Brustkorb erahnen kann, allerdings einen von der natürlichen Sorte – nicht aufgepumpt. Seine etwas längeren hellbraunen Haare und das fein geschnittene Gesicht geben ihm ein wenig etwas Adliges. So habe ich mir immer Mr Darcy in Jane Austens Stolz und Vorurteil vorgestellt. Keine Ahnung, ob er tatsächlich etwas von diesem Liebesromanhelden hat, ich habe ja noch keine drei Sätze mit Henry geredet. Vielleicht sollten wir das mal ändern.
Doch gerade als ich den Mund aufmachen will – ohne zu wissen, was ich gleich sagen werde –, hat sich Henry Alwa zugewandt, die mit ihm gemeinsam Chemie hat. Sie reihen sich am Buffet ein und ich kann nicht anders, ich muss ihn einfach beobachten. Seine Bewegungen sind lässig und regelrecht elegant. Irgendwer – war es Alwa? – hat mal erzählt, er wäre Fechter. Würde super zu ihm passen. Sein Blick begegnet meinem erneut. Schnell schaue ich weg. Warum mich seine Augen ausgerechnet heute Abend so faszinieren, weiß ich auch nicht. Muss die Lichtstimmung hier drin sein – das helle Weiß der Wohnung, die aufziehenden düsteren Wolken vor dem Fenster –, das hat so etwas Romantisch-Abenteuerliches.
Vielleicht gefällt mir Henry mit einem Mal auch so, weil er ein starker Kontrast zu seinem Kumpel Flo ist. Flo, den ich leider in diversen Kursen ertragen muss, ist vorlaut, angeberisch, hat einen flachen Humor und schafft es in gefühlten 0,4 Sekunden einen von der Peinlichkeit des Daseins zu überzeugen. Seit Mais erstem Tag an unserer Schule vor einem halben Jahr ist er schwer in sie verknallt, während sie ihn sich mit bemerkenswertem Stoizismus vom Leib hält. Was ihm auch nach dem 687. gescheiterten Annäherungsversuch komplett egal zu sein scheint. Irgendwie ist er nicht davon abzubringen, dass Mai die Frau seines Lebens ist.
Ein vorsichtiger Seitenblick zeigt, dass mir Henry nun den Rücken zugekehrt hat und weiter mit Alwa plaudert. Ich zücke mein Handy, schleiche so um den Tisch, dass ich ihn zumindest im Profil vor die Linse bekomme, und tue, als ob mein Filmen reiner Zufall wäre. Okay, er merkt wahrscheinlich nicht einmal, dass ich ihn ablichte.
Langsam schwenke ich weg und Jella und Mai geraten in mein Blickfeld. Jella zerrt gerade aus der riesigen Tüte, die sie mit hierhergeschleppt hat, ein ebenso riesiges Paket, das von einer quietschrosa Schleife verschnürt wird und die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zieht.
Ich bemerke, wie mir Alwa einen skeptischen Blick zuwirft, und lasse das Smartphone sinken. Was hat Jella denn da schon wieder für eine Überraschung parat?
Mai reißt ungeduldig das Papier von ihrem Geschenk und öffnet den Karton, der darunter zum Vorschein kommt.
»Es rappelt im Karton, …ton, …ton«, singt Jella und imitiert mit wackelnden Hüften die Sängerin von Pixie Paris.
»Hey, du spinnst«, schreit Mai und zieht ein paar schwarzglänzende High-Heel-Stiefel hervor, die ihr garantiert bis zu den Oberschenkeln reichen. »Boah, sind die geil!«
»Anziehen«, ruft Flo sofort, aber Alwa und ich verstellen ihm mit verschränkten Armen die Sicht.
Mai kickt ihre Ballerinas von den Füßen und schlüpft in die Mörderstiefel. Gut, dass sie ein ultrakurzes Minikleid in einem pudrigen Gelbton trägt und dazu apfelgrüne Strumpfhosen. Die schwarzen Stiefel glänzen mit ihren beinahe taillenlangen schwarzen Haaren um die Wette und sie sieht einfach umwerfend aus. Als sei sie einem Manga entsprungen. Wenn ich ein Junge wäre, würde es mir sicher ebenso ergehen wie Flo und ich würde ihr hoffnungslos verfallen.
»Die sind ein bisschen nuttig«, raunt mir Alwa zu und taxiert Jella mit einem skeptischen Blick. Ihre Schwester zieht die Schultern hoch und die Lippen kraus. Mai dreht und wendet sich begeistert, sie ist in den Stiefeln nun beinahe so groß wie ich. Alwa hat recht – aber Mai sieht trotzdem rattenscharf aus. Sie fängt an, zur Musik zu tanzen, die irgendwer vor Kurzem angemacht hat. Sofort ist Flo an ihrer Seite und mit hochgestreckten Armen umkreisen sich die beiden. Jella gesellt sich zu ihnen und ich bringe meine Kamera wieder zum Laufen. Nur Alwa steht mit verschränkten Armen und kritischer Miene am Rand der Tanzfläche.
Wieder gerät mir Henry vor die Linse – jedoch nicht als Tänzer, sondern als Beobachter. Ob er Mai genauso attraktiv findet, wie Flo das tut? Aber warum gesellt er sich dann jetzt zu Alwa – mit der hat er doch schon die ganze Zeit geredet?
»Boah, ich muss mich abkühlen«, lenkt mich Jella ab. »Kommst du mit raus?« Sie zieht mich am Ellenbogen mit sich, greift im Vorbeigehen nach einer Proseccoflasche und steuert die Dachterrasse an.
Die frische Luft tut extrem gut. Wir atmen beide tief durch. Ganz schön stickig dadrin – kein Wunder, bei den vielen Leuten. Doch auch hier draußen sind wir nicht völlig allein. In verschiedenen Ecken stehen Mitschüler von uns, manche trinken und unterhalten sich, manche knutschen heftig und manche schauen sich lachend irgendwelche Handyvideos an.
Jella trinkt einen großen Schluck aus der Proseccoflasche und gibt sie mir dann. Die eiskalte Flüssigkeit kitzelt ein bisschen in der Kehle.
»Waren die nicht sauteuer, diese Schuhe?«, frage ich Jella. Sie nimmt mir die Flasche ab und trinkt erneut, während sie eine wegwerfende Handbewegung macht.
»Passt«, wiegelt sie ab und scannt den fast schwarzen Horizont ab.
»Jella!«, sage ich in einem elterlich-mahnenden Tonfall. Ich kenne meine Freundin seit der fünften Klasse schon im Allgemeinen sehr gut, aber was ihr Verhältnis zu Geld angeht, auch im Besonderen. »Dir bleiben von deinem Gehalt doch kaum mehr als 200 Euro im Monat – selbst wenn du ein Schnäppchen ergattert hast – und die Dinger haben mindestens 50, 60 Euro gekostet. Gestehe!« Ich drücke ihr die Proseccoflasche wie den Lauf einer Pistole unters Kinn. Sie lacht und tritt einen Schritt zurück.
»64,90, du Nervensäge.« Ihr Kichern klingt unecht.
»Warum machst du so was? Wir hätten uns zusammentun können! Alwa wäre sicher auch dabei gewesen.«
»Stimmt. Hab ich nicht dran gedacht. Außerdem dachte ich, euch gefallen die Dinger nicht. Aber …« Sie sieht mich an wie ein Hundewelpe. »Ich konnte nicht widerstehen. War ein Spontankauf. Ich hab die Stiefel gesehen und mir war klar, die sind nur dafür gemacht, dass ich sie Mai schenke. Sie sieht doch damit hammer aus, findest du nicht? Mann, sie ist jetzt 18 – da muss sie mal von diesem Streberinnen-Image wegkommen. Scheiß auf die Knete!«
»Ach so, High Heels machen einen zur Schulrebellin, bestimmt.« Schnell trinke ich aus unserer Flasche, eh mir noch mehr böse Sprüche entschlüpfen. Jella ist wirklich meine beste Freundin und wir sind in jeder Lebenslage füreinander da – aber ihren Umgang mit Geld werde ich nie verstehen. Nicht, dass ich ein Geizkragen bin – aber was ich nicht habe, gebe ich nicht aus. Jella dagegen hat sich schon in der fünften Klasse gerne die Kohle fürs dritte Eis des Tages zusammengeschnorrt. Und ihre Schulden meist zurückgezahlt, indem sie bei jemand anderem neue Schulden einging. Obwohl sie jetzt als Einzige von uns tatsächlich etwas verdient, weil sie eine Ausbildung in einer Bäckerei macht, ist sie immer noch ständig megapleite. Na ja, kein Wunder – ihr Lehrlingsgehalt ist eher so eine Art Aufwandsentschädigung fürs frühe Aufstehen.
»Lass das«, höre ich plötzlich Alwa ziemlich laut sagen, und noch während ich mich zu ihr umdrehe, ahne ich schon, welches Bild mich erwartet. Und richtig: Sie steht breitbeinig, die Arme abwehrend erhoben und mit verärgertem Blick vor Yannis und blafft ihn weiter an.
»Mein Gott, wir haben den Chemiekurs zusammen und unterhalten uns gelegentlich – das tut man, wenn das Abitur bevorsteht. Vielleicht erinnerst du dich. Du hast letztes Jahr auch ständig mit Laura gelernt und ich habe deswegen keinen Aufstand gemacht.«
»Laura hatte zehntausend Pickel und wog zwei Tonnen«, kontert ihr Freund, der ach-so-sensible Yannis. »Henry dagegen …«
»Hör auf!«, schreit Alwa genervt. Jella und ich haben eine Wette laufen, ob sich Alwa noch vor Ende des Abiturs von Yannis trennt oder erst danach. Ich sage Ja, sie sagt Nein. Wetteinsatz: eine Flasche Schampus. Oder Edelprosecco oder so.
Alwa flüchtet sich in unsere Mitte und dreht Yannis demonstrativ den Rücken zu.
»Ich ertrag ihn nicht mehr, ich ertrag ihn nicht mehr«, jammert sie leise.
»Trenn dich endlich von ihm«, fordere ich sie zum vermutlich tausendsten Mal auf.
»Spätestens nach dem Abi«, rät Jella.
»Er macht mich wahnsinnig mit seiner Eifersucht! Ich habe mit Henry doch bloß geredet, verdammt!«
Der Name »Henry« versetzt mir urplötzlich einen ganz kleinen Stich, und als ich jetzt bemerke, dass er uns von der Terrassentür aus beobachtet, bekomme ich leicht feuchte Hände.
»Komm schon, Alwa«, bettelt Yannis nun und scharwenzelt um seine Freundin herum. »Alwalein, tut mir leid. Das ist nur, weil ich dich … du weißt … bitte …«
»Nein, weiß ich nicht!« Alwa verdreht ein letztes Mal genervt die Augen, lässt sich aber doch in seine Arme ziehen. Über ihren sehr innigen Kuss hinweg starre ich Henry an. Der mich anstarrt? Nein, bestimmt nicht. Außerdem wendet er sich jetzt Vanessa zu, na ja, sagen wir, sie nimmt ihn in Beschlag. Das tut sie gerne, das habe ich schon öfter beobachtet. Fand ich sie bisher hauptsächlich dämlich, weil sie immer so auf Barbie-Girl macht und albern mit den Augenlidern klimpert, kann ich diesen Anblick auf einmal kaum ertragen. Was will das Modepüppchen von Henry? Ich schnappe die Worte »Chemie«, »kapier gar nichts« und »unbedingt zusammen lernen« auf. Auch eine Methode, sich an ihn ranzuschmeißen. Okay – wenn er sich auf so eine einlässt, dann sollte ich nicht weiter über ihn nachdenken.
Schnell drehe ich mich zu Jella.
»Versprich mir, dass du den Rest des Monats keinen Shopping-Exzessen mehr erliegst«, versuche ich, sie festzunageln.
»Natürlich nicht!«, gibt sie sich echauffiert. »War doch nur wegen Mai.«
Hahaha. Und das Abitur wird ein Kirmesbummel. Bevor ich noch etwas erwidern kann, ruft Mai von drinnen: »Mädels, ich will mit euch tanzen.«
Jella folgt ihrem Wunsch umgehend.
»Komm gleich«, sage ich und zücke mein Handy. Die Lichtstimmung hier draußen ist mittlerweile so dramatisch-barock, als habe einer der alten Meister den Himmel über der Dachterrasse gemalt. Das muss ich unbedingt festhalten.
»Wahnsinn, diese Wolken«, höre ich plötzlich eine sanfte Stimme neben mir. Ich weiß, wem sie gehört. Das Bild im Sucher verschwimmt vor meinen Augen – mein Hirn kann sich nur noch darauf konzentrieren, eine kluge, charmante, liebenswürdige, clevere, witzige und beeindruckende Antwort auf seine Bemerkung zu ersinnen.
»Mh, finde ich auch«, kommt es aus meinem Mund. Wow, was für eine gelungene Erwiderung! Zögerlich lasse ich das Smartphone sinken und traue mich, ihn anzuschauen. Wie dicht er neben mir steht, beinahe berühren sich unsere Arme. Er blickt über die Dächer und ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel.
»Filmst du viel?«, fragt er.
»Hin und wieder«, antworte ich. Was eine totale Untertreibung ist, weil ich ständig meine Umgebung ablichte. Aber was, wenn er das total affig findet?
»Ich auch. Ich hab mal ein Jahr lang jeden Abend um 18.00 Uhr aus meinem Fenster heraus eine Minute die Straße gefilmt. Hab das dann mit Zeitraffer zu einem Video zusammengeschnitten. War ein cooler Jahreszeitenfilm. Und ganz lustig war, dass doch immer wieder fast dieselben Leute auf der Straße zu sehen waren – obwohl ich ja immer nur eine Minute gefilmt habe.«
»Cool«, sage ich ehrlich beeindruckt. »Eine tolle Idee! Veränderungen, die man sonst kaum bemerkt, sichtbar gemacht. Das ist mit Gesichtern auch sehr interessant.«
»Oh ja, auf so ein Projekt hätte ich auch mal Lust«, antwortet er und ich muss grinsen. »Bloß da würde ich ungern mein eigenes Gesicht nehmen. Vielleicht das von einem kleinen Kind? Da tut sich in einem Jahr besonders viel.«
Wir nicken einhellig. Komm schon, Franzi, sag was. Was Kluges. Was Bedeutendes. Oder wenigstens was Witziges. Wir haben doch offensichtlich gemeinsame Themen. Sonst dreht er sich gleich um und geht rein.
»Kennst du dieses supersüße …« (Oh Gott! Süßersüß! Bin ich bescheuert?) »… Video ›Portrait of Lotte‹ auf Youtube? Von diesem holländischen Künstler?«
»Ja, das ist geil! 14 Jahre auf vier Minuten zusammengerafft – das ist ’ne Hausnummer. Und so richtig krass ist ja, dass das Mädel die ganze Zeit plappert. Man hat den Eindruck, selbst als Säugling redet sie schon. Hätte gerne gewusst, was die immer so sagt. Aber echt ’ne Niedliche, das Mädel.«
Niedlich? Ist das sein Synonym für hübsch? Und wenn er diese – wirklich bildhübsche – Lotte niedlich findet, wie findet er dann mich? Goldig? Oder putzig? »Und kennst du ›100‹, wo Leute …«
»Ja, die im Alter von null bis 100 Jahren aneinandergereiht werden. So schön!« Anscheinend mögen wir dieselben Kanäle auf Youtube. »Ach, man kann irgendwie nichts Neues mehr erfinden. Es gibt schon alles.«
»Je nachdem, wie man es aufbereitet«, erwidert er ernst. »Außerdem kommt es doch immer auf die Emotionen an, die man in eine Geschichte reinsteckt. Und ich glaube, selbst wenn alle Gefühle der Welt schon mal von irgendwem vor uns gefühlt wurden – wie wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen, ist total verschieden. Vielleicht ist es das, was unsere ureigene Persönlichkeit ausmacht. Das finde ich total spannend.«
Beeindruckt von seinen sensiblen, klugen Gedanken starre ich Henry an. Und schlagartig wird mir klar, dass wir tatsächlich ein richtiges Gespräch führen! Dass wir in den letzten Minuten 100 Prozent mehr Worte miteinander gewechselt haben als jemals zuvor!
»Was?« Er sieht mich irritiert an. »Rede ich Bullshit? Sorry …«
»Nein, nein«, versichere ich schnell. »Du hast recht – so habe ich das noch nie gesehen.« Wir grinsen uns verlegen an. Kann mir nicht auch mal so was Tiefsinniges einfallen?
»Ach, hier steckst du!«, ruft Mai von der Terrassentür. Na toll, super Timing. »Los, Franzi, wir brauchen dich hier drinnen. Du musst mir helfen, die Geburtstagstorte anzuschneiden.« In wenigen Schritten ist sie bei mir und zieht mich von Henry fort.
»Wir müssen unbedingt später weiterreden«, sage ich noch zu ihm und er lächelt so, dass seine Augen noch goldener schimmern und ich mich nur mit Mühe von ihm abwenden kann. Erbarmungslos schleppt mich Mai Meter um Meter von ihm fort – wie so oft hat sie überhaupt keine Antennen für irgendwelche magischen Momente, die sie gerade zerstört. Na gut, der Abend ist ja noch lang, denke ich.
In der Tat dehnt sich die Nacht bis in die Morgenstunden aus, aber es ergibt sich keine Chance mehr, noch einmal mit Henry zu reden. Erst finde ich ihn nicht wieder und denke, er ist schon gegangen, dann belagern ihn seine Freunde oder die schreckliche Vanessa und plötzlich ist er tatsächlich fort. Mist, verdammter!
Ich erahne einen klitzekleinen hellen Streifen, dort wo die Wolkendecke den Horizont nicht ganz verhüllt. Und den Morgenstern kann ich auch erkennen. Müde und aufgekratzt gleichermaßen, wende ich mich von der Terrassentür ab und quetsche mich zwischen Alwa und Jella auf das Sofa, dessen Rückenlehne sich glücklicherweise umklappen lässt. Den Plastiküberzug haben die Mädels weggerissen, bevor sie sich hingelegt haben. Mai liegt am anderen Ende, ihre langen Haare ergießen sich über die Seitenlehne zum Boden. Dorthin, wo sich Flo auf einem Kissenhaufen niedergelassen hat und nun sanft schnarcht.
Es war ein bisschen eklig, auf die Toilette zu gehen, weil irgendwer ins Waschbecken gekotzt und nicht einmal das Fenster aufgemacht hat. Vom Beseitigen der Überreste ganz zu schweigen. Auf dem Fließenboden lag ziemlich viel zerfetztes Klopapier und in der halb vollen Badewanne schwammen Bierflaschen und abgelöste Etiketten. Erst überlegte ich, mich in eines der leeren Zimmer zurückzuziehen, aber da im ersten Raum, in den ich hineinsah, exzessives Gefummel angesagt war, schloss ich die Tür sofort wieder und suchte mir einen engen, dafür kuscheligen Platz zwischen meinen Freundinnen.
Die im Gegensatz zu mir offenkundig wunderbar schlafen können. Jella hat zartrosa gefärbte Wangen und ihre langen blonden Haare liegen wie ein Spinnennetz darüber. Alwa mahlt ein wenig mit dem Unterkiefer und quietscht gelegentlich. Wie immer, wenn ich die beiden so zusammen sehe, wundere ich mich, dass sie Zwillinge sind – vermutlich sind sie die unähnlichsten Zwillinge der Welt. Während Jella mit ihren blonden Haaren und ihrem schmalen, spitzen Gesicht wie eine freche Elfe wirkt, hat Alwa dunkle, dicke Haare, eine kräftige Nase und einen großen, sinnlichen Mund. Nur ihre riesigen Augen sind vom gleichen strahlenden Türkisblau wie Jellas, das einen an eine Karibikbucht denken lässt. Suchend blicke ich mich nach Yannis um, entdecke ihn jedoch nirgends. Ob Alwa ihn wirklich zum Teufel geschickt hat? Von Henry keine Spur. Ich weiß weder, wann er gegangen ist, noch, mit wem. Hoffentlich allein! Nur Vanessa ist immer noch hier. Sie hat es sich mit zwei anderen Mädchen aus Alwas Chemiekurs versuchsweise auf der Essbank bequem gemacht und neben dem Sofa auf dem nackten Parkettboden schläft Patrick, der Computernerd der Jahrgangsstufe. Habe ich gar nicht mitbekommen, dass er sich für die Party von seinem PC losgerissen hat, um mit uns zu feiern. Vermutlich saß er in einer Ecke und hat Minecraft auf seinem Handy gespielt.
Hinter meinen geschlossenen Augen dreht sich ein kleines Karussell und ich hoffe, ich kann trotzdem wenigstens ein bisschen schlafen. Wir haben Mai versprochen, ihr beim Aufräumen zu helfen. Den Müll müssen wir dringend entsorgen. Es gab viel zu viel zu essen und das Buffet sah aus wie ein Schlachtfeld. Tiramisu vermischte sich mit Obatzda-Resten und im Obstsalat lagen aufgeweichte Hackfleischbällchen. Bah!
Kein Wunder, dass wir uns mit Prosecco von dem Anblick erholen mussten. Und mit ein paar Pfläumchen. Zum Abkühlen dazwischen hat irgendwer Cuba libre gemixt und eine Energy-Dose hat ebenfalls die Runde gemacht. Ob da was beigemengt war? Keine Ahnung. Im Moment fühlt es sich nach »ja« an. Ich hätte unbedingt Wasser trinken sollen, aber in die Küche habe ich mich auch nicht reingetraut. Da hätte ich mir nur an kaputtem Plastikgeschirr die Füße aufgeschnitten und der Geruch nach abgestandenem Shisharauch hat mir fast den Magen umgedreht.
Ich konzentriere mich aufs Einatmen. Und Ausatmen. Einatmen. Und Ausatmen. Ganz gleichmäßig. Doch leider ist es hinter meinen geschlossenen Lidern ziemlich hell und der Schlaf will nicht kommen. Ob Henry schon schläft? Unser Gespräch schlingert durch meinen Kopf, und auch wenn ich den Inhalt kaum rekonstruieren kann, blitzen immer wieder Schlagworte auf. Gefühle und Videos und vertrauliches Lächeln und … hach. Wie schade, dass wir uns nicht länger unterhalten konnten. Immerhin ist er weg und Vanessa noch hier. Ein gutes Zeichen! Vielleicht interessiert er sich wirklich nicht für sie. Wenn ich es mir überlege, habe ich ihn in letzter Zeit nie enger mit irgendeiner Mitschülerin gesehen. Vielleicht hat er tatsächlich noch einen Platz in seinem Herzen frei. Für mich! Ach, es wäre wirklich mal wieder Zeit für was Neues. Meine letzte »Beziehung« (man kann sie tatsächlich nur in Anführungszeichen so nennen) liegt ein halbes Jahr zurück und dauerte einen Monat. Knapp. Eher drei Wochen. Von denen wir uns eine Woche stritten. Ja, es war ein Desaster. Gut, dass der Typ nicht an unserer Schule ist. Und ich seinen Namen verdrängt habe. Da denke ich doch lieber noch ein bisschen an Henry. Der ist wirklich süß. Nicht so ein oberflächlicher Angeber wie Flo. Der süße Henry. Einatmen, ausatmen, ein…
Jemand tritt mir ins Gesicht und reißt mich damit aus dem Schlaf. Erschrocken öffne ich die Augen und merke, dass sich Jellas große Zehe in meine Wange bohrt. Alwas Arm liegt über meiner Hüfte und meine linke Hand ist eingeschlafen. Wo meine sonstigen Körperteile so rumliegen, kann ich gerade nicht sortieren. Irgendwas schrillt in meinem Kopf.
Oh.
Und an der Wohnungstür.
Ich fahre hoch, knicke dabei Jellas Fuß ab und sie gibt ein widerwilliges Knurren von sich. Hinter der Sofalehne entdecke ich Flos Gesicht – etwas grau, fahl und verquollen, aber mit einem sehr aufmerksamen Blick. Er wirkt, als spitze er angestrengt die Ohren.
»Da hat’s geklingelt«, sage ich in die Stille des Raumes hinein. Flo nickt. Jetzt läutet es Sturm.
Er springt hektisch auf, greift sich seine Klamotten, die er als Kopfkissen benutzt hat, und stülpt sie über, während er in Richtung Tür rennt.
»Flo?«, rufe ich ihm nach, aber er antwortet nicht.
Ob das irgendwelches Partyvolk von gestern ist, das beim Aufräumen helfen will?
»Glaubste selbst nicht, Franzi Huber«, gestehe ich mir ein. Den Dreck hier werden wir ganz alleine wegputzen müssen. Ich schwenke mit meiner Handykamera über das Chaos. Immerhin herrliches Material für mein nächstes Video!
Ich lasse mich zurücksinken und lande auf Alwas Schulter. Sie rührt sich nicht. Jella atmet ebenso gleichmäßig. Sieht durch den Kamerasucher sehr pittoresk aus. Die beiden Damen haben einen erstaunlich festen Schlaf.
Mit dem es eine Sekunde später vorbei ist. Absätze klackern über das Parkett im Flur. Ich fahre erneut hoch, halte die Kamera in Richtung Tür.
»Was ist denn hier los?«, kreischt eine weibliche Stimme.
Das möchte ich auch gerne wissen und starre verdattert die kleine Frau in dem eng anliegenden weißen Kostüm mit vielen Goldknöpfen an, die nun mitten im Raum steht. Im Türrahmen hinter ihr erkenne ich die Köpfe eines Paares um die 40, das mich in der Disziplin »Verdattert schauen« um Längen schlägt. Ich lasse das Handy sinken.
Alwa hat sich aufgesetzt und lehnt an meinem Rücken, Jella streckt den Kopf nach oben wie eine Robbe und Mai ist, verbunden mit einem merkwürdigen Quietschlaut, aufgesprungen.
»Kann mir mal jemand erklären, was das soll?« Die Frau sieht aus, als explodiere gleich ihr Schädel. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und kickt nun mit dem Fuß gegen Patrick, der als Einziger noch immer auf dem Boden schläft. Er brummt unwillig.
»Äh, tja«, murmelt Mai und schaut uns auffordernd an.
»Florian?«, ruft die Frau nun und blickt sich suchend um.
»Der ist gerade gegangen«, schaffe ich es zu sagen. »Er müsste Ihnen im Treppenhaus begegnet sein.«
»Im Aufzug war er nicht«, meint die Frau. »Immerhin hat er die Wohnungstür offen gelassen.« Wie ein Sonnenaufgang die Welt erhellt der Gedanke, dass Flos Mutter vor uns steht, mein Hirn. Frau Uhlmann also.
Doch sofort vernebeln dunkelste Wolken alles wieder, als mir schwant, was hier abgeht.
»Na, der kann sich auf was gefasst machen.« Mit jedem Wort wird ihre Stimme lauter. »Lässt sich von euch dazu anstiften, die Schlüssel zu klauen, damit ihr hier Party machen könnt.« Sie kommt ein paar Schritte auf uns zu und schaut herausfordernd.
»Aber …«, stammelt Mai.
»Aber …«, stammle ich und schalte unauffällig die Kamera meines Smartphones ab.
Alwa und Jella reiben sich die müden Augen und sind stumm wie Fische. Aus der Essecke hört man von Chemie-Kurs-Vanessa und ihren zwei Grazien-Freundinnen nur lautes Gähnen.
»Er hat gesagt, Sie wüssten Bescheid, wir dürfen feiern, weil die Wohnung renoviert wird.« Mai legt so viel Sanftmut in ihre Stimme, als versuche sie, ihren Babybruder in den Schlaf zu singen.
Mit der Hand fächelt sich Frau Uhlmann Luft zu und japst.
»Die Wohnung wurde renoviert«, schreit sie. »Vorgestern war alles fertig.«
»Oh«, sagen Mai, Jella, Alwa und ich wie aus einem Mund.
»Ja, ›oh‹ – allerdings«, faucht die Maklerin und lässt ihren Blick über von Bierflecken und Schokoladenfingern verschmierte Wände, Brandlöcher im Parkett und kleine Pfützen Unergründliches wandern.
»Wie heißt es so schön: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. In jedem Fall haben wir hier unbefugtes Eindringen in eine Wohnung und Vandalismus. Ob auch Diebstahl vorliegt, wird sich noch herausstellen. Tja, da werden eure Eltern ein kleines Sümmchen investieren müssen«, sagt sie. Sie schreitet in die Tiefen der Wohnung. Hoffentlich marschiert sie nicht ins Bad. Und in die Küche. Und in überhaupt alle anderen Zimmer.
»Ähm«, meldet sich nun der Mann, der noch immer in der Tür steht. »Und wie geht es jetzt für uns weiter? Wir wollen am kommenden Wochenende mit dem Umzug beginnen. Am Montag ist der Notartermin – aber so übernehmen wir die Wohnung ganz bestimmt nicht.«
Frau Uhlmann atmet tief durch und streicht sich eine blonde Strähne, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hat, zurück. Dann wischt sie sich über die Mundwinkel und sagt: »Diese Unannehmlichkeiten sind unverzeihlich! Ich verspreche Ihnen, bis zum nächsten Wochenende ist die Wohnung wieder in einem tipptopp Zustand. Ich würde vorschlagen, Sie setzen sich in das Café gegenüber – selbstverständlich auf meine Kosten –, und ich komme, sobald ich hier alles geregelt habe.« Auch wenn sie höflich klingt, ist klar, dass sie keinen Widerspruch duldet. Für den Bruchteil einer Sekunde tut mir Flo ein kleines bisschen leid – da muss man ganz schöne Geschütze auffahren, um gegen so eine dominante Mutter zu bestehen. Doch als ich darüber nachdenke, welchen Ärger er uns eingebrockt hat, ist es mit meinem Mitleid schlagartig vorbei.
Das Pärchen fügt sich ohne Widerworte und zieht sich zurück. Vermutlich erträgt es unseren Anblick einfach nicht mehr.
»So«, die Maklerin klatscht in die Hände. »Jetzt stehen mal alle dalli, dalli auf und bis in …«, sie sieht auf ihre dicke goldene Uhr, »… sagen wir – eineinhalb Stunden sind zumindest der Müll und der Dreck verschwunden. An wessen Eltern darf ich denn die Rechnung für die Renovierungskosten schicken?«
Jella, Alwa und ich beißen uns auf die Zunge. Am liebsten hätte ich »an Flos« gesagt.
»An Mai Nguyen«, höre ich eine Stimme aus der Essecke. Wir fahren alle zu der Verräterin herum und schleudern hasserfüllte Blicke in ihre Richtung. Vanessa. Wer hat die überhaupt eingeladen?
»Mai?«, wiederholt die Maklerin.
Mai tritt tapfer einen Schritt vor.
»Ja, wir haben meinen 18. Geburtstag gefeiert«, gesteht sie.
»Wie schön, Glückwunsch«, Frau Uhlmann setzt ein schlangenhaftes Lächeln auf. »Dann kann ich Ihnen ja direkt die Rechnung geben – mit 18 sind Sie ja jetzt selbst verantwortlich. Ich hoffe, Sie haben ein paar Tausend Euro auf dem Sparbuch liegen. Parkett erneuern, auf 160 Quadratmetern Wände streichen – und mal schauen, was noch so für Schäden aufgetreten sind. Ach, eine neue Fensterscheibe geht auch ganz gut ins Geld.« Sie weist auf einen dicken Sprung in der Terrassentür, den ich jetzt erst bemerke.
Ich sehe, dass Tränen in Mais Augen aufsteigen. Schnell gehe ich zu ihr und lege meinen Arm um ihre schmale Taille. Doch sie schiebt mich weg und räuspert sich. Typisch Mai, sie hasst es, verletzlich zu erscheinen.
»Ich bin mir sicher, wir finden eine Regelung, die nicht meine komplette Zukunft ruiniert«, sagt sie und ich bewundere sie dafür, wie ruhig sie klingt. »Und ich nehme mal an, dass Ihr Sohn Florian auch etwas von seinem garantiert dicken Sparbuch beisteuern kann. Er ist schließlich schuld an alldem hier.« Sie deutet mit der Hand in den Raum.
Frau Uhlmann zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Sie die Gastgeberin der Party waren. Florian ist genau wie Sie volljährig, das müssen Sie direkt mit ihm klären.«
Sie wendet sich zum Gehen. »Sie finden mich unten im Café, wenn Sie fertig sind. Und beeilen Sie sich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Die Café-Rechnung addiere ich zu den anderen Kosten dazu. Bis später!«
Kaum schlägt die Wohnungstür hinter ihr zu, bricht Mai nun doch in Tränen aus. Jella, Alwa und ich ziehen sie in unsere Mitte und setzen uns mit ihr aufs Sofa.
»Du Miststück«, ruft Jella Vanessa zu, die gerade vom Klo zurückkommt. »Wie konntest du Mai nur so verraten? Hier Party machen und dann petzen!«
»Meinst du, ich will da mit reingezogen werden? So von wegen, wir legen alle zusammen? Du müsstest doch am allerbesten wissen, wie es ist, ständig pleite zu sein. Ich war eingeladen und sonst nichts.«
»Verpiss dich einfach«, schreit Jella nun. »Blöde Kuh.«
»Nein«, hält Alwa sie auf. »Die soll mal schön das Bad putzen. Ich habe gesehen, wie sie ins Waschbecken gekotzt hat.«
»Wenn ihr hier nur so Billigfusel anbietet, kann ich da nichts für«, ätzt Vanessa, schnappt sich ihre Lederimitat-Handtasche und stürmt mit ihren triumphierend dreinblickenden Begleiterinnen davon. Am liebsten würde ich mich auf sie stürzen und sie an den Haaren festhalten. Aber so etwas tue ich natürlich nicht. Seit der vierten Klasse schon nicht mehr. Und prompt schlägt die Wohnungstür erneut zu.
Irritiert sehe ich nun Mai an, die nach ihrem Handy angelt. Wen will sie denn jetzt anrufen? Sie steht vom Sofa auf, geht unruhig vor der kaputten Terrassentür auf und ab und wartet, bis die Verbindung aufgebaut ist. Plötzlich schreit sie los: »Flo, du Arschloch! Du Saftsack! Du alter Pisser! Beweg deinen Scheißarsch hierher und sorg für Ordnung! Du bist ein Feigling, ein Verräter, ein … jedenfalls, wag es nie wieder, mich anzusprechen. Oder mich anzuschauen. Oder anzuatmen! Ich wollte, du wärest tot!« Und dann wirft sie ihr Handy einfach quer durchs Zimmer und Alwa schafft es gerade noch, es aufzufangen, bevor es inmitten einer der ekligen Bierlachen auf dem Parkett landet.
»Scheiße, ist mir schlecht«, höre ich da plötzlich Patrick Supernerd aus der Ecke hinter dem Sofa. Und schon erbricht er sich heftig auf die bis dato blütenweißen Polster.
2
Die coolste Kanal-Geburt
Das Schwierigste ist, diesen ekligen Kotzegeruch aus der Nase zu kriegen. Verströmt nicht sogar der dampfende Cappuccino, den die Bedienung gerade vor mich stellt, noch unangenehme Düfte? Mein Magen hebt und senkt sich hektisch. Ich nehme schnell einen großen Schluck und ignoriere, dass der Kaffee viel zu bitter schmeckt. Zucker kann ich nirgends entdecken.
»Mädels, ist das eine Scheiße«, sinniert Jella und rührt in ihrer Tasse. Alwa lässt das angebissene Croissant sinken und sieht ihre Schwester verwirrt an.
»Was jetzt genau?«
»Na, 18 zu sein«, sagt Jella und trinkt etwas. »Bisher nichts als Ärger, oder? Findet ihr nicht?«
Mai stöhnt und nickt. Sie hat sich ein Müsli bestellt, schiebt aber nur mit dem Löffel die Haferflocken von einer Ecke in die andere. Ich glaube, sie hat bisher keinen Bissen runterbekommen. Was ich gut verstehe.
Wir haben es im Hochgeschwindigkeitstempo von etwas über einer Stunde geschafft, die Wohnung zumindest oberflächlich von all den Spuren und dem Müll der letzten Nacht zu befreien. Nur das Sofa war nicht ganz zu retten. Immerhin fanden sich in der Küche Gummihandschuhe und Alwa hat es tatsächlich über sich gebracht, das verstopfte Waschbecken zu reinigen. Sie sieht immer noch etwas blass aus. Wie wir alle, vermutlich.
»Tja«, nehme ich Jellas Gedanken auf. »Irgendwie hast du recht. 18-sein ist echt Kacke. Das kann doch nicht normal sein, was da in der letzten Zeit passiert ist. Als ob so eine göttliche Kommission uns die Aufgabe gestellt hat, erst einmal zu beweisen, dass wir es würdig sind, erwachsen zu sein.«
Alwa lacht bitter auf und nickt. Erschöpftes Schweigen legt sich über unsere Runde. Vermutlich denken wir alle Ähnliches.