ISBN 978-3-89741-977-3
© 2017 eBook nach der Originalausgabe
© 2017 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL
unter Verwendung des Fotos »Evocation«
© sophie / fotolia
Gesetzt aus der Sabon
www.ulrike-helmer-verlag.de
Prolog
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
EPILOG
Es ist schlecht, also muss es weg.
Der Nebel um ihren Kopf wird immer dichter und undurchsichtiger. Der Wein schmeckt fürchterlich, doch einen anderen hat sie in der Dunkelheit des Kellers nicht finden können. Dunkel ist es auch in ihrem Zimmer. Schwarz. Wie immer. Die dicken Vorhänge sind zugezogen, das Licht ist aus und draußen greift die Nacht langsam, aber unaufhaltsam um sich.
Sie weiß, dass es falsch ist. Dass sie eigentlich ein ganz normales Leben führen sollte. Sich Ziele setzen und diesen folgen sollte, doch fällt es ihr so schwer. Sie würde sich gerne treiben lassen wie die anderen in ihrem Alter, von denen sie nicht einen richtig kennt. Sie hört ihnen manchmal heimlich zu. Hört die Diskussionen über Sinnlosigkeiten, die kleinen Dramen, die erste Liebe, die Sorgen um schlechte Noten und strenge Eltern. Die ersten Erfahrungen mit der größer werdenden Freiheit der Heranwachsenden. Doch gehört sie nicht dazu. Das hat sie noch nie.
Neben der leeren Flasche versinkt sie langsam in die wunderbar weiche Welt der Träume, der einzige Ort, an dem sie sich wohl und geborgen fühlt. Frei von allen weltlichen Zwängen und Grenzen. Phantasie ist eine wundervolle Gabe, die die Macht verleiht, die Welt in einen Topf voller Farbe zu tunken.
Die grelle Stimme einer alten Frau zerreißt nur Sekunden später die Farben. Übrig bleiben ein unergründlicher Lärm aus dem Erdgeschoss und die ewige Dunkelheit.
Emilia hievt sich mühsam aus dem Bett, reckt die Arme und hört, wie ihre Muskeln und Knochen sich strecken und knacksen. Mit einem kräftigen Ruck zieht sie den Vorhang an ihrem Fenster zur Seite, öffnet es und atmet die frische, zartwarme Frühlingsluft ein. Vom Licht geblendet, greift sie zu ihrer Sonnenbrille. Es wird ein schöner Tag werden.
»Emilia! Emilia, wo bleibst du?«, schallt es von neuem herauf.
Ihre Großmutter väterlicherseits hatte das Sorgerecht bekommen, als die Mutter starb. Das war schon lange Zeit, nachdem der Vater sie verlassen hatte.
Müde und kraftlos schleppt sich Emilia die neunzehn Stufen der breiten, leicht knarzenden Holztreppe hinunter. Ihr Kopf und ihr Körper fühlen sich schwer an. Das lange Haar kitzelt ihr im Nacken und fällt elegant geschwungen auf ihre Schultern nieder, die, nur mit einem dünnen Hemd bedeckt, ihren jugendlichen Körper zur Geltung bringen. Es riecht nach der Großmutter. Das ganze Haus riecht nach ihr. Abgestanden und schlecht durchlüftet.
»Was brauchst du so lange?«, die kratzige, verbrauchte Stimme der alten Frau ertönt viel zu laut und aufdringlich aus der Küche.
»Willst du Kaffee?«, gibt das junge Mädchen zurück, ohne auf die Frage einzugehen.
»Natürlich!«, krächzt es mürrisch zurück, »aber mach schnell! Gleich kommen meine Mädchen. Vorher besorgst du den Kuchen und deckst den Tisch! Und zieh dir um Gottes willen etwas Anständiges an.«
»Ist gut«, antwortet das Mädchen lustlos und beginnt vorsichtig den Kaffee aufzusetzen.
»Pass doch auf! Du verschüttest ja das ganze Wasser!«
Seit einiger Zeit sitzt die Großmutter im Rollstuhl. Emilia ist seitdem eher Dienstmädchen als Enkeltochter.
»Mach schon! Wer lange schläft, muss auch schnell arbeiten können!«
Die Stimme der Greisin klingt wie ein verrostetes Scharnier oder Kreide auf einer Schiefertafel und schmerzt fürchterlich im Kopf des Mädchens. Emilia greift nach ihren Chucks, packt den Regenschirm im Flur und ist froh, als sie endlich hinaus auf die Straße tritt. Sie braucht einige Momente, um sich in dem Lärm zu orientieren. Es sind viele Menschen unterwegs, Stimmen von Alt und Jung, Mann und Frau dringen zu ihr durch. Sie geht am Bordstein entlang, den Weg, der ihr seit Jahren bekannt ist. Der Weg zum Fluss, zu ihrem liebsten Platz, an dem sie so oft Schutz vor ihrer Großmutter und dem Lärm der Stadt findet.
»Pass doch auf, wo du hinläufst!«, tönt das Organ eines kräftigen Mannes, der sie fast über den Haufen rennt und fluchend an ihr vorbeihastet. Noch verschlafen und müde, trottet sie vorsichtig weiter. Nach ein paar Schritten erreicht sie die Bäckerei, in der sie jeden Sonntag den Kuchen für die unerträglichen Alten besorgen muss, die sich Woche für Woche bei ihrer Großmutter versammeln. Der junge Verkäufer begrüßt sie freundlich, sonst scheint niemand im Geschäft zu sein.
»Emilia, wie geht es dir?«
»Gut-gut, machst du mir meine Kuchenplatte?«
»Ist schon fast fertig, du bist spät dran.«
»Danke.«
»Ich hab was Neues ausprobiert, ein Marzipan-Törtchen, bedeckt mit feinster weißer Schokolade. Willst du es probieren?«
»Klar!«
Ihre Lippen umschließen den noch warmen Teig. Als sie hineinbeißt, entfaltet sich Zimtgeschmack auf ihrer Zunge. Das Marzipan schmiegt sich weich und zart an den Teig. Der Moment, in dem es mit der Schokolade verschmilzt, vollendet den Geschmack in einer süßen Harmonie.
»Und?«, fragt der Verkäufer erwartungsvoll.
»Es ist perfekt!«
»Dann werde ich dir davon welche mitgeben. Vielleicht schaffen sie es ja bald in den Laden.«
Er reicht ihr das Kuchenpaket wie auf einem Tablett und verabschiedet sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Was Emilia nicht sieht, ist das verliebte Lächeln, das ihr Anblick auf dem Gesicht des jungen Mannes hinterlässt.
Vorsichtig bahnt sie sich den Weg nach Hause und wird missmutig von ihrer Großmutter empfangen: »Was brauchst du denn so lange? Da wäre ja dein Opa schneller aus dem Grab gewesen! Jetzt leg den Kuchen auf den Tisch und kümmer dich um den Tee, schön anrichten kannst du ja sowieso nicht!«
Es gibt viele Dinge, die ihr Kopfschmerzen bereiten. Innere Krisen auslösen. Dinge, die andere in ihrem Alter als ganz selbstverständlich hinnehmen und mit ihnen weitaus besser zurechtkommen als Emilia. Es sind ganz alltägliche Dinge, wie unregelmäßige Treppenstufen, Gläser mit rauer Oberfläche, kleine Tiere, vor allem Insekten, Unordnung und wahllos herumliegende Sachen und generell Türen, ob aus Holz, Glas oder gepresstem, kaltem Plastik. Aber am schlimmsten sind Menschen, die nicht reden. Jene Art von Menschen, von deren Existenz man nichts mitbekommt. Die unscheinbar irgendwo herumstehen und am liebsten unsichtbar wären. Die durch die Welt schleichen in der stetigen Hoffnung, niemand würde sie bemerken. Das Problem, das Emilia mit dieser Art von Menschen hat, ist kein persönliches, keine Abneigung gegenüber dieser Einstellung. Ganz im Gegenteil würde sie sich selbst so oft wünschen, nicht aufzufallen, nicht bemerkt zu werden, nicht diese ewigen Blicke auf sich zu spüren. Emilia fühlt sich ihnen ausgeliefert. Den Blicken und den unsichtbaren Menschen. Mehr noch als jedem brüllenden Proleten, mehr noch als den giftigen alten Menschen im Park oder in einem Laden. Wenn die absolute Stille plötzlich zur Person wird, hat das etwas sehr Einschüchterndes. Ihr Großvater sagte immer: ›Wer nicht reden und prahlen muss, trägt die Selbstverständlichkeit der vollkommenen Erfüllung still in sich.‹ Dem Mädchen ist dieser Spruch seltsam klar in Erinnerung geblieben, obwohl doch schon so viel Zeit seit dessen Tod vergangen ist. Und doch hat sie nie den Sinn erkennen oder die Gültigkeit anerkennen können.
Um sich ihre aufkommenden Schwierigkeiten im Alltag nicht eingestehen zu müssen, gibt sie sich bei allem, was sie tut, umso mehr Mühe. Nicht für ihre Großmutter oder die Gesellschaft, einzig und alleine für sich selbst.
Der Tee ist gerade aufgesetzt, als die ersten Alten schon vor der Türe stehen und klingeln. Heute hat sie sich mit dem kochenden Wasser nur ein bisschen verbrannt. Manchmal mag sie den Schmerz, wenn aus dem Nichts ihre Haut plötzlich zu zerreißen scheint.
»Hoch jetzt mit dir, aber schnell!« brüllt die Großmutter, während sie schwerfällig auf die Türe zurollt.
So vergeht Woche um Woche.
Eigentlich mag sie es gerne, alleine zu sein. Ungestört in ihrem kleinen Zimmer. Um Zeit zu haben, in ihre eigene Welt abzutauchen. Nur kommen ihr die Wände immer öfter zu nahe und die Gedanken werden immer skurriler, sodass sie an manchen Tagen Schwierigkeiten hat, die Träume und Tagträume von der Realität zu unterscheiden.
Wenn sie in ihrem kleinen Reich ist, kann ihr die Großmutter nichts anhaben. Sie hat ein bisschen Angst vor ihr. Vor ihrer grellen Stimme und ihrer unreinen, faltigen Haut. Die Hände fühlen sich wie Leder an. Emilia ist sich nicht sicher, ob überhaupt noch etwas Wärme durch den alten Körper fließt.
Das Haus darf sie nur für Erledigungen verlassen. Ein privater Lehrer unterrichtet sie zu Hause. So war es angeblich der letzte Wunsch der Mutter.
Die Tage fließen wie eine zähe, undefinierte Masse an ihr vorüber. Der einzige Unterschied zwischen Tag und Nacht besteht nur noch in der schrill krächzenden Stimme der alten Frau. Realität und Phantasie verschmelzen in einem großen grauen Topf voll mit Gedanken und fehlenden Eindrücken.
Darum freut sie sich schon fast ein bisschen auf die kleine Bäckerei an jedem Sonntag, ohne Ausnahme.
Als Emilia den kleinen Laden betritt, wird es ungewöhnlich ruhig um sie herum. Der Straßenlärm bleibt vor der Tür und nur das leise Nachklingen der hellen Glocke über dem Eingang ist noch zu vernehmen. Unsicher tastet sie sich an die Theke vor, von welcher ein Duft nach frischgebackenen Teigwaren herüberströmt.
Durch die ins Unerträgliche weiterwachsende Ruhe hindurch vernimmt sie plötzlich das Geräusch von bestrumpften Sohlen, das kurz am Boden haften bleibt und sich in ihre Richtung zu bewegen scheint. Langsam dreht sie sich zu dem Geräusch hin, was daraufhin augenblicklich verstummt. Sie kann genau spüren, wie jemand ganz in ihrer Nähe vergeblich seinen hektischen Atem unterdrücken will. Zwei schnelle, leise Schritte kann sie noch hören, dann spürt sie einen dumpfen Schlag und sie wird bewusstlos.
Emilia erwacht mit einem unerträglichen Pochen im Kopf. Es fühlt sich so an, als würde jemand ihr das Gehirn mit aller Kraft von innen gegen die Stirn drücken. Als sie sich vorsichtig bewegt, fährt ihr ein schneidender Schmerz durch Hand- und Fußgelenke. Sie ist unbarmherzig festgebunden. Panik steigt in ihr auf, sie versucht sich loszureißen, doch wird sie von engen Schlingen gehalten. Ihr ist kalt. Vielleicht aus Angst, vielleicht aber auch, da sie keine Klamotten mehr an ihrem Körper trägt. Nackt auf dem Rücken liegend, gefesselt, ist sie ihrem Peiniger dargeboten wie ein Geschenk, schutzlos ausgeliefert.
Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, obwohl die alte Pendeluhr nicht weit entfernt nur ein einziges Mal zur Viertelstunde schlägt. Diesmal ist es zuerst der hektische Atem und erst kurz darauf das leichte Schleifen der Socken, das Emilia aufhorchen lässt. Ein Gürtel öffnet sich, eine Hose sinkt zu Boden, ein Shirt wird eilig abgestreift, begleitet von immer schnellerem Atem.
Sie spürt, wie er näher kommt und sich über sie beugt. Unsanft greift er nach ihren Brüsten. Sie presst die Lider und Lippen vor Schmerz und Scham zusammen, dreht ihren Kopf zur Seite und blickt mit starrem, angestrengtem Blick ins Schwarze. Merkt kaum noch, wie er in sie eindringt, laut aufstöhnt und nach wenigen Momenten am ganzen Körper zitternd kommt.
Als sie aus ihrer Trance erwacht, hört das Mädchen, wie sich ihr Peiniger hastig anzieht, ihr die Schlingen von den Gelenken löst und die Klamotten auf den nackten Körper schmeißt.
Mit einem Ruck springt sie auf, greift dabei nach ihrer Jeans und erwischt den Jungen mit einer der losen Fesseln am Hals. Intuitiv zieht sie das Band zu, hört viele lange Sekunden ein leises Röcheln, endlich gefolgt von kaum wahrnehmbarem Knacken, als ob das Leben für immer aus dem Jungen weicht. Kraftlos sackt der Körper des Bäckergehilfen zusammen und fällt hart auf den Fliesenboden.
Zitternd zerrt Emilia sich ihre Kleidung über den kalten Körper und tastet sich verkrampft und ungeschickt durch den dunklen Raum zur Treppe, hastet hinauf, vorbei an der Kuchentheke, in deren süßem Duft nun blanke Ironie liegt, hin zur Tür in die Freiheit. Die umfallenden Stühle und die hektisch bimmelnde Glocke nimmt sie gar nicht mehr wahr. Auf den lauten Straßen quetscht sie sich an schier unzähligen Menschen vorbei, die überrascht und fluchend dem jungen, zerzausten Mädchen hinterherblicken. Sie rennt, ohne innezuhalten, bis sie ihr Haus erreicht und fast panisch die Türe aufreißt, um so schnell wie möglich nach oben zu gelangen, in ihr Reich, das niemand betreten darf. Die alten, weit aufgerissenen Augen, die ihr nachstarren, bemerkt sie genauso wenig wie das halb zerkaute Frühstück, das dem künstlichen Gebiss entfällt und auf dem Teller zurückbleibt.
Den empörten Aufschrei der Großmutter, der ihr die Treppen hinaufgefolgt ist, schließt Emilia gleich mit der Badezimmertüre aus. Angeekelt reißt sie sich ihre Klamotten vom Leib und schiebt sich kraftlos unter die Dusche. Das heiße Wasser beginnt ihren nackten Körper hinunterzulaufen. Doch sie spürt nichts als den Schmerz der Schändung zwischen ihren Beinen. Eiserner Blutgeschmack liegt ihr im Mund. Langsam sinkt sie zusammen und überlässt sich in absoluter Kraftlosigkeit dem regelmäßigen, warmen Rieseln des Wassers.
Zitternd und klamm erwacht Emilia nach einer Weile. Die Dusche ist aus, die nasse Haut schon getrocknet und die Stille um sie herum dröhnt ohrenbetäubend. Sie muss eine ganze Weile dort gelegen haben. Verzweifelt greift sie nach dem Wasserhahn, zieht sich daran hoch, greift am ganzen Körper zitternd nach einem Handtuch und wickelt es so eng um sich, wie ihre Kräfte es irgend zulassen.
Ein krampfender Schmerz im Unterleib reißt das Mädchen aus unruhigen, hektischen Träumen. Von Übelkeit erfasst, rennt sie quer durch ihre kleine Wohnung zum Badezimmer, dreieinhalb Schritte nach vorne, zwei nach links. Mit dem Kopf über der Schüssel würgt sie, bis ihr Körper schmerzt und nur noch Magensäure kommt. Kraftlos schleppt sie sich vom Bad in die Küche, tastet nach einer offenen Rotweinflasche und spült den Geschmack von halbverdautem Essen wieder hinunter.
Es geht ihr besser, seitdem sie alleine wohnt.
Im Küchenschrank greift sie nach dem Döschen mit den mehlig schmeckenden Tabletten und schickt zwei in Begleitung des Rotweins hinab, um den Schmerz zu stillen. Zwanzig Minuten, dann beginnt die Wirkung. Die Wanduhr schlägt mit sonorem Ton neun Mal. Ob sie noch richtig geht, weiß Emilia nicht. Der Kühlschrank riecht streng, als sie ihn öffnet, also schließt sie ihn gleich wieder. Sie will sowieso abnehmen. Sie ist in den letzten Wochen richtig dick geworden. Fast schon fett. Besonders ihr Bauch ist gewachsen, obwohl sie auf regelmäßige Mahlzeiten verzichtet und nur ab und an eine Kleinigkeit isst. Da ist ein unangenehmes Kribbeln und Grummeln im Bauch, als würden tausend Würmer ihre Mahlzeiten verschlingen und immer dicker werden.
Die kleine Wohnung ist spärlich eingerichtet. Keine Bilder, keine Spiegel, keine Farben. Nur der Plattenspieler ihres Dads ragt wie ein Thron darin auf, untertänig umgeben von einer schier endlosen Plattensammlung, als wäre er der einzige und wichtigste Bestandteil der ganzen Wohnung. Es gibt eine kleine Küchenzeile, abgeteilt durch eine Theke, und ein großes Bett. Alles in einem einzigen mittelgroßen Zimmer. Sie mag keine kleinen Räume. Keine Fahrstühle, keine Räume in Räumen.
Es ist ordentlich. Jedes Gewürz, jeder Teller und jedes Shirt hat seinen Platz. Alles ist genau so, wie das Mädchen es sich vorstellt.
Die Gardinen sind vor die großen Fenster gezogen. Manchmal fühlt sie sich beobachtet, verfolgt, als wären die starren Blicke eines Mannes stets auf sie gerichtet – nachts, morgens, unter der Dusche, auf der Toilette. Deswegen ist es besser, die Gardinen vorzuziehen. Auch wenn es keinen Grund gibt, sie so anzublicken. Ekel erfüllt sie, wenn sie unter der Dusche steht, sich das Wasser über die Haut und den geschwollenen, fetten Bauch fließen lässt. Unaufhaltsam schwillt ihr Körper und geht in die Breite. Schwerfälligkeit ist zum Dauerzustand geworden. Die einzigen Lichtblicke sind die regelmäßigen Kotzattacken morgens. Manchmal auch nachmittags und abends. Schmerzhaft, aber befreiend. Und auf jeden Fall gut für die Figur. Meistens nach dem großen Appetit vom Marihuana. Manchmal aber auch einfach so. Sogar nachts. Zum Glück ist nie etwas im Haus. Auch jetzt wäre ein bisschen Schokolade schon schön. Oder eine ganze Tafel. Aber in diesen Fällen reicht auch der Alkohol. In ihrem spärlich bestückten Kleiderschrank greift sie nach einem weiten Kleid, das ihre Brüste betont. Die Brüste sind in den letzten Wochen groß geworden. Manchmal schmerzen sie. Der gespannte Bauch lässt sich mittlerweile immer schwerer unter der Kleidung verstecken.
Mit der Rotweinflasche in der Hand macht sie sich auf in die Stadt. Dem Weg folgt sie blind. Sie ist oft unterwegs, seit sie alleine wohnt. Häufig ist ihr einfach langweilig, sie sehnt sich nach Beschäftigung und sexueller Befriedigung. Um Menschen und Kontakte geht es ihr eigentlich nicht.
Es ist Samstag und die Flasche mittlerweile leer. Der Türsteher hält sie für betrunken, lässt sie aber dennoch in den Club. Die Bässe dröhnen wummernd, werden von den Steinwänden zurückgeworfen. Die Musik ist so laut und hämmert von allen Seiten, dass sie fast die Orientierung verliert. Sie taucht ein in das Meer der Geräusche, tastet sich an warmen, verschwitzten Körpern vorbei auf die Tanzfläche, schließt die Augen und spürt den Takt in sich. Ihr ist warm und schlecht. Die Wirkung der Tabletten lässt langsam nach. Verstört macht sie sich auf den Weg zur Bar und braucht eine gefühlte Ewigkeit, um sie zu erreichen.
»Willst du was trinken?«, fragt eine jugendliche Männerstimme.
»Tequila«, antwortet das Mädchen und klammert sich an das klebrige, nasse Holz. Sie hört, wie zwei Gläser auf den Tresen gestellt werden, greift vorsichtig nach einem und hält es in die Luft. Der Junge stößt mit ihr an und beide kippen sich den Schnaps in den Mund.
»Noch einen«, sagt das Mädchen. Der Typ lacht und die Prozedur wiederholt sich.
»Willst du ficken?«, fragt das Mädchen vage in die Richtung der Männerstimme, woher nur ein stilles Staunen durch den Lärm der Musik zu vernehmen ist.
»Nicht?«, hakt sie direkt nach.
»Doch!«, bricht es aus dem Jungen raus.
»Toilette! Geh vor!«, weist das Mädchen ihn an und nimmt seine Hand.
Durch das Gedränge hindurch wird die Musik langsam leiser, bis sie in einer Kabine landen und die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt. Die Musik dringt dumpf durch das Sperrholz zu ihnen durch. In der Kabine nebenan streiten sich zwei junge Mädchen um die letzte Line Koks und im Flur diskutieren Betrunkene über nichts. Emilia greift nach den Klamotten des Jungen und zieht ihn aus. Er ist nicht schön, nicht schlank, nicht sportlich, hat unreine Haut und fettige halblange Haare. Er will sie küssen und versucht ungeschickt, sie auszuziehen. Man merkt ihm die Unsicherheit an. Sein Atem riecht nach Alkohol und der Körper nach Schweiß. Das Mädchen drückt seinen Kopf unsanft von sich weg. Sie zieht ihr Kleid hoch und greift nach seinem harten Schwanz, führt ihn in sich ein und fickt ihn, bis er kommt. Dann streift sie sich ihr Kleid wieder glatt und verlässt die kleine Kabine. Die Türe steht noch offen, im Rahmen der nackte junge Mann. Verwundert, blickt er dem Mädchen mit der Sonnenbrille hinterher, wie es sich bereits wieder von der Musik auf die Tanzfläche treiben lässt.
Als Emilia in die Nacht hinaustritt, regnet es, als würden sich ganze Ozeane über die Stadt ergießen. In der Ferne hört sie das tiefe Grollen eines Donners, der sich auf den Weg zu ihr macht. Mit ausgestreckten Armen stellt sie sich in den Regen, zieht ihre Sonnenbrille ab und blickt nach oben, als erwarte sie von dort Strafe oder Absolution. Eine Taufe, mit warmen Regentropfen. Das Wasser prasselt auf ihre Haut. Sie erträgt die Hitze der letzten Tage und Wochen nicht.
Die Sonne hat etwas Gehässiges an sich, wenn man sie nicht sieht. Ihre warmen Strahlen auf der Haut sind falsche und verlogene Versprechungen. Regen hingegen ist ganz offene und unmissverständliche Abneigung. Die Übereinstimmung zwischen dem Gefühlten und der Botschaft dahinter ist an Ehrlichkeit kaum zu überbieten. So scheint es dem Mädchen, doch die Klarheit der Gedanken ist längst hinter einem Schleier aus Alkohol verschwunden.
Das Wasser, das dem Menschen Leben schenkt und gegen das er sich doch so verzweifelt zu wehren versucht. Es würde auch regnen, wenn es keine Menschen auf der Erde gäbe. Ist das nicht eine beruhigende Vorstellung?
Die Gedanken drehen sich in ihrem Kopf und Emilia dreht sich mit ihnen. Bis jemand sie anrempelt und unsanft in die dunkle Wirklichkeit zurückversetzt.
»Entschuldige!« sagt eine jugendliche, aber raue Männerstimme fast etwas beschämt.
Das Mädchen setzt die Sonnenbrille wieder auf, wendet sich ab, hält aber abrupt in der Bewegung inne.
»Wo ist der nächste Kiosk?«, fragt sie mit lieblich verblümter Stimme.
»Gleich da vorne«, der junge Mann wedelt etwas ungelenk mit den Armen vor Emilias Gesicht herum.
»Bringst du mich hin?«, fragt sie sanft.
Der Junge will etwas erwidern, nimmt aber schließlich doch die ausgestreckte Hand des Mädchens und begleitet sie zum Eingang. Er hat große, starke Hände.
»Kaufst du uns eine Flasche Wein und Zigaretten?«, fragt sie und hält dem Jungen einen Zehner hin.
»Okay«, erwidert er unsicher, nimmt das Geld und verschwindet im Kiosk. Normalerweise raucht sie nicht. Vielleicht aus Angst, sich zu verbrennen. Oder weil es ihr nur dann schmeckt, wenn sie ausreichend getrunken hat. Aber dafür ja der Wein.
»Hier, dein Rückgeld«, der Junge streckt ihr den Zehner hin und sieht Emilia dabei zu, wie sie mit den Fingern darüberstreicht, ehe sie ihn ungeschickt in ihren nassen BH stopft.
»Danke für die Einladung«, gibt sie mit einem Lächeln zurück. »Wo kann man sich hier hinsetzen, ohne gleich zu baden?«
Mit gespielter Selbstsicherheit ergreift er ihre Hand und geleitet sie zu einem Türeingang. Der Junge ist dünn, hat weiche Haut und warme Hände. Ganz anders als der Kerl auf der Toilette.
»Darfst du …?«, fragt er unsicher, als sie sich auf die Stufen niederlassen.
»Ja klar!«, fällt ihm Emilia ungeduldig ins Wort und greift nach der Flasche.
Sie trinken Wein und hören dem Regen zu, wie er in die Pfützen auf dem unebenen Asphalt fällt.
»Emilia«, sie reicht ihm die Flasche.
»Freut mich sehr, Emilia. Ich bin Theodor. Theodor Leiami, aber alle nennen mich Theo«, seine Stimme klingt warm und zärtlich, obwohl das Kratzen ihr ständiger Begleiter bleibt.
»Machst du mir eine an?«, Emilia hält dem Jungen die Zigaretten hin. Theo entzündet zwei und gibt eine an das Mädchen weiter.
»Sag mal, kann es sein, dass du noch zu jung bist und den Wein und die Zigaretten ohne mich nicht bekommen hättest?«, fragt er unsicher.
»Ich bin alt genug, keine Sorge.« Emilia zieht an ihrer Zigarette und spürt, wie der warme Qualm in ihre Lungen strömt, »ich mag nur keine engen Räume.«
»Und die Sonnenbrille?«, fragt Theo weiter.
»Ist gegen die Sonne«, erklärt sie schnippisch und nimmt ihm den Wein ab. »Bist du alleine hier?«
»Soweit ich das beurteilen kann, sind wir zu zweit«, gibt er knapp zurück und greift seinerseits nach der Flasche. Seine kratzige Stimme klingt so warm und vertraut, so erhaben ruhig, also ob sie in keinem noch so lauten Unwetter zu überhören wäre.
Emilia wird es schlecht, sie hat das Gefühl, kotzen zu müssen, versucht den Impuls aber zu unterdrücken und mit einem großen Schluck herunterzuspülen. Alles andere wäre ihr peinlich.
»Wollen wir los?«, fragt sie, erhebt sich leicht schwankend und bringt ihren Körper ins Gleichgewicht.
»Klar. Wohin?«, fragt der Junge und nimmt vorsichtig ihre ausgestreckte Hand. Der Donner ist lauter geworden, das Gewitter entlädt sich gewaltvoll genau über ihren Köpfen. Der Regen bombardiert unvermindert die immer größer werdenden Wasserlachen.
Sie lässt seine Hand gleich wieder los, tanzt mit ausgestreckten Armen zu einer tonlosen Melodie über die Straße, mitten durch die Pfützen, und genießt die stillen Blicke ihres Begleiters auf sich.
Bis sie von einem heranrasenden Auto wie aus dem Nichts mit einem unwirklichen Krachen durch die Luft geschleudert wird.
Alles ist schwarz oder weiß, zumindest unförmig und verschwommen, da ist sie sich sicher.
Ein nerviges Piepen will seit Minuten oder schon länger einfach nicht aufhören, ihr Ohr zu belästigen. Es liegt nicht am Piepen selbst, an dem man wenigstens erkennt, dass die Zeit vergeht und nicht stehenbleibt. Es liegt an der Tonlage und an der Lautstärke. Von seiner Gleichmäßigkeit geht eher eine beruhigende Wirkung aus, wie von jemandem, der sich durch nichts aus der Fassung bringen lässt. Sie hat sogar das Gefühl, das Piepen tief in ihrer Brust spüren zu können, ein tönendes Herz.
Obwohl sie ihren Körper doch wohl verloren hat. Sie hat irgendwie aus der Festung der Einschränkungen ausbrechen können. Nun ist sie befreit. Ungebunden. Absolut frei. Und in der Lage, alles zu machen. Oder wohl eher: absolut gar nichts. Außer zu denken. War sie also tot? Frei vom Körper, an den machtlos denkenden Geist gebunden?
Manchmal brechen die Gedanken für einige Zeit ab, das Piepen hört auf, es wird ganz still, bis sie wieder aus dem Dunklen ins Licht tritt. Oder ins Schwarze. Zumindest unförmig und verschwommen, da ist sie sich sicher. Und dann kommt das Piepen wieder. Erst leise, dann immer lauter. Aber mit einer nun grauenvollen Gleichmäßigkeit. Sie will aufspringen, sich wehren, der Geist ist doch frei! Doch in ihrem Inneren bleibt der Takt gleich.
Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep.
Sie weiß nicht, wie lange. Aber laut. Viel zu laut. Zu laut. Zu laut! Sie hatte also Ohren. Gute Ohren, die Fähigkeit zu hören. Der Körper funktioniert also doch noch. Sie steht auf.
Im Geist. Ihr Körper bewegt sich nicht.
Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep, Piep, Piep-Piep.
Noch ein paar Mal. Zähl mit. Beruhige dich! Würde es doch nur für einen Schlag aussetzen. Würde es doch nur ein einziges Mal unterbrochen werden! Zähl mit. Eins, zwei-drei, vier, fünfsechs – es wird schon schwarz, oder weiß. Zumindest unförmig und verschwommen, da ist sie sich sicher.
»Hey, ich bin’s, der Junge vor dem Club. Im Regen, weißt du noch?«
Sie hat Besuch, sie ist einen Schritt über die Gleichmäßigkeit hinaus. Nein, viel wichtiger, sie ist am Leben!
Scheiße, sie ist am Leben. – Nichts!