Frédéric Lenormand
Die Nacht der Richter
Reihe: Neue Ermittlungen des Richters Di
Episode 2
Kuebler Verlag
Das Buch
Richter Di langweilt sich in seiner schönen Stadt Peng-lai – bis zu dem Tag, an dem er nach Pien-fu gerufen wird. Der Präfekt will unter sieben geladenen Richtern prüfen, wem von ihnen er den begehrten Posten des Bezirksrichters übertragen kann, da der bisherige Amtsinhaber in die Hauptstadt versetzt werden soll. Als dieser Beamte völlig überraschend tot aufgefunden wird, setzen die Ermittlungen der übrigen Richter ein. Gleichzeitig beginnt das tatsächliche Auswahlverfahren, in dessen Verlauf es zu heimtückischen Verleumdungen und Anschlägen aller Art kommt. Als ein weiterer Mord geschieht, kommt der Verdacht auf, dass sich die Kandidaten gegenseitig versuchen, aus dem Weg zu räumen. Richter Di gelingt es jedoch schließlich, den geheimnisvollen Vorgängen auf die Spur zu kommen und den Fall zu entwirren.
Der Autor
Frédéric Lenormand wurde am 5. September 1964 in Paris geboren.
Weil sein Großvater ein bekannter Sammler japanischer Kunstwerke ist, fühlte er sich bereits seit seiner Kindheit zur Kultur fernöstlicher Länder hingezogen. Nach einem Sprachenstipendium im Jahr 1982 setzte er seine Ausbildung am Institut für Politische Studien und später an der Sorbonne fort.
1988 erschienen seine ersten fünf Romane, von denen ihm gleich der erste (Le songe d'Ursule – „Ursulas Traum“) den „Del Duca“-Preis für junge Romanschriftsteller einbrachte. In den 1990er Jahren wurden seine Werke mit weiteren Preisen ausgezeichnet, darunter war auch der François-Mauriac-Preis der „Académie française“.
Schwerpunkt seines literarischen Schaffens wurden historische Romane, darunter sind auch die beiden Serien Voltaire mène l‘enquête (Voltaire leitet die Ermittlung) und Les nouvelles enquêtes du juge Ti (Neue Ermittlungen des Richters Di).
Frédéric Lenormand
Die Nacht der Richter
Neue Ermittlungen des Richters Di
Episode 2
Roman
Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Frank
Weitere Informationen: www.kueblerverlag.de
Impressum
Deutsche Erstveröffentlichung
Copyright © 2015 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim.
Französischer Originaltitel:
La Nuit des juges de Frédéric Lenormand
© LIBRAIRIE ARTHEME FAYARD, 2004.
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Reproduktion, Vervielfältigung, Vermietung, Verleih, Einspeisung ins Internet, Aufführung oder Sendung.
Übertragung aus dem Französischen von Gerd Frank.
Herausgeber der Reihe: Gerd Frank
Lektorat: Anabelle Assaf – Rotkel Textwerkstatt
Bildmaterial © Andreeva Svetlana
ISBN Printausgabe 978-3-86346-031-0
ISBN Digitalbuch, EPUB 978-3-86346-295-6
Im Kaiserlichen China waren jedem Präfekten zwanzig Bezirke unterstellt, die jeweils von einem auf drei Jahre berufenen Richter geleitet wurden. Der Richter war mit allen Verwaltungsaufgaben einer Stadt beauftragt: denen der Polizei, der Justiz, des Katasteramts, des Standesamts, des öffentlichen Schatzamts, des Straßenbaus usw. Hierfür kam jeder Bürger des Reichs infrage, ganz gleich, ob er nun reich oder arm war: Voraussetzung war lediglich, dass er die schwierigen literarischen Prüfungen bestanden hatte.
Die Handlung spielt im Jahre 664 unserer Zeitrechnung. Richter Di ist zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt.
***
Die sieben Richter:
Di Jen-dsiä, Bezirksrichter von Peng-lai.
Lo Kuan-chong, Dichter und Ästhet.
Dao-Li Song, Mitglied einer Familie alten Adels.
Tan Jinxuan, Amtsinhaber von Pien-fu, junger Ehrgeizling.
Shang Uchang, Experte für klassische Literatur.
Kien Fang-te, Schwiegersohn des Präfekten.
Mei Haodi, Ältester der Präfektur.
I
Richter Di erhält eine merkwürdige Vorladung; er erhascht einen Blick ins Paradies.
Dieser erste Einsatz als Provinzrichter an der Nordostküste von Chang-tong war eine endlose Aneinanderreihung von Enttäuschungen gewesen. Mit 34 Jahren hatte Richter Di den Eindruck, bereits am Ende seiner Karriere angekommen zu sein. Seit seiner Ankunft im vorangegangenen Jahr hatte er lediglich einen interessanten Fall gelöst, in dem es um den illegalen Goldhandel ging, der mittlerweile vollständig zerschlagen war. Aber seitdem war die schöne Stadt Peng-lai geradezu in Erstarrung versunken, und die Fähigkeiten des Richters verkümmerten, weil sie nicht benötigt wurden. Ein oder zwei abwechslungsreiche Fälle – so zum Beispiel die Ermordung seines Vorgängers – hatten ihn davor bewahrt, angesichts der tausend ermüdenden Aufgaben, mit denen man ihn behelligte, dem Zustand der Niedergeschlagenheit anheimzufallen, aber seit Monaten war überhaupt nichts Unterhaltsames mehr passiert.
Jede Woche, jeden Tag, jede Stunde bestätigte sich aufs Neue, dass das langweilige Peng-lai nur ganz wenige, ganz bescheidene Möglichkeiten bot, sich zu beschäftigen. Die Garnison wachte sorgsam über die Sicherheit der Bewohner und das Militär kontrollierte die Mündung des Flusses, sodass man ihm auch noch die unbedeutendsten Delikte und die kleinste Rauferei vorenthielt.
Man gab ihm nicht mehr als den täglichen Kleinkram – wie einem Pferd, dem man nur grobe Strohballen statt frischem Gras vorwarf. Um das Maß vollzumachen, schienen ihn die ansässigen Verbrecher für einen bösen Zauberer zu halten. Jedenfalls genoss er unter ihnen einen üblen Ruf, was sicher für die öffentliche Ordnung und für die Normalsterblichen von Vorteil war, seine Stimmung hingegen verbesserte es nicht.
Folglich hielten sich die hinterhältigen und skrupellosen Übeltäter, die er besonders liebte, zurück. Richter Di verspürte schließlich eine derartige Verdrossenheit, dass er immer häufiger mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu bereiten oder zumindest einen Kurzurlaub zu nehmen, der es ihm erlauben würde, dieser schlammigen, traurigen und durchschnittlichen Stadt eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Verfügte er denn nicht über die gleichen Mittel wie seine drei Ehefrauen, die imstande waren, ihre Freizeit nach Belieben zu gestalten, indem sie etwa bei Händlern Stoffe kauften, eine Freundin besuchten oder einfach nur ihr Zimmer dekorierten? Seine vorherige Beschäftigung, das Hantieren mit alten Papieren aus den kaiserlichen Archiven, war zwar kaum hinreißender gewesen, aber zumindest hatte er in der Hauptstadt geweilt, wo es nie an Ablenkung mangelte. Die Jugend fand immer Wege, sich die Zeit angenehm zu vertreiben; in seinem reifen Alter hingegen verlangte es ihn nach einer harten Nuss, die es zu knacken galt.
Seine Tage waren wie die Wellen, die sich an der Hafenmauer von Peng-lai brachen: immer gleich, mit dem Anschein von Bewegung, in Wirklichkeit aber still und ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren, ohne etwas zurückzulassen.
Er saß vor dem Fenster seiner Bibliothek und schlürfte eine Tasse Tee, wobei er missmutig in den Regen starrte. Der Richter war in Gedanken versunken, als es an der Tür klopfte.
Sergeant Kong trat mit einem lackierten Tablett ein, auf dem eine Rolle Pergament lag.
„Ein Kurier hat das soeben für Eure Exzellenz abgegeben“, sagte er und verbeugte sich leicht.
Der Richter nahm die Rolle, die das breite zinnoberrote Siegel der Präfektur trug, an sich; es handelte sich demnach um eine offizielle Mitteilung. „Hurra!“, dachte er, „es gibt also doch ein Reich der Mitte hinter diesem Vorhang des Regens und man erinnert sich an meine bemitleidenswerte Existenz.“ Di erbrach das Siegel und entrollte das Pergament.
„Seine Exzellenz der Präfekt von Pien-fu, Beamter Ersten Ranges, befiehlt seinem Untergebenen, Di Jen-dsiä, dem Bezirksrichter von Peng-lai, sich unverzüglich zum Yamen[1] der Präfektur zu begeben, um dort an einer wichtigen Zusammenkunft teilzunehmen. Seine Eskorte soll sich auf das Allernotwendigste beschränken. Die Dauer seiner Abordnung wird auf etwa sieben Tage geschätzt.“ Es folgte die persönliche Unterschrift des Präfekten, eines Mannes, der keinen Wert auf formale Höflichkeitsfloskeln legte.
Der Empfänger dieses bedrohlich wirkenden Briefes schwankte zwischen Überraschung und Neugier: Was mochte der Grund für diese Sitzung sein? Es musste sich um eine bedeutsame Angelegenheit handeln, wenn sein Vorgesetzter nicht einmal das Risiko einging, diese in der Vorladung näher zu benennen. Allerdings pflegte die allmächtige Tang-Regierung die Geheimniskrämerei wie eine hohe Kunstform, selbst wenn es sich um belanglose Banalitäten handelte. Und das wäre ja auch alles recht und billig gewesen, wenn die Hauptstadt nicht sogar einen Sprachcode verwendet hätte, um ihrem Mitarbeiter die neuesten Anordnungen im Bereich des Passwesens mitzuteilen. Mit dieser Praxis zeigte man sich derart altmodisch und verbissen, vermutete ständig und überall Spionage aus dem Ausland, Geheimbünde, Menschen mit bösen Absichten – selbst in dem durchschnittlichsten aller Bürger. Die belangloseste Information erhielt einen vertraulichen Charakter, vor allem in diesen Hafenstädten, die der Rohheit der Barbaren von Übersee ausgesetzt waren. Jeder Nachricht wurde die gleiche Wachsamkeit zuteil, jeder Beamter stellte ein potenzielles Mitglied der Spionageabwehr dar. Tatsächlich überschritt das Misstrauen der Mächtigen gegenüber der Ehrlichkeit oder der Diskretion ihrer Untergebenen manchmal die Grenze zur Beleidigung.
Fest stand jedoch, dass diese Vorladung für Di eine wunderbare Gelegenheit war, sich von den provinziellen Routineangelegenheiten zu erholen, die ihm immer erdrückender zu werden schienen. Zweifellos wollte man ihn wegen irgendeiner heiklen Angelegenheit um Rat fragen, weil man seine ausgezeichneten analytischen Fähigkeiten schätzte; sein diesbezüglicher Ruhm hatte die Grenzen seines Bezirks längst überschritten. Endlich bekam seine Existenz wieder einen Sinn: Man erinnerte sich an ihn in den höchsten Kreisen! Das war sehr tröstlich.
Das Gebiet, das seiner Verantwortung unterstand, lag gegenüber der koreanischen Halbinsel, die erst vor Kurzem vom Kaiser mithilfe beeindruckender Truppenbewegungen unterworfen worden war. Inzwischen begehrten die Lehnsmänner jener Gegend auf. Auch zu Peng-lai gehörte ein Viertel, in dem hauptsächlich Koreaner lebten, von denen die meisten Kaufleute waren und mit dem Landesinneren Chinas dank des Flusses, dessen Verlauf bis zur Mündung von der Stadt kontrolliert wurde, Handel trieben. Somit würde das Schwerpunktthema des Treffens höchstwahrscheinlich die Küstenverteidigung bilden; oder genauer gesagt: die Überwachung der ausländischen Gemeinschaft.
Schlimmstenfalls würde er die Aufgaben eines oder zweier Würdenträger aus der Hauptstadt ausführen müssen, die in der Regel weniger kompetent als vor allem ehrgeizig waren, und die gern einmal herkamen, um die Provinzler mit ihrem Bücherwissen darüber zu erleuchten, wie man die Unruhen in den Häfen entlang der Grenze unterdrückte. Was ihn nicht im Geringsten kümmerte.
Pien-fu stand in dem Ruf, ein hübsches Städtchen zu sein, und dieser kurze sommerliche Ausflug war, wenn auch mit Arbeit verbunden, eine angenehme Abwechslung zu seinem vorherrschenden Missmut.
Weil der Befehl die sofortige Abreise erforderte, durfte er den Präfekten nicht warten lassen. Richter Di suchte daher die Gemächer seiner Gattinnen auf, in denen er allen dreien gut gelaunt und etwas zu strahlend mitteilte, dass er zu seinem Bedauern für ein paar Tage verreisen müsse. Seine Erste Dame akzeptierte die berufliche Verpflichtung, vermutete aber gleichzeitig, dass er darüber erfreut war. Obwohl er augenblicklich die sorgenvolle und erschöpfte Miene des armen, ausgenutzten Beamten aufsetzte, strafte ihn der leuchtende Glanz in seinen Augen Lügen.
In der Nachricht war gefordert worden, sich „auf das Allernotwendigste zu beschränken“, und so beschloss der Richter, inkognito abzureisen, als führe er in die Ferien, begleitet nur von einem einzigen Diener, was ihm auch die förmliche Etikette ersparen würde. Er wählte Miao Dai aus, einen alten Hauptmann, der an dem Feldzug von 661 gegen die verbündeten Streitkräfte der Koreaner und Japaner teilgenommen hatte. Miao Dai konnte ihm als Ratgeber nützlich sein, falls sich seine Vermutung hinsichtlich des Zwecks der Zusammenkunft bestätigen sollte. Di ließ zwei Pferde satteln, auf denen die Diener ihr Gepäck verstauten. Sie saßen auf und verließen ohne zu zögern das Gerichtsgebäude, um auf der langen Handelsstraße zum Süd-Tor zu gelangen. Nachdem man ihnen die schweren Bronzeflügel geöffnet hatte, ließen sie die niedrigen Mauern der Stadtbefestigung hinter sich und mischten sich unter die Planwagen in Richtung Präfektur. Als sich der Richter in der ersten Kurve umwandte und seine Stadt hinter den Bäumen verschwinden sah, konnte er sich einer gewissen Freude nicht erwehren.
*
Sie ritten nur zwei Tage, bis sie das Ziel ihrer Reise erreichten. Der Straßenverlauf bot ihnen einen vollständigen Blick auf Pien-fu: Die Stadt lag am Fuße eines Berges, von dem ein eindrucksvoller Wasserfall herabrauschte. Verschiedene Spazierwege verliefen die Hänge entlang, zwischen großen, hervorspringenden Felsen und dornigen Bäumen, die sich durch das Gefälle der Erde entgegenneigten. Das Ensemble präsentierte ein Bild ganz nach dem Geschmack der klassischen Malerei.
Sie stellten sich beim Wachposten an der Befestigungsanlage vor und fragten nach dem Weg zum Yamen. Das kaiserliche Siegel, das der Richter präsentierte, ersparte ihm sämtliche Formalitäten. Nachdem der Hauptmann einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, wies er ihnen begleitet von tiefen Verbeugungen den Weg.
Pien-fu machte seinem Ruf alle Ehre: Die Stadt gefiel ihnen von Anfang an. Im Allgemeinen waren die großen chinesischen Siedlungen rechtwinkelig und schnurgerade angelegt. Sie wirkten außerdem ziemlich traurig, da ihre Ladengeschäfte in Richtung der Innenhöfe ihrer Häuser öffneten, statt auf die großen Durchfahrtsstraßen hinauszugehen.
Ganz anders verhielt es sich in diesem Kurort, der den Erwartungen reicher Besucher entsprach, für die er ein Domizil zur Erholung war.
Jeder Reisende war an schmutzige Straßen gewöhnt, während die von Pien-fu systematisch gepflastert waren, was den Verkehr enorm erleichterte und dem Ganzen den Eindruck von üppigem Wohlstand verlieh, der vor allem auf Ordnung und Sauberkeit der Stadt zurückzuführen war. Sie war aufgrund ihrer warmen Quellen bekannt geworden, deren Nutzung die Ärzte zur Behandlung unterschiedlichster Leiden empfahlen – angefangen von eingewachsenen Nägeln bis hin zur Epilepsie.
Die Stadt verfügte über zahlreiche Badeanstalten, von denen eine prächtiger ausgestattet war als die andere. Ihre koketten Fassaden waren in den auffallendsten Farben gestaltet und der Name jeder einzelnen Einrichtung war in sich selbst ein pures Werbeargument: „Das Gesundheitswunder“, „Das ewige Wohlbefinden“, „Die Bäder der Jugend“ sowie andere Versprechen, die alle miteinander der wohltuenden Wirkung dieser Mineralbäder zur Ehre gereichen sollten.
Die Besucher waren vermögende Kurgäste, die kaum auf ihre Ausgaben achteten. In der Stadt gab es fast genau so viele Tempel, in denen man Opfergaben erbringen konnte, um damit Heilung zu erbitten oder der ein oder anderen Gottheit für die wiedererworbene Gesundheit zu danken. Dies war eine besondere Welt, in der man nichts von den gewöhnlichen Ärgernissen des Lebens außerhalb ihrer Mauern wusste. Die Bürger waren wohlhabend genug, um sich einen tatkräftigen Ordnungsdienst leisten zu können. Alles war äußerst ruhig und sauber. Wie es hieß, kamen sogar bestimmte Mitglieder des Hofes und der kaiserlichen Familie hierher, um die Heilquellen zu nutzen und die einzigartige Atmosphäre zu genießen.
Der Staat leistete seinen Beitrag zu diesem Erfolg, indem er militärische Streitkräfte vor Ort unterhielt, die sowohl beträchtlich als auch zugleich diskret waren. Es wäre mit einem Wort ein geradezu paradiesischer Ort für einen Richter gewesen, der sich nur für die angenehmen Seiten des Beamtendaseins interessierte. Darüber hinaus würde man aufgrund der Anwesenheit des Präfekten von einem Großteil der Verwaltungsaufgaben entbunden. Da hier praktisch keine Verbrechen begangen wurden, stand zu erwarten, dass man sich lediglich um die Steuern – den einmaligen jährlichen Geldsegen – zu kümmern hatte. Während der übrigen Zeit des Jahres galt es wohl, einflussreichen Höflingen zur Verfügung zu stehen, was bedeutete, oberflächliche gesellschaftliche Gespräche zu führen, um so diskret die persönliche Karriere zu fördern. Richter Di sagte sich, dass dieser Ort dauerhaft also gewiss noch langweiliger wäre als sein Peng-lai, diese Kloake, wenn auch auf andere Art und Weise.
Die üppig bepflanzten Gartenterrassen vor den einladenden Herbergen zogen die Aufmerksamkeit seines Begleiters auf sich. Miao Dai verspürte unübersehbar ein derartiges Verlangen nach einem Glas des regionalen Weins, dass sein Herr beinahe hören konnte, wie sich seine trockene Kehle vorsorglich befeuchtete.
„Edler Herr Richter …“, begann der alte Soldat.
„Einverstanden“, unterbrach ihn der Richter. „Wir machen eine kleine Pause, bevor wir uns zum Yamen begeben. Ich habe nichts dagegen, wenn ich mich noch etwas erholen kann, bevor ich dem Hofmeister des Gerichts gegenübertrete. Die Reise hat uns erschöpft, unsere Ankunft kann gut noch eine Stunde länger warten.“
Sie machten sich gerade daran, eine weniger bevölkerte Gartenterrasse aufzusuchen, als sie Rufe vernahmen.
„Di“, rief jemand. „Ach, na so was! Was für eine angenehme Überraschung!“
Nicht weit von ihnen entfernt winkte ihnen ein kleiner, wohlbeleibter Herr mit dünnem Schnurrbart und kurzem Kinnbart überschwänglich zu. Er saß vor mehreren leeren Krügen und halb verzehrten Speisen an einem Tisch. Richter Di erkannte in ihm den Richter Lo Kuan-chong, einen seiner Kollegen, den er häufig in der Hauptstadt besucht hatte, wobei es sich öfter um feuchtfröhliche Begegnungen in literarischen Kreisen gehandelt hatte als um berufliche, denen der gute Mann für gewöhnlich aus dem Weg ging.
„Ach, setzen Sie sich doch!“, rief Lo. „Guten Wein kann man wirklich nur in angenehmer Gesellschaft genießen!“
Richter Di stellte fest, dass sein Kollege gewissenhaft seinen Lieblingsbeschäftigungen huldigte: dem Trinken und dem Schreiben im Schatten einer Laube. Er bemerkte eine Gruppe von Dienern, die nur ein paar Schritte entfernt mit dem Gepäck auf einer Bank Platz genommen hatten; auch Pferde hatten sie dabei. Die beiden Männer stiegen ab, um den Dichter zu begrüßen.
„Die Göttin der Muse hat mich in dem Augenblick geküsst, als ich an diesen prächtigen Gartenterrassen vorbeikam“, erklärte Richter Lo. „Man darf sie niemals missachten, sie könnte sich gekränkt fühlen und lange Zeit ausbleiben!“
Di fragte ihn, welch glückliche Fügung ihn hierhergeführt habe. Lo antwortete, dass ihn der Präfekt zu einer höchstwahrscheinlich recht langweiligen Sitzung wegen irgendeiner Geheimsache herbeordert habe. Sofort stieg die Enttäuschung in Richter Di hoch: Er war also doch nicht wegen einer ernsthaften Angelegenheit herbeigerufen worden. Schließlich hatte sein Kollege, der mehr ein Träumer als ein fähiger Beamter war, dieselbe Aufforderung erhalten!
„Ich bin sehr erfreut, Sie hier zu sehen“, sagte Lo. „Ich hatte die Befürchtung, dass die Konferenz stumpfsinnig und langweilig werden würde, aber dank Ihrer Anwesenheit dürfte der Aufenthalt unter den denkbar günstigsten Vorzeichen stehen!“
Di gab ihm das Kompliment zurück, obwohl er genau gegenteiliger Meinung war. Im Nu war die Möglichkeit, dass es bei diesem Aufenthalt darum gehen könnte, ein seltsames Rätsel lösen zu müssen, verflogen. Er war versucht, sich ebenfalls dem Alkohol hinzugeben – wenn auch ohne die Hoffnung, dass dadurch ein hübscher Vers zustande kommen würde –, und hielt Miao Dai sein Glas hin, der es mit einer berauschenden Substanz füllte.
Die beiden Kollegen tauschten die üblichen Höflichkeitsfloskeln über das gesundheitliche Befinden ihrer jeweiligen Gattinnen aus, was im Falle Los immer ziemlich lange dauerte, denn während Di sich klugerweise mit drei legitimen Frauen begnügte, unterhielt sein Kollege neben fünf Hauptfrauen auch zahlreiche Konkubinen – einen beachtlichen Harem – den er genauso unmäßig genoss, wie er Saufgelagen frönte und sich gewissen anderen speziellen Gelüsten hingab.
„Wissen Sie übrigens, dass wir nicht die einzigen sind, die man hergebeten hat?“, fragte Lo mit munterer Stimme, die verriet, dass er bereits zahlreiche Gläser zu sich genommen hatte.
Richter Di fragte sich, wie lange er wohl schon am Tisch sitzen mochte. Seine Diener schienen gut gesättigt; zweifellos hatte man ihnen erlaubt, in aller Ruhe eine volle Mahlzeit einzunehmen, während sich ihr Herr jener Beschäftigung hingab, die er „situationsbedingte Dichtung“ nannte.
„Ach ja?“, entgegnete Di und zählte aus dem Augenwinkel die leeren Krüge.
„Als ich schrieb, konnte ich sehen, wie Mei vorbeikam, dieser alte Ziegenbock von einem Richter. Zum Glück konnte ich mich hinter meinem Notizheft verbergen. Und jetzt hören Sie mal: Dieser traurige Mensch hat an Ansehen verloren. Er ist so geizig geworden, dass er scheinbar kleine Geschenke seiner Mitbürger annimmt, ungeachtet des ausdrücklichen Verbots solcher Praktiken! Wie kann ein Richter sich derart nachlässig in Verruf bringen und dabei riskieren, unserer ganzen Profession zu schaden? Das kann ich nicht verstehen!“, schloss Lo und füllte mit unsicherer Hand erneut sein Weinglas nach.
„Das wird ja immer besser!“, dachte Richter Di. „Zuerst ein alkoholischer Müßiggänger und jetzt auch noch der unangenehmste Kollegen von allen.“
„Und das war's noch immer nicht!“, fuhr Lo fort. „Kien Fang-te folgte ihm kurz darauf. Es sah aus wie das reinste Richter-Schaulaufen.“
„Kien Fang-te?“, wiederholte Richter Di und kramte in seinem Gedächtnis. „Der sagt mir nichts.“
„Na, hören Sie!“, rief Lo, der in gesellschaftlicher Hinsicht viel bewanderter war als sein Freund. „Den kennt doch wirklich jeder! Er bekleidet einen Posten im landwirtschaftlichen Nachbarbezirk. Wie kann man denn noch nie von ihm gehört haben? Sie sollten die gesellschaftlichen Abende nicht so vernachlässigen, älterer Bruder! Dieser Kien ist in aller Munde – sowohl wegen seiner körperlichen Vorzüge als auch wegen seiner Liebschaften. Er hat eine der Töchter des hiesigen Präfekten geheiratet, und der hat Kien entscheidend zu seinem Posten verholfen, ungeachtet seiner nur mittelmäßigen Erfolge bei literarischen Wettstreiten. Nie hat er sich eine Nebenfrau genommen, um seinem Schwiegervater deutlich zu zeigen, wie sehr er diese heilige Nachfahrin respektiert, die er ihm höchst ehrenvoll anvertraut hat. Aber der Präfekt müsste schon taub sein, wenn er noch nichts von all den zahllosen Skandalen gehört hat, in die dieser aufgeblasene Schönling verstrickt gewesen ist. Da haben wir wieder einen, der unseren Berufsstand beschmutzt!“
Di begann, sich nun doch langsam an den Namen Kien Fang-te zu erinnern, und zwar im Zusammenhang mit irgendeinem Gerede, das einen unangenehmen Beigeschmack gehabt und dem er kaum Beachtung geschenkt hatte. Nun fiel ihm sogar wieder ein, dass über diesen Menschen in den Frauengemächern seines eigenen Heims gesprochen worden war. Über diese Dinge wussten seine Gattinnen wohl weit besser Bescheid als er selbst. Der Ruf, mehr Verführer als Richter zu sein, war Kien Fang-te von einem Bezirk in den anderen vorausgeeilt. Die Damen empfanden einen prickelnden Reiz, wenn sie von seinen schlüpfrigen Abenteuern hörten. Es bestand kein Zweifel daran, dass lediglich die Protektion und die Macht des Präfekten den extravaganten Ehebrecher davor bewahrt hatten, in seiner beruflichen Position einige Stufen abzusteigen, was gewisse Leute ganz sicher gern gesehen hätten.
„Aber meiner Treu“, sagte Richter Di, „das ist ja eine Zusammenkunft von unverbesserlichen Sündern, zu der man uns da bestellt hat!“
„Gewiss“, bestätigte Lo zwischen zwei Schlucken. „Ich sehe nur uns beide, Sie und mich, unbefleckt aus dieser Masse herausstechen.“
Richter Di seufzte vernehmlich. Als ihm klar wurde, dass sein Gesichtsausdruck seine Einstellung zu diesem Punkt verraten könnte, erhob er sich, um vom Thema abzulenken und kündigte an, dass es nun an der Zeit wäre, sich zum Yamen zu begeben.
Lo versuchte, sich aus seinem Sessel zu erheben, doch der schien an seinem Hintern festzukleben. Er machte daher seinen Dienern ein Zeichen, denen diese Problematik offenbar wohlbekannt war und die sich beeilten, ihrem Herrn behilflich zu sein. Sie mussten ihn unter den Armen stützen, um ihn bis zu seinem Reittier zu führen, das er dann mit allergrößter Mühe erklomm.
„Sie bedienen sind nicht einer Sänfte?“, wunderte sich Richter Di. Er war der Meinung, dass eine Beförderung in horizontaler Lage viel besser zu den kleinen gastronomischen Pausen gepasst hätte, die der Reisende so gern einlegte.
Lo setzte angesichts dieses Kommentars und der Anspielung auf seine materiellen Engpässe eine säuerliche Miene auf. „Nein, leider nicht!“, jammerte er. „Ich habe große Ausgaben zu bestreiten, wissen Sie? Meine kleine Familie kommt mich teuer zu stehen. Ich muss daher ziemlich schmerzhafte Prioritäten setzen“, schloss er und massierte sich die Nierengegend.
Das stimmte natürlich, denn man konnte nicht zehn Frauen, deren Dienerinnen und die Kinder unterhalten, zahllose Feste feiern und den Großteil der Zeit mit Nichtstun verbringen und dann auch noch sämtliche alltäglichen Bequemlichkeiten beibehalten.
Sie hatten das Ende der Straße noch nicht erreicht, als ein enormer Krach sie dazu veranlasste, sich umzudrehen. Hinter ihnen hatte eine prachtvolle Equipage eine Menge neugieriger Gaffer angezogen. Mehrere Ausrufer und Standartenträger schritten einer schnellen und bequemen Sänfte voran, die von zwölf Männern getragen wurde. Zwei Berittene in kupferfarbenen Rüstungen eröffneten den Zug, und zwei ebensolche beschlossen ihn.
Ein derartiges Gefolge war nicht zu übersehen.
„Platz, ihr Leute!“, riefen die gelb-blau livrierten Diener unentwegt und schlugen dabei auf ihren Gong. „Schafft Platz für Seine Exzellenz!“ Die goldbestickten Banderolen verkündeten in großen Buchstaben: Seine Exzellenz, der hochverehrte Richter Dao-Li Song, Erster Bezirksrichter von Hai-po, ist dienstlich unterwegs. Eigentlich wäre die schlichte namentliche Nennung seines Bezirksgerichts ausreichend gewesen an Information. „Macht Platz für Seine Exzellenz!“, befahlen die Ausrufer weiterhin lautstark, als würde der Kaiser höchstpersönlich die Stadt mit seinem Besuch beehren. Die Anwesenheit von zwölf Trägern statt der üblichen acht war nicht umsonst: Sie mussten nicht nur den „hochverehrten Richter Dao-Li“ transportieren, der wahrscheinlich hinter den dicken seidenen Vorhängen auf ebenso seidenen Kissen ruhte, sondern vor allem auch den zahlreichen Schnickschnack, der die Sänfte verzierte und das gesamte Gefährt beschwerte: vergoldete Skulpturen, Wappen und Federbüsche in den Farben des Familienclans, dem der Richter angehörte.
Richter Di und seine Gefährten hatten keine andere Wahl, als der Sänfte schnellstmöglich auszuweichen, die mit einer Entschlossenheit an ihnen vorbeiraste, die niemand hätte bremsen können.
„Dao-Li?“, las Richter Di. „Wer ist denn das nun wieder?“
„Wie?“, entrüstete sich Lo. „Kennen Sie denn den Sohn des Grafen von Pu nicht? Der hat jedenfalls keinerlei finanzielle Probleme! Er entstammt einer alten und ehrwürdigen Familie, deren Einkünfte es ihm erlauben, mit einem derartigen Gefolge umherzuziehen, um seinen Rang vorzuführen. Also, den Rang eines edlen Erben, meine ich natürlich. Für all seine und unsere Ämter hat er nur Verachtung übrig, wie Sie sehr schnell feststellen werden.“
Als der Konvoi an ihnen vorübergezogen war, setzten sie ihren Weg zum Yamen fort. Lo erging sich derweil ununterbrochen über den ungerechten Vorteil der Geburt; Gedanken, die weder Alkohol noch Dichtkunst zu besänftigen vermochten. Di runzelte die Stirn bei der Vorstellung, dass die Hälfte der hiesigen Richter zu dieser geheimen Versammlung beordert worden war und dass man ihn, sollte der Präfekt von seinen persönlichen Fähigkeiten profitieren wollen, arglistig hintergangen hatte.
***
[1] Anmerkung des Übersetzers: Gerichtsgebäude.