Dr. Marion Meier

Kriegsverletzung Traumaerbe. "Gut, dass es ein Mädchen ist."

Erinnerungen

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1

Teil 2

Seemannskindheit

Impressum neobooks

Teil 1

„1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen machen.“


(Patrick Modiano, Nobelpreis für Literatur 2014)


Für Tino


Für alle Kinder und Enkel, deren Leben durch die Traumata ihrer Eltern und Großeltern als Folge von Krieg, Flucht und Vertreibung beeinträchtigt ist.

In Deutschland und überall.


Vorwort


Gut, dass es ein Mädchen ist, soll mein Vater bei meiner Geburt zwei Jahre nach Kriegsende gesagt haben, sie muss nicht Soldat werden.

Soldatin war ich nie. Und trotzdem: Der Krieg hat auch mich schwer verletzt.


Krieg macht krank.

Den Körper und die Seele.

Verletzt und krank werden nicht nur unmittelbar Betroffene - Kämpfende, Flüchtende, Vertriebene, Ohnmächtige, Geschundene – sondern oft auch diejenigen Generationen, die danach kommen, die Kinder und die Enkel. Darüber ist in den vergangenen 10 Jahren viel geforscht, erzählt und geschrieben worden. Über Gefühle wie Angst und Schrecken, Schuld und Scham, Schmerz und Einsamkeit, Leere und die Unfähigkeit zu lieben, zu leben und zu trauern: intensive und das Leben stark beeinträchtigende Gefühle, deren Ursache die Betroffenen in ihrem eigenen Leben nicht finden können. Es sind möglicherweise die traumatischen Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen unserer Eltern und Großeltern, die an uns, ihre Kinder und Enkel, weitergegeben werden. Dieser Prozess und dessen Wirkung hat einen kompliziert klingenden Namen: Transgenerationale Übernahme von Traumata als Folge von Krieg, Flucht und Vertreibung. Wie ist das möglich? Was hab ich mit meinem Soldatenvater und dessen Erlebnissen als Täter oder Opfer zu tun? Was mit den Erfahrungen meiner BDM-Mutter? Was mit den Vergewaltigungen meiner Großmutter durch die Sieger?

Es ist die uns allen innewohnende Kraft der Resonanz, die uns mitfühlen lässt, z.B. mit dem Leid als Folge von verstörendem Ohnmachtserleben unserer Eltern und Großeltern, das lange her, aber immer noch wirksam ist. Und dies gilt vor allem für solche Erfahrungen, die ein Leben lang verschwiegen werden, für Geheimnisse, für Unaussprechliches.

Wenn Sie eine Traumafolge an Ihre Kinder weitergeben wollen, dann verschweigen Sie diese. Sie erreichen dadurch, dass die Kinder besonders neugierig werden und besonders empfänglich für das, woran Sie leiden. Das wollen Sie natürlich nicht, aber Ihre Eltern und Großeltern, die diese Konsequenz höchstwahrscheinlich auch nicht wollten, haben so gelebt und so gehandelt (Baer/Frick-Baer, 2015).

Es lohnt sich also, auf Spurensuche zu gehen. Eltern und Verwandte zu fragen, solange sie noch leben. Das kostet manchmal Überwindung und manchmal ist die Antwort Schweigen. Immer noch. Trotzdem: Es lohnt sich. Dieses biografisch-dokumentatische Buch soll Mut machen.


Ich danke euch für eure Fragen“, sagt der 80jährige weinende Zeitzeuge Martin Goldstein in einer Düsseldorfer Schule, “das ist meine Heilung... ich habe ja 50 Jahre nichts erzählt.“ (Meier, 2013)


„Erzähl!“, raten Traumaexperten. Das hilft, die Erinnerungssplitter zu einem Ganzen zusammenzufügen, die Ganzheit zu rekonstruieren. Mach aus dir einen erzählenden Zeitzeugen. Bedingungslose Offenheit schafft Verbundenheit mit anderen, hilft dir und anderen, sich zu erinnern; motiviert sie, ebenfalls von ihren Erlebnissen zu berichten. Solche Erzählungen helfen, „vergessene“ Erinnerungen ins Leben zurückzuholen.

Und wenn die traumatisierten Kriegsopfer nicht selbst erzählen können und das Ungesagte „vererbt“ wird, dann hilft das Erzählen den „Erben.“


Mein langer Weg



Der dicke Leitz-Ordner hieß Oslo. 33 Jahre lang stand er ganz unten im Regal zwischen Finanzamtsangelegenheiten und Rente. Mehr als 10 Umzüge hat er überlebt. Jetzt ist er nur noch ein Haufen Asche.

33 Jahre lang habe ich recherchiert, notiert, telefoniert; Briefe, Dokumente und E-Mails ausgetauscht. Ich habe geweint, gewütet, getrauert, gehofft und war verzweifelt, habe aber nicht davon lassen können. Auch wenn es immer wieder Pausen von mehreren Jahren gegeben hat, in welchen mir der Ordner egal war.

Ich wollte wissen, warum mein immer gut gelaunter, fremder und mir doch so naher Vater so traurige Augen hatte. Und warum er so viel Alkohol trank. Was ihn letztendlich auch umgebracht hat. Er ist als Radfahrer mit viel Alkohol im Blut tödlich verunglückt.

Es musste mit dem Krieg zu tun haben. Das war sicher. Aber das war lange Zeit die einzige diffuse Sicherheit. Da war was mit Nazis, Norwegen, Todeszelle, Selbsttötungsversuch... Ich wollte es genau wissen. Ihn zu fragen war nicht mehr möglich. Und zu Lebzeiten hat er kaum darüber gesprochen.

Aus anfänglich politischem Interesse und aus Mitgefühl für meinen Vater wurde bald eine sehr persönliche Motivation zur Erforschung meiner (Familien-) Geschichte; denn ich erlebe seit einigen Jahren scheinbar todbringende Panikattacken: Ich fühle mich dann bedroht von Menschen und Krankheit, von Enge und Weite, von Menschenmassen und vom Alleinsein... In diesen Momenten fühle ich meine Körpergrenzen sich auflösen, spüre das Leben langsam aus mir herausfließen begleitet von einer unbeschreiblichen Angst.


Die Straßenbahn hält jeden Morgen unten am Fuß des Berges. Zehn Minuten Anstieg, und ich bin da; an einem Arbeitsplatz, der mir das Leben mit meinem kleinen Kind möglich macht. Es ist ein Teilzeitjob, der darüber hinaus auch noch richtig gut bezahlt ist. Nach Feierabend am frühen Nachmittag kann ich auf dem Weg nach Hause meinen Sohn von der Krabbelgruppe abholen, den Rest des Tages mit ihm verbringen und jeden Tag auf‘s neue staunend und dankbar seinem Wachsen zuschauen.

Der Job als Lehrerin passte ideal zur damaligen Lebenssituation als alleinerziehende Mutter. Dachte ich. Ich verdiente genug, hatte Zeit für meinen Sohn und war weiterhin an Forschungs- und Buchprojekten aus meinem vorherigen Leben ohne Kind beteiligt. Eigentlich ideal. Wir „neuen Mütter“ konnten eben alles und auch alles allein. Dachten wir.

Neid und Missgunst dominierten sehr bald meine alltägliche Erwerbsarbeit in einem multiprofessionellen Team, in welchem einige Kolleginnen oft genug mehr als 8 Stunden am Tag schufteten, während ich nach fünf Stunden heim fuhr, viel mehr verdiente und darüber hinaus auch noch meistens gut gelaunt war.

Das mit der guten Laune legte sich allerdings bald. Die Blicke der Kolleginnen, die am Fenster standen und mir nachschauten, wenn ich den Arbeitsplatz Richtung Straßenbahnhaltestelle verließ, spürte ich als stechenden Rückenschmerz, der von Monat zu Monat heftiger wurde.

Eines Tages auf dem Weg zur Arbeit, ich war gerade aus der Bahn gestiegen, wurde mir so schwindlig, dass ich voller Panik sofort wieder umkehren musste, um die gerade ankommende Straßenbahn zurück nach Hause zu nehmen. Hier konnte ich mich hinsetzen. Das Brausen im Kopf legte sich ebenso wie das heftige Herzklopfen und die unbeschreibliche Angst.

Dasselbe wiederholte sich am nächsten Tag und am nächsten und am nächsten....Bis zu meiner Kündigung.

Obwohl ich diese Panik in den zurückliegenden Jahren schon x-mal erlebt und erlitten habe, kommt es jedes mal völlig überraschend, wie der Blitz aus heiterem Himmel, und mit der immer gleichen heftigen Wucht.


Mir war von Anfang an klar: Diese Angst hat mit meinem bis dahin gelebten Leben nichts zu tun; denn das erschien mir überwiegend heiter und gelungen. Und diese Gewissheit war in mir Jahrzehnte vor der Diskussion um transgenerative Affektübernahme durch Kinder und Enkelkinder von traumatisierten Kriegsopfern. Ich war mir ganz sicher. Diverse psychotherapeutische Hilfen haben mir diese existenziellen Ängste nicht nehmen aber erklären und lindern können. Bis heute.

Ich las an die hundert Bücher und sah jeden Film, der etwas mit diesem Thema zu tun hatte. Ich korrespondierte mit den öffentlichen „Erinnerungsstellen“ wie der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Wehrmacht in Berlin, mit deutschen und norwegischen Zeitzeugen und Historikern, mit Familie und Freunden, mit Journalisten vom STERN, die 1978 die „Filbinger Affäre“ öffentlich machten, mit Wibke Bruhns nach der bewegenden Lektüre ihres Buches „Meines Vaters Land“ und und und...

Diesen allen, einige sind schon gestorben, danke ich für Ihre Offenheit und ihr Bemühen mich zu unterstützen, für ihre immer wiederkehrenden Ermutigungen: Es ist ein langer, harter Weg, aber gib nicht auf. Es lohnt sich.

Und ich danke meinem Großvater; denn mein langer und harter Weg beginnt 1904 in Hamburg, führt mich durch Europa, Afrika, Lateinamerika und die USA; auf Ozeanen und an Land, zu Fuß, in Kutschen, Bussen und Zügen sowie auf Segelschiffen, Dampf- und Kriegsschiffen.

Dieser Weg beginnt in dem Moment, da mein Hamburger Opa, Seemann wie sein Sohn Rolf, mein Vater, sich hinsetzte, um seine „Lehr- und Wanderjahre“ aufzuschreiben.

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