ISBN: 978-3-903059-30-6
1. Auflage 2017, Krems an der Donau
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Ich sitze im Flugzeug nach Madrid. Unter mir sind die Alpen. Ich schau interessiert hinunter auf die verschneiten Berge, weil ich seit einigen Tagen weiß, dass in einem dieser Südtiroler Täler der Dichter Marlowe die Schauspielerin Micaela de Luján geheiratet hat. In einer kleinen katholischen Kirche.
Dass es eine katholische gewesen ist, hat sicher die Spanierin gewollt, denn ihm waren alle Kirchen egal, seit der Zeit, als er nach seinen täglichen Morgenmessen im Dom von Canterbury, aufgrund eines Stipendiums seines Bischofs, endlich die Gewölbe seines Kindheitsdomes gegen die Hörsäle der Universität Cambridge vertauschen konnte. Er interessierte sich zwar auch weiterhin für Kirchliches, aber er hat dann alle ‚heiligen Geschichten‘ doch immer weniger geglaubt.
Genau deswegen ist dieser Dichter Christopher Marlowe für die Entwicklung der englischen Gesellschaft wichtig, weil er schon als junger Mann in seinen ersten Stücken, also noch vor seinem fiktiven Todesjahr 1593, alle traditionell anerkannten Regeln in Frage gestellt hat, die ihm und den anderen Engländern bis dahin in Schulen und Kirchen, in Predigten und Verlautbarungen eingebläut worden waren. Das höchste Gut, das einzige Glück wäre nicht die ‚Versenkung in Gott‘, hat er geschrieben, sondern: ‚der Besitz der Krone‘.
Die ‚damit verbundene Macht‘, meinte er also.
Es zählt weder eine ‚Hierarchie des Blutes‘, noch eine gottgewollte ‚legitime Autorität‘, keine vererbte Verpflichtung zum Gehorsam, keine moralische Beschränkung, nein, das Entscheidende ist allein das Streben nach der direkten Macht.
Der ‚Heidenkönig‘ Tamerlan in Marlowes gleichnamigem Stück ist die dafür typische Hauptfigur. Nichts hält den Mann zurück. Keine Furcht vor einem Gegner, keine Rücksicht auf die Familie, keine Achtung vor einer etablierten Ordnung –, alles, was sich ihm in den Weg stellt, wird überrannt. Und das für mich Erstaunlichste ist: Das Londoner Publikum hat jeden Abend über diese Rücksichtslosigkeit gejubelt.
Ich weiß, dass die meisten Wissenschaftler lange geglaubt haben, Marlowe wäre im Jahr 1593 im Londoner Stadtteil Deptford ermordet worden, aber auf Grund einiger Unterlagen kann man annehmen, dass er in dieser speziellen Nacht mit Hilfe seiner Freunde vom Secret Service nach Frankreich fliehen konnte. Wo er – trotz seiner verschiedenen Decknamen – erst in Reims und dann in Ferrara schnell von mehreren Engländern erkannt worden ist.
Er galt bis zu seinem Verschwinden in London als ein hochbegabter, wenn auch etwas verspielter und undisziplinierter Dichter, bei manchen allerdings eher als ein betrunkener Müßiggänger, großer Fresser und Tiradenschreiber, der ausschließlich für seine ständige Geldknappheit und seine phänomenale Geschicklichkeit beim Kartenspiel berühmt gewesen ist.
Mich hat er allerdings immer schon interessiert. Schon als Student. Weil er eben sehr früh, schon um 1590, eine Handvoll hochinteressanter Stücke im Sinn der europäischen Aufklärung geschrieben hat.
Verständlicherweise ist er zwar daraufhin von der Kirche vorgeladen und angeklagt worden, konnte aber mit dem Wissen seiner Königin von wichtigen Männern ins Ausland gebracht werden.
Vor allem hat mich die Frage immer interessiert: Hat ein so begabter Mann nun die Hände in den Schoß gelegt? Ich hab mich gefragt: Wo hat der Mann in den nächsten Jahren gelebt? Mit wem? Wen hat er getroffen? Was hat er geschrieben?
Und weil es, soviel ich weiß, noch kein Buch gibt über sein ‚Leben nach dem Tod‘, habe ich alles, was ich darüber fand, im Anhang dieses Buches zusammengetragen. Wobei ich auch versucht habe, in den zeitgleichen Globe-Theatre-Stücken Widerspiegelungen seines Exillebens anzudeuten.
Als ich nämlich gesehen habe, dass Marlowe in Spanien nicht nur den weltberühmten Autor Cervantes getroffen hat, der zur selben Zeit im spanischen Geheimdienst gewesen ist – und auch wie Marlowe gestottert hat –, und dass mein Dichter nicht nur den weltberühmten Roman ‚Don Quichote‘ als Erster ins Englische übersetzt hat, sondern dass Marlowe auch die Geliebte des großen spanischen Dramatikers Lope de Vega tatsächlich in Südtirol geheiratet hat, hab ich beschlossen, aus dem Wust der literarischen Fakten eine Novelle zu machen. Die kleine Liebesgeschichte der Spanierin Micaela de Luján mit Christopher Marlowe aus Canterbury.
Eine Novelle sei eine kurze Erzählung in Prosa, sagt Goethe. Sie bringt eine ‚unerhörte Begebenheit‘. Das ist in meinem Fall der erfundene Mord an Christopher Marlowe. Und dann erzähle ich die Liebesgeschichte mit vielen Dialogszenen, denn die Novelle sei nach Theodor Storm die reguläre ‚Schwester des Dramas‘.
Kurz zu den Fakten: Da man genauere Geheimdienstberichte über Marlowes Leben im Exil erstmals bezüglich seines Aufenthalts in Spanien gefunden hat, fliege ich heute nach Madrid, um der spanischen Wahrheit ein paar Kilometer näherzukommen. Ich denke, mein Freund Fernando Garzaroli wird mir einiges sagen können. Er hat mit mir von 1956 bis 1960 bei Professor Kindermann in Wien Theaterwissenschaft studiert, ich ging nach der Promotion an die Catholic University in Washington DC, um Deutsch zu unterrichten, aber er, Fernando, Priester und überzeugtes Mitglied des Opus Dei, ging – nicht überraschend für uns – nach Spanien und begann in Madrid sofort beim Fernsehen zu arbeiten.
Schon bei Kindermann hatte er eine Seminararbeit über Cervantes geschrieben, und als ich dann beim ORF tätig war und ihn bei einer unserer Koproduktionstagungen in Barcelona wiedertraf, sagte er mir gleich, er arbeitete mittlerweile an einer Biographie dieses spanischen Dichters, und das passte doch genau, dachte ich letzte Woche, Fernando Garzaroli ist mein Mann! Und schon sitze ich im Flugzeug.
Zur Begrüßung sagt mir mein Freund Fernando allerdings, er persönlich habe diesen englischen Brachialdramatiker nie leiden können.
„Wie? Meinen Marlowe?“
„Ja. Dein Dichter hat in seinem ‚Juden von Malta‘ den Barabas als einen ganz miesen Juden auf die Bühne gestellt. Dieser natürlich wieder sehr reiche Jude geht jede Nacht durch die finstersten Gassen, um alle christlichen Brunnen zu vergiften!“
„Aber dieses Jugendstück hat mein Dichter doch schon um 1590 geschrieben! Es gab zu der Zeit in London keinen einzigen Juden mehr. Im Jahr 1290, lange vor der Vertreibung aus Spanien, haben die Engländer schon alle Juden aus England vertrieben gehabt. Die Engländer waren die Ersten in der mittelalterlichen Christenheit, die das getan haben. Einfach so. Es gab keine Krise, keinen Notstand, keinerlei öffentliche Erklärung. Kein Jurist hielt es für erforderlich, diese Deportation, diese Auslöschung zu rechtfertigen. Kein Chronist machte sich die Mühe, offizielle Gründe aufzuzeichnen. Also, du siehst: Zirka 300 Jahre später, zur Zeit der Aufführung des ‚Juden von Malta‘, gab es in London schon lange keine Juden mehr. Das Stück ist reine Phantasie.“
„Bei deinem Dichter ist nichts reine Phantasie!“
„Ich mach dir einen Vorschlag, Fernando: Wir sind hier weder in London noch in Malta, sondern ich bin hier in Madrid, weil mein Dichter sich in eine Spanierin verliebt hat. Können wir nicht erst einmal dieser Geschichte nachgehen?“
Fernando nickt, und schweigend fahren wir vom Flugplatz direkt zum Cervantes-Denkmal auf der Plaza de España, um den alten Herrn hier im Barrio de Palacio gleich persönlich zu begrüßen.
Ich freu mich immer, wenn ich dieses Denkmal sehe. Da reitet der heroische, dürre Bronzeritter mit seiner langen Lanze auf seiner Rosinante vorne weg, neben ihm der dickvergnügte Sancho auf seinem Esel, und über beiden thront lächelnd der Dichter …
„Findest du nicht auch, er sieht richtig allwissend aus?“, frag ich.
„Ja, und du wirst lachen: Er ist es auch! Er ist der begabteste Spanier, der je gelebt hat. Aber weißt du übrigens, dass Cervantes, so wie ich, auch aus einer jüdischen Familie kommt? Sein Vater stammt aus einer Conversos-Familie. Also aus einer Familie, die zum Christentum übergegangen ist, und dein Dichter …“
„Also, mein Dichter war weder jüdisch noch sonst was, es gibt in seinen Stücken zwar Idealisten, aber irgendeine Kirche als Institution hat mein Dichter nie bewundert. In keinem Stück!“
„Und in ‚Romeo und Julia‘? Was ist mit dem Bruder Lorenzo? Das ist doch eine sehr sympathische Figur …“
„Ach bitte, dieser Bruder Lorenzo ist doch wirklich keine wichtige Figur in der kirchlichen Hierarchie! Nein, mein Dichter war ein kritischer Absolvent der Universität von Cambridge und …“
„Ja, ich weiß. Und er starb sehr jung. In diesem Wirtshaus an der Themse.“
„Eben nicht in diesem Wirtshaus an der Themse. Denn er ist ja schon als Student Mitarbeiter des Secret Service gewesen …“
„Ah ja? Schon damals? Warum?“
„Die genauen Umstände waren zu seiner Studienzeit natürlich streng geheim, und sie sind heute, nach 400 Jahren, immer noch sehr undurchsichtig, aber es sieht so aus, als sei Marlowe tatsächlich als Student von dem mächtigen Sir Francis Walsingham, dem Spionagechef der Königin Elisabeth, für das Secret Service angeworben worden, und er wurde offenbar sofort nach Frankreich an die neue Jesuitenschule von Reims geschickt, wo er die katholischen Studenten aus England aushorchen sollte, die in Reims von römischen Jesuiten unterwiesen wurden, wie man die protestantische Königin in London am schnellsten stürzen könnte.“
„Und?“
„Was er an Informationen über diese Jesuiten-Verschwörung erfahren konnte – wie auch über die Pläne einer damit zusammenhängend geplanten spanischen Invasion durch Philipp den Zweiten –, hat er seinen Vorgesetzten in London direkt weitergegeben. Er muss sehr erfolgreich spioniert haben, denn die Männer des Privy Council, also die Männer des Kabinetts der Königin, schrieben im Jahr 1587 an die zuständige Stelle in Cambridge, man möge dem jungen Dichter trotz seines häufigen ‚unentschuldigten Fernbleibens‘ während des Semesters den Magister Artium, bitte schön, sofort zuerkennen.“
„Dein Dichter war also 1593, als er überaus plötzlich in den Untergrund gehen musste …“
„… schon ein erfahrener Spion, und dein Cervantes, den er hier in Spanien getroffen hat …“
„… war auch schon längere Zeit ein Mitarbeiter unseres spanischen Geheimdienstes, ja, das weiß ich natürlich.“
„Und beide haben gestottert.“
„Möglich …“
„Aber weil Marlowe eben schon vor seinem fiktiven Tod Mitarbeiter des Secret Service gewesen ist,“ sage ich sehr deutlich, damit mein Freund das nie mehr vergisst, „haben ihn die Leute, die daran ein Interesse hatten, dass er nicht gefoltert wird, noch schnell rechtzeitig abgeschoben. Weil er ja immer wieder laut und unvorsichtig gesagt hat, Jesus wäre ein Bastard, seine Mutter eine Hure, Moses wäre ein Betrüger, der die unwissenden Juden absichtlich getäuscht hätte, und vor allem: Das Alte Testament wäre ein sehr schlecht geschriebener Text. Ja, das hat er alles gesagt, und doch war er der beste Freund von deinem Cervantes.“
„Das musst du mir erst beweisen! Also, dein Dichter kam nach Spanien, schrieb aber weiter seine Stücke für London? Warum?“
„Dichter dichten immer! Sonst wären sie keine Dichter. Ob das wem passt oder nicht, sie schreiben. Mein Dichter hat mehr als 80 Stücke geschrieben, und einige hat er nach London geschickt, und ein anderer hat sie dort aufgeführt. Manche behielt er sich auch hier und …“
„Wer hat die dort aufgeführt?“
„Der Theaterunternehmer Shakspere. Der hieß so.“
„Natürlich. Also gut. Nehmen wir an, der hieß so. Aber wie willst du mir jetzt beweisen, dass dein Dichter und mein Cervantes tatsächlich Freunde gewesen wären?“
„Mein Dichter hat Randnotizen auf mehreren Manuskripten hinterlassen. Er hat zum Beispiel festgehalten, dass er selbst eines der Vorbilder für den pfiffigen Sancho auf dem Esel gewesen sei. Im Zusammenhang mit einem gewissen Cardenio.“
„Bitte, wo steht das?“
„Im 33. und im 34. Kapitel des ‚Don Quichote‘. Den hat er ja auch als Erster ins Englische übersetzt. Aber was mich mehr interessiert: Hat es hier in Spanien tatsächlich eine Schauspielerin mit dem Namen Micaela de Luján gegeben?“
„Ja, das ist eine berühmte Person gewesen. Sie war die Freundin des ruhmreichen Dramatikers Lope de Vega.“
„Aber geheiratet hat sie meinen Dichter! Keinen südlichen Liebhaber, sondern meinen Engländer!“
„Warum sie unbedingt einen Engländer geheiratet hat, kann ich dir nicht sagen, aber warum er sie geheiratet hat, das schon. Sie muss eine außergewöhnlich gewinnende, intelligente und selbstbewusste Frau gewesen sein.“
„Wo, denkst du, könnten Marlowe und diese Sängerin sich hier in Madrid kennengelernt haben?“
„Hier, wo wir stehen. Vor, neben oder in diesem Theater. Das heutige Teatro Español wurde genau an dem Platz erbaut, wo damals der Corral del Principe gewesen ist. Das war ein offener Hof mit einem Podest. Auf den Balkonen saßen unter ihren Sonnensegeln die, die sich diese teuren Plätze leisten konnten, und im Hof stand das Volk. Ganz ähnlich wie in London im Globe Theatre.“