ISBN: 978-3-938097-40-3
1. Auflage 2017, Drochtersen (Deutschland)
© 2017 MCE Verlag
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Titel, Gestaltung und Satz: Digiscreen – Herwig Baak, Stade
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Für Anja
„Dass Menschen- oder armer Sünder Blut,
warm getrunken,
eine Kraft haben solle,
die Epilepsie zu vertreiben,
ist eine irrige Meinung des gemeinen Volkes.“
(Aus: Oekonomische Encyklopädie von Johann Georg Krünitz 1773-1858)
Cord, Vater von Claus, 1777-1833.
Abel Catharine Bösch, erste Frau von Cord, Mutter von Claus. 1786-1816.
Catherine Schröder, („Schrödersche“), zweite Frau von Cord. 1790-1832.
Claus, 1810-1835, Cords jüngster Sohn aus erster Ehe mit Abel.
Simon, 1805-1868, Cords ältester Sohn aus erster Ehe mit Abel.
Hinrich, 1808-?,weiter Sohn aus erster Ehe mit Abel.
Johann, 1820-? und Ahlheid, 1825-?, Cords jüngste Kinder aus zweiter Ehe mit Catherine.
Grete (Cathrine Margarethe), 1818-?, Cords älteste Tochter aus zweiter Ehe mit Catherine.
Daniel, 1822-?, weiterer Sohn aus zweiter Ehe mit Catherine.
Jacob Wohlers, 1790-1852, Lehrer in Blumenthal; Schwager von Cord; verheiratet mit Margarethe Schröder, der Schwester von Catherine, 1794-1845.
Anna, 1808-1835; jüngste Tochter der blinden Catharina Spreckels, geb. Buck.
Anna-Catharina, 1802-1873, Annas Schwester, verheiratet mit
Carsten Mühlmann, 1800 – 1863. Schäfer in Hammah.
Catharina, 1768-1837; Annas Mutter.
Otto Spreckels, 1769-1839; Bauer in Borstel bei Blumenthal; Onkel und Vormund von Anna.
Heinrich Conrad Bierschwall, 1793-1842; Gerichtsdiener und Gefängniswärter im Amt Himmelpforten. Seine Frau hieß Mette.
Heinrich Duncker, Küster und Schulmeister, 1792-1836.
Wilhelm Heinrich Jobelmann, 1800-1878, Kirchenvorstand der Kirchengemeinde St. Wilhadi.
J. W. Siebe, Kaufmann in der Hökerstraße und 1830/31 Dienstherr von Anna.
Peter Bösch, 1781-1852, Bruder von Claus’ Mutter Abel; verheiratet in erster Ehe mit Sophie Dorothee Plath (1776-1825), in zweiter Ehe mit Gesche Stölpen, 1792-1869.
Jacob Bösch, 1797-1879, Bruder von Claus’ Mutter Abel; verheiratet mit Elisabeth Stüven, geb. Buben.
Claus Jentz, Bützflether Moor, 1780-?; verheiratet mit Anna Margaretha Spreckels.
Peter Schröder, Drochterser Moor, 1779-1840, verheiratet in erster Ehe mit Johanne Dorothee Raap, 1786-1820. Zweite Ehe mit Margreth Köhlmann, 1797-1842.
Es war ein Mord, der so schändlich und niederträchtig war, dass sich das Volk über Jahre hinweg darüber das Maul zerriss. Begangen in Blumenthal, am Rande des Ostetales, in einer Märznacht des Jahres 1833 in der Hitze unkeuscher Begierden, die so fern der Welt und ihrer göttlichen Gesetze waren, dass selbst ihre Majestät der König jegliche Begnadigung der Verbrecher zurückwies …
Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Ein Kriminalfall, der vor 175 Jahren die abgeschiedenen Dörfer rund um Himmelpforten in der Landdrostei Stade erschütterte, und eine Legende begründete. Die Legende einer unerfüllten Liebe zwischen der Magd Anna und dem Bauernsohn Claus, die auf dem Schafott endete.
Was zunächst in den Spinnstuben der Frauen für frivolen Gesprächsstoff sorgte, geriet im Laufe der Jahre zur Sage und fand schließlich Eingang in die erste Chronik des Dorfes Himmelpforten im heutigen Kreis Stade. Das war vor etwa hundert Jahren.
Der Autor rollte für den vorliegenden Roman den sagenhaften Kriminalfall noch einmal auf, sprach mit Nachfahren und Ahnenforschern, recherchierte in Archiven und an den Schauplätzen.
Er fand heraus, dass der Mord an dem Bauern Cord Meyer durch seinen Sohn Claus und seine dritte Ehefrau Anna lediglich der tragische Endpunkt einer für die damalige Zeit beispiellosen Verbrechensserie stand, die im sozialen Umfeld des hochkriminellen Mordopfers begründet lag.
Die umfangreichen Fakten verlangten infolge ihrer Komplexität eine Veröffentlichung in zwei voneinander getrennten Handlungssträngen. Der Autor veröffentlichte Ende 2007 zunächst den Lebensweg der bäuerlichen Dienstmagd Anna, die von ihrer Mutter zu einer Ehe mit dem Witwer Cord gedrängt wurde, mit dem Roman „Anna aus Blumenthal“. Hier stand die damals noch verbreitete Zwangsverheiratung mit ihren tragischen Folgen im Mittelpunkt des Geschehens.
Rätselhaft aber blieben dem Leser die Verstrickungen von Annas Geliebten Claus und dessen Vater Cord in dunkle Machenschaften, die das besondere Verhältnis unter ihnen einst begründete und letztendlich, durch Annas Zwangsehe , in den Untergang führte.
Dieses Buch schließt nun die Lücke und führt den Leser zurück in das Kehdinger Moor der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einem ödem Landstrich, der geprägt war von weit verstreut liegenden Bauernhöfen und Torfabbau. Die überaus harten Lebensbedingungen forderten ihren Tribut. Die Kinder- und Frauensterblichkeit war hoch. Viele junge Burschen, denen keine Hofnachfolge in Aussicht stand, suchten ihr Glück und Auskommen auf dem Meer. Sie verdingten sich als Matrosen und Harpuniere und fuhren mit Walfangschiffen ins Nordmeer.
Was dem einen die Taschen füllte, war des anderen Untergang. Manche kehrten nie mehr zurück in ihre Moordörfer, in denen in den Wintermonaten das Wasser in die Häuser lief. Sie ertranken in den eisigen Fluten oder starben an ihren Verletzungen und Krankheiten. Jene aber, die alle Entbehrungen, alle Not und Elend überstanden hatten, kehrten zuweilen gezeichnet zurück. In eine Heimat, in deren Enge und Kargheit sie sich nicht mehr zurechtfanden. Nicht selten dem Branntwein und Glücksspiel verfallen, wurden sie kriminell und begannen, das Kehdinger Land mit Diebstählen und brutalen Überfällen zu überziehen.
„Wer den Alten totschlüge, der begeht keine Sünde. Und wenn da einer wäre, der denselben totschlagen wolle, so wolle er demselben eine blanke Pistole* geben.“
Claus über seinen Vater im Januar 1833. (* Damals gängige Floskel; entspricht der Summe von 15 Talern.)
Der 7. August 1816 war ein Mittwoch und der bislang wärmste Tag des Monats. Die Luft flimmerte über dem wilden Kehdinger Moor, als Abel mit ihren drei Jungen auf dem Damm zu den Torfstichen ging. Mühsam schob sie die schwere Karre aus Eichenholz. Abel war seit Monaten krank und schwach. Müde wirkten ihre Schritte. Wie die einer alten Frau. Doch die jüngste Tochter der Böschs, einer der alteingesessenen Familien im Bützflether Moor, war erst dreißig Jahre alt. Abel plagte tiefe Trauer. Zwei ihrer Kinder waren ihr in diesem so unendlich leidvollen Jahr gestorben. Im Januar die erst einen Monat alte Anne. Dann vor neun Tagen ihre dreieinhalbjährige Tochter Stine. Seitdem hatte sie unablässig geweint und ihren Gemahl angefleht, sie tagsüber von der harten Landarbeit zu verschonen.
Denn nicht nur in ihrer Seele wühlte ein Schmerz, auch ihren Leib schien es zu zerreißen. Eine unerklärliche Krankheit hatte sie befallen und verzehrte einem Feuer gleich ihren einst so makellosen Körper. Aschfahl war ihr schmales Gesicht geworden und ihre großen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dunkel umrahmt, wie ein Abbild des Gevatters, den sie bereits auf dem Dachboden des Hofes zu hören glaubte.
„Bitte lass mich im Haus, die Schmerzen machen mich irre“, bat Abel.
„Ins Moor mit dir, Weib!“, brüllte ihr angetrauter Ehemann Cord, Bauer auf der Meyer-Wurt. So war es die Art des Vaters, so kannten ihn seine Söhne. Warum er die Mutter so schlecht behandelte, wussten sie nicht. Und sollte einer von ihnen versuchen, der geschundenen Mutter beizustehen, wie es vor einigen Tagen Simon, der Älteste, versucht hatte, riskierte er Prügel.
Der fast sechsjährige Claus, der dem Streit der Eltern still beigewohnt hatte, wollte es gar nicht erst darauf ankommen lassen. Denn ihn hatte der Vater noch nie geschlagen. Er hatte sich aber auch nie getraut, ihm in den Arm zu fallen, wenn er einmal wieder seine Hand gegen die Mutter erhob. Und er würde es auch nie wagen. Das geschwollene Gesicht Simons war ihm Warnung genug.
Während seine älteren Brüder Simon und Hinrich mit gesenkten Köpfen barfuss hinter der Mutter gingen, blieb Claus etwas zurück, um am Wegesrand der Mutter zum Trost einen Heidestrauß zu pflücken. Während in einiger Entfernung im Torfstich seine Brüder der Mutter dabei halfen, getrocknete Soden auf die Karre zu stapeln, lag er im hohen Gras und schaute träumend in den blauen Himmel, der von weißen Schäfchenwolken verziert war. Bussarde zogen darunter ihre Kreise über dem weiten Moor und noch höher, fast unsichtbar, sang eine Lerche.
Claus liebte die Abgeschiedenheit des Moores. Liebte das Summen der Immen und den Gesang der Lerchen. Hier konnte er fernab des Hofes mit dem dort vorherrschenden Unfrieden von seiner Zukunft träumen, die er auf stolzen Schiffen auf den Meeren sah. So wie sein Vater, der über viele Jahre auf Walfängern gedient hatte. Stundenlang konnte Claus den abenteuerlichen Geschichten lauschen, die der Vater zuweilen abends am Herdfeuer erzählte. Und wenn Claus sich gut betrug, durfte er sogar auf dessen Schoß sitzen und sein Vater strich ihm durch das blonde Haar.
„Wirst einmal Walfänger wie ich und fährst auch zur See“, sagte er dabei und Claus übersah, wie feindselig ihn dabei seine Brüder ansahen. Und ihre Eifersucht immer dann an ihrem jüngsten Bruder ausließen, wenn der Vater einmal nicht in der Nähe war. Das kam in der letzten Zeit immer häufiger vor und Claus fragte sich, was den Vater vom Hof zog und warum er sein Tagwerk vernachlässigte.
Claus erhob sich, um nach seiner Mutter zu sehen. Er hatte bei seinen Tagträumen die Zeit vergessen. Längst hätte sie an ihm vorbei gehen müssen, um den Torf auf dem Hof abzuladen. Er sprang über den Entwässerungsgraben und erklomm den Damm. Besorgt sah er sich um. Der Damm war leer. Doch was war das? Im Schatten der den Weg säumenden Birken ragte etwas Weißes aus dem Gras.
Claus lief so schnell es seine nackten Füße erlaubten. Die Mutter lag auf dem Weg, ihre Karre mit den Torfsoden war in den Graben gestürzt. Sie hatte ihre unförmige Sommerhaube verloren, deren leuchtendes Weiß ihm den Weg gewiesen hatte.
„Mudder!“, schrie Claus und beugte sich über den leblosen Körper. Die Mutter stöhnte leise, als er sie zu schütteln begann.
Abel öffnete langsam die Augen. „Claus, mien Lütten“, hörte er und spürte ihre eiskalte Hand an seinem Unterarm. „Schön, dass du da bist. Bitte lass mich nicht allein. Bleib bei mir, bis der Allmächtige …“
Sie ließ sich zurück auf den Boden sinken und rang mühsam nach Luft. Sie hielt beide Hände krampfhaft vor den Bauch. Abel musste große Schmerzen haben.
„Mudder, ich hole Hilfe!“, rief Claus und die Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Nein, … bleib hier“, flüsterte die Mutter. Claus sah mit Bestürzung, wie ihr Gesicht immer schmaler wurde, ihre Wangen seltsam einfielen. Als hätte der körperliche Verfall schon eingesetzt, bevor die Seele aus dem Körper gewichen war.
„Mudder, ich laufe zum Hof, ich hole Vadder!“
„Nein, nein – nicht Vadder!“ Abel richtete sich etwas auf und Claus schob ihr den Heidekranz unter den Kopf, den er ihr eigentlich hatte schenken wollen.
„Ich habe Durst … das Feuer im Leib …“ Sie schluchzte laut auf.
„Ich hole Wasser“, versprach Claus und stieg hinab in den Moorgraben, der den Damm säumte. Sich mit der einen Hand an einem Birkenzweig haltend, schöpfte er mit der anderen braunes Moorwasser. Doch als er am steilen Hang auf den Weg zurück klettern wollte, verlor er das wenige, das er in seiner Kinderhand zu halten vermochte.
Weinend kniete er wieder bei der Mutter und strich ihr mit den nassen Fingern über die Lippen.
„Oh, mein Gott…“, flüsterte sie und ihre Tränen rannen ins Gras. „Die Schmerzen fressen mich auf. Zerreißen mir den Leib.“
Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Claus riss sich sein verschwitztes Hemd vom Leib. Behutsam tupfte er der Mutter mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht.
„Guter Junge …“, flüsterte sie und versuchte zu lächeln, „du bist ein guter Junge, oh mein Gott … und ich muss nun für immer gehen und kann nicht mehr auf dich aufpassen …“
Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Claus spürte ihre Totenhand auf seinem Arm.
„Ich muss auf dich aufpassen, Claus, hörst du mich? Uns Vadder, er ist nicht gut für dich. Hörst du, Claus? Höre nicht auf ihn. Gehe zu meinen Brüdern. Zu Peter oder Jacob. Sie sollen dich aufnehmen, dich zu einem rechtschaffenen Menschen aufziehen. Das ist mein letzter Wille.“
Kraftlos ließ sie sich ins Gras zurückfallen. Mit Entsetzen sah Claus, wie sie ihre von Narben übersäten Hände faltete und ihre Lippen leise Worte formten:
„O Gott, du Vater aller Gnade und Barmherzigkeit. Erbarme dich über mich, dein armes Geschöpf, um Christi Willen. Lass mich, deine Dienerin, in Frieden fahren ...“
Claus schrie auf und lief zurück zum Hof. So schnell ihn die Füße trugen.
„Die unglücklichen Umstände, unter welchen wir geboren wurden und aufwuchsen, sprachen sie, haben es so gefügt, dass wir nicht anders handeln konnten. Wären andere Schicksale uns begegnet, wahrlich, wir hätten nimmer solche Taten vollführt.“
Claus und Anna gegenüber Pastor Ruperti, 1834.
11 Jahre später. Die Nacht vom 16. auf den 17. November 1827 war nach Tagen des Regens mondhell. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war der schwarze Himmel über der Elbe aufgeklart und hatte mit der Flut den Mond gebracht. Ein makelloser Sternenhimmel wölbte sich über den überschwemmten Wiesen und Äckern des Bützflether Moores und ließ die auseinandergezogenen Hauswurten wie kleine dunkle Insel im Meer erscheinen. Cord Meyers Hof lag im Norden des Moordistriktes, im so genannten Siedland, jenen dem Moor abgerungenen Flächen, die sich etwa drei Kilometer hinter dem Elbdorf Bützfleth entlang des Ostrandes des großen wilden Moores erstreckten. Er teilte die Marschlande zwischen Oste und Elbe in zwei Hälften. Das Wasser, das häufig schon im Oktober alljährlich Felder und Wiesen überflutete, vermochte seinem auf einer Wurt liegenden Hof nichts anzuhaben. Einem Hof, wie ihn alle hatten, die am Moor ihr Auskommen mit Torfgraben und Roggenanbau bestritten. Ein schon altes, mit Reet gedecktes Fachhallenhaus in Zweiständerbauweise, in dem Mensch und Vieh unter einem Dach beisammen lebten. Vorne auf der Diele waren in den halboffenen Stallungen die Rinder und Pferde untergebracht. Die Diele ging über in das Flett, eine über die gesamte Breite des Hauses reichende offene Wohnküche mit der zentralen Feuerstelle. Dahinter schlossen sich zwei Stuben an, in denen sich auch die Wandbetten der Familie, sogenannte Butzen, befanden.
Neben dem Haupthaus stand ein Nebengebäude, in dem neben einem Schweinestall der im Sommer gegrabene und getrocknete Brenntorf gestapelt wurde.
Cord hatte ihn nicht rechtzeitig in die sieben Kilometer entfernte Garnisonsstadt Stade fahren können, um ihn an die dortigen Bürger und Werkstätten zu verkaufen. Das Wasser war zu schnell gekommen und hatte alle Wege unpassierbar gemacht. Das fehlende Geld spürte die Familie in ihren Mägen, deren Hunger durch die wenigen Vorräte nur noch ungenügend gestillt wurde.
Cord Meyer war ein groß gewachsener hagerer Mann, dem sein hartes Leben ins Gesicht geschrieben stand. Tiefe Furchen hatten sich in Stirn und Wangen gegraben. Seine einst blonden Haare waren schütter und grau geworden. Lange Jahre war er wie viele Männer aus Kehdingen in den Sommermonaten zur See gefahren. Hatte als Walfänger und Robbenjäger gedient.
Doch wie seine Jugend war auch die große Zeit des Walfangs vorbei. Fünfzig Jahre war er nun alt und aus dem Seemann war ein Bauer geworden. Ein Landmann, dem sein Tagwerk nicht recht gelingen wollte. Dem die von den Eltern geerbte Scholle in jedem Winter über Monate hinweg absoff, wenn das Wasser in den Gräben stieg und über die Ufer trat. Eine Zeit, in der man nicht den Stiefel aufs eigene Land setzen konnte, ohne sich nasse Füße zu holen.
Ihm zur Seite stand Claus, sein jüngster Sohn aus erster Ehe, der mit seinen siebzehn Jahren der Knecht auf dem Hof war.
Es war eine Zeit des Wartens. Dunkle Tage, in denen Cord stetig ungehaltener wurde und sein Leben verfluchte. In denen sich der Zorn über sein Schicksal ins Unermessliche zu steigern vermochte und nicht selten sein Ventil in einem seiner Kinder fand. Manchmal war es Daniel, sein Jüngster, den er aus nichtigem Grund windelweich prügelte. Auch Grete und Johann wurden, falls sie nicht schnell genug aus seinem Blickfeld kamen, übers Knie gelegt. Ungeschoren kam die kleine Ahlheid davon, die mit den schrägen Augen und ihrem stets offenen Mund. Blöd sei sie im Kopf, so sagte man. Von dem Tag an, als sie geboren wurde. Von Catherine Schröder, Cords zweiter Frau, die Claus hinter vorgehaltener Hand verächtlich Schrödersche nannte.
Die einstige Schönheit ihrer Jugend war gewichen, doch die dunkelroten Haare, die sie wie alle Frauen zu einem Knoten zusammengebunden hatte und unter einer Haube verbarg, verrieten sie als „enen Voß“, einen „Rotfuchs“, wie man auf dem Lande sagte. Ihre wachen blauen Augen sahen alles, was auf dem Hof vorging, und ihr kluger Kopf verstand es auf eine besondere Weise, Cords Ungeduld und Hader in die richtige Richtung zu lenken.
„Die Kinder haben Hunger“, sagte sie und sah ihren Gemahl dabei herausfordernd an. Hole etwas, das wir zu Geld machen können, wollte sie damit sagen. Wenn du schon nicht deinen Brenntorf in die Stadt bekommst, weil die Wege überflutet sind, dann ernähre uns auf eine andere Weise. So meinte es die Schrödersche und wusste Cord entsprechend zu belohnen. Er konnte sicher sein, dass nach seiner Rückkehr ein willfähriges Weib in der Butze auf ihn wartete.
So war es auch an diesem Abend. Schon am Tage hatte Claus beobachtet, wie der Vater unruhig hin- und hergelaufen war und regelmäßig aus der Tür in den grauen Novemberhimmel gestarrt hatte. Er wusste, dass es den Vater, falls es noch aufklaren würde, am Abend hinaustreiben würde. Und hoffte, dass er ihn wieder begleiten dürfte. Fort vom Hof, fort von der Schröderschen, die ihn drangsalierte, wo sie nur konnte.
Endlich ging deutlich hörbar der Wind durch die kahlen Kronen der Hofeichen. Die Schrödersche ging zur Grootdöör, der großen Dielentür, und öffnete einen der Flügel. „Es klart auf, du kannst los!“, rief sie ins Flett.
Gespannt blickte Claus über das Herdfeuer hinüber zum Vater. Der warf erleichtert das Holzstück, das er eben noch zwischen seinen breiten Händen zerdrückt hatte, in die Glut und erhob sich.
„Dann man los“, murmelte er und blickte hinüber zu seinem Sohn. „Willst du mit?“
Claus sprang auf.
„Wohin geht ihr“, fragte die Schrödersche.
„Ans Wasser zu den Schiffern“, erwiderte Cord und grinste. Doch alle auf dem Hof wussten genau, was er tatsächlich damit meinte. Längst hielt er nicht mehr nach neuen Schiffen Ausschau, die für die Nacht in den kleinen Häfen Assels oder Bützfleths festmachten. Schmale Schlickpriele waren das, in denen bei Ebbe die Ewer auf Grund lagen. Wo die Schiffer die Flut abwarteten und Zeit für ein Gespräch hatten. Wo er fragen konnte, ob sie nicht eine Fahrt für ihn hätten. So wie einst in seiner Jugend.
Schon lange ging es nicht mehr auf große Fahrt. Es ging über die Dörfer, auf einsame Höfe, in leer stehende Häuser. Um sich zu holen, was der Hof nicht abwarf.
Sie zogen sich ihre dick mit Fett bestrichenen Stiefel an, nahmen ihre langen Mäntel und traten vor die Tür.
„Endlich raus“, sagte der Vater und atmete tief durch.
Sie nahmen jeder eine Laterne und einen kräftigen Knüppel in die Hand. Hintereinander stapften Vater und Sohn die Wurt hinab. Knöcheltief stand das Wasser auf ihrem Feld, als sie die 800 Meter bis zum Landernweg überwanden und Claus schon feuchte Füße bekam. Endlich hatten sie den dammartig erhöhten Weg erreicht und waren auf trockenem Grund. Der Landernweg verband in Nord-Süd-Richtung die Siedlungen im Moor. Vom Stader Moor im Süden, bis hinauf nach Aschhorn.
„Wie ich dieses Moor hasse!“, fluchte Cord und schlug sich den Schlamm von den Stiefeln. „Wasser, immer nur Wasser – ich wünsche mir den Tag, wo ich diesen Sumpf für immer verlassen kann!“
Claus musste insgeheim grinsen. Er kannte die Flüche des Vaters und wusste doch wie er, dass die Menschen im Moor ihre feuchte Heimat nur auf einem Weg verließen: Mit den Beinen voran im Sarg.
Laut sog Cord die feuchtkalte Luft ein, die der Wind von der nahen Elbe ins Sietland trug. „Riechst du das Salz?“, fragte er.
Claus roch nichts. Hier im Moor, eine Stunde vom Elbdeich entfernt, war nichts von der Seeluft zu spüren, nach der sich der Vater sehnte. Voller Ungeduld wartete er darauf, was er sich für die kommende Nacht ausgedacht hatte. In welches der Elbdörfer es gehen würde. Die mondhelle Nacht machte solche Wanderungen überhaupt erst möglich. Es waren die markanten Kirchtürme und Mühlen, die zunächst eine grobe Orientierung erlaubten. Dann folgten sie Gräben und Dämmen, die sie wie ihre Westentaschen kannten. Dennoch dauerte es oft Stunden, bis sie nach anstrengenden Fußmärschen ihre Ziele erreichten.
„Lass uns nach Assel“, meinte Cord und zeigte in jene Richtung, in der sich ein runder Kirchturm vor dem Sternenhimmel abhob.
In der Dunkelheit konnte er nicht sehen, wie Claus enttäuscht sein Gesicht verzog. Assel! Mit der Hafenspelunke, vor der ihn noch als Konfirmand sein Bützflether Pastor gewarnt hatte. Eine solche Spelunke, so der Prediger mit erhobenem Zeigefinger, „ist ein schmutziger unansehnlicher Ort, wo sich gemeine Leute versammeln.“ Besser hätte es Claus nicht beschreiben können, wenn er an den winzigen verräucherten Ausschank nahe des Hafenpriels dachte. Vor allem mochte er die Gestalten nicht, mit denen sich der Vater dort zu Saufgelagen traf. Finstere Gesellen wie Peter Schröder aus dem Drochterser Moor oder den verschlagenen Claus Jentz aus der Nachbarschaft, der das halbe Moor mit Würfelspielen zu seinen Schuldnern gemacht hatte.
Wie sehr hatte Claus gehofft, alleine mit seinem Vater um die Häuser am Elbdeich zu streichen – auf abenteuerlicher Suche nach Beute, nach einer günstigen Gelegenheit. Wo er ihm aufs Neue seine Geschicklichkeit beweisen konnte, geräuschlos die Fenster zu öffnen. Doch damit würde es nichts werden, wenn der Vater erst einmal auf seine Kumpane träfe. Dann würden Branntwein und Karten im Vordergrund stehen, was Claus zutiefst verhasst war.
Sie nannten ihn „Komdür“, so wie die Matrosen auf den Walfängern früher ehrfurchtsvoll ihre Kommandeure riefen. Nicht dass Cord jemals auch nur in die Nähe eines solchen Dienstgrades gekommen wäre. Er war lediglich Matrose gewesen. Auf Walfängern und anderen Seelenverkäufern. Niemand wusste es so genau. Auch Claus nicht. Zu selten sprach der Vater über die alten Zeiten. Über die schlimme Franzosenzeit und wie er sich deren Werbern entzog, die ihn mit Gewalt in die französische Armee pressen wollten.
Dennoch zierten die mächtigen Kiefernknochen eines Wales unübersehbar den Aufgang zu seiner Wurt. Solche Statussymbole standen nur den echten Kommandeuren zu, die diese zur Gewinnung des Lecktrans in den Wanten der Schiffe in die Heimat mitführen durften. Wie der Vater in den Besitz dieses Andenkens gekommen war, wusste niemand zu sagen. Dafür war in der Familie allgemein bekannt, dass er in jungen Jahren auf einer dieser Fahrten seinen Bruder Hinrich verloren hatte, der unter mysteriösen Umständen am Nordkap ertrank. Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, dass Cord daran zumindest eine Teilschuld trug. Das gehörte aber zu jenen Themen, auf die man den Vater lieber nicht ansprach, wenn man nicht in Streit mit ihm geraten wollte.
Stumm stapften sie auf dem Deepenbeker Deich Richtung Norden. Richtung Assel. Die frische Luft nach den langen Tagen im Dunst des Torffeuers tat den Lungen gut. Der trockene Husten, der jeden in der Familie nach Tagen im Torfrauch des Herdfeuers plagte, nahm hier in der kühlen Nacht merklich ab. Der Vater ging zielstrebig voran. Kannte jede Unebenheit, jeden jener schmalen Holzstege, die in bestimmten Abständen über die Gräben führten.
Eineinhalb Stunden nach ihrem Aufbruch im Bützflether Moor tauchten vor ihnen die schwarzen Umrisse der Ewer-Masten im Asseler Hafen auf. Hinter den Fenstern eines der Katen am Deich schimmerte Licht.
Zielstrebig ging der Vater auf den Ausschank zu, während Claus ihm widerwillig folgte. Sie betraten die kleine Gaststube, in der sich an den langen Winterabenden Schiffer und Fischer ihre Zeit vertrieben. Durch den Dunst abgestandenen Tabakrauchs erkannte Claus die Kumpane des Vaters sofort. In einer Ecke des Raumes saßen sie mit Branntwein beisammen: Peter Schröder und Claus Jentz.
„Tach ook!“, rief Cord.
„Donnerwetter! Unser alter Komdür mit seinem Spross!“, rief Peter Schröder erfreut. „Los, ihr Beiden, setzt euch und trinkt einen mit!“
Die rote Tonflasche mit beißendem Branntwein der unteren Kategorie machte die Runde. Claus verspürte allein schon durch den Geruch des Fusels Würgreiz im Hals.
„Los, Junge, trink!“, forderte Jentz, „wirst doch deinem Vater in nichts nachstehen wollen.“
Claus verspürte in sich den drängenden Wunsch, einfach aufzuspringen und nach Hause zu laufen. So sehr er sich gefreut hatte, mit dem Vater alleine und wie gewohnt auf einen nächtlichen Streifzug zu gehen, so sehr widerte es ihn an, die Nacht in einem stickigen Hafenkrug zubringen zu müssen. Zögernd ergriff er die Flasche und spürte die beißende Flüssigkeit in seiner Kehle.
„Na also“, lobte Jentz, „geht doch. Kommst doch nach deinem Vadder!“ Die Runde lachte. Claus beobachtete, wie Jentz zwar mitlachte, seine Augen jedoch den Vater fixierten. Er schien ein besonderes Anliegen zu verfolgen.
Nach einer Weile des Flaschenkreisens wandte er sich seinem Gegenüber zu. „Willst du nicht mal deine Schulden begleichen?“, sagte er eher beiläufig.
„Wie denn?“, erwiderte Cord. „Die Felder stehen unter Wasser, ich bekomme meinen Torf nicht heraus. Das weißt du doch selbst! Oder hast du es geschafft, deinen Brenntorf nach Stade zu verkaufen?“
Alle wussten, wie es mit den Moorbauern in diesem Jahr bestellt war. Das Wasser, das alljährlich Weiden und Äcker überflutete, war besonders früh gekommen. Cord hatte seinen im Sommer gestochenen und getrockneten Torf nicht rechtzeitig vom Hof bekommen. Statt ihn im Bützflether Hafen oder im nahen Stade verkaufen zu können, rottete er auf dem Wagen daheim auf der Wurt vor sich hin. Das Geld fehlte nicht nur der Familie, sondern auch ihm – und Claus Jentz, bei dem er wie gewöhnlich Spielschulden hatte.
Jentz lehnte sich entspannt zurück und grinste. „Ich wüsste, wie du deine Schulden begleichen kannst. Noch heute Nacht.“
Claus horchte auf. Was für einen Plan hegte dieser stets vornehm gekleidete Mann? Peter Schröder kicherte. Er wusste längst, was sich Jentz ausgedacht hatte, der nur noch auf einen willigen Schuldner wie Cord Meyer zu warten schien.
„Wird dir gefallen, Komdür“, flüsterte er Cord zu, der mit schmalen Lippen am Tisch saß und finster dreinblickte.
„Was soll ich machen?“, fragte Cord.
„Nichts anderes, als was du sonst machst.“ Jentz schob Cord die Flasche hinüber. „Und wir alle kommen mit!“
Jentz lachte und Peter Schröder grinste breit, so dass die Lücken zwischen seinen verfaulten Zähnen sichtbar wurden. Noch ein kräftiger Schluck auf das Unternehmen, dann legte Jentz dem Wirt einige Schillinge auf den Tresen und gemeinsam verschwanden sie in der Nacht.
Von der Turmuhr einer der Stader Stadtkirchen schlug es die elfte Stunde, als sie nach mehrstündigem Fußmarsch auf dem Elbdeich endlich den kleinen Ort Hörne erreichten. Von Weiden und Busch umstanden, schmiegten sich kleine Katen von Tagelöhnern und Schiffern an den Deich, kaum eine halbe Stunde von der Stadt entfernt.
Cord verstand nicht, wie er hier in dieser armen Gegend seine Schulden abtragen sollte.
„Hier ist doch nichts zu holen“, maulte er, als sie auf dem Deich kurz verschnauften.
Jentz zeigte auf das dunkle Reetdach einer Kate nahe dem Deich. „Dort liegt das Haus der alten Ney. Sie hat Ersparnisse verwahrt. Ich habe es aus zuverlässiger Quelle.“
„Und ihr Mann?“, fragte Cord. „Was ist mit dem? Habe keine Lust auf unnötigen Ärger.“
Jentz grinste. „Sie ist Witwe und schläft so fest, dass sie von unserem Besuch nichts merken wird.“
„Und wenn doch?“, mischte sich Claus in das Gespräch. Ihm behagte die ganze Sache immer weniger. Warum, so fragte er sich, war er nicht schon in Assel nach Hause gelaufen? Nun war es dafür zu spät!
„Unser Komdür macht das schon“, erwiderte Peter Schröder. „So, wie immer, nicht wahr Cord?“
Cord nickte kurz und Claus lief es eiskalt über den Rücken. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Waren sie nicht gut damit gefahren, nur zu zweit auf Diebestour zu gehen? Heimlich in Scheunen oder Speisekammern einzusteigen und so leise wie sie gekommen waren, einen Schinken oder mehr zu stehlen, um ebenso lautlos wieder zu verschwinden? Was die Männer hier aber planten, roch nach einem Überfall!
„Du machst das Fenster auf“, raunte ihm Cord zu und Claus fühlte einen spitzen Gegenstand in seiner Hand. Er wusste, es war der scharf geschliffene Eggenzahn, den der Vater gewöhnlich verwahrte und seinem Sohn nur dann aushändigte, wenn es mit Geschick wieder einmal eine Scheibe aus einem Fenster zu entfernen galt.
„Los jetzt“, kommandierte Jentz und gemeinsam schlichen sie den Deich hinab. Unten auf dem Deichweg lauschten sie in die Nacht. Hatte man sie gehört? Besaß die Witwe einen Hund? Doch es blieb ruhig. Wie eine schwarze Wand stand die Kate vor dem nächtlichen Sternenhimmel. Cord hatte die Führung übernommen. Der böige Wind, der über den Elbdeich strich und in den kahlen Zweigen der Weidenbäume sang, verschluckte sein leises Fluchen und Keuchen, als er sich durch widerborstiges Gestrüpp an die Kate schlich.
„Welches Fenster?“, flüsterte Claus.
„Das weiß ich nicht, irgend eins“, erwiderte Jentz und Schröder kicherte.
„Aber wenn die Witwe aufwacht?“ versuchte Claus einzuwenden und wurde barsch von Schröder unterbrochen: „Die schläft fest und wenn nicht, stopfen wir ihr das Maul!“
„Los, mach endlich auf“, flüsterte Cord und zeigte mit der Laterne auf ein Fenster im hinteren Teil des Hauses.
Mit vor Angst und Aufregung zitternder Hand umklammerte Claus die Eisenspitze und begann, den Kitt einer der kleinen Scheiben des Sprossenfensters abzukratzen. Das Fenster war alt und die abdichtende Masse entsprechend mürbe. Nur wenige Augenblicke später war ein leises Schaben zu hören, dann endlich hob Claus die Scheibe vorsichtig aus dem Rahmen und legte sie behutsam hinter sich ins Gras. Dann griff er nach innen und schob den Fensterriegel nach oben. Der Weg ins Haus war frei.
Cord nahm die auf dem Boden abgestellte Laterne und leuchtete vorsichtig in die Stube. Es war die Abstellkammer.
„Na also“ murmelte er zufrieden, als er die an der Wand abgestellte Truhe sah. Ohne zu zögern stieg er in das Haus ein. Jentz und Schröder folgten.
Claus blieb draußen stehen und drückte sich eng unter die Traufe.
Es dauerte nicht lange, da drang aus dem Innern das laute Fluchen des Vaters. „Verdammt, der Deckel geht nicht auf!“
„Abgeschlossen?“, flüsterte Schröder.
„Ja, verflixt noch mal!“
Claus erschrak über den Lärm der Männer. Gleich würde die Witwe erwachen und um Hilfe schreien.
„Und nun?“, kam es aus dem Innern.
„Umdrehen, das Ding“, befahl Cord. Für solche Situationen hatte er schließlich ein Beil mitgenommen.
Claus schaute von draußen in die Kammer hinein und sah im Schein der Laternen, wie die Männer gemeinsam das schwere Behältnis auf die Seite kippten. Cord griff in den Gürtel, zog sein kleines Beil heraus und trieb die Klinge zwischen Boden- und Seitenbrett. Ein kurzer Ruck und mit einem lauten quietschenden Geräusch gaben die rostigen Nägel nach.
Die Männer lauschten gespannt in die Nacht. Hatte die Alte etwas gehört und war erwacht? Doch es blieb weiterhin ruhig, nur das behäbige Ticken einer Wanduhr war zu hören.
Cord griff in die Truhe hinein und zog mürbes Leinen und alte Kleidungsstücke heraus. „Verflucht, hier sind nur alte Lumpen!“
„Wo ist das Geld?“ fragte Schröder. Jentz zuckte mit den Schultern.
Sollten sie hier unverrichteter Dinge etwa wieder abziehen? Claus sah im flackernden Licht der Laterne die zu allem entschlossenen Gesichter der Männer, was ihm die schiere Angst in den Nacken trieb. Er spürte, dass diese Nacht anders verlaufen würde, als all jene, in der er mit dem Vater alleine unterwegs war.
„Fragen wir doch die Alte“, erwiderte Jentz, und Claus sah im Licht der Laterne die blanke Mordlust in seinem Blick.
„Na los, frag sie!“, meinte Cord und grinste. Er nahm sein Beil und folgte Jentz mit der Lampe in die Nachbarstube, in der sie die schlafende Witwe vermuteten.
Nun hielt Claus nichts mehr am Fenster. Er kletterte in die Stube. Doch Schröder hielt ihn zurück. „Bleib du man hier, das ist noch nichts für dich.“
Schröder verstellte die Tür, hinter der nun ein gellender Schrei davon kündete, dass sich für die Witwe die Pforten der Hölle geöffnet hatten.
Claus konnte hinter Schröders Rücken, der die Tür blockierte, nichts weiter als einen schwachen Lichtstrahl sehen. Doch er hörte das Lachen der Männer und das typische klatschende Geräusch von Schlägen.
„Sag uns wo du dein Geld hast, alte Hexe!“, hörte Claus die Stimme des Vaters.
„Ich hab’ nichts“, wimmerte die Alte. „Bitte, bei Gott, ich sage die Wahrheit!“
„Lüg’ uns nicht an!“, schrie Jentz und Claus vernahm, wie die Ärmste erneut mit Schlägen traktiert wurde.
Wer quälte die Frau, fragte sich Claus. Der Vater oder Jentz? Sehen konnte er nichts.
„Mir reicht das jetzt“, brüllte Cord und Claus drängte sich nun an Schröder vorbei und sah mit Entsetzen, wie der Vater die linke Hand der Alten, die von Jentz festgehalten wurde, ergriff und ihr die Finger nach hinten drückte, bis sie brachen. Die Frau schrie so laut, dass Schröder nervös zum Fenster sah. „Mensch Cord, hör auf“, rief er in die Stube, „die Alte weckt noch das ganze Dorf!“
„Die ist gleich still“, sagte Cord, ergriff den Kopf der Frau und hieb ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Das Schreien erstarb, leblos sackte der schmächtige Körper zu Boden.
Als er das Beil erhob, um den Kopf seines Opfers zu zertrümmern, fiel sein Blick auf Claus, der starr vor Schreck neben ihm stand. Cord ließ das Beil sinken.
Inzwischen hatte Jentz die Stube durchwühlt und endlich den vermeintlichen Schatz der Alten entdeckt. Ein Steingutkrug mit Zinndeckel, darin eingelegt Papiere. „Mehr finde ich nicht“, sagte er enttäuscht.
„Gut, weg hier!“, befahl Cord. „Alle Mann von Bord!“
„Und die Alte?“ Jentz zeigte auf den leblosen Körper am Boden.
„Ist die nicht schon tot?“ fragte Cord und stieß den leblosen Körper mit dem Stiefel.
Jentz zuckte die Schultern. „Was ist, wenn sie uns erkannt hat?“
„Na gut, gehen wir sicher.“ Cord grinste seinen Kumpanen an. „Aber schafft mir vorher den Jungen raus. Das ist nichts für ihn.“
Schröder packte Claus und versuchte, ihn aus der engen Stube zu schieben. Cord zog einen kurzen Strick aus seiner Jackentasche und knöpfte ihn mit wenigen Handgriffen zu einer Schlinge, einem Webeleinenstek, den er aus der Seefahrt kannte. Einmal zugezogen, ließ sich der Knoten nicht ohne weiteres öffnen. Er kniete nieder und streifte der Frau blitzschnell die Schlinge um den Hals. Dann schob er den Knoten in ihren Nacken und zog die Schlinge langsam zu.
„Das müsste reichen“, murmelte er und erhob sich.
„Nein!“, schrie Claus und versuchte sich aus Schröders Umklammerung zu entwinden. „Das könnt ihr nicht machen, ihr verdammten Mörder!“
Mehr konnte Claus nicht sagen. Schröder hielt ihm mit der einen Hand den Mund zu, während er ihn aus der Stube schob und mit dem Fuß die Tür ins Schloss fallen ließ.
„Alles in die Boote!“ kommandierte Cord, griff sich den erbeuteten Krug und sprang aus dem Fenster.
„Claus Meyer hat wahrscheinlich seinen Vater auf seinen Zügen vom Bützflether Moor aus beständig begleitet. Das Gerücht geht, dass Cord Meyer, wie derselbe noch auf dem Bützflether Moor gewohnt, sehr viele Diebstähle verübt habe, dass derselbe mit mehreren Einwohnern vom Bützflether Moore im Komplott gestanden und mit diesen die Diebstähle ausgeführt habe. Indessen, es fehlen die Indizien …“
Assessor Caspar Friedrich von Schulte, Amt Himmelpforten 1833.