ISBN: 978-3-938097-44-1
1. Auflage 2017, Drochtersen (Deutschland)
© 2017 MCE Verlag
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Titelentwurf und -foto: Nikolaus Ruhl
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Alle Rechte vorbehalten!
„Die Wahrheit ist eine nicht aufgedeckte Lüge.“
(aus dem Thriller „Das Ostermann Weekend“, zitiert nach Bernhard Hamms Macintosh-Datei „Starke Sprüche“)
Es war ein unbestimmtes, kaum wahrnehmbares Geräusch, das ihm verriet, wenn ein Auto kam. Eine Frequenz, die sich in der Großstadt nahtlos ins Grundrauschen einfügte. Hier jedoch, in der abgeschiedenen Moorlandschaft, klang sie wie ein Warnsignal.
Wenn jemand die Birkenallee von der Landstraße zu seinem Haus nahm, hörte Hamm ihn lange, bevor er auf dem Vorplatz einlief. Er hörte ihn sogar, wenn die Zufahrt durch Grünzeug abgeschottet war, wie jetzt, im Sommer.
Wer konnte das sein? Hamm hasste unangekündigten Besuch. Als ihm ein Onkel den Resthof vererbte – warum, hatte er nie heraus gekriegt; der Onkel und er waren sich nicht besonders nahe gewesen –, hatte ihn hauptsächlich die isolierte Lage davon abgehalten, das Grundstück umgehend zu verscherbeln.
Er hatte probehalber eine Woche in der alten, mit Reet gedeckten Fachwerkkate gewohnt und schnell gelernt, die Geräusche der Stille zu genießen. Das Klappern der Störche, die in den nassen Wiesen noch genug Frösche fanden. Das Flügelschlagen der Enten, wenn sie aus dem Schilfgürtel des Flussufers aufflogen. Die nächtlichen Käuzchenschreie wie aus einem Edgar Wallace-Film.
Eine uralte Kulturlandschaft, die sich wegen des Verschwindens der Landwirtschaft langsam renaturierte. Höfe wurden aufgegeben, Äcker nicht mehr bestellt. Der braune Fluss, der durch die Region mäanderte, war schon lange keine Wirtschaftsstraße mehr, sondern das Revier von Sportbootkapitänen.
Manchmal sah Hamm tagelang keinen einzigen Menschen. Doch jetzt kam einer.
Hamm überlegte. Der Müllsack wurde einmal pro Woche an der Straße abgeholt, die Post in den Briefkasten am Eingang der Zufahrt geworfen. Die diversen Controllettis, die alle Jahre wieder hunderte von Euro für Überprüfungen abzockten, welche ebenso gut alle zehn Jahre hätten stattfinden können, sie hatten ihn bereits heimgesucht.
Schornsteinfeger, Heizungs-Emissionsmesser und der Inspekteur der Klärgrube hatten sogar schon ihre Rechnungen geschickt. Wer also? Zeugen Jehovas? Zwei von ihnen waren mal da gewesen, aber zu Fuß. Die fahren nicht mit dem Auto, dachte Hamm. Auserwählte tun so etwas nicht.
Die Katze Susi strich um seine Hosenbeine, daran erinnernd, dass es Zeit für ihr zweites Frühstück war. Jeden zweiten Tag musste Hamm seine Hosenbeine mit einem Fusselroller bearbeiten, weil das Tier haarte, als wolle es sein Fell komplett abwerfen und fürderhin nackt durch die Welt spazieren. Jeden Sommer dasselbe Spiel. Im Winter dagegen legte sich Susi einen gewaltigen Pelz zu, der sie aussehen ließ, als sei sie vollkommen überfressen. Was Hamm gelegentlich vorwurfsvolle Bemerkungen einbrachte.
Plötzlich fiel ihm ein, wer der Besucher sein musste.
Der Blödmann! Der Kopfgeldjäger! Der Typ von der Gebühreneinzugszentrale!
Hamm zahlte aus tiefster Überzeugung keine Fernsehgebühren. Die sieben Milliarden Euro, die das Staatsfernsehsystem harmlosen Zuschauern jährlich aus den Taschen leierte, mussten reichen. Ein Teil davon, so hatte der Bundesrechnungshof gerade aufgedeckt, wurde regelmäßig mit kostspieligen, grundlosen Auslandsreisen verschwendet, auf welche sich die Gebührenmafiosi selber einluden.
Das meiste Geld wurde freilich mit dem Wasserkopf an Mitarbeitern vergeudet, den sich die Anstalten im Laufe der Jahrzehnte zugelegt hatten und der unerhörte Privilegien genoss, wie Hamm aus seiner Zeit als Journalist wusste. Fernsehleute waren praktisch unkündbar, wie Beamte. Auf dem Gelände des zweitgrößten Senders gab es sogar eine Tankstelle, wo sie verbilligtes Benzin bunkern konnten.
Mahnbriefe der GEZ warf Hamm stets ungeöffnet in den Papierkorb. Wer sollte ihn in dieser Pampa aufstöbern?
Aber vor einem halben Jahr war ein Opel mit dem Kennzeichen des Nachbarkreises auf den Hof gefahren. Heraus hatte sich ächzend eine vierschrötige Gestalt geschafft, Typ Zubrot verdienender Frührentner. Der Ungeschlachte hatte Hamm ein Ausweiskärtchen entgegen gestreckt, als sei es die Lizenz zum Töten, und routiniert wie ein Kripomann geschnarrt: „Ich bin von der GEZ und muss die Zahl der Rundfunk- und Fernsehgeräte kontrollieren“.
Hamm hätte ihm gerne einen kleinen Vortrag gehalten. Darüber, dass er keinen lausigen Cent für ein Programm zu zahlen bereit war, in dem eine Figur wie der Schwiegermütterschwarm den Ton angab. So nannten sie den durch die verschiedensten Sendungen turnenden Grinseburschen, bei dem jeder seine neueste Schrott-CD oder seine jüngste witzlose Beziehungsklamotte gratis bewerben durfte.
Hamm hätte auch sagen können, dass er keine Lust habe, das stumpfsinnige Volksmusik-Gedudel und die quietschbunten Alpen-Schmonzetten zu finanzieren, mit dem die öffentlichen-rechtlichen Sender die Verblödungsanstrengungen der Privaten noch zu überbieten trachteten. Ebenso wenig die ewigen Gutmenschen-Kampagnen, mit der das Fernsehen die wehrlosen Zuschauer überzog, als seien sie die natürliche Beute von Politikern, Kirchenfürsten, Gewerkschaftsbonzen oder Öko-Lobbyisten.
Hamm wurde auch unwiderstehlich übel, wenn er die gackernden Talkshowhennen sah, in deren Runden die immer gleichen Charaktermasken aus den Parteien sich mit Statistiken bewarfen, welche ihre Referenten sorgsam auf diesen Auftritt hin gefälscht hatten. Nicht zu vergessen den hoch bezahlten Zappelheini, der den Wetterbericht zu einer ebenso end- wie freudlosen Clownsnummer auswalzte.
Natürlich sagte er kein Wort. Man diskutierte nicht mit Handlangern. Man schmiss sie achtkantig raus. GEZ-Schnüffler besaßen keine Befugnisse, in Wohnungen oder Privatgrundstücke einzudringen, obwohl sie naive Zeitgenossen gern mit angemaßten Kompetenzen zu bluffen versuchten. Er sah durch das Vierschrot hindurch. „Verschwinden Sie. Und kommen Sie nie wieder. Sie haben Hausverbot. Auf Lebenszeit.“
Der Mann fuchtelte mit seinem Ausweis herum und rief aufgebracht:
„Sie sind zur Auskunft verpflichtet! Ich habe das Recht...“
Hamm ging auf ihn zu und streckte den Arm in Richtung Straße.
„Einen Scheiß haben Sie. Raus!“
Da hatte sich der Typ grummelnd getrollt. Hamm spürte ein schales Gefühl der Befriedigung. An die Bosse der mit Fug und Recht Anstalten genannten Sender kam man nicht heran. Wenigstens einen ihrer Schergen hatte er mal auflaufen lassen.
Was fiel dem Kerl ein, es noch einmal zu versuchen? Hamm nahm sich vor, diesmal sehr deutlich zu werden. Am Schuppen hing eine Mistforke. Ein gutes Argument.
Doch es rollte kein Opel auf den Hof. Sondern ein verdreckter Ford Kombi mit lokalem Kennzeichen. Ein kleiner Mann in einem grauen Tweed-Jacket mit Lederflecken an den Ärmeln stieg aus. Graues Gesicht, schütteres Haar. Wahrhaft grauenhaft, die Anmutung. Was wollte der nun wieder?
Nach dem Überfall des GEZ-Büttels hatte Hamm überlegt, ob er das Schild an die Pforte nageln sollte, das er von einer Amerika-Reise mitgebracht hatte. Es zeigte einen rauchenden Colt und die Warnung: TRESPASSERS WILL BE SHOT. SURVIVORS WILL BE SHOT AGAIN. Hamm fand das Schild nicht unkomisch, bezweifelte aber, dass man den Humor in dieser Gegend verstehen würde.
„Ich heiße Peters“, sagte das Männlein, ohne sich mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. Die Stimme klang überraschend fest. „Wohne drüben, in Schutenholz.“
Drüben, das hieß auf der anderen Seite des Flusses. Hamm kannte die Siedlung, die von Feldern und Weideflächen umgeben war. Viele lagen brach. Die Landwirte kassierten eine Stilllegungsprämie, wenn sie die nicht bewirtschafteten. Auf dass die Milch-, Butter-, Fleisch- und sonstigen Agrargebirge der Europäischen Union nicht noch höher wuchsen.
„Ja?“, machte Hamm, ja mit ganz kurzem a. Er wünschte, es möge recht unfreundlich klingen.
Der Kleine ließ sich nicht irritieren. „Möchten Sie, dass hier ganz in der Nähe sechzehn riesige Windräder aufgestellt werden?“, fragte er giftig, als sei Hamm derjenige, welcher solches vorhabe. „Windräder, die hundert Meter und mehr hoch sind, dreimal so hoch wie der Kirchturm von Söderfleth?“
Söderfleth war das Dorf, zu dem auch die Einzelhäuser und Gehöfte der Gegend gehörten, in der Hamm wohnte. Der Kleine legte nach. „Fänden Sie es gut, wenn Sie Tag und Nacht das Brummen und Rauschen der Windanlagen hören? Und wenn bei tief stehender Sonne der Schattenwurf der Flügel in ihre Fenster fällt?“
Er vollführte mit den Armen eine Art Rotoren-Pantomime. Dazu stieß er befremdliche Laute aus, die wohl den Flügelschlag der Windräder akustisch imitieren sollten. „Dwusch, dwusch, dwusch“.
„Moment mal“, sagte Hamm, „ich verstehe nur Bahnhof. Wer genau will was bauen? Und wo?“ Der Kleine hielt ihm anklagend eine fotokopierte Karte von Söderfleth und Umgebung hin. Einige Gebiete darauf waren schraffiert und mit Abkürzungen versehen. Eine Art Flächennutzungsplan, dachte Hamm. „Hab ich von der Gemeinde“, sagte der Kleine stolz. „In den schraffierten Gebieten wollen sie die Windräder hinstellen. Falls wir das nicht verhindern.“
„Wer ist sie?“ fragte Hamm. „Und wer ist wir?“ Der Kleine blickte ihm fest in die Augen, als ginge es um Leben und Tod.
„Die, das ist die Betreibergesellschaft Wonderwind in Bremerhaven. Stellt den ganzen Norden mit Windrädern zu. Kauft sich Gutachter und so genannte Experten. Notfalls auch Politiker, wenn sie auf Widerstand stößt.“ Er stieß ein querulantorisches Meckern aus, als bereite es ihm innige Befriedigung, gegen eine feindliche Supermacht anzurennen. Hamm kam er vor wie ein moderner Don Quixote. „Und wir“, fuhr der Kleine fort, „wir sind die Leute von der BI Stoppt den Windwahn in Söderfleth und anderswo. Lesen Sie den Boten nicht?“
In der Tat las Hamm den Küstenboten nur selten. Zum Beispiel im Sommer, wenn ihm nach Baden zumute war. Das Blättchen druckte jeden Tag einen Tidenkalender ab, aus dem die Hoch- und Niedrigwasserzeiten an der Küste hervorgingen.
Das waren die spannendsten Nachrichten des Boten. Ansonsten bildete das Blatt getreulich das Vereinsleben der Region ab und lieferte anhand der Todesanzeigen immer aufs Neue den Beweis, dass die Menschen in dieser Gegend erstaunlich alt wurden. Sofern sie sich nicht vorher aufhängten, wofür die Gegend ebenfalls bekannt war. „Durch den Strick gucken“, nannte man es hier. Selbstmord war zumal für Männer, die sich in eine wirtschaftlich aussichtslose Lage manövriert hatten, ein gesellschaftlich akzeptierter Abgang.
Es wurde Zeit, den kleinen Agitator los zu werden. „Ich lese keine Käseblätter“, sagte Hamm bündig, „und Windräder interessieren mich nicht. Der geplante Standort liegt vier Kilometer von hier. Von denen werde ich nichts sehen. Hören schon gar nichts.“
Der Besucher lächelte boshaft. „Da seien Sie mal nicht so sicher. Die Räder werden mit den Jahren immer monströser. 160, 180 Meter hoch schon heute. Repowering nennen sie das. Und wo die Dinger einmal stehen, werden immer mehr genehmigt. Weil die Landschaft dann nicht mehr kaputt gemacht werden kann. Sie ist es ja schon.“
Hamm überging den Einwand. „Ich muss los. Nach Hamburg.“ Er zückte demonstrativ seinen Zündschlüssel. Der Kleine gab nicht auf.
„Übermorgen ist eine Anhörung zum Thema Windkraft. Die Betreiber werden alle Register ziehen, um den Gemeinderat zu einem Ja zu bewegen. Die BI wird auch da sein. Hören Sie sich wenigstens mal an, worum es geht.“ Wieder lächelte er maliziös.
„Es geht nämlich auch um Geld. Wenn die Windräder kommen, sind viele Häuser im Dorf nur noch die Hälfte wert. Ihres auch, mein Lieber.“
Er stieg in seine Dreckskarre. „Bis übermorgen“. Hamm machte eine Handbewegung, die alles bedeuten konnte. Hauptsache, der Kerl machte sich vom Hof.
Jedenfalls war jetzt klar, woher der Wind wehte. BI! Bürgerinitiative! Die ewigen Blockierer, Verhinderer, Bedenkenträger. Hörte das nie auf? Hamm gab seinem Diesel die Sporen und bretterte über die schmalen, holperigen Moorstraßen in Richtung Hamburg. Er hatte sich mit Blick auf die lokalen Verkehrswege einen Renault VelSatis zugelegt, dessen Fahrwerk die seit Jahrzehnten vernachlässigten Schlaglochpisten gnädig ausbügelte. Der kühn geschnittene, geräumige Franzose war in dieser Gegend, wo die Marke Opel von jeher in hohem Ansehen stand, exotischer als ein Kalb mit drei Köpfen. Hamm genoss die Vorstellung, das er in einem Auto durch das Nasse Dreieck fuhr – so nannte man die regenreiche Region an der Küste –, mit dem der französische Präsident sich in den Elysée-Palast chauffieren ließ. Das Modell war der ganze Stolz der gallischen Autoindustrie.
Der kürzere Weg über die Bundesstraße war jetzt, am frühen Vormittag, hoffnungslos verstopft. Eigentlich war er immer verstopft. Auch eine schöne Leistung von Bürgerinitiativen. Seit 30 Jahren verhinderten Interessengrüppchen mit endlosen Klagen und Eingaben, dass eine Autobahn an die Küste gebaut werden konnte.
Überall in der Region sprangen einen Protestplakate an, auf denen vor Landschaftszerschneidung und Luftverschmutzung gewarnt wurde. Naturschutzverbände organisierten Kampagnen gegen den Genozid an unschuldigen Kröten, Ottern, Großtrappen und Feldhamstern, welche unweigerlich Opfer des menschen- und tierverachtenden Autobahnwahns würden.
Eine andere Initiative blockierte seit Jahren die Verlängerung der Landebahn des Regionalflughafens. Eine dritte zog alle juristischen Register gegen das Vorhaben, eine Umgehungsstraße für eine vom Durchgangsverkehr terrorisierte Kleinstadt zu bauen. Die vierte widersetze sich standhaft einem geplanten Einkaufszentrum. Die fünfte...
Hamm war kein Freund von Landschaftsbetonierung. Allerdings wusste er: die meisten Leute hatten durchaus nichts gegen Autobahnen, Umgehungsstraßen, Einkaufszentren oder Landebahnen. Sie protestierten nur dagegen, wenn diese nah an ihrem Haus gebaut zu werden drohten. Weil dann Abgase und Lärm den Hauswert mindern würden. Die weiter entfernt wohnten, fanden eine Autobahn, eine Ortsumgehung, Geschäfte oder einen Flugplatz in der Nähe sehr in Ordnung. Sie würden den Wert ihrer Häuser sogar steigern.
Ein gelbes Protestschild, das all dies auf den Punkt brachte, hing an vielen Chausseebäumen im Landkreis. „A 229 – hier nicht!“ HIER nicht. Anderswo aber gerne. Heiliger St. Florian. Verschon´ mein Haus, zünd´ andre an. Diese elende Heuchelei. Hamm konnte Bürgerinitiativen nicht ausstehen.
„Unrecht gegenüber mir dulde ich nicht.“
(John Wayne in „The Shootist“, aus der Datei „Starke Sprüche“)
Die Büros des Karwunkel-Verlags in Hamburg-Eimsbüttel waren in einem vierstöckigen Klinkerbau aus den dreißiger Jahren untergebracht, den die britischen Bomben im Zweiten Weltkrieg leider verschont hatten. Es hing eine muffige, übellaunige Aura über dem Gebäude, die Hamm aufs Gemüt schlug, sobald er durch den Eingang trat.
Zum Glück musste er nur ein- oder zweimal pro Woche ins Büro. Sein Job als Lektor ließ sich von seinem Landhaus aus problemlos erledigen. Redigiertes Material schickte er online zum Verlag. Nach Hamburg fuhr er nur montags, wenn der Verleger die Hauptkonferenz leitete.
Klaus Karwunkel empfand sich als Büchermensch aus höherer Berufung. Er hatte die Baumarktkette seines Vaters geerbt. Sie florierte fast ohne sein Zutun. Seine Geschäftsführer meinten, sie florierte eben deshalb. Bis zu seinem 35. Lebensjahr war er von Beruf Sohn gewesen. Endlos hatte er studiert, unter anderem Soziologie, Psychologie und Literaturwissenschaft.
Später hatte er sich in allerlei dubiose Projekte verkrallt. Etwa in den Aufbau einer esoterischen Kommune auf der Kanareninsel Lanzarote. Die huldigte irgendwelchen windigen Dritte-Welt-Gottheiten und suchte nach Wegen, Erdkernenergien anzuzapfen, welche, so hieß es in uralten Überlieferungen, bevorzugt in Lavabergen austraten.
Mit ihnen spirituell geladen, würde man eine kosmisch-galaktische Erleuchtung erfahren, so der Plan. Doch Querelen mit den schikanösen Behörden, die den Bau einer riesigen Pyramide im Naturschutzgebiet untersagte, sowie eine Filzlausepidemie unter den Kommunarden hatten das Projekt letzten Endes platzen lassen. Karwunkel war für eine Weile ins Baumarkt-Geschäft zurückgekehrt.
Irgendwann hatte er entschieden, nunmehr ein Hommes de Lettres zu werden, statt sein Leben mit dem Verticken fernöstlicher Ramschware an Bastler und Schwarzarbeiter zu vergeuden. Hatte einen Not leidenden Buchverlag übernommen, neue Leute eingestellt, ein kunterbunt zusammen gewürfeltes Programm aufgelegt.
Inzwischen war der Verlag Kult. Drei hoch erfolgreiche Autorinnen besorgten das Brotgeschäft. Karnickelhaft entbanden sie Bestsellerschund für Leserinnen aller Altersstufen. Darin ging es meistens um sympathische, aber etwas dusselige Männer, die von pfiffigen Frauen buchstäblich aufs Kreuz gelegt wurden. Sowie um weibliche Problemzonen, teils lustig, teils lüstern geschrieben.
In einer anderen, ebenfalls sehr profitablen Reihe erschienen krude Verschwörungstheorien, in denen wahlweise die CIA, der MI6, der Mossad, Gen-Firmen oder die chemische Industrie eines gigantischen Komplotts beschuldigt wurden. Die Weltherrschaft war das mindeste, was diese finsteren Organisationen anstrebten, die systematische Manipulation aller Medien und Politiker der Weg dorthin.
Wieder andere Bücher lagen hart am Rande der Legalität. Eines war eine Gebrauchsanleitung zum systematischen Sozialbetrug, den die Autoren in einem postmarxistischen Vorwort als Notwehrakt gegen die „globalen Expropriateure“ rechtfertigten. Ein anderes gab Arbeitnehmern unter dem Titel „Lob der Faulheit“ Tipps zum Blaumachen.
Einmal hatte es sogar eine Beschlagnahmeaktion gegeben. Im „Schwarzbuch Tierquäler“ hatten terroristische Tierschützer die Adressen, Telefonnummern und sogar die Lebensgewohnheiten von Laborärzten und Wissenschaftlern aufgelistet, welche mit Versuchstieren arbeiteten. Ein Forscher war überfallen und krankenhausreif geprügelt worden.
Der Weißkittel hatte Anzeige gegen Karwunkel persönlich erstattet. Der Verleger mobilisierte die Redaktionen. Auf dem Weg zur Vernehmung ließ er sich filmen und fotografieren. Der Bericht in einem Kulturjournal zeichnete das Bild eines unbeugsamen Anwalts der Meinungsfreiheit, der vor den Mächtigen nicht einknickt.
Dann war da noch die Reihe mit den jeweils neuen französischen Philosophen, Trendforschern, Hauptstadtauguren, Ästhetikprofessoren und jener genialisch-versoffenen osteuropäischen Lyrikerin, die auf Lesungen mit Wodka-Gläsern um sich zu schmeißen pflegte. Diese Art von Werken erreichte nur jammervolle Auflagen, wurde aber dennoch oder gerade deshalb in den Feuilletons länglich besprochen. Karwunkel liebte sie. Er hofierte ihre größenwahnsinnigen, arroganten Autoren, als seien sie die eigentlichen Stützen des Verlags. Auf Buchmessen sonnte er sich zusammen mit ihnen im Glamour dessen, was er sich unter Hochkultur vorstellte.
Vom Baumarktmilieu geblieben war ihm ein profunder Geiz. Anderenfalls hätte er den Verlag niemals in ein derart schäbiges Ambiente einquartiert. Aber Karwunkel war auf seine gockelhafte Art gut zu leiden, und er hatte einen Narren an Hamm gefressen. Der Lektor saß kaum auf seinem betagten, ächzenden Drehstuhl, als der Verleger ins Zimmer brach.
„Bernie, ich hab´eine grandiose Idee!“
Hamm hasste es, wenn man ihn Bernie nannte. „Tach erstmal, Herr Unseld“, knurrte er. Das sollte ironisch klingen. Er duzte sich mit Karwunkel. „Was befiehlt mein Guru?“
Karwunkel war heute, ebenso wie an jedem anderen Tag des Jahres, für Ironie unempfänglich. „Wir legen eine Reihe mit deutschen Krimis auf, die in der Provinz spielen. Krimis mit richtigen Menschen. Knorrig, erdverbunden, mundarttreu. Der leutselige bayrische Kommissar, der es faustdick hinter den Ohren hat. Der Bonvivant aus dem Südwesten, der seine Fälle im Gourmettempel löst. Das dröge Nordlicht, das die Gangster immer unterschätzen. Im Fernsehen ist das schon lange der Trend. Tatort und dieses ganze Zeugs, hat gigantische Einschaltquoten.“
Hamm wusste, wie Karwunkel auf die Idee verfallen war. Der Verleger grämte sich seit langem, dass andere Verlage mit Schwedenkrimis riesige Auflagen erreichten. Oder mit Holland-, Italien-, Spanien-Krimis. Neuerdings verkauften sich auch dänische, norwegische, finnische, ja sogar estländische, lettische und litauische Kommissare gut.
Bald würde es russische geben, danach aserbeidjanische, ossetische, moldavische. „Hauptsache, sie saufen, hassen ihren Job, sind von der Welt, dem Staat und den Frauen angepisst und haben ein renitentes Balg im übelsten Alter“, hatte sich Karwunkel gewundert. Er liebte es, den abgebrühten Verlagsprofi rauszukehren. „Werde nie begreifen, wer diesen langweiligen Bullshit kauft.“ Ihm selber war es trotz aller Mühen nie gelungen, auch nur einen dieser Bestsellerfabrikanten unter Vertrag zu kriegen.
„Und woher nehmen wir unsere Schollen-Chandlers?“, fragte Hamm. Es sollte spitz klingen und Skepsis signalisieren. Natürlich ganz sinnlos. Karwunkel war gegen kritische Untertöne immun.
„Die warten nur auf uns“, tönte er. „In den Buchhandlungen der Kleinstädte findet man die tollsten Schwarten. Verlegt in dubiosen Kleinverlagen oder im Selbstverlag. Unsere Außendienstler suchen das Zeug zusammen. An die Autoren gehen wir aggressiv ran. Du machst das. Du wirst die ganze Reihe gestalten. Bis hin zu den Covers. Das muss eine gemeinsame Handschrift haben. Krimis made in Germany.“ Er strahlte, als habe er Hamm soeben das Gehalt verdoppelt. „Was sagst Du?“
Es stellte sich heraus, dass der Auftakt zur Reihe bereits vorlag. Eine gewisse Clarissa Holst hatte das Manuskript eines Krimis eingeschickt, wie er norddeutscher nicht sein konnte. „Toll geschrieben“, wie Karwunkel fand.
„Total authentisch, mit Stallgeruch. Ein bisschen Dialekt, aber nicht zuviel. Ein Pageturner. Ein No-downer. Genau richtig für uns.“ Er schlug Hamm auf die Schulter. „Mit der Lady fangen wir an. Wohnt in Norderfleth. Das Kaff liegt irgendwo bei dir da oben. Lies das Buch und mach´ mit ihr einen Vorvertrag.“
Pageturner. No-downer. Ein Buch, das man in einem Rutsch durchliest, das man nicht beiseite legt. Karwunkel liebte schräge Anglizismen. Er schien bunkerfest überzeugt von seinem Projekt. Hamm ersparte sich Einwände. Im Grunde fand er die Idee gar nicht so dumm. Später dachte er manchmal: wenn er in diesen Tagen krank oder im Urlaub gewesen wäre, hätte ihm das eine Menge Aufregung erspart.
Aber wäre das wirklich so gut gewesen?
„Wenn die richtigen Leute getroffen werden, ist gegen den Gebrauch der Waffe nichts zu sagen.“
(Clint Eastwood in „Dirty Harry II“, aus der Datei „Starke Sprüche“)
Schützen haben immer Vorfahrt. Als Hamm am Nachmittag aus der Stadt zurückkehrte und den Zug entgegen kommen sah, fuhr er an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Im Sommer, wenn überall im Norden Schützenfeste gefeiert wurden, brauchten Autofahrer manchmal etwas Geduld. Die Umzüge wurden mit großer Inbrunst zelebriert. Wer nicht mitlief, hatte wenigstens Platz zu machen.
Vorneweg, mit Flöten, Trommeln und allerlei Blechinstrumenten, marschierte der Spielmannzug der Freiwilligen Feuerwehr in weißen Uniformen. Folgten die Schützen in grauen Jacken mit grünen Kragen und Jägerhüten; Männer, Frauen, Jungen, Mädchen; die Älteren mit ganz viel Lametta, Schärpen und Kordeln an den Jacken, der ihre langjährige Treffsicherheit bezeugte. Den Abschluss bildete der knallrote Wagen der Dorffeuerwehr, der bei solcher Gelegenheit endlich mal sein Blaulicht aktivieren konnte. Hamm beschloss spontan, sich zwei oder drei neue Handfeuerlöscher für sein Haus anzuschaffen, als er das museumsreife Gefährt betrachtete.
Er grüßte den einen oder anderen, den er aus dem Dorf kannte. Gewiss, die Schützenvereine litten unter Überalterung und Nachwuchsmangel. Doch noch immer bildeten sie, zusammen mit Feuerwehren, Jagdverbänden und Anglervereinen, den sozialen Kitt der ländlichen Gemeinschaften. Sie stärkten den Zusammenhalt und fungierten als Tratschbörse, manchmal auch als Heiratsmarkt. Ein gutes Stück an sozialer Kontrolle spielte da natürlich mit. Es war nicht einfach, sich vom Dorfleben abseits zu halten. Andererseits lag in diesem Landstrich auch niemand sechs Monate tot in seiner Wohnung, ehe jemandem sein Fehlen auffiel, wie es in der Großstadt immer wieder vorkam.
Hamm beschloss, auf ein Bier in die Schützenhalle zu gehen. Er war Mitglied im Schützenverein, allerdings nur ein stilles, zahlendes. Als einem, der weit im Außenbereich wohnte und regelmäßig in der Stadt zu tun hatte, wurde ihm das Desinteresse nachgesehen. Von vorneherein hatte er den Fehler vieler Städter, die aufs Land ziehen, konsequent vermieden. Der Fehler bestand darin, sich zunächst anbiedernd auf alle möglichen lokalen Aktivitäten einzulassen, um diese nach einiger Zeit gelangweilt wieder aufzugeben. Letzteres kam nicht gut bei den Einheimischen an. Ganz oder gar nicht, hieß ihre Devise.
Vom Schießstand schallte das Pling-pling der Luftgewehrgeschosse herüber, die in den Kugelfänger flogen, gemischt mit dem hellen Peitschen der Kleinkalibergewehre. Die Festhalle war mit Fähnchen und gebundenen Tannenzweigen geschmückt. Auf der Bühne standen die Musikinstrumente der Kapelle, die am Abend zum Tanz aufspielen würde. Alles schien wie alle Jahre wieder. An einem langen Tisch hockten Gäste, die zu einem auswärtigen Verein gehörten, prosteten sich mit Jägermeister zu und schmetterten den allfälligen Toast der Schützengilde:
Und Schützenbrüder sünd wi
Hev immer frohen Mod
Und durstig sünd wi jimmer
Dat lecht uns so im Blood.
God Schuss!
God Schuss!
Hamm ließ sich vom Zapfer am Tresen ein Bier geben. „Und? Wie ist es dieses Jahr? Viel los?“ Kalle, Schornsteinfeger und in dieser Funktion auch bei Hamm tätig, wiegte den Kopf und verzog den Mund. „Is nicht so doll, diesmal.“
„Wieso nicht? Wetter zu gut?“ Die Schützenbrüder fürchteten Dauerregen ebenso wie Backofenwärme. Der Zulauf zum Festplatz, auf dem Kinderkarussells, Bratwurststände und Losbuden aufgebaut waren, ließ dann gewöhnlich zu wünschen übrig. Wieder wiegte Kalle den Kopf.
„Hat mit dem Wetter nichts zu tun. Sieht eher so aus, als ob manche nicht gekommen sind, weil sie mit anderen nicht zusammentreffen wollen. Die Stimmung ist irgendwie mau. Für die Tombola hab´ ich nur 170 Lose verkauft. Voriges Jahr waren es über 300.“
„Und wieso?“, fragte Hamm, der mit der aktuellen Kabale im Dorf nicht vertraut war.
„Die Sache mit den Windmühlen liegt den Leuten im Magen. Du weißt schon, diese Riesendinger, die sie hier aufstellen wollen. Die einen sagen so, die anderen so. Übermorgen ist großes Palaver in der Aula wegen der Dinger. Da gibt´s Krach, kannste drauf wetten.“
Die Windräder schon wieder! Sie ließen ihn nicht in Ruhe. An ein und demselben Tag zweimal dieses Thema, das war zu viel, fand Hamm. Er trank sein Bier aus und nickte Kalle zu. „Lass man, heute Abend ist der Saal bestimmt hackevoll. Und die Leute auch. Wär´ ja noch schöner.“ Er drehte sich um und stieß mit einem Schützenbruder zusammen, der deutlich zuviel Zielwasser getankt hatte. „Tschuldigung. Schönen Abend noch.“
„Wirsing“, brabbelte es aus dem Schützen heraus.
Hamm fragte sich, was der Mann damit wohl meinte. War es eine Beleidigung? Oder sollte das ein Name sein? Aber wer konnte ernstlich Wirsing heißen? Er kannte niemanden. Es hatte mal einen stramm konservativen Publizisten dieses Namens gegeben, doch der war schon lange tot.
Im Auto fiel ihm die Lösung ein. Wiedersehen, hatte der Schützenbruder sagen wollen. So konnte man es natürlich auch ausdrücken. Hamm nahm sich vor, „Wirsing“ einen prominenten Platz in seiner Datei „Best of Kneipenlall“ zuzuweisen, die er seit längerem zu seinem Privatvergnügen führte. Dem Besuch gewisser Gaststätten verdankte er schöne Einträge, darunter Evergreens wie „Kino“ (ki nochenbier?) oder „Eishockey“ (allsokay?). Zufrieden fuhr er heim. Der Abstecher in die Schützenhalle hatte sich gelohnt.
„Sie sind ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“
(auf Gutmenschen gemünztes, umgedrehtes Mephisto-Prinzip, aus B. Hamms Ordner „Starke Sprüche“)