periplaneta
LAANDER KARUSO: „Der Weg zu meinem verfickten Seelenfrieden“
1. Auflage, Dezember 2016, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk
© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str.81a, 10439 Berlin,
www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung
des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlags.
Der Autor Laander ist nicht mit dem Protagonisten Laander identisch.
Die Handlung und die handelnden Personen sind erfunden.
Es sind auch keine Tiere zu Schaden gekommen.
Lektorat & Projektleitung, Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-95996-017-5
epub ISBN: 978-3-95996-027-4
Der Weg zu meinem verfickten Seelenfrieden
periplaneta
„Zyniker ist einer,
der den Glauben an das Böse im Menschen
noch nicht verloren hat.“
Ron Kritzfeld
- 10.Juni -
Seit Stunden gehe ich am Strand entlang und frage mich ernsthaft, warum ich nicht aus mir herausgehen kann. Warum ich nicht spontan bin und bevor ich etwas tue, immer abwäge, ob es gut oder schlecht, vertretbar oder verwerflich ist. Warum sage ich den Menschen, die es verdienen, nicht einfach ungefiltert und ungebremst, was sie sind und was ich von ihnen halte? Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein präfrontaler Kortex, das Anstands- und Benimmzentrum in meinem Gehirn, zu stark ausgebildet ist. Mein Kortex lässt mich nicht nur Impulsen widerstehen oder passt auf, was ich sage, wie es bei normaler Funktion der Fall wäre, er funktioniert sogar so gut, dass ich Ausbrüche inszenieren und mich zu Impulsen zwingen muss.
Ich kann nicht sagen, was mir gerade durch den Kopf geht und kann nicht tun, wonach mir ist, weil meine Gedanken und Intentionen stets und ständig, doppelt und dreifach überprüft und hinterfragt werden, wodurch ich dauerhaft gehemmt bin. Was passiert, wenn ich dieses oder jenes tue? Was werden die Menschen über mich denken? Wäre es nicht besser, einfach nichts zu tun? Dies sind die Fragen, die ich mir in den Weg stelle.
Ich bin es leid …
Während ich gedankenversunken durch den Sand laufe, höre ich plötzlich Musik. In einiger Entfernung sehe ich eine Strandparty. Die Musik berührt mich und löst etwas in mir aus. Ich höre eine willkürliche Mischung aus Musik von Madsen, den Kings of Leon und Pearl Jam. Während ich mich der Party nähere, fühlt es sich an, als liefe ich gegen eine Gewitterfront aus Akkorden und Energie an. Ich beschließe, mich auf die Musik einzulassen. Die Musik wird lauter. In mir bäumt sich unaufhaltsam die Frage nach der Sinnhaftigkeit meines Tuns auf. Ich beobachte die Menschen auf der Party und beneide sie um ihre ungehemmte Einfachheit, in dem Wissen, dass sie sich nicht all diese Fragen stellen müssen.
Bei der Party angekommen, stehle ich einen Impuls, der mit der Musik aus den Lautsprechern dröhnt. Dieses Mal, denke ich mir, werde ich es wie alle anderen machen und den Weg des geringsten Widerstands gehen. Ich werde meine Zweifel im Meer ersäufen und jegliche Verantwortung für mein Handeln ablegen. Keine Zweifel, keine Fragen, keine Hemmungen und keine Reue. Dieses Mal werde ich mir keine zweifelhaften Dinge verbieten, nur weil ich mir einbilde, als gutes Vorbild die Welt retten zu können.
NICHT DIESES MAL!
Zur Hölle mit dem Anstand, denke ich mir. Ich springe mitten in die Meute und drehe mich mit ausgestreckten Armen im Kreis, um mir Platz zu verschaffen. Völlig überrascht schrecken die Menschen zurück und beobachten mich. Ich versuche, den Beat zu fühlen und beginne, mich nach ihm zu bewegen. Ich werfe meine Arme und Beine in die Lüfte und durch die Gegend, ich springe und drehe mich ohne Koordination oder Körpergefühl.
Meine Bewegungen sehen lächerlich aus. Ich warte nur auf den Ausbruch schallenden Gelächters. Aber es bleibt aus. Warum lachen die Menschen nicht über mich? Vermutlich bemitleiden sie mich und haben ihre Blicke bereits betreten abgewandt. Mit einem Blick in ihre Gesichter kann ich es herausfinden. Ich beschließe stehenzubleiben und zähle innerlich herunter. Drei, zwei, eins, Stillstand.
Während ich mich in der Gruppe umsehe, fällt mir auf, dass alle Blicke ausnahmslos auf mich gerichtet sind. In ihren Augen flackert Entzücken und Bezauberung.
„Mach weiter!“, schreit einer von ihnen.
„Ja. Nicht aufhören!“, folgt kurz darauf. Ich zögere erstaunt. Das können die nicht ernst meinen. Die immer lauter werdenden Schreie und verschiedene hochprozentige Getränke, die mir angeboten werden, um mich zum Weitermachen zu bewegen, zeigen mir jedoch, dass es so ist. Dankend nehme ich an und trinke die Gläser, deren Inhalt am farbenfrohsten leuchtet und mir am meisten Freude suggeriert, in einem Zug aus. Obgleich ich weiß, dass meine verdammte Leber mir den Großteil des Alkohols vorenthält, bin ich guter Dinge. Unter frenetischem Applaus und lautem Geschrei als Ausdruck der Freude meiner Zuschauer, führe ich meinen Tanz fort. Während ich weitertrinke und trunkener werde, büßen meine Tanzbewegungen auch den Rest an Eleganz ein. Den Menschen um mich herum ist das völlig egal. Je mehr ich trinke, je mehr trinken sie. Je mehr ich schwanke, desto euphorischer schreien und applaudieren sie. Durch den Lärm schreiender Menschen dringt ein diffuser, aber irgendwie bekannter, digitaler Ton. Ich denke nicht darüber nach, was er bedeuten könnte. Nach einer Weile ausgiebigen Tanzens merke ich, dass ich eine Pause benötige.
„Hier, rauch’ erst mal eine!“, sagt ein Mann aus der Gruppe, der vermutlich meinen Grad der Trunkenheit teilt und mir seine geöffnete Zigarettenschachtel entgegenhält.
Was soll’s, denke ich. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich rauche diese eine Zigarette, bei der es selbstverständlich nicht bleibt. Ich rauche und rauche, eine nach der anderen, ich rauche wie ein Schlot. Ich rauche auch mit den anwesenden Kindern und bringe ihnen böse Wörter bei. Mir ist inzwischen egal, was ich tue. Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich und genieße die damit verbundene Freiheit. Als ich gerade dabei bin, den Kindern harten Alkohol einzuschenken, wird plötzlich an mir herumgezerrt.
Die Menschen um mich herum packen mich und hieven mich auf ihre Schultern. Sie tragen mich zu einer Bühne, die mir vorher nicht aufgefallen war und setzen mich sanft auf ihr ab. Entzückt und sehnsüchtig schauen sie mich an und verzehren sich förmlich nach mir. Wie glückliche kleine Kinder sehen sie aus, mit ihren leuchtenden Augen und verträumten Blicken. Vereinzelt fragen mich Männer und Frauen, ob sie mich lieben dürfen. Ich sage ihnen, dass sie sich mit meinem Anblick begnügen müssen, worauf sie sichtlich enttäuscht sind und nach einem Stück meiner Seele verlangen. Ich willige ein und bekomme eine zwölfsaitige Westerngitarre gereicht, welche mit aufwendigen Verzierungen auf dem Korpus versehen ist, aber ich will sie nicht. Ich will dieses Stigma meiner Vulnerabilität, meiner Enttäuschung und meiner Sensibilität nicht, weil ich es heute hasse. Heute bin ich mehr als das! Ich sehe mir die Gitarre ganz genau an, bevor ich sie zerschmettere: Das Schlagbrett ist herzförmig, links und rechts davon Rosenranken. Die Bünde drei, fünf, sieben, neun, zwölf, fünfzehn, siebzehn und neunzehn auf dem Griffbrett sind mit kleinen Symbolen versehen: ein Herz, ein Yin-Yang, ein Peace-Zeichen, ein Kruzifix, ein Schmetterling, ein Jesus-Fisch, ein Gänseblümchen und ein Baum.
Vier Schläge sind nötig, um die Gitarre zu zerstören. Ein weiteres Mal ertönt dieser polyphone Warnton, der sich jetzt weniger gut ignorieren lässt. Die Menschen um mich herum merken von alledem nichts. Augenblicklich wird mir ein neues Instrument gereicht, welches besser zu meinem neuen, zwanglosen Ich passt: eine Gitarre in Form einer zweischneidigen Streitaxt. Als ich den ersten Powerchord anschlage, fängt die Gitarre zu brennen an. Vor Schmerz oder vor Ekstase beginne ich, mein Gitarrenspiel begleitend, zu schreien. Die Menschen um mich herum drehen völlig durch. Sie stimmen in mein Geschrei ein und bedeuten mir, dass sie dankbar dafür sind, dass ich die Abschaffung meiner Prinzipien mit ihnen zelebriert habe. Zum dritten Mal höre ich diesen penetranten Ton. Dann ist es still.
Ich sehe mich um. Keine Musik mehr, keine Menschen und keine Bühne. Nur ich, der Strand und das Wasser. Mit einem Blick auf meinen MP3-Player wird mir klar, dass die Batterien entladen sind. Ich entferne die Stöpsel aus meinen Ohren und höre das Meer. Ich höre, wie die Wellen auf den Sand treffen und wie der Wind leise über die Wasseroberfläche säuselt. Wenige Augenblicke später ermahnt mich mein Kortex, diese Fantasie niemals wahr werden zu lassen. Ich stimme ihm zu und verspreche, achtsam zu sein. Ich bleibe noch lange am Strand stehen und blicke auf das Wasser, während ich darauf warte, dass das, was ich gesehen und gehört habe, einfach nicht mehr wahr ist.
- 04.Juli -
Mein Geburtstag steht bald ins Haus. Es wird höchste Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie ich im nächsten Lebensjahr sein will, wie ich mich verhalten, wie ich leben und was ich denken will.
Will ich nur kalendarisch älter werden, oder auch biologisch? Will ich reifer werden, will ich überhaupt älter werden? Soll ich mich oder soll ich mich nicht meinem Alter entsprechend benehmen? Aber wie benimmt sich ein Fünfundzwanzigjähriger?
Ich weiß nicht, ob mit 25 ein Viertel oder ein Drittel meines Lebens vorbei ist. Das verunsichert mich. Irgendwie ist man mit 25 nicht wirklich jung und nicht wirklich alt. Man ist zu alt für jugendlichen Leichtsinn und zu jung, um sich seiner Sterblichkeit bewusst zu sein oder einen roten Porsche-Cabrio zu fahren. Irgendwie bewege ich mich in einer Art Schwebezustand zwischen den Generationen. Aber ich will diese Unzugehörigkeit nicht haben.
Ich denke, ich werde mich ins geistige Frührentenalter begeben. Ich will mein Alter mit drei multiplizieren und mich so benehmen, wie die Senioren, die mir immer wieder begegnen.
Die Senioren, die ich hin und wieder in ihre Arbeit vertieft am Gartenzaun sehe und bei denen ich nicht grüße, weil ich befürchte, ihnen einen so großen Schrecken einzujagen, dass ihnen das Herz stehenbleibt. Jene, die über mich schimpfen, wenn sie bemerken, dass ich ohne einen Guten Tag zu wünschen, an ihnen vorbeigezogen bin. Jene, die es offenbar nicht abwarten können und mich mit ihrem Todeswunsch ständig nerven. Ich will später nicht auf meinem Grabstein stehen haben, dass ich für ihren verantwortlich bin.
Aber ich will mich in diesem Lebensjahr genau so benehmen. Ich will mein Recht auf Gleichgültigkeit und Egoismus und dabei immer Rücksicht und Respekt von der Jugend fordern, selbst aber weder das eine noch das andere walten lassen. Ich will an der Kasse drängeln und andere auffordern, Platz auf dem Fußweg zu machen, während ich trödele, wo ich nur kann und für nichts und niemanden Platz mache.
Ich will Kinder mit Hasstiraden überschütten, wenn diese während der gesetzlichen Mittagsruhe spielen oder auf meinem gepflegten Rasen herumtrampeln, meine Nachbarn bei den Behörden denunzieren, wenn sie keine Umweltplaketten an ihren Autos haben. In Konfliktsituationen mit Jugendlichen will ich mich echauffieren und behaupten, dass die Jugend früher nicht so vorlaut gewesen sei und dass früher überhaupt alles besser war, obwohl ich weiß, dass das eine Lüge ist.
Ich will mich über den Untergang unserer schönen deutschen Sprache empören und dafür Minderheiten, Ausländer und die USA verantwortlich machen, während ich selbst verlernt habe, Präpositionen wie ‚zu‘ und ‚nach‘ oder ‚als‘ richtig zu gebrauchen. „Wo geht’s ’n hier nach den Supermarkt?“, will ich die jüngeren Leute fragen und Klugscheißer will ich diejenigen nennen, die mich korrigieren. Und fragen will ich sie, wer von uns denn wohl schon länger Deutsch spricht und es wohl besser weiß.
Ich will Angst vor der Welt haben, den Fernseher während der Tagesschau anpöbeln und Dinge verteufeln, die ich nicht kenne oder verstehe. Ich will mir vorstellen, den Großteil der Erlebnisse und Erfahrungen des Lebens schon hinter mir zu haben und an ihnen gewachsen zu sein. Ich will das Leben und den Lauf der Welt verstanden haben und will unter meiner verbitterten Schale ein weiser, gütiger Mann sein, für den das Leben nur noch eine einzige Ungewissheit bereithält.
Ich will Vater sein, ich will Großvater sein. Ich will mich freuen, wenn meine imaginären Kinder Paul-Tyson und Jaimee-Pascaline mich besuchen kommen. Ich will ihnen ein guter Vater gewesen sein. Ich will meine Enkel umsorgen und ihnen die Welt erklären. Ich will mit ihnen in den Park gehen und Enten füttern, während Paul-Tyson und Jaimee-Pascaline in der Arbeit sind und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten, wie ich es als wichtig erachte. Ich will die Angst vor dem Sterben verloren haben und wissen, dass ich die Welt ein bisschen besser gemacht habe.
Ich will mir vorstellen, wie ich meinen Lebensabend mit dir in unserem Haus verbringe. Ich will, dass wir uns nie aufgegeben, nie verflucht oder gehasst haben. Ich will, dass wir immer zueinander gehalten haben und füreinander dagewesen sind. Ich will immer dein Mann gewesen sein und ich will dich zum tausendsten Mal mit einem Lächeln in meinem faltigen, runzligen Gesicht fragen, ob du mit mir alt werden willst, obwohl ich ganz genau weiß, dass wir schon alt sind.
- 25.Juli -
Urlaub am Meer, auf Misanthropien. Urlaub ist die Hölle!
Meine schlechte Laune macht keinen Urlaub. In meinem Kopf gibt es keinen Urlaub, keinen Strand und keine Sonne. In meinem Kopf ist es dunkel und muffig. Es riecht nach abgestandener Luft und die Tapete blättert von den Wänden. In der Dunkelheit stolpert man über dicke Notizbücher und läuft gegen Aktenschränke, in denen mein Zynismus den Zynismus der anderen archiviert. Gründe dafür, warum ich Urlauben nichts abgewinnen kann. Am Anfang packen wir unsere Koffer voll mit Badesachen, Kleidung, Hygienebedarf und immensen Geldbeträgen. Das einzige, was wir nicht einpacken müssen, ist unsere Dekadenz. Die kommt unweigerlich mit. Vorher kündigen wir an, dass wir uns im Urlaub mal etwas gönnen wollen, dass wir es uns richtig gutgehen lassen werden. Wir spazieren auf der ganzen Welt herum und interessieren uns für nichts außer für uns. Wir behaupten zwar immer, wir würden unseren Horizont erweitern, aber in Wahrheit leben wir nur unseren Hedonismus aus. Wir bereisen die exotischsten und entlegensten Länder, sind aber nur auf der Suche nach Komfort und Wohlergehen. Und natürlich auch nach guten Bildern. Einer Statistik des auswärtigen Amtes zufolge, war im Jahr 2010 die häufigste Urlaubskrankheit der Gesichtsmuskelfaserriss, weil wir scheiß Touris den lieben langen Tag unsere dämlichen Fressen grinsend in irgendwelche Kameras halten, während wir vor geschichtsträchtigen Gebäuden oder Statuen posieren. Die Mentalität, die dahinter steckt, ist ganz einfach:
„Guck’ mal, wo ich war. Guck doch mal! Wie dieser Tempel da heißt, habe ich vergessen. Und frag’ mich jetzt bitte nicht nach irgendwelchen geschichtlichen Details oder wie es der Bevölkerung geht. Aber verdammte scheiße – ich, ich war da!“
Neulich habe ich auch gelesen, die katholische Kirche habe deshalb seit Jahrhunderten christliche Statuen errichtet, weil sie will, dass Jesus überall auf irgendwelchen Profilbildern bei Facebook auftaucht.
Wir fahren in den Urlaub und bestimmen im Vorfeld, wie viel Gewicht wir zuzunehmen vorhaben, so als ob wir nicht vorher schon fett gewesen wären. Wir tun so, als wäre es uns das ganze Jahr über schlecht ergangen, als hätten wir nicht ohnehin schon genug gefressen und fressen weiter, während andere verhungern. Wir unterstützen die Ungerechtigkeit auf dieser Welt und vergrößern die Diskrepanz zwischen Hunger und Sättigung, indem wir uns bei jeder Gelegenheit bis zum Erbrechen an Buffets vollfressen und immer noch ein Dessert, noch eine Portion Pommes und noch ein Tier in uns hineinstopfen.
Und nachdem wir es uns richtig gutgehen lassen haben, packen wir unsere hässlichen, verwöhnten Körper an den Strand. Und während wir uns weder an- noch umsehen, weil wir den Anblick einfach nicht mehr ertragen können, sehnen wir uns nach Ästhetik und Schönheit. Aber die Schönen kommen nicht! Die Schönen haben ihre eigenen Strände. Refugien der Vollkommenheit und Schönheit, wo man sich nicht von uns Unvollkommenen begaffen und von unserer Anwesenheit belästigen lassen muss. Von unserem Wunsch danach, auch schön zu sein. Hin und wieder verirrt sich einer der Schönen an unsere Strände. Aber weil wir unsere Freude und Entzückung nicht maßregeln und unseren Wunsch nach Schönheit nicht zurückhalten können, vertreiben wir den schönen Menschen schnell wieder mit Blicken und blöden Sprüchen. Dann liegen wir wieder herum und tun nichts. Gar nichts!
Urlaub ist Verschwendung, Geldverschwendung, Zeitverschwendung, Lebenszeitverschwendung! In der Zeit, in der wir in der Heimat durch Arbeit, Engagement oder bewussten Verzicht dafür sorgen könnten, dass die Welt etwas erträglicher wird, machen wir sie eigenhändig schlimmer. Wir reiten auf unserem hohen Ross namens ‚Kaufkraft‘ in Billig-Lohn-Länder, dominieren die Einheimischen und meinen auch noch, Geld gäbe uns das Recht dazu. Es scheint, als wollten wir uns auch mal wieder mächtig fühlen und über andere Völker bestimmen. Übermenschen auf Reisen, die Herrenrasse macht Ferien.
Wir scheißen auf Rücksichtnahme, Anstand und gegenseitigen Respekt, wir prügeln uns um Parkplätze, Strandkörbe und liefern uns Schlachten am Frühstücksbuffet der Hotelanlage. Wir rechtfertigen unser Handeln, indem wir behaupten, wir müssten das ganze Jahr über verzichten und indem wir fordern, dass es endlich auch Mal um uns gehen soll. Aber es geht die ganze Zeit nur um uns! Wir schreien uns an, wir kotzen uns voll, wir übernehmen keine Verantwortung für unser Verhalten, weil es alle anderen schließlich genau so machen.
Urlaub bringt das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein. Urlaub ist die Hölle!
Ich hasse Urlaub!
- 30. August -
Ich sitze in meiner Wohnung und starre an die Decke. Neben mir schläft der Hund friedlich und schnarcht dabei. Plötzlich klingelt es. Vor der Tür steht eine Gestalt mit dunklem Umhang, dunkler Kapuze und einer rostigen Sense in der Hand.
„Ach du Kacke!“, rutscht mir raus.
„Ja ganz toll. Echt nett“, sagt er in eingeschnapptem Tonfall, „Gevatter Tod, wenn’s recht ist. Kann ich reinkommen?“
„Nein!“, antworte ich sofort.
„Ich habe nur aus Anstand gefragt. Ich komm jetzt rein. Entweder machste mir Platz oder bleibst stehen. Aber wenne stehenbleibst, muss ich dich zur Seite schieben und wenn ich dich berühre, kippst du aus ’n Latschen und ich hab früher Feierabend.“
Ohne weiter zu zögern, setzt er sich in Bewegung und schreitet durch die Haustür. Blitzschnell hechte ich zur Seite und finde mich auf dem Schuhregal in der Ecke wieder.
„Klappt immer“, murmelt er vor sich hin, als er den Flur betritt. Die Blume auf der Flurkommode verwelkt augenblicklich, als er diese passiert. Doch bevor ich dazu komme, sie zu bedauern, fällt mir plötzlich ein, dass sich Lotta noch im Zimmer befindet. Ein Schrecken fährt mir durch den Körper und ich spurte los. Als ich die Tür erreiche, steht der Sensenmann schon vor der Couch und blickt auf meinen Hund herab. Lotta hat es sich in meiner Abwesenheit gemütlich gemacht und liegt nun quer auf der Couch, so dass kaum mehr Platz zum Sitzen ist.
„Mach mal Platz, Fiffi“, sagt Gevatter Tod, während er sich auf die Couch niederlässt und ansetzt, Lotta zur Seite zu schieben.
„NEEEEIIIIN!“, schreie ich aus dem Affekt, „Finger weg von meinem Hund!“ Aber es ist zu spät. Er hat sie bereits berührt.
Offenbar verwundert schaut er zu mir hoch und stutzt.
„Junge, bleib’ mal geschmeidig“, sagt er gelassen und gestikuliert, als wollte er einen sich nähernden Zug aufhalten. „Wenn du immer gleich so an die Decke gehst, wirste aber nich alt“, sagt er beiläufig und fängt an, Lotta zu streicheln. Sie hebt den Kopf, schaut sich um und legt ihr Haupt nach kurzer Zeit wieder desinteressiert nieder.
„Sie … lebt?“, frage ich etwas konfus.
„Na klar. Was dachtest du denn? Ich kann doch keinen Hund umbringen!“
„Du meinst, es geht nicht? Deine Todeshände funktionieren nicht bei Tieren?“
„Hast du ’n Knall, Junge? Ich mein damit, ich bring’s nich übers Herz, du Depp! Also echt. Warum sollte ich ’n Hund umbringen, häh? Tiere sind besser als Menschen. Mal abgesehen von diesen scheiß Katzen. Mann, ich hasse Katzen.“
„Was willst du überhaupt hier?“
„Ich bin wegen dir hier!“
„Was? Nein! Wieso?“, sage ich entgeistert und verwehre ihm durch weitere Fragen das Wort.
„Nu’ mach mal hier keine Szene. Ich tu’ hier nur meinen Job“, sagt er gelangweilt vor sich hin.
„Aber, aber …“, stammele ich, „ich hatte doch noch so viel vor.“
Fassungslosigkeit macht sich in meinem Gesicht breit, ich bin den Tränen nahe. Gevatter Tod zeigt sich unbeeindruckt.
„Ja, ja, ja. Können wir’s vielleicht einfach schnell hinter uns bringen? Ich hab’ nämlich auch noch so viel vor. Ich hab’ gleich Feierabend und der Charon wartet auch schon draußen. Wir woll’n noch in die Kneipe einen trinken gehen!“
„Was hast du denn mit dem Charon zu schaffen?“, frage ich.
„Was ich mit dem Charon zu schaffen habe? Du hast vielleicht ’ne Chuzpe. Biste ’n kleines bisschen fremdenfeindlich oder wie? Darf ich nich mit dem Fährmann der griechischen Mythologie einen heben gehn? Oder haste einfach was gegen die Griechen? Biste etwa auch einer von denen, die behaupten, die Griechen sind faul? Von wegen faule Griechen. Der Typ hat in der Antike die Seelen der Toten zum Hades gebracht, verstehste? Hast du eigentlich ’ne Ahnung, was das für ’ne Drecksarbeit ist? Jeden Tag malochen, nix mit geregelten Arbeitszeiten, nix mit Urlaub. Leute, wie du gehen mir so auf’n Kneffer!“
„Nein! Ich habe nichts gegen die Griechen, ich bin auch keiner von denen. Ich will bitte nur nicht sterben.“
„Sterben will keiner. Es jammern zwar alle über das Leben, aber sterben woll’n se auch alle nich. Weißte, worüber ich jammern würde?“
„Wenn du nicht in die Kneipe könntest?“, frage ich zaghaft.
„Hast es erfasst, du Genie. Und ich sag dir auch gerne warum. Die Banshees sind heut Abend auch da.“
„Wer oder was sind Banshees?“
„Die Banshees, man!“, sagt er fordernd und wie selbstverständlich, als müsse ich doch wissen, wovon er redet, „Die Todesfeen aus der irisch-keltischen Mythologie.“
Ich weiß trotz seiner Erklärung nicht, was er mir sagen will.
„Verstehste nich, Junge? Irisch-keltische Weiber! Kannste dir vorstellen, was die wegsaufen und was die für Sauereien mit einem anstellen, wenn die erstmal hart sind? Pass’ mal auf, Karuso, du scheinst mir ein netter Junge zu sein. Wenn du mich jetzt einfach meine Arbeit machen lässt, dann verspreche ich dir, dass es ganz schnell vorbei ist und dass es auch überhaupt nich weh tun wird. Was sagste dazu?“
„Wenn du mich so nett findest, warum vergisst du nicht einfach, weswegen du hergekommen bist und gehst wieder? Ich werde es auch niemandem sagen.“
Stille. Auch wenn ich des Sensenmannes Gesicht nicht sehen kann, vermute ich, dass sich seine Miene soeben verfinstert hat.
„Okay, ich habe gelogen. Du bist ’n Idiot und gehst mir langsam echt auf die Klötze.“
„Warum ich? Warum“, versuche ich zu fragen, er fällt mir ins Wort.
„Ja klar. Is ja mal ’ne ganz neue Frage. Ehrlich. Hab ich so noch nich gehört: ‚Warum ich? Warum nich wer anders, jemand den ich nicht kenne?‘“
„Warum nicht einer von den schlechten Menschen?“, ergänze ich.