Maiwald
Roman
In human relations
kindness and lies are worth a thousand truths.
Graham Greene, The Heart of the Matter
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Für uns Journalisten war Maiwald ein Segen. Er gehörte zu den wenigen Wissenschaftlern, die schlagzeilentaugliche Sätze formulieren können. Raunende Sätze. »Demütigung ist die gefährlichste aller Triebkräfte«, sagte er damals in einem Fernsehinterview, als der Vierfachmord an einem Chefbeamten und drei Mitarbeitern die Stadt aufwühlte. Sie hatten den scheuen Kollegen über Jahre ausgeschlossen und sich über ihn lustig gemacht. Bis er an einem strahlenden Frühlingstag mit einer Pistole in der Hand im Amtshaus stand. »Wenn der Wind von der falschen Seite her weht«, sagte Maiwald, »unter Sturmbedingungen des Lebens, ist vieles möglich. Bei jedem von uns.«
Er sprach langsam und ernst und schaute dabei in die Kamera. Mit seiner ruhigen Stimme fügte er hinzu, er räusperte sich dabei kaum hörbar: »Die meisten Menschen haben im Lauf ihres Lebens einmal Mordfantasien. Gegen begabtere Brüder, schönere Schwestern, sexuelle Rivalen. Nicht zufällig die Stoffe der klassischen Tragödie.« Mit seinem dichten Haar und den stechenden Augen sah er blendend aus.
Klaus Maiwald, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie, galt bei uns als der Mann für das Abgründige. Wenn irgendwo im Land ein Verbrechen geschah, das wir nicht einordnen konnten, wenn Menschen sogenannt Unmenschliches taten, das uns schaudern ließ und für das uns die Worte fehlten, baten wir ihn um eine Einschätzung. Ein Interview, ein Zitat, nichts Braves, wenn es irgendwie ging, nur nichts Erwartbares. Maiwald half meistens.
Natürlich hatte einer wie er Feinde. An der Universität vor allem, wo sie ihm den Erfolg nicht gönnten, ihn wegen seiner bilderreichen Sprache verhöhnten. Zu pathetisch sei er für einen Wissenschaftler, giftelte man hinter vorgehaltener Hand. Er sei eben mehr ein Wissenschaftler-Darsteller als ein ernsthafter Forscher. Einem Fakultätskollegen, ich kannte ihn als feinsinnigen Mann, entfuhr es einmal am Rand einer Tagung, dieser Maiwald tue doch alles für etwas Scheinwerferlicht. Der lasse sich von den Medien vögeln, wenn es sein müsse, zischte es über die schmalen Lippen. Die Adern an seinem Hals traten hervor.
Maiwald genoss die Aufmerksamkeit, kein Zweifel. Er ließ sich aber nichts anmerken. Nie erhob er die Stimme, und er gab einem das Gefühl, nichts am Menschen sei ihm fremd. Die Leute mochten seine Unaufgeregtheit. Menschen sind aus krummem Holz, pflegte er zu sagen, und oft zitierte er beiläufig einen Philosophen oder Schriftsteller. Er hatte viel gelesen und konnte einem erklären, wie Sinnloses schleichend zum Naheliegenden, ja Logischen werden kann, wenn sich Erlittenes und Ersehntes nur ungünstig verbinden.
»Der Hang gerät leicht ins Rutschen«, sagte Maiwald immer wieder, »die Kruste der Zivilisation ist dünn.« Einmal meinte er, vielleicht schwimme sie sogar nur auf Lava.
Begegnet war ich ihm in den frühen Achtzigerjahren zum ersten Mal. Noch vor dem Aufstieg. Ich war mit seiner Tochter, Simone, noch nicht zusammen gewesen. Auch mich hatte er bei unserer ersten Begegnung in seinen Bann gezogen. Er saß mir gegenüber, am Mittagstisch der Maiwalds, und fixierte mich mit den Augen und lächelte freundlich. Ich mochte das feingeschnittene Gesicht und die schmalen und kräftigen Hände. Auch das Dunkle um die Augen, wenn er in sich gekehrt schien. Warum ich später, Jahre nach Simones Tod im Winter 1990, nie Kontakt zu ihm aufnahm, ich wusste es nicht. Irgendetwas, eine innere Stimme hielt mich davon ab.
Ein direkter Draht zu ihm hätte mir nützlich sein können. Wer über Kriminal- und Gerichtsfälle schreibt wie ich, kann das eine oder andere Zitat eines bekannten Psychiaters immer gut gebrauchen. Ich dachte manchmal an Maiwald, wenn ich bei einem Artikel nicht weiterwusste, in Plattitüden verfiel. Als Journalist muss ich gute Geschichten erzählen. Eine mir sonst fremde Zurückhaltung hielt mich davon ab. Wir hätten uns natürlich vor Gericht über den Weg laufen können, wo er manchmal als Gutachter auftrat. Befragungen Maiwalds galten unter Gerichtsreportern als Höhepunkte. Der Zufall wollte es nicht. So hatte ich ihn mehr als sechzehn Jahre nicht mehr gesehen, als ich an jenem regnerischen Oktoberabend 2006 von seinem Selbstmord erfuhr. Seit Simones Tod nicht mehr. Unmöglich, war mein erster Gedanke. Unmöglich.
Maiwald war bei seiner Wahl zum Klinikdirektor bekannt geworden. Das muss Mitte der Neunzigerjahre gewesen sein. Von einem Tag auf den anderen war er Stadtgespräch. Von einer Intrige gegen ihn war die Rede. Von nächtlichen Sitzungen mächtiger Professoren, die ihn um jeden Preis verhindern wollten. Bald kursierte das Gerücht, er sei wegen Landfriedensbruch vorbestraft und sogar einmal verhaftet worden. Normalerweise das Ende einer Kandidatur.
In der Zeitung tauchten Fotos auf. Grobkörnig, aus einer anderen Zeit. Der junge Maiwald, wie er lachend zusammen mit einem Dutzend junger Männer und Frauen ein Auto auf den Stadt-Boulevard hinausträgt, um die Straßenbahn zu blockieren. Im Hintergrund ein alter Mann, der Gehstock in die Luft gereckt. Das Gesicht ein weißer Fleck. Maiwald mit halblangen Haaren und Strähnen. Die Schultern schmal und die Gestalt feminin, wie der junge Mick Jagger. Auf einem Foto wandte er sich einer Frau mit langen Haaren hinter ihm zu. Sie hatte die Hand auf die Stoßstange gelegt und lachte ihn an.
Wer immer die Fotos der Zeitung zugespielt hatte, er hatte sich gründlich verrechnet. Einer wie Maiwald, sollten sie einen warnen, ein Krawallmacher, der taugt nicht zum Klinikdirektor. In Wahrheit erzählten sie von Tatkraft und Anmut, Verführung und Sehnsucht. Sie weckten nicht Ablehnung, sondern höchstens Neid. Selbst das Gerücht, Maiwald habe Kontakte in die DDR gehabt, konnte ihm nichts anhaben. Der Kalte Krieg war vorbei. Kontakte in die DDR – das klang jetzt nach Bürgerrechtlern. Maiwald schwieg. Seine Rechnung ging auf. Mit etwas Verzögerung wurde er zum Direktor gewählt, und den Journalisten war er nun bekannt. Man hörte seine Stimme nun ab und zu am Radio und Fernsehen. Er schrieb Bücher, die sich gut verkauften. Sie trugen Titel wie ›Der schmale Grat‹ und ›Im freien Fall‹ und standen in den Schaufenstern der Buchhandlungen.
Die Nachricht von seinem Selbstmord machte mich traurig. Ich kann nicht sagen, dass ich erschüttert war, dafür lag alles schon zu weit zurück. Doch ich hatte ihn gemocht. Ein Stück weit gar verehrt. Zudem starb mit ihm noch einmal ein Teil meiner Geschichte mit Simone. Warum bloß er, ausgerechnet Maiwald? Er war eine durch und durch souveräne Person gewesen, ein Experte für menschliche Gefühle. So hatte es von außen ausgesehen.
Ich musste an seine Frau Elena denken. Sie tat mir leid. Das Leben hatte ihr grausam mitgespielt, nach der Tochter hatte sie nun noch den Mann verloren. Ich fragte mich, wie es ihr erging in diesen Stunden. Ob Freunde bei ihr waren. Oder musste sie den Abend alleine verbringen, in dem hübschen kleinen Haus in der Gartenstadt im Norden, in dem die Maiwalds früher gewohnt hatten? Wo das Licht heller gebrannt hatte als anderswo.
Es war Zufall gewesen, dass Lukas an jenem Oktoberabend ausgerechnet mich mit der Notiz über den Selbstmord beauftragte. Ich wäre um diese Zeit, um neun Uhr abends, normalerweise nicht mehr auf der Redaktion gewesen. Kurzatmig bat er mich am Telefon, einen Prominenten-Selbstmord zu übernehmen. Er steckte am Bahnhof im Verkehr fest und keuchte in den Hörer, eben habe er von der Agenturmeldung gehört. Hätte ich gewusst, um wen es ging, so hätte ich sofort abgelehnt.
Zugleich war ich in jenen Tagen um jede Ablenkung froh. Ich wollte möglichst spät zu Hause sein. Véronique und ich hatten Streit. Unsere Beziehung befand sich im Vorauflösungsstadium, seit ich ihr gesagt hatte, dass ich nicht mit ihr nach Genf ziehe. Bloß nicht nach Genf! Die Erfahrung hatte mich gelehrt, Zusammenstöße in solchen Momenten zu vermeiden. Schmetterlinge können bei unsicherer Wetterlage bekanntlich Tornados auslösen.
Ich warf einen Blick auf die Agenturmeldung und entschied mich, die Sache am nächsten Tag der Volontärin zu übergeben. Elena sollte keine Notiz über den Tod ihres Mannes mit meinem Kürzel darunter lesen müssen.
Ich schaute aus meinem Fenster im sechzehnten Stock des Verlagshochhauses. Ein bläulich-weißer Schimmer lag über der Stadt. Die Bürotürme des Bankenviertels am Horizont leuchteten, und auf dem Parkplatz unten setzte sich ein Auto ruckelnd in Bewegung. Lichtkegel tanzten über die nasse Parkfläche, Sekunden später wurden die roten Punkte von der Unterführung verschluckt. Schon wieder so ein Abend, an dem ich zusah, wie sich der Parkplatz langsam leerte.
Ich öffnete das Fenster und knipste das Licht auf dem Schreibtisch aus. Ich schloss die Augen. Feuchte Luft kroch an meinen Beinen empor. Bilder von Maiwald tauchten auf. Vor seinem Haus auf dem Fahrrad, er winkt mir zu. Auf dem Gepäckträger eine alte Ledermappe, die beinahe auseinanderfällt. Maiwald neben Elena am Mittagstisch. Im schwarzen Hemd, er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Maiwald beim Schuldirektor, zitternde Finger. Vor Zorn. Dann Bilder von Simone. Auf dem Fahrrad im Sommer, flirrende Hitze. Sie hat die Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Simone an der Vollversammlung, mit dem Mikrofon in der Hand. Ein Moment des Zögerns, bevor sie zu sprechen beginnt. Schließlich das Bild, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Simone am Ende der Straße. Sie verschwindet hinter der Hecke.
Von Simones Tod hatte ich bei Paul, meinem Vater, erfahren. Ich war übers Wochenende bei ihm gewesen, wir hatten zu zweit zu Hause seinen Geburtstag gefeiert. Kurz zuvor war ich aus der Stadt am Fluss wieder nach Hamburg gezogen. Die befristete Anstellung bei der Zeitung war ausgelaufen. Als der Anruf der Polizistin kam, die mich nach Simones Verschwinden befragt hatte, lag ich im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Ich hörte mit Kopfhörer Musik, alte Schallplatten von Paul, und ich bekam das Klingeln zunächst nicht mit. Ich sah nur, wie er den Hörer abhob und es vermied, mich anzuschauen.
Ich ahnte, ja im Grunde wusste ich bereits, was das bedeutete. Ich ergriff den Hörer und merkte, wie sich mein Hals zuschnürte. Die Vermutung der Polizei hatte sich bestätigt. Simone war über London nach Lima geflogen und hatte dort ein schwedisches Paar kennengelernt. In einer kleinen Pension in Miraflores. Die drei waren in die Provinz Ayacucho in den Anden weitergereist, die sich in der Hand der kommunistischen Rebellen des ›Sendero Luminoso‹ befand, des ›Leuchtenden Pfades‹. Sie wurden in einen Hinterhalt gelockt und gekidnappt. Dann wurden sie in eine Scheune eingeschlossen und erschossen. Die Leichen verscharrt. Wie tote Hunde. Ein Indiobauer, ein bezahlter Spitzel, verriet alles der Polizei. Er brachte die Kleider mit den Blutspuren nach Lima. Auf Simones Pullover fand man ihr Blut.
Später las ich einmal, das Wort Ayacucho bedeute in der Sprache der Indios ›Winkel der Toten‹. Es war ein merkwürdig schönes und zugleich schreckliches Wort, das über Simones Ende hing. Sie hatte Mut besessen wie niemand, der mir in meinem Leben begegnet war. Er hatte bis zum Wagemut und darüber hinaus gereicht und war ihr am Ende zum Verhängnis geworden. Simone war naiv gewesen. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass die Rebellen sie alleine deshalb als Feindin betrachteten, weil sie aus einem reichen Erdteil stammte.
Das Jahr nach ihrem Tod im Januar oder Februar 1990 wurde zum endlosen, finsteren Tunnel. Erst im darauffolgenden Sommer ließ der Schmerz nach. Ich war im Frühling von Hamburg nach Kreuzberg umgezogen und hatte mein bereits aufgegebenes Studium wiederaufgenommen. Das Gespräch, das ich jeden Tag innerlich mit Simone geführt hatte, riss ab. Die Verbindung war mir oft inniger vorgekommen als vor ihrem Tod. Nun aber konnte ich sie nicht mehr erreichen. Ich wollte es auch nicht mehr. Ich gewann einen realistischeren Blick auf unsere gemeinsame Zeit. Ich war für sie eine Sommerliebe gewesen. ›Was that love in your eye I saw or the reflection of mine?‹, hatte eine Zeile eines Songs geheißen, den ich damals oft mitgesungen hatte. Mir war der Anfängerfehler unterlaufen, meine eigenen Gefühle für ihre zu halten.
Als ich mich so von den Erinnerungen treiben ließ, klopfte es. Ich knipste rasch das Licht an und bewegte die Maus. Niemand sollte mich hier so im Dunkeln sitzen sehen. Katjas blonder Schopf schob sich ins Zimmer.
»Bleibt es beim Mittagessen morgen?«
Ich nickte und überlegte, ob ich sie hereinbitten wollte.
»Du sahst schon frischer aus, wenn du mir die Bemerkung gestattest«, sagte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Geschwätzig zumindest bist du nicht.«
Draußen im Korridor ging jemand vorbei. Sie drehte sich um und grüßte.
»Es tut mir leid, Katja, ich bin nur müde. Bis morgen also?«
Sie lächelte und war wieder weg.
Katja war noch immer auf Goodwill-Tour. Seit Wochen versuchte sie, den Schaden wieder gut zu machen, der durch ihren Versuch entstanden war, Lukas um den Finger zu wickeln. Sie hatte im Frühling in der festen Absicht angefangen, das Volontariat nach sechs Monaten mit einer Daueranstellung in der Tasche zu beenden. Es lief zunächst ausgezeichnet und genau deshalb am Ende schlecht für sie.
Lukas war als Ressortleiter der Schlüssel zum Erfolg. So weit waren ihre Überlegungen durchaus richtig gewesen. Sie hatte die Rechnung aber ohne die Empfänglichkeit des fünfzigjährigen Mannes für Schmeicheleien junger Frauen gemacht. Lukas verliebte sich in die emsige Praktikantin, ohne nennenswerten Widerstand, und seine langjährige Beziehung mit Susanne geriet ins Trudeln. Katja erschrak und zog sich zurück.
Wo sie auftauchte, kam er ins Rotieren. Es war nicht mitanzuhören, wie er sie an Redaktionskonferenzen übertrieben lobte. Wie er nervös Augenkontakt suchte und still litt, wenn sie ihm aus dem Weg ging. Einmal saß er nach der Sitzung zusammengesunken und mit starrem Blick da, nachdem sie aus dem Raum gestürmt war. Mir tat Susanne leid. Ich kannte sie seit einigen Jahren und mochte sie. Als Gerichtsmedizinerin hatte sie mir mit ihrem Wissen von Zeit zu Zeit geholfen. Außerdem hatten Véronique und ich mit den beiden manch guten Abend verbracht. Im Jahr zuvor waren wir zusammen ein paar Tage in Florenz gewesen.
Ich sagte Lukas, er müsse das Steuer herumreißen, sofort. Als Freund durfte ich deutlich werden, obschon er mein Vorgesetzter war. Ich fragte ihn, ob ihm die Abneigung eigentlich entgangen sei, die Katja an den Redaktionssitzungen entgegenbrande. Er schüttelte energisch den Kopf und schwadronierte etwas von gemeinsamer Wellenlänge. Am liebsten hätte ich ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geleert.
Ich musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Ich wartete einen schwachen Artikel von Katja ab, brauchte nicht viel Geduld, und erledigte ihn an der Redaktionskonferenz mit der Frage, ob jemand schon einmal so viele Phrasen auf so engem Raum gesehen habe. Sie brach in Tränen aus, saß vornübergebeugt, die Hand vor den Augen, auf einem Holzstuhl. Keine Heldentat. Ich hatte gewusst, dass alle außer Lukas auf meiner Seite stehen würden. Als sie sich mit wässrigen Augen vor allen entschuldigte, war mir nicht wohl. Fortan behandelte ich sie netter. Sie dankte es mir und nahm mir manchmal etwas ab. Ich stellte fest, dass sie rasch arbeitete und schlau war und im Grunde das Zeug zur Journalistin besaß. Sie war auch sonst in Ordnung. Ihre Aufmerksamkeit tat mir gut.
Vor elf wollte ich auf keinen Fall zu Hause sein. Véronique würde schon schlafen, und ich würde in Ruhe noch ein Glas Wein trinken. Für sie war der Fall klar. Wir hatten ihrer Meinung nach fest vereinbart, noch zwei oder drei Jahre in der Stadt am Fluss zu bleiben. Dann würden wir nach Genf ziehen, für ein paar Jahre. Dabei war alles nur lose angedacht gewesen. Ich hatte dem Vorschlag zwar zugestimmt, doch es war in der Euphorie des Moments geschehen. Pläne sind Teil des Atmosphärischen. Man kann sie nicht ohne Weiteres zum Nennwert nehmen.
Es war ein warmer Sommerabend gewesen, wir hatten auf dem kleinen Balkon unserer Wohnung gesessen. Auf dem Holztisch vor uns lagen frischer Weichkäse und ein warmes Baguette. Daneben eine Flasche Rosé. Wir wollten die Gegenwart, wenn wir über die Zukunft sprachen. Uns.
»Plädierst du auf verminderte Zurechnungsfähigkeit?«, hatte sie mich angefahren, als ich ihr meine Sicht klarzumachen versuchte. Diese furchtbare Juristensprache.
Ich verstand schon, dass sie nach Genf zurückwollte. Sie hatte die Genfer Anwaltszulassung und wollte in ihrer Muttersprache arbeiten. Sie vermisste die Savoyer Alpen, wo ihre Familie ein Ferienhäuschen besaß. Véronique war vor ein paar Jahren in die Stadt gekommen, weil der Verlag, dem auch die Zeitung gehörte, für sechs Monate eine Juristin für Vertragsübersetzungen gesucht hatte. Sie war wegen mir geblieben. Sie hatte damals gesagt, aus uns könnte etwas werden. Das hatte ich noch nie gehört.
Doch ich wollte nicht noch einmal von vorne anfangen. Ich kannte mich in der Gerichts- und Polizeiszene der Stadt aus. Ich wusste, wen ich wofür anrufen musste und wo welches Gegengeschäft nötig war. Ein solches Netz knüpft niemand über Nacht. Es ist harte Währung in meinem Metier. Ganz abgesehen davon war die Vorstellung, mich in einer fremden Stadt mit holprigem Französisch durchzuschlagen, schlicht zu deprimierend.
Hinter der Milchglasscheibe brannte kein Licht mehr. Véronique schlief, ich war erleichtert. Falls sie doch noch wach war, gab es zwei Möglichkeiten, mich einer Diskussion zu entziehen. Ich konnte den Erschöpften und den Aufgedrehten mimen. Beides hatte ich schon ausprobiert, beides hatte funktioniert. Vielleicht hatte sie den Entschluss, sich von mir zu trennen, ohnehin bereits gefällt. Der Boden knarrte, als ich eintrat.
Ich wollte auf keinen Fall nach Genf, sie dagegen unbedingt, und irgendwo dazwischen leben ging nicht. Als Stadtmenschen wären wir da eingegangen. Für Frühanzeichen von Trennungen war ich über die Jahre sensibel geworden. Der zu eilige Abschiedskuss, die selteneren Abende mit Freunden, die fehlenden Reisepläne. Ich achtete mittlerweile besser darauf, ob sich kleine Dinge verschieben. Einmal hatte ich einer Freundin über Wochen dabei zugesehen, wie sie unsere Haushalte langsam entmischte. Ihre Schallplatten waren, eine nach der anderen, vor meinen Augen wieder zu ihr nach Hause gewandert. ›The Gates of Delirium‹.
Véroniques schriller gewordene Stimme machte mich nervös. Als wir uns kennenlernten, hatte ich sie bezaubernd gefunden, etwas Silbernes, Glitzerndes darin gehört. Nun war sie höher und durchdringender. Das Verspielte war verschwunden.
Es hatte Momente tiefer Verbundenheit gegeben. Vor allem auf unserer Reise durch Skandinavien vor drei Jahren. Wir waren sechs Wochen unterwegs gewesen, während drei hatten wir auf einer winzigen Insel in Nordschweden ein Häuschen gemietet. Wir hatten jede Sekunde zusammen verbracht. Nachts hatten wir uns auf dem Badetuch im Sand geliebt.
Ich hätte am liebsten einfach weitergemacht wie bisher. Wir lachten und redeten gerne miteinander. Wir konnten streiten und auch wieder damit aufhören. Wir passten zueinander. Doch wäre eine Trennung so schlimm? Selbst ein so schreckliches Ende wie jenes mit Simone damals war eines Tages überwunden gewesen. An einem hellen Herbsttag, auf dem Fahrrad unterwegs an die Uni, war plötzlich die Freude wieder da. Ich schaute auf einen Spielplatz und sah Kinder herumklettern. Die äußere Distanz würde uns helfen. Mein miserables Französisch hatte uns zusammengebracht und würde uns am Ende wieder getrennt haben.
Im Rückblick wäre dies eines Tages vielleicht eine charmante Pointe. Véronique hatte damals, als ich sie in der Cafeteria des Verlagshochhauses angesprochen hatte, ›Le Monde‹ gelesen. Ich hatte im Vorbeigehen eine Bemerkung auf Französisch gemacht, die sie amüsiert hatte. Vielleicht weil die Fehlerdichte die Plumpheit noch übertraf. Jedenfalls schaute sie kurz auf und lächelte.
Beim nächsten Mal, als wir uns begegneten, erinnerte sie sich an mich. Sie dachte so schnell, wie sie sprach, nicht die leiseste Ironie entging ihr. Wenn ich dick auftrug, zog sie eine Augenbraue hoch. Ich fand das hinreißend. Nach drei Wochen lud ich sie zu einem irischen Abend ein. Wir trafen uns am nächsten Tag wieder und am übernächsten. Bald darauf bezogen wir unsere Wohnung an der Ostseite des Hauptbahnhofs. Am ersten Abend hängte sie ein Poster des Genfersees in die Küche.
Sie durfte auf keinen Fall erfahren, dass ich in Genf sogar eine Stelle bekommen hätte. Ich hatte, nachdem sie mir die Pistole auf die Brust gesetzt hatte, beim Verleger angefragt, ob man mich dort brauchen könne. Ich hatte es in der absoluten Gewissheit getan, eine Absage zu erhalten. Ich hatte nie für das Politik- oder das Auslandsressort gearbeitet. Der Absagebrief sollte Véronique, schwarz auf weiß, klarmachen, dass ich nur in der Stadt eine Zukunft habe.
Man bot mir eine Teilzeitstelle an. Als Korrespondent für internationale Organisationen, für ein Jahr zur Probe, ich solle die Chance nutzen. Man traue mir zu, mich in das Dossier einzuarbeiten. Ich ging aufgeregt zum Verleger und erklärte, in meinem Privatleben sei eine schwierige Situation eingetreten. Es sei mir peinlich, ein Wegzug komme im Moment aber nicht infrage. Er schüttelte den Kopf und putzte seine Brille. Die Gläser schillerten im Sonnenlicht.
Immerhin raffte ich mich Véronique gegenüber zu Offenheit auf. Sie starrte auf den Küchentisch, als ich herausrückte, und begann herumzuschreien. Jeder im Haus bekam mit, wer hier wen enttäuschte.
Ich schlich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Ich wollte schauen, was ich auf die Schnelle im Internet über Maiwald finde. Warum er? Die Suchmaschine schlug mir neben einem Wikipedia-Eintrag ein paar wissenschaftliche Artikel, mehrere Interviews und einige Ausschnitte aus Diskussionssendungen vor. Ich klickte auf eines der Videos. Ich sah Maiwald mit drei Männern in breiten Sesseln, der Bildqualität nach ein älterer Ausschnitt. Es ging um den Sexualstraftäter Richard Hallenbarter, der im Hafturlaub zum zweiten Mal rückfällig geworden war. Er hatte im Wald einer Krankenschwester aufgelauert. Die Zeitungen waren voll davon gewesen, der Justizminister musste zurücktreten. ›Soll man sie alle wegschließen?‹, stand auf der Einblendung.
Ein hagerer Anwalt, die Augen tief in den Höhlen, ergriff oft das Wort. Er beugte sich ruckartig vor, wenn er sprach, und klagte an. Er schwitzte und kämpfte darum, dass man ihm zuhörte. Ein Jungpolitiker, Mitte zwanzig, Siegelring am feisten Finger, nahm es gelassener. Aufreizend entspannt hing er im Sessel. Gelegentlich umspielte ein zufriedenes Lächeln das glatte Gesicht. Ich stellte leise, um Véronique nicht zu wecken. Maiwald saß aufrecht und konzentriert da. Er wartete einen Moment, bevor er sprach.
Ich klickte auf ein zweites Video. Ein Interview. Maiwald im weißen Hemd und schwarzen Jackett, neben einem Moderationspult. Die Haare etwas grauer. Er beobachtete sein Gegenüber und nickte von Zeit zu Zeit. Manchmal tippte er sich mit dem Finger ans Kinn. Ohne zu verstehen, was er sagte, wusste man, dass es klug war. Ich legte mich für einen Moment auf die Couch.
Als ich erwachte, war es zwei Uhr. Ich hatte Kopfschmerzen und wirr geträumt. Von Maiwald, Simone, den Leuten von damals. Von Véronique.
»Was machst du da?«
Sie stand in eine Decke gehüllt im Türrahmen.
»Komm, setz dich zu mir.«
Ich klopfte mit der Handfläche auf die Couch.
»Willst du die ganze Nacht da stehen bleiben?«
Sie nickte. Ich konnte im Halbdunkel nicht erkennen, ob sie schmunzelte oder verstimmt war. Ich streckte die Hand aus.
Plötzlich saß sie neben mir. Die Decke um die Schultern, nur die Zehenspitzen schauten hervor. Sie legte mir den Kopf auf die Schulter und fasste mich am Ellbogen. War sie traurig? Die Decke glitt zu Boden. Ich legte ihr die Hand aufs Knie und versuchte sie zu küssen. Sie schob sie weg, entwand sich und ging wortlos ins Schlafzimmer. Keine falsche Versöhnung. Keine flüchtigen Versprechen, die im Tageslicht zerfallen. Keine Nähe, die sich schon morgen so anders anfühlen würde. Ich folgte ihr und schlief rasch wieder ein.
Zwei Stunden später erwachte ich erneut. Mir war elend. Ich merkte, dass mir die Situation mit Véronique entglitt. Plötzlich hatte ich Angst. Im Hof wurde eine Türe zugeschlagen. Aufgeregte Stimmen, wild durcheinander, drohend. Ich ging ans Fenster. Klackern von Absätzen, rasche Schritte, eine heisere Männerstimme, eine gehetzte Frauenantwort. Etwas Balkanisches. Er solle sich zum Teufel scheren, Scheißmänner. Diese Dinge klingen überall gleich. In der Ferne hupte ein Auto. Die Straßenlaterne wiegte im Wind.
Ich ging zurück ins Bett. Ich betrachtete Véronique, deren Brust sich langsam hob und senkte, das Gesicht von den Haaren verdeckt. Konnte es nicht wieder sein wie früher?
Der Wind trieb Regentropfen gegen das Fenster. Unregelmäßig, nervös, die Nacht war fiebrig geworden. Ich musste an den letzten Abend mit Simone denken. An das Fest im großen Zelt im Garten ihrer Eltern. Auch damals hatte es heftig geregnet. Zeitweilig hatte es so stark auf das Dach getrommelt, dass man sein Wort kaum verstehen konnte.
Wir saßen auf langen Holzbänken. Simone sprach den ganzen Abend kaum mit mir. Einmal verschwand sie kurz im Haus, ohne mir ein Wort zu sagen, setzte sich bald darauf aber wieder zu mir. Dann ging sie erneut weg. Diesmal folgte ich ihr.
Als ich ins Wohnzimmer kam, hörte ich laute Stimmen in der Küche. Darunter ihre. Sie überschlug sich. »Es ist mein Leben!« Simones Mutter versuchte, auf sie einzureden und sie zu beschwichtigen. Ich glaubte, auch eine Männerstimme auszumachen, wahrscheinlich die ihres Vaters.
Ich hielt das Ganze für einen Streit zwischen Mutter und Tochter. Solche Dinge kommen vor. Ich ging zurück ins Zelt. Kaum war Simone wieder bei mir, wollte sie gehen. Draußen kam uns Maiwald entgegen. Er legte mir die Hand auf die Schulter und nickte. Simone schaute geradeaus.
Lukas bedeutete mir mit einer knappen Handbewegung, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Es war abgenutzt und fleckig, hatte wie die ganze Einrichtung des Büros schon bessere Tage gesehen.
Ich hatte die Notiz nicht geschrieben. Lukas verdächtigte mich, mir dies wegen unserer Freundschaft herausgenommen zu haben.
»Du hast mir am Telefon nicht gesagt, um wen es geht, Lukas. Ich kannte Maiwald persönlich.«
Ich schaute ihn ernst an. Er zuckte mit den Schultern und begann, an seinem Reißverschluss herumzunesteln. Er stand auf, um ihn hochzuziehen, und stopfte sich das Hemd in die Hose.
»Ich habe Katja bereits gebeten, die Notiz zu übernehmen«, fügte ich an. »Sie erledigt das noch heute.«
Er nickte und schien halbwegs zufrieden. Lukas setzte sich.
»Sag mal«, meinte er nach einer Weile nachdenklich, »wollen wir aus der Sache nicht etwas Größeres machen? Maiwald war jemand in der Stadt. Von seinem Format haben wir hier nicht viele. Die Geschichte vom Erfolgsmenschen, der sich das Leben nimmt, gäbe etwas her. Meinst du nicht?«
Er wühlte zwischen Papierstapeln auf seinem Schreibtisch, suchte etwas. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
»Warum hast du mir eigentlich nicht früher erzählt, dass du einen Draht zu ihm hattest?«
Er blickte mich misstrauisch an.