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Drachen

Jürgen Lodemann

GEGEN DRACHEN

Reden eines Freibürgers, »trotz alledem«

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Inhalt

Vorwort: Ursuppe

SIEGFRIED. Nationalheld? Deutscher? – Ein Blick in die Quellen. Oder wie Deutsche sich und andere benebelten

FRANZISKUS gegen INNOZENZ. Eine Begrüßungsrede in Sachen Reinhold Schneider

REGINA. »Die mich erschauen ließ ein irdisch Paradies.« Die Freiheits-Oper von 1848

KRIEGSTON: »Soldaten« in Bochums Jahrhunderthalle

Der Film »Bagdadbahn«. »Gottes Schöpfungswerk verbessern« oder »Türkei kolonisieren«. Reden in Istanbul, in Ankara

KOMMET ZU HAUFF – »Das kalte Herz«

»Einfache Leute«

ESSEN, Europas Kulturhauptstadt?

Nicht zu Ende gedacht. AtomReden

Rede vor Stuttgarts Rathaus: Die Angströhren S 21

Im Rathaus: Thaddäus Troll lebt

Empörung

VAUBANaise – Wohnprojekt in Freiburgs Vauban

EGO-SHOOTER. Eine Laudatio

Da geht das Leben dahin. Erich Fromms letztes Interview

DigItalien

TraumHaft. – Adalbert Chamisso, Marianne Hertz und das für viele beste Büchner-Wort

Schluss

Editorisches

Vorwort

Ursuppe

Rätselhaft, wie er gegen alle Hindernisse entstehen konnte, der für manchen guten Verstand sinnvollste deutsche Satz des zwanzigsten Jahrhunderts. Der nicht die Würde des Deutschen für unverletzbar erklärt, sondern die des Menschen. Und wie dieser Satz in den Geschichten wuchs und in der Geschichte, »trotz alledem« (1848) und wie er am Ende, über entsetzliche Barrieren, dennoch in die deutsche Verfassung kam.

Barriere war zum Beispiel der Nationalwahn rund um die Luftnummer »Siegfried«, um diese teutonisch fatale Schwindelfigur, die mit dem Siegfried im Nibelungenlied nie etwas zu tun hatte.

Schwindel verdarben auch frühe Demokratie-Versuche im »Vormärz«, Ursuppen der SPD, Jahrzehnte bevor die Partei entstand. Vorzuführen am Beispiel einer verdrängten Freiheits- und Terror-Oper aus dem Jahr 1848, die sich als Paulskirchen-Drama erweist, nun endlich authentisch gedruckt bei Ricordi. Im Finale: »Auf die Bühne stürzen Arbeiter von allen Klassen«.

Zu zeigen auch an Lenz/Zimmermanns »Soldaten« in der Bochumer »Jahrhunderthalle«

Zu zeigen an Unternehmungen des deutschen Kaisers, der die heutige Türkei zu gern kolonisiert hätte mit seinem Traumprojekt »Bagdadbahn«. Eine Rede in Universitäten in Istanbul und in Ankara und in der deutschen Botschaft.

Hauffs »Kaltes Herz«, ein »Märchen für die Jugend«? 1827 erzählte ein 24jähriger »Söhnen und Töchtern gebildeter Stände« den Kapitalismus – märchenhaft genau.

Zu zeigen an Frankreichs ältestem Atom-Reaktor in »Fessenheim« am Rhein, 18 Kilometer südwestlich Freiburg, auf labiler Erdkruste, die Ökostadt Freiburg im Windschatten altersschwacher Prozessoren. Auch hier ohne »atomares Endlager«, aber auch das wäre totaler Schwindel.

Zu zeigen an »Stuttgart 21«, dem Tief- oder Schiefbahnhof einer Landeshauptstadt, einzigartig teuer, betrügerisch, korrupt, überflüssig und lebensgefährlich.

Wer gegen all diese benebelnden Drachen noch Hoffnung hegen möchte, trifft in diesem Buch auch auf Thaddäus Troll oder Tomi Ungerer. Oder auf todesmutige Musikanten. Oder auf die einstige Bergbau- und Krupp-Stadt Essen, bevor sie Europas Kulturhauptstadt wurde. Und auf das letzte Gespräch des Sozialforschers und Philosophen Erich Fromm, einen Tag vor seinem Tod.

Am Ende gibt es eine wahre Überlebensgeschichte vom Dichter Chamisso und einer Familie Hertz. Mit einem ebenfalls wahren Traum von Georg Büchner und Queen Elisabeth.

Weisheit wusste seit je, Drachen haben nun mal ihre Auftritte. Suchen uns heim, als Leben. Geben sich aus als unbeherrschbar. Heißen dann Wahn oder Liebe oder Sucht. Gier. Angst. Lust. Trieb. Auch Sinn und Macht. Und Lug und Trug.

In manchen Kulturen kommen sie konkret daher, kriechend und fauchend, bringen Tod oder Trübsinn. Einige dagegen stiften Glückstaumel.

So oder so, im Leben des Einzelnen sind sie entscheidend. Auch im Miteinander der Vielen. Lähmend oder feurig beflügelnd. Was mich am meisten fasziniert – sie kommen aus keiner Hölle, aus keinem Himmel. Sondern aus uns.

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Rathaussaal Stuttgart, 17. 3. 2014, Troll beschwörend (Foto: © Wolfgang Rüter, Stuttgart)

SIEGFRIED – Nationalheld? Deutscher?

Ein Blick in die Quellen. Oder wie Deutsche sich und andere benebelten

wan daz in twang ir minne*

Die beiden Fragen, die mir die Universität gestellt hat, sind heikel. Ein »Blick in die Quellen« muss beide Fragen mit Nein beantworten. Schier tausend Jahre lang war die Siegfriedfigur weder Nationalheld noch deutsch. Europas Romantik hat die Figur aufgeblasen zu einem Phantom, zu einem folgenreichen Schwindel, zu einem nationalistischen, »jeden Sinns bar« (Reinhold Schneider über Nationalismus).

Germanistische Wissenschaft empörte sich nicht oder sie fälschte ebenfalls. Das förderte deutsche Siegesstimmung, Größenwahn, Kampflust. Das Siegfried-Phantom, Hauptgewürz in der Ursuppe deutschen Wahns, beflügelte vaterländische Mord-Orgien. 1870/71, 1914/18. Völkermorde bis 1945.

Einst muss die Siegfriedfigur einen Zauber ausgelöst haben. Um dem auf die Spur zu kommen, hilft von allen Quellen am besten die älteste – das Nibelungenlied. Mit seinen fast zehntausend Langzeilen existiert der Text in mehreren Handschriften, zitiert wird hier nach Handschrift B. Unbestritten ist, das enorme Epos entstand um 1200, und neuere Forschung weiß, dass wahrscheinlich Mönche in Bayern das Werk verfasst haben, worauf sprachliche Eigenheiten hinweisen und weil sich der oder die Autoren auffallend genau auskannten bei Passau. Gleich die ersten zwei Zeilen des Epos haben einst viele Deutsche auswendig gewusst und haben sie gern gesprochen – ja, das klingt zauberhaft:

Uns ist in alten maeren / wunders vil geseit / von helden lobebaeren / von grôzer arebeit

»Uns ist in alten Geschichten viel Wunderliches überliefert, von Helden, die man loben könnte, und von ungeheuren Arbeiten«. Als 1827 Karl Simrocks Übertragung ins neuere Deutsch erschien, hat er helden lobebaeren übersetzt mit »preiswerte Helden«. Zum Glück gibt es nun zur Handschrift B die korrekte Übersetzung meines Freiburger Lehrers Siegfried Grosse. Tausend Seiten, bei Reclam. Preiswert.

Gleich in diesen ersten zwei Zeilen nennt das Epos drei Felder, die es beschreiben will, nämlich maeren, wunders vil und arebeit. Das eigenartige arebeit wird gern verstanden als »Mühsal«, »Anstrengung«. Ich bleibe bei »Arbeit«, schon als einer, der geboren und aufgewachsen ist in Europas größter Arbeitslandschaft. Ja, und ich bin fasziniert von diesem Menschheitsgedicht und traue mich und sage »Menschheit«. Denn mir scheint sicher, dieser Text erzählt schon erstaunlich früh Grundbefindliches von den Bewohnern unseres Planeten, wusste beizeiten Genaueres über Ehrgeiz, Sehnsucht, Liebe, List, Lüge, Gier, Neid, Zorn, Rache, Untreue, Treue. Und dies alles verband das Nibelungen-Epos mit einer nicht beendbaren Leidenschaft – mit der zwischen Siegfried und Krimhild.

Drüben, in der Aula dieser Universität, da hörte ich vor jetzt genau 60 Jahren, wie dort der große Altgermanist Friedrich Maurer in seiner stark besuchten Vorlesung erklärte, Hauptfigur des Nibelungenlieds sei »eindeutig Krimhild«. So kurz nach 1945 war es wohl noch nötig, abzulenken von der anderen Hauptfigur, von der heiklen. Auch in Maurers Hauptwerk »Leid« bleibt Siegfried im Kapitel übers Nibelungenlied fast unbeachtet, obwohl im Epos niemand stärker arebeit gegen »Leid« zu leisten hat als Sivrid, die männliche Hauptfigur. Immer wieder fehlt da ein genauer Blick auf die ersten aventiuren, auf die Taten Jung-Siegfrieds. Das hatte Folgen.

Motor des Epos ist unerhörte Liebe, und zu der gehören in guten Fällen wahrscheinlich doch zwei, auch im Nibelungenlied, sofern man in der Lage ist, Siegfried nicht als nationalistische Luftnummer zu sehen, sondern als einen, der in diesem Völkerwanderungs-Epos für die geliebte Krimhild jede Anstrengung unternimmt – arebeit. Und zwar in Form von konkreten Diensten. Der junge Mann aus Xanten leistet Minnedienst in dem um 1200 poetisch gepriesenen Sinn. Zugleich erfüllt Sivrid nahezu historische Kriegsdienste für den Stamm der Burgunder, zeigt sich überaus hilfreich. In dieser Epoche wandernder Völkerschaften gab es gegen »Leid« enorm zu tun, denn es traf nach wie vor zu, was damals, zeitgleich mit den Autoren in Passau, der politische Sänger Walther von der Vogelweide beklagt: fride unde recht sint sére wunt.

Der junge Ritter aus Xanten am Niederrhein wird in Worms am Oberrhein so was wie ein allererster rheinischer Gast-Arbeiter. Als Minne-Ritter verrichtet er Dienst an der auch im Nibelungenlied beschworenen hohen minne, als Schwert-Ritter leistet er Kriegsdienst, und dann auch, das wird bislang ebenfalls fast ganz ignoriert, als politischer Berater des burgundischen Königs. Dieser Gast aus Xanten ist von Beginn an spannend und irritierend für jedes damals halbwegs etablierte Macht- und Feudalsystem, aber auch für jeden, der anfängt, ein umfangreiches Epos zu lesen oder zu hören. Um die wunderbare Burgunderprinzessin Krimhild zu gewinnen, unterstützt der Xantener die Burgunder von Beginn an gegen Bedrohungen durch die hoch aktiven Bewegungen verschiedenster Volksstämme, steht er ihnen erfolgreich bei gegen das, was im frühen Deutsch einen denkwürdigen Namen bekam: meginfart michil – »große Völkerflucht«.

Dieser Minne-Ritter aus Xanten hilft Krimhild zuliebe dem Stamm der Burgunder, die sich in der Festung Worms eingenistet haben, mit einer Kampftechnik, deren Besonderheit hier genau zu beschreiben sein wird. Hilft dann dem König der Burgunder auch sehr privat, wenn es gilt, in Island um König Gunthers Traumfrau zu werben, um Brünhild. Hilft dort dem unsicheren Gunther bei einer Art nordischem Dreikampf, nützt ihm mit Tricks und Tarnungen. Das tut er dann auch noch in Worms nach der Hochzeitsnacht. Denn Gunthers erste Nacht mit Brünhild missrät dem König total. Krimhild wie Brünhild sind beide in diesem Geschehen das, was man heute »fesselnde Frauen« nennen würde, und auf eigenartige Weise spielt in der ersten Hälfte des Epos das Fesseln in verschiedener Weise eine entscheidende Rolle, jedenfalls in den ersten 4328 Langzeilen, bis zur Ermordung des Siegfried.

Die starke Isländerin Brünhild fesselt ihren Gemahl Gunther in der Hochzeitsnacht konkret. Den Bruder Krimhilds verknotet sie in der Hochzeitsnacht mit ihrem Gürtel, umgürtelt überfallartig den König, hängt den Herrscher Burgunds an einen Nagel und befreit ihn erst am Morgen, kurz bevor Wormser Personal die Kemenate betritt. Alle Schrecken dieser ersten Nacht gesteht Gunther alsdann dem Gast aus Xanten und bittet den tatkräftigen Siegfried abermals um Hilfe, flehentlich: tuo ir, swaz du wellest, »mach mit ihr, was du willst«.

Der Minne-Ritter hilft ihm auch jetzt. In der zweiten Nacht gibt er sich in der Dunkelheit des königlichen Schlafgemachs als Gunther aus, das heißt, er bleibt stumm, und nach dem Kampf in Island wird, was er nun im Dunkeln tut, zum zweiten Betrug an Brünhild. Er raubt der Isländerin den Gürtel, der sie – wunders vil – zu stark gemacht hat für den König. Und der Minne-Ritter leistet seine arebeit so, dass es Gunther nur recht sein kann, Siegfried schläft nicht mit Brünhild, aber er schwächt sie, betrügerisch. Denn er liebt entschieden die andere, liebt Gunthers Schwester Krimhild, durch ir unmâzen scoene, »wegen ihrer unsäglichen Schönheit«. Über Krimhilds und Siegfrieds Liebe teilt das Epos unverblümt mit: er naeme für si eine / niht tûsent anderiu wip »er nähme für diese Einzigartige keine tausend anderen«.

Forscher sind sich einig, das Nibelungenlied basiert auf Ereignissen des fünften Jahrhunderts, auf denen der damaligen Völkerwanderungen. Worms, die Festung am Oberrhein, war da ebenso gefährdet wie die Festung am Niederrhein, Xanten. Beide Oppida, von Römern gebaut, von Römern verlassen, sind besetzt von germanischen Stämmen. Und eine der literarischen Leistungen der Epos-Verfasser – wahrscheinlich waren es mehrere – eine ihrer Leistungen ist es nun, dass sie die Taten und Untaten der wandernden Stämme, die um 1200 ja auch für die Autoren in Passau schon in grauer Vorzeit geschehen waren, dass sie diese Vergangenheiten nicht nur zu kennen behaupten, sondern dass sie diese Kenntnisse verbinden mit wunders vil, nämlich mit archaisch Märchenhaftem aus noch früheren Epochen, aus vorchristlicher Zeit, dass sie also die alten maeren von den Überlebenskämpfen der Burgunder verbinden mit Gerüchten und Sagen um Tarnkappen, Drachenkampf, Hornhaut und Unverwundbarkeit, und zwar über die faszinierende Figur des Hagen von Tronje. Und auffallend ist obendrein, dass sie dann die beiden schon lange zurückliegenden Vergangenheiten – maeren und wunders vil – nicht nur miteinander verknüpfen, sondern dass sie zudem in diese doppelte Ebene auch noch die aktuelle Gegenwart der Epos-Verfasser – die Zeit um 1200 – hineinspielen lassen: Minnedienst, höfisches Zeremoniell, prunkvolle Sitten in Burgen und Residenzen – und blutige Machtkämpfe.

Das Nibelungenlied – ein Zugleich dreier Epochen. Da begegnen dem Leser oder Hörer mit wunders vil nordisch märchenhafte Mythologien, da trifft er mit den maeren auf historische Ereignissen aus Spätantike oder Frühmittelalter, begegnet er wandernden Völkern, angreifenden wie belagerten und bedrohten. Drittens geht es im Epos um die Gegenwart der Autoren um 1200, um Liebes-arebeit, um hohe minne mit den entsprechenden Diensten (Strophe 47): Do gedâht ûf hôhe minne das Sigelinde kint »da dachte Sieglinds Sohn an Hohe Minne«. Sieglinds Sohn – also Siegfried – erklärt auch seinem Vater Siegmund rundheraus: edeler frouwen minne wold ich (Strophe 52).

Dieses Zugleich sehr unterschiedlicher Handlungs-Ebenen darf man sich getrost so vorstellen wie heutiges »modernes« Theater beim Inszenieren von Klassik, wenn da etwa zu jambischen Versen Videos flirren von Stalingrad, Krupp oder Vietnam, von Fukushima oder Fessenheim, nur weil sonst das blöde Publikum mal wieder nicht begreifen würde, eine wie zeitlose Sache von dir und mir diese Klassik erzählt – wenn sie gut ist. So haben auch um 1200 die Passauer Autoren offenbar gemeint, in die uralten wunder-Sagen und in die historischen maeren für das damalige Publikum damalige Aktualität einbringen zu müssen, vor allem sehr viele hochhöfische Rhetorik-Formeln mit ausschweifend höfischem Höflichkeitenwirrwarr. Nachdem die Ritter sich eben noch die helme zerhouwen haben und ums Haar ermordeten, wird kurz danach, weil auch dieser Siegfried aus Xanten dafür sorgt, Versöhnung gestiftet. Und dann veranstaltet der Hof zu Worms, weil König Gunther das ebenso will wie der Gast aus Xanten, spannende Turniere auf prunkvoll geschmückten Pferden, da wird alsdann getafelt in glänzenden Kleidern, prächtigen Sälen, ein einfaches Begrüßen dauert da gern mal mehrere Langzeilen lang. Solch formelhaftes Gerede bei diesem oder jenem Treffen, das erschien den Damaligen gewiss ähnlich »modern« wie manchen Heutigen flotte Video-Shows. Freilich haben Festmahle als Zeichen für Versöhnung und Frieden auch noch eine besondere Bedeutung, eine biblische, auch davon später Genaueres.

Kaum war Jung-Siegfried in Worms erschienen, ist er in Liebe entbrannt zur Prinzessin, minneclîche findet der Xantener die 17- oder 18jährige Krimhild. Ihre Schönheit wird geschildert mit den erlesenen Wendungen der damals modernen Minne-Lyrik, Krimhild erscheint minneclîche, also der morgenrot tuot ûz den trüeben wolken (»ergreifend liebenswert wie das Morgenrot, wenn es heraustritt aus trüben Wolken«). Kurz danach liest man von Krimhild: bi der hénde sie in vie »bei den Händen nahm sie ihn« – nein, präziser: »fing sie ihn« (Strophe 293) – auch Krimhild fesselt – sie fasst den jungen Ritter bei den Händen, sie berührt ihn.

Und fast umgehend sorgt der Gast dann in der damals chaotisch allgegenwärtigen »Völkerflucht« für handfestes Vertreiben all jener Stämme, die ihrerseits die Burgunder aus Worms vertreiben wollen. Und auf sehr eigensinnige Weise kämpft der Gast aus Xanten, zunächst gegen aggressive Sachsen, dann gegen Dänen, die ebenfalls Burgunds Reviere besetzen wollen. Und was ist am Ende das Resultat? Tote? Ein Schlachtfeld? Die sigelôsen recken ze Tenemarke riten – »die sieglosen Recken ritten zurück nach Dänemark« (220). Nicht anders ergeht es den Sachsen. Sivrid ist alles andere als ein Totmacher.

Wer detailliert wissen will, was im zentralen Europa los war beim Übergang vom Altertum ins Mittelalter, was damals ablief an Machtkämpfen zwischen ziehenden Stämmen und solchen, die bereits fest siedelten, dem empfehlen sich nicht nur die ersten aventiuren des Nibelungenlieds, nämlich Siegfrieds erste Taten im Kampf gegen Dänen und Sachsen, sondern da gibt es auch die informativen, die mehr als tausend eng bedruckten Seiten des Johannes Fried »Die Anfänge der Deutschen«.

Mit den »Deutschen« meint Fried auf seinen ersten 500 Seiten diejenigen, die auf unterschiedliche Weise deutsch reden. »Deutsch« meint fast tausend Jahre lang keine Nation, »deutsch« ist gebildet aus teut oder diet und meint das Sprechen der »Leute«. »Deutsch« meint noch lange keinen Nationalnamen, sondern – wir müssen uns damit abfinden – das Reden unritterlicher Leute, meint das für Römer als ungehobelt geltende Sprechen der von Norden oder Osten herbei Wandernden, die halt so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – auf jeden Fall kein Latein, keine Herrschaftssprache, schon gar nicht Griechisch oder Hebräisch.

Frieds »Anfänge der Deutschen« schildert just das, was auch von der Handlung des Nibelungen-Epos zu melden war, nämlich zwischen den deutsch redenden Wanderstämmen Hass, Neid, Streit, Gier, Mord, Massaker. Mitten darin auch Klügeres, humanere Ansätze, Bündnisse. Zum Beispiel gelingende Eheschließungen, kluges Heiraten. Die Anfänge jedenfalls erscheinen chaotisch, bleiben jedenfalls weit jenseits von Nation oder Staat, überaus fern von einem »Deutschen Reich«.

Hegel hielt es für »plattesten Unsinn«, das Nibelungenlied als Nationalepos zu bezeichnen und Siegfried als Nationalheld. Auch Edward Gibbon schildert in seinem »Untergang Roms« die germanischen Deutschen so, als gehe es da um heutigen Terror, etwa bei der Plünderung Roms unter Alarichs Goten im Jahr 410, das schildert er folgendermaßen: »… wurde ein Gemetzel unter den Römern angerichtet … Roms Straßen waren mit Leichen bedeckt … die Barbaren dehnten ihr Schlachten ohne Unterschied aus auf Schwache, Unschuldige und Wehrlose…«. Hegel hätte sagen können, da agierten »Haufen«. »Ohne Gemeinsinn«. Nicht ganz, würde ich einwenden, »Gemeinsinn« lieferte da sehr stark ein alles andere überlagerndes Stammes- und Sippen-Denken.

Das deutsche Wort »deutsch« fand zum ersten Mal europaweit Verbreitung im Jahr 842, als in Straßburg die berühmten »Straßburger Eide« geleistet wurden, als zwei Enkel Karls des Großen 28 Jahre nach dem Tod des großen Kaisers vor ihren versammelten Heeren kundgaben, wie das Herrschaftsgebiet Kaiser Karls nunmehr aufgeteilt werde, und zwar verkündete das jeder in der Sprechweise des Gegenübers. Der alemannische, der »deutsch« Sprechende sprach das Vereinbarte in frühem Französisch, und den gleichen Wortlaut verkündete der Franke oder Franzose, so wird überliefert, »in deutscher Zunge«. »Deutsch« meint auch hier immer noch die Sprache, nicht etwa Zugehörigkeit zu einem Reich. Noch lange sahen sich bekanntlich auch Sachsen gern als Sachsen und nur als Sachsen. Auch Bayern, weiß man, lieben das offenbar bis heute. Bayerns Landtag und die CSU stimmten zum Beispiel der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz der Bundesrepublik, niemals zu. Und so schien auf diese Weise den Bayern Deutschland, Europa oder gar der Planet auffallend fern zu bleiben. Kürzlich wollte eine Umfrage der BBC wissen, wer in der heutigen Welt sich eigentlich für einen Weltbürger hält. Am ehesten und meisten fühlten sich die Bewohner Afrikas als Weltbürger. Am wenigsten Russen und Deutsche.

Johannes Fried verdeutlicht in »Die Anfänge der Deutschen« die starke Rolle der Klöster, der Stämme, der Sippen und ihrer Kollektiv-Regeln. Das macht endgültig klar, wie sehr einer wie der Ritter aus Xanten auffallen musste als Besonderer, als Einzelgänger, mit ungewöhnlichem Drang in individuelle Richtungen, wofür es heute Begriffe gäbe wie Emanzipation. Jedenfalls war der Xantener ein mutig Ideenreicher, frei von Wir-Lähmungen. Das Nibelungen-Epos lässt auch ihn dann gründlich in Abhängigkeiten geraten, in seiner Liebe zu Krimhild verrichtet er mehr und mehr starke Dienste für Burgund, vielerlei arebeit, die ihn in immer engere Widersprüche verwickelt, was er am Ende ja nicht überlebt. In allem höfischen Zeremoniell, auch im kriegerischen, droht unklar zu werden, worum es da eigentlich geht – um das Recht des Starken? Die Passauer Autoren helfen beim Deuten (Strophe 324): wan daz in twang ir minne, diu gab im dicke not (Übersetzungsversuch:) »wenn ihn da nicht ihre Liebe in Bann geschlagen (gefesselt!) hätte, die trieb ihn in immer engere Bedrängnisse«.

Johannes Fried beklagt – wie schon 1200 Jahre zuvor Otfrid von Weißenburg – den »rohen Zustand« der deutschen Sprache, die Sprödigkeit der Stammesdialekte, das noch ungelenke Deutsch, das Reden also in tiusch oder diutisk. Das beklagten schon die Römer, das Sprechen der Germanen verachteten sie als »Barbarensprache«. Und es fällt auf, wie sehr alsdann kluge Deutsche ihr Deutsch gern unter Latein verbargen – und später, als Latein kaum mehr gesprochen wurde, unter Französischem. Noch Friedrich der Große hielt das Nibelungenlied, als er es lesen sollte, für »keinen Schuss Pulver werth«, offenbar schon deshalb, weil es weder lateinisch noch französisch geschrieben war, nicht mal deutsch, sondern altdeutsch. Auch die genialischen Anfänge des jungen Goethe, die der Preußenkönig noch zu lesen bekam, galten dem sehr gebildeten König wenig, Goethe hätte zweifellos französisch dichten sollen. Ach, Karrierebewusste tarnen bekanntlich noch jetzt ihr Deutsch gelenkig unter global digitalem Amerikanisch. Dennoch bin ich sicher – Sätze wie wan daz in twang ir minne machen es wieder klar – das »Mittelhochdeutsch« des Nibelungen-Epos, schon sprachlich wie lautlich ist es ein Wunderwerk.

Von fröuden, hôchgeziten / von weinen und von klagen / von küener recken striten / muget ir nu wunder höeren sagen

In den fast zehntausend Langzeilen sind dies die dritte und die vierte des Epos. Da öffnet sich ein Palast prächtiger Klänge, ein Riesenbau aus 2 379 Strophen zu je vier Zeilen, allesamt deutlich rhythmisiert und in der Entstehungszeit sicherlich auch sangbar, jedenfalls klangvoll sprechbar, anfangs binnen- wie endgereimt. Und von den acht Halbzeilen jeder Strophe ist fast immer die letzte um eine zusätzliche Hebung verlängert, gern pointierend. Auch dies frühe Deutsch darf man bestaunen, rein als Klanggebilde. Ein persönliches Beispiel. Die Kruppstadt, meine Geburtsstadt, die ich auch von Freiburg aus immer gern besuche – nicht ohne Grund war Essen 2010 »Kulturhauptstadt Europas« – diese Stadt, mehr als dreihundert Jahre älter als Freiburg, dieser Ort heißt heute also »Essen«. Als Vokalklang ist das kümmerlich, bietet nichts weiter als ein kurzes »ä« und ein noch kürzeres »e« – Essen. Vor mehr als tausend Jahren hieß der Ort aber Asnithi. Mit a und i und i ist das ein schallender Glanz, später werden a und i die Vokale des Opern-Belcanto. Und was bedeutet Asnithi? Auch Essener wissen nicht, warum Essen Essen heißt. Eschen heißen im Schwedischen noch jetzt »Essen«. Von der Esche hatte der Ort den Namen, so wie nebenan das alte Bochum den seinen von der Buche.

Essens Prachtname schliff sich ab, aus Asnihti wurde Asnith, verdrehte sich durch die Jahrhunderte zu Assinth, verflachte alsdann zu Essent oder Essend (»Essendische Nachrichten« hieß eine frühe Zeitung), und aus Asnithi wurde Essen. Auch der Weltenbaum Yggdrasil war eine Esche. Die Esche ist aus härtestem Holz, bestens geeignet für Speere oder Schwertgriffe. Das Ruhrrevier, heute abgetan mit dem Blödwort »Pott«, bietet in Fülle Geschichten und Geschichte Europas. Einiges dazu liefert das Nachwort zu meinem Theatertext »Siegfried. Die reale Geschichte. 33 Szenen« – mit goldenem Lesebändchen und mit dem tollen Nachwort »Am Himmel steht eine Kuh«.

Offen bleibt im alten Epos, wo denn einst der Sohn eines Stammeshäuptlings, wenn er von der Festung Xanten aus die Kunst des Mischens, Gießens und Schmiedens von Metallen lernen wollte, wo er das damals hätte lernen können, die Beherrschung des Feuers und der Energien (was wir bekanntlich bis heute nicht können und drauf und dran sind, eher den Planeten zu verbrennen). Prinz Siegfried hätte gar nicht lange unterwegs sein müssen (auch Xanten gehörte 2010 zu »Europas Kulturhauptstadt Essen«) – wo denn wären schon damals die Feuerkünste besser zu begreifen gewesen als dort, wo inzwischen die Archäologie immer neu Denkwürdiges aufdeckt, just dort, wo einst Franken und Sachsen – später hießen sie Rheinländer und Westfalen – wo diese frühen Germanenstämme im Tal der Ruhr und in ihren Seitentälern die Schmiedekünste erstaunlich entwickelt hatten, also genau im heutigen Grenzraum zwischen Nordrhein und Westfalen. Damals zwischen den noch heidnischen Sachsen und den teils schon »christlich« missionierten Franken, dort wuchsen ansehnliche Fertigkeiten auf der Basis von Feuer- und Wasserkraft, auffallend oft für Waffen.

Verzaubernd wirkte das Nibelungenlied auf einen, der aufwuchs in Europas größter Arbeitslandschaft, im volkreichsten deutschen Stadtgebilde (mit mehr Opernhäusern als in Berlin). In dem kleinen Buch mit dem goldenen Lesebändchen sieht man mich auf einem winzigen Foto als Dreijährigen, aufgebrezelt zu einem Kleinst-Siegfried. Wenig später, 1943/44 verkaufte ich auf Essener Straßen Nibelungen-Helden, also Gunther und Hagen, Siegfried und Krimhild, alle holzgeschnitzt, nur daumengroß, bunt bemalt. Das Geld ging ans »Winterhilfswerk«, »für die Ostfront«.

Als Kriegs-Helden also lernte man ihn kennen, den Siegfried. Nicht etwa als einen, der klug werden wollte oder der versöhnliche Festmahle genoss. Auch nicht als einen, der tumb (»dumm«) gewesen wäre und kriegslüstern und dem erst ein »Waldvögelein« verraten muss, wo es lang geht. Dafür liefert das alte Epos keinen Beleg. So wie es keinen bietet dafür, dass es ein deutsches »Reich« gegeben hätte.

Noch erstaunlicher ist, dass in den fast zehntausend Langzeilen um 1200 dem Ritter Siegfried kein einziges Mal das Beiwort »deutsch« gegönnt wird. Obwohl »deutsch« als Wort längst vorhanden war. Allgemein bekannt war es ja spätestens seit jenen Straßburger Eiden 842, zu lesen hauptsächlich als diutisk oder tiusch. Um 1200, als in Passau das Epos entstand, wird tiusch für den Liedermacher Walther von der Vogelweide fast zum Lieblingswort, rings um tiusch dichtet der energische politische Gesänge. Und weil Walther für »deutsch« nicht die Schreibweise diutisk wählt, sondern tiusch, buchstäblich so wie der oder die Autoren des Nibelungenlieds (bei denen es allerdings nur ein einziges Mal auftaucht, als tiusch, also wie bei Walther), deswegen sähen manche Forscher gern Walther von der Vogelweide als Autor des Epos. Zumal der obendrein mitteilt: Der iu maere bringet, daz bin ich. Lassen wir’s offen, wer der Dichter des Epos gewesen ist, also all der maeren und wunders vil und grozer arebeit. Der Text gibt keine Auskunft, beruft sich auf Mündliches, darauf, dass von all dem vil geseit worden sei, viel geredet und »gesagt«, in »Sagen«.

In meinem »Altdeutschen Lesebuch für Höhere Schulen« wurde nach 1945 Walthers tiuschiu zunge ungeniert übersetzt mit »Deutsches Reich«. Auch Walther meint aber kein »Reich«, sondern mit tiusch ausdrücklich das Reden der Leute, eben tiuschiu zunge. Wenn noch nach 1945 ein Schulbuch tiuschiu zunge »Deutsches Reich« dolmetscht, dann ist zu klagen, und zwar ebenfalls mit Walther: So we dir, tiuschiu zunge / wie stet din ordenunge, »weh dir, deutsche Sprache, wie steht es um deinen Zustand«.

Immer mal wieder wird heute unruhevoll erörtert, was das denn wirklich heißen könnte, »Deutschland«. Man hätte getrost auch das Wort mal befragen dürfen, es entstand also aus diet und teut, aus dem Wort für »Leute«, Deutschland ist »Leuteland«, die »leutig« reden, »deutsch«, gern auch »deutlich«. »Deutsch« und »Leute« haben halt nicht umsonst noch immer denselben Doppelvokal. »Deutsch« redeten Leute der Unterschicht, auch Analphabeten, redeten jenseits aller Herrschaftssprachen, ja, »deutsch« ist die Sprache der sogenannten »einfachen Leute«.

Aber einer wie Walther nutzte das frühe Deutsch virtuos. Ahi wie kristenlîche nu der babest lachet »Ahi, wie christlich lacht nun der Papst«. Drum zurück zur Sprache des alten Epos, zurück zum ursprünglichen Siegfried. Und abermals zurück zur Anfangszeile. Schon dieser Beginn – Uns ist in alten maeren – schon der hätte, ohne dass der markante Rhythmus gestört wäre, lauten können: Uns ist in tiuschen maeren – nein, der Anfang des Epos als augenfälligster Ort bleibt ungenutzt – ob deutsch oder nicht, das interessiert den oder die Passauer Dichter kein bisschen.

Und in der Tat, die »deutsche« Helden-Figur Siegfried bekommt in der ältesten und umfangreichsten Fassung des Nibelungen-Stoffs das Adjektiv »deutsch« kein einziges Mal. Obwohl das Wort längst verbreitet war. Ab und zu, nur immer wie nebenbei heißt der Kerl aus Xanten: Sivrid von Niderlant. Wenn schon, dann ist dieser ungewöhnliche Prinz und Gastarbeiter und Schwert- und Minne-Ritter ein Holländer.

Im riesigen Nibelungenlied erscheint »deutsch« tatsächlich nur ein einziges Mal, ausgerechnet beim Untergang der Burgunder im Osten (Strophe 1354) in Etzels Halle. Da nutzt der Text um 1200 ein einziges Mal tiusch, berichtet er von den tiuschen gesten, also von deutsch redenden (klagenden?) »Gästen« – kurz vor ihrer totalen Entscheidungsschlacht, ihrer Katastrophe im Osten – im Orient.

In der Festung Worms lebt also ein germanischer Stamm der Burgunder, der Burgonden. Im zweiten Teil des Epos aber nennen sich diese Burgunder auch Nibelunge (Strophe 1715):

Boten für strîchen mit den maeren / daz die Nibelunge zen Hiunen waeren … dir koment nach grozen eren.

»Boten eilten mit der Nachricht voraus, dass jetzt die Nibelungen bei den Hunnen einträfen … und die erwarten von dir« (gemeint ist hier Krimhild, König Etzels neue Gemahlin) »einen ehrenvollen Empfang.« Nach dem Mord an Siegfried geben sich die Wormser einen Namen, der im Epos sonst nur auftaucht in Gerüchten, und zwar in nebelhaften, in denen, die Hagen über den Gast aus Xanten verbreitet hat: Nibelunge.

Archaische Abschreckung? Es war ja mal Brauch, eigenes Wappen und Schild zu schmücken mit Trophäen, das Burgtor womöglich mit Köpfen von Enthaupteten – der »Islamische Staat« schockt bekanntlich noch heute so. Im zweiten Teil des Nibelungen-Epos, beim Zug in den Osten, da wollen die Wormser nun offensichtlich imponieren mit dem Namen dessen, den sie getötet haben, obwohl der doch als unverwundbar galt, der sogar Drachentöter gewesen sein soll, den aber König Gunthers Heermeister Hagen – am Rhein so was wie der erste Vollstrecker und Kanzler – den dieser Waffenmeister Hagen zu töten wusste, listig, wenn auch hinterhältig, in absoluter Untreue zu Krimhild und zu dem einzigartig hilfreichen Gast aus niderlant. In der Fremde tun die Burgonden so, als wären inzwischen auch sie Nibelungen, als kämen auch sie aus diesem unheimlichem Nibel- und Nebelland. Etzel und seine Hunnen sollten da schon mal gehörig zittern, auch seine neue Gemahlin Krimhild.

Die massiv betrogene Krimhild wurde bewusst König Etzels Frau, weil, so formuliert sie es ausdrücklich, weil es für sie, die Frau, gar keinen anderen Weg gab in Richtung Recht, einen, auf dem sie die hinterhältige Ermordung ihres unendlich Geliebten irgendwie vergelten könnte. In der Endphase des Epos wächst auch Krimhild zu einzigartiger Größe, nun fern von all den um 1200 »modernen« Formelhaftigkeiten des Epos. Beim Hochzeitsmahl am Hof des Königs Etzel, als man da tafelt in höfisch gehörig großer Pracht, da heißt es in diesem prunkvoll feierlichen Moment von Krimhild (1371):

Wie si ze Rine saeze, sie gedâht’ ane daz / bî ir edelen manne; ir ougen wurden naz / si hetes vaste haele

»Wie es gewesen wäre, damals, wie es hätte sein können, wenn sie auch jetzt am Rhein säße, ebenfalls beim Mahl, mit ihrem einzigartigen Mann, daran dachte sie. Ihre Augen wurden nass. Sorgfältig hielt sie ihr Weinen geheim.«

Bewegende Szene. Die zutiefst und endlos verletzte Krimhild, sie weiß auch jetzt genau, was sie will. Als im achtzehnten Jahrhundert die alten Handschriften entdeckt wurden, da türmten sich bedeutende Hindernisse gegen das Erkennen solch entscheidender Momente. Rasch waren da großartige Urteile zu fällen, sofort national-romantische. Ein Johannes von Müller verkündete 1786 nach der Entdeckung des Epos begeistert: »Das Nibelungenlied könnte die teutsche Ilias werden.« Friedrich von der Hagen feierte in der Vorrede seiner Ausgabe 1807 das Epos als »lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters.« Wo denn nur hatten die beiden »deutsch« im Epos finden können? Sogar »unvertilgbar«? Für den in Deutschland sehr erfolgreichen Theaterdichter Kotzebue wirkte 1814 »Held Siegfried« wie »ein leibhaftiger Napoleon für die Deutschen«. Hebbel nennt sein Nibelungen-Drama »Ein deutsches Trauerspiel«. Für ihn ist das Epos »der gewaltigste aller Gesänge von deutscher Kraft und deutscher Treue«.

1907, als in Berlin täglich die kaiserliche Autohupe mit Wagner-Motiven die Reichshauptstadt querte, publizierte der Philosoph Wilhelm Dilthey seinen Essay »Das nationale Epos« – 1907 war das Jahr, in dem auch jener Hirsch, der einst im Schwarzwald das Höllental übersprungen haben soll, als ganz konkrete Gestalt in Bronze auf den steilsten Felsen dieses »Höllentals« gestellt wurde. In seinem Essay feiert Dilthey das Nibelungenlied rundheraus als »nationales Epos«, »neben der Ilias wahrste Darstellung von Heldentum.« »Wahrst« und wirklich? Dieser offenbar alles erschlagende Siegfried, dessen Kampfgeist zweifellos auch schon 1870/71 Frankreich besiegen half, er wurde mehr und mehr zum idealen Taumel auch für 1914. Auf jeden Fall, für eine kriegsbereite Militärführung, schien die förmlich befeuert von diesem – nie wirklich gelesenen – »Nibelungenlied«. Siegfried-Signale wirkten blendend und betäubend, lähmten tief hinab bis in Hirn-Risse wie »Jeder Schuss ein Russ« oder »Jeder Stoß ein Franzos«. Auch Germanisten, auch benebelte Großdenker wussten nicht oder ignorierten, dass Siegfried im Nibelungenlied für vride plädiert, sogar für sicherheit, davon anschließend Genaueres. Noch nach 1945 nennt Heiner Müller den Nibelungenstoff den »deutschesten aller deutschen Stoffe«. Nirgends Kenntnisse von der ursprünglich humanen Geschichte und ihren Hauptfiguren.

Inzwischen lebte der »deutscheste aller deutschen Stoffe« freilich nicht mehr in alten Handschriften, sondern in Bayreuth. Und so schuf denn die deutsche Heeresleitung im ersten Weltkrieg konsequent Frontlinien mit Namen »Siegfried-Stellung«. Das Militär tarnte Angriffe als »Alberich-Bewegung«. Als »Hagen-Offensive«. Ernst Jüngers Kriegsbuch »In Stahlgewittern. Der Kampf als inneres Erlebnis« wurde von der rechten Presse mit Begeisterung aufgenommen als »Siegfried-Buch«. Jünger selbst: »Unsere Arbeit ist töten, und es ist unsere Pflicht, diese Arbeit gut und ganz zu tun.«

Nach der Niederlage 1918 erscheint Krimhilds Geliebter nur noch wie ein Frontkämpfer, den man im Stich gelassen hat. Da wird in den »Freikorps« das Ende allen humanen Denkens gefordert und begrüßt als Befreiung. Ernst Jünger: »… da lernt man endlich verstehen, dass unsere frühesten Schriftdenkmäler heldische Dokumente sind.« Ein Schulungsheft der SS rühmt 1942 Hagen von Tronje, rühmt den Treulosen als »Fanatiker der Mannestreue«. Berüchtigt auch Görings Rede zum zehnten Jahrestag dessen, was »Machtergreifung« hieß, am 30. Januar 1943 rühmt der »Reichsmarschall« die Schlacht um Stalingrad als Endkampf wie »in Etzels Halle«, in »heiligem Schauer« angesichts des Untergangs – des Todes von Hunderttausenden.

Bei Klaus von See sind sie aufgelistet, die teutonischromantischen Gewaltwörter »von deutscher Treue und welscher Tücke«. Von See selbst weiß freilich ebenfalls von »Siegfrieds lichtvoller Gestalt«. Auch für einen Dichter wie Josef Weinheber war Siegfried »licht«. Und dann errichtete auch der Nazi-Weltkrieg »Siegfriedlinien«. Von germanistischen Protesten war nichts zu hören, auch nichts von Leuten, die einfach Texte gelesen hätten. Nein, junge Menschen hatten auf allen Seiten massenhaft zu verrecken, auf der deutschen Seite unter Siegfried-Signalen.

Im Deutsch-Unterricht kam mein Schulbuch »Geschichte der deutschen Literatur« 1953 aus München und war streng christlich, so wie unser Schuldirektor und Deutschlehrer, Abgeordneter der »christlichen« Partei im Düsseldorfer Landtag. Im von ihm eingeführten »literarischen« Schulbuch konnte man nach wie vor klar erkennen, welche Gedichte »deutschem Wesen entsprechen« und welche nicht. Ungetrübt schilderte es noch mal Siegfrieds »alle Helden überstrahlende Gestalt« und erklärte, im Nibelungenlied sei es um Kampf »bis zum letzten Blutstropfen« gegangen. Im Nibelungenlied geht es aber fast fünftausend Langzeilen lang um vride. Um »Frieden« – und nicht nur buchstäblich und wörtlich im Namen Siegfried.

Angesichts blutiger Verdrehungen und Hirn- und Kenntnislosigkeiten wuchsen seit je meine Träume und Pläne, das Epos zu rehabilitieren, die Texte zu erneuern aus Ältestem, aus dem Nibelungenlied. Meine Fernsehreihe »Café Größenwahn« bot nach Sendeschluss oft Gelegenheit, interessante Autoren gezielt und privat zu befragen, diejenigen, die ich bewunderte für profunden Umgang mit alten Stoffen. Dieter Kühn, dann Adolf Muschg fragte ich, ob auch sie Pläne hätten mit der Siegfriedfigur. Beide wiesen das zurück, fast schaudernd. Parzival ja, aber doch nicht Siegfried. Vom deutschen Literatur-Professor Felix Dahn kannte Dieter Kühn Langzeilen in der Form des Epos: »Von Blute schäumend ziehn mit Stöhnen / die Donau und der Rhein / es wollen brausend ihren Söhnen / die deutschen Ströme Helfer sein.«

Ja, »von Blute schäumend«, »mit Stöhnen«. Folgenreicher hätte der Horror nicht aufgedonnert werden können. Gelehrte wie »Romantiker« zeigten sich todesbesessen. Literatur-professor Dahn, 1859 in seinen »Deutschen Liedern«: »Und lachend, wie der grimme Hagen, springt in die Schwerter, in den Tod! … So soll Europa stehn in Flammen!« Europa in Flammen gelang dann ja zweifellos. Junge Leute hatten in drei Kriegen daran zu glauben, wurden zerfetzt. Noch meine Brüder, auch ich noch, durch Generationen meinten Jungens zu wissen, wie richtige Männer sein müssen, nämlich so wie dieser »Unbezwingbare«, der das Drachen-Monster getötet haben soll. Erwachsene notierten in mein Kinder-Tagebuch, das erste Lied, das ich hätte singen können, sei ein Siegfriedlied gewesen, im Rundfunk hätte ich das gehört, »gegen Engel-Land«.

Aber wer denn war eigentlich dieser Drache, den der Xantener getötet haben sollte? Klar, der war das Fremde. Der war das Welsche, das Römische, das Katholische, das Kommunistische, Jüdische, Untermenschliche. Theologie weiß, »Monster« sind »Wahrzeichen der Götter«. Was bedeutet es dann, dass im Nibelungenlied das Monster Schätze gehortet haben soll? Und dass Siegfried den Hort nicht nur dem räuberischen Drachen raubte, sondern dass er den auch verschenkte, an die Burgunder? Und dass der Drache, sofern er in ältesten Quellen überhaupt eine Rolle spielt, einen denkwürdigen Namen trägt – in nordischen Urkunden heißt er NidGir.

Neid und Gier also wollte Siegfried erschlagen? So erzählt es eine alte Handschrift in Island und zeigt das bildlich: Da sieht man über dem Drachen großartig Yggdrasil, die Welten-Esche, Himmel und Erde umgreifend. Und an den Wurzeln dieses Weltbaums nagt und frisst ein Drache – Verkörperung der Gier.

Am Stamm des Weltenbaums wuselt aber auch ein Eichhörnchen, das eilt da am Stamm auf und ab und ist »emsig beschäftigt«, so wird mitgeteilt, »missgünstige Nachrichten zu verbreiten«. So wie NidGir und Ygdrasil Bilder sind für Welt und Leben und für deren Widersacher, so wuselt auch dieses Eichhörnchen offenkundig als Sinnbild – wofür? Die Alten waren nicht dümmer als wir, eher weiser und erfahrener. Wo wir Begriffe herumreichen, meist sehr dehnbare, da hatten sie Figuren und Geschichten, umrissscharf, auch in ihrer Zweideutigkeit. Und da hatten sie zu den ungeheuren maeren und wunders vil offenbar auch schon ein Bild von dem, was heute »Medien« hieße, von den »Vermittlungen«, denen wir nun mal ausgeliefert sind, in immer neuen und höchst unterschiedlichen Qualitäten. Auch puren Fälschungen, zum Beispiel dem Missbrauch der Hauptfigur im ältesten Epos des zentralen Europa. Ausgeliefert der folgenreichen Verfälschung der Siegfriedfigur ins Über- oder Herrenmenschliche, ins »Deutsche« – nämlich ins »wesentlich Kämpfende, Tötende«.

In einer anderen alten Handschrift in Island steht der Weltenbaum Yggdrasil im Sommer halb kahl, fast ohne Laub. Da zehrt halt an den Wurzeln der Welt ein Monster – die Habsucht. Habsucht und Gier hat der Xantener beseitigen wollen? Ja, die Dänen oder Sachsen, die erschlug er nicht, sondern – demnächst darüber Genaueres. Hätte man den Wortlaut der Texte gekannt, wäre der Minne-Ritter ganz und gar ungeeignet gewesen als Frontfigur gegen Franzosen oder Russen. Für Kriege gegen »übles Albion«. Oder gegen Juden.

Egal, was älteste Quellen meldeten, Siegfried galt und gilt weiterhin als »urdeutsches Idol«, auch in besten heutigen Feuilletons. »Urdeutsches Idol« nennen ihn vor jeder neuen Bayreuth-Saison seriöse Kultur-Seiten. Kritische Köpfe grausen sich da immer neu vor »deutschem Wabern« (»SZ« am 1.8.14 über »Siegfried« in Bayreuth). FAZ am 1.8.16: »Wagners Horrorheld Siegfried«. Ziemlich unklar, ob Wagner oder einer wie Castorf das Nibelungenlied je gelesen haben. Aber am »teutonischen« Siegfried müssen sich Regisseure wie Rezensenten verbiestern – und versäumen darüber die grandiose Handlung einer europäischen, einer ursprünglich zeitlosen, einer universalen Geschichte – nicht nur um Habgier, sondern auch um einen hilfreichen Betrüger, der betrogen wird. Um frühe denkwürdige Sehnsucht nach Recht, Frieden, Liebe.

Nein, vorweg, so fordern Kenner, muss in Bayreuth »Deutsches demoliert« werden. Was immer das sein soll. Auch »Deutsches demolieren« ist hier zitiert aus Groß-Feuilletons 2014. Da ist man sich sicher, diesem Siegfried – der im Nibelungenlied in fast zehntausend Langzeilen keinmal »deutsch« genannt wird – dem müsse man, bevor man sich mit ihm befasse, die »deutschen Dämonen austreiben«. Anderthalb Jahrtausende lang litt Siegfried an mörderischen Verhältnissen nie und war auch selber kein Dämon, ein »deutscher« schon gar nicht. Diese Plage lähmt ihn erst seit »deutscher« Romantik.

In Freiburg lernte ich die altdeutschen Sprachen bei Lehrern, denen ich sehr danke. Ihre Namen: Siegfried Grosse, Siegfried Gutenbrunner, Friedrich Maurer. Vornamen, in denen doch erstaunlich einmütig Fried und Frieden anklingen. Friedrich und Friedel nannten sich meine Eltern. Vom großen Verleger Siegfried Unseld ist die Klage verbürgt: »verfluchter Wagner-Name«.