Wilhelm Waiblinger
Mit einer Einleitung von Kurt Oesterle
sowie zusätzlichen Quellen und Materialien
»Der Mann im Turm als Menetekel«
Das vielschichtige Hölderlin-Porträt
des Radikalromantikers Wilhelm Waiblinger
Eine Einleitung von
Kurt Oesterle
Tagebucheinträge und andere Texte
Waiblingers zu Hölderlin
Friedrich Hölderlins Leben,
Dichtung und Wahnsinn
Anhang
Biographien
Arm wie eine Kirchenmaus zu St. Peter, so zeigt das Spottbild des Zeichners Bonaventura Genelli den Schwaben Wilhelm Waiblinger in Rom. Modisch um mindestens anderthalb Jahrhunderte seiner Zeit voraus, steht er da: in längsgestreiften Clownshosen, einem zweischwänzigen Rock mit weit offenem Kragen samt Piratenhalstuch, einem Hut, der aussieht wie ein umgestülpter Blumentopf und, ja, sogar einer lächerlich großen und runden Sonnenbrille auf der Nase; das Handwerkszeug des Dichters, Schreibheft und Feder, hat er lässig unter die linke Achsel geklemmt. Diese Karikatur soll noch lange nach Waiblingers Tod in römischen Kneipen gehangen haben, als Steckbrief eines literarischen Provokateurs, der das europäische Kulturbestiarium der heiligen Stadt um eine besonders delikate Variante bereichert hatte.
Man wagt es kaum, sich diesen arg verfrühten Vorläufer der Beatniks auf den Straßen des damaligen Tübingen vorzustellen!
Doch genau von dort kam er – aus jener anderen heiligen Stadt im Norden, aus deren erhabenster Bildungseinrichtung Waiblinger als gescheiterter Student einst ausgezogen war mit der Parole: »Mein Reich ist nicht von diesem Stift!« Wegen fortgesetzter Faulenzerei, schweren Verstößen gegen die Hausordnung sowie einem in der ganzen Stadt ruchbar gewordenen Liebesskandal hatte man ihm im Herbst 1826 »Dismission« aus dem Theologen-Paradies erteilt, was nicht gleichbedeutend war mit einem Hochschulverweis. Dennoch hatte er daraufhin Universität und Stadt für immer verlassen, war als freier Kulturkorrespondent nach Rom übergesiedelt, um dort am 17. Januar 1830, mit kaum 26 Jahren, zu sterben, vermutlich vor allem an den Folgen einer Syphilis. In Rom liegt er auch begraben, auf dem dortigen Protestantenfriedhof, nahe bei Keats und Shelley, aber noch näher beim einzigen Sohn eines Hochberühmten aus deutschen Landen, auf dessen Grabstein nicht einmal sein eigener Name steht, sondern nur: »Goethe filius«. Anders jedoch als jener August hatte Waiblinger nicht an den Folgen einer Wohlstandsverwahrlosung gelitten, sondern war seinem unbedingten Willen zur Freiheit gefolgt, ein Aussteiger oder besser noch Abspringer von schwäbisch-ehrbaren Karrierebahnen, der ein hartes, aufreibendes Leben in Unabhängigkeit sämtlichen goldenen Käfigen Württembergs vorgezogen hatte und gescheitert – nein, nicht gescheitert, sondern nur allzu rasch an sein Ende gekommen war.
Hat einer wie er sich nicht in unausweichlicher Notwendigkeit für das Schicksal des Dichters Hölderlin interessieren müssen?
Für jenen gebrochenen Mann aus dem Tübinger Neckarturm, der einst selbst vor einer vergleichbaren Wahl gestanden und sich für den freien Dichterberuf entschieden hatte, zur damaligen Zeit eine mögliche Lebensform nur, falls Gönner einem das Dasein finanzierten (Goethe) oder man gut dotiert an einer Universität lehren konnte (Schiller). Waiblinger – höchst originell für einen jungen Mann aus der Provinz – wählte den noch recht neuen Weg Heinrich Heines und brachte sich auf dem stetig wachsenden publizistischen Markt in Stellung, indem er für die Cottaschen Bildungsblätter sowie andere deutsche Zeitungen Reiseberichte und -feuilletons schrieb, die heute noch erhellend und witzig zu lesen sind. Hätte er nicht so zeitig abtreten müssen – ich bin überzeugt, sein im Kern journalistisches Naturell wäre voll und ganz aufgeblüht in der Ära des Vormärz, die liberale Einzelgänger und Selbstdenker wie ihn bitter benötigte.
Denn seine besten Stücke, sei es Prosa, Lyrik oder dramatische Szene, schrieb Waiblinger immer dann, wenn er von den Alltagswirklichkeiten ausging und sein überschießendes, jungwildes Pathos in den Schwitzkasten nahm. Jenen mentalen Überhang des demokratischen Außenseiters, der noch unverkennbar in einem Feudalsystem erzogen worden war: einerseits zum Beherrschtwerden, andererseits zum Mitherrschen (als Auftrag an die gebildete Oberschicht, der er zugehörte). Eduard Mörikes Urteil, die Gedichte seines Freundes seien zum einen voller »Trotz« und »Selbsttäuschung«, zum anderen »superlativisch«, suchten stets das »Grandiose« und gelangten selten zu »einfacher Selbstanschauung«, bezeugt diesen Überhang treffend. Für Waiblingers Modernität indes, seine literarisch pointierten Tagebücher, die hochartistische Mischform der Reisebilder sowie die teils bissig-schlüpfrigen Satiren besaß der kulturkonservative Mörike kein Gespür. Nie hätte er selbst sich getraut, nicht einmal im intimsten Tagebuch, so wie Waiblinger den giftigen Wunsch zu äußern: »Man sollte Goethen aus der Welt schaffen.« Eine Tat von »großartiger Verzweiflung«, wie der erst Siebzehnjährige glaubt, weil Goethe schließlich die deutsche Literatur »verhunzt« habe. Was den jungen Mann einzig davon abhielt, Cottas wichtigstes Zugpferd zu schlachten, ist die Überzeugung, »ich könnte einmal etwas leisten«.
Immerhin, es war zu jener Zeit noch keine zwei Jahre her, daß der ehemalige Tübinger Corpsstudent Ludwig Sand den Erfolgsschriftsteller Kotzebue ermordet hatte. Eine gewisse Aggressivität gegen das Kulturestablishment lag in der Luft, eine Luft, die auch Wilhelm Waiblinger atmete, dessen spätjakobinische oder bereits frühanarchistische Wut und Respektlosigkeit unzählige Male in seinen Schriften aufblitzt wie Solinger Stahl. Eigenschaften, die ihm beim Verfassen seines bis heute wichtigsten und meistgelesenen Textes, dem Porträt des kranken Friedrich Hölderlin, jedoch zugute kamen, zumal sie ihm jenen unvoreingenommenen, furchtlosen Blick ermöglichten, der für dieses Meisterstück der Außenseiter-Biographik unabdingbar nötig war.
Mit Waiblingers Porträt nimmt eine literarische Spur ihren Anfang, die über Georg Büchners »Lenz«-Novelle in die Moderne weiterläuft und auch bei Carl Seeligs »Wanderungen mit Robert Walser« nur vorläufig endet. Immer schärfer wurde seit jener Zeit das Bewußtsein für die Gefährdungen der Phantasie. Einer der ersten Sätze von Büchners knapp zehn Jahre nach Waiblingers Hölderlin-Porträt verfaßter Erzählung über den in den Wahnsinn abgleitenden Dichter Johann Michael Reinhold Lenz lautet: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« Ein prekäres Gefühl, das bereits dem sechzehnjährigen Waiblinger vertraut war, so daß er in seinen ersten Tagebüchern festgehalten hatte: »Ich will mich umbringen, wenn die rechte Zeit naht. Ich will solange auf dem Kopf stehen, bis ich wieder auf die Füße zu stehen komme.«
Das Bild vom Auf-dem-Kopf-Stehen drückte in der zerrissenen, gewalttätigen und revolutionsschwangeren Epoche vor 1848 offenbar ein verbreitetes Zeitgefühl aus – das einer verkehrten Welt, die erst noch zu sich selbst kommen müsse. Wollte nicht auch Karl Marx zu diesem Zweck Hegels Geistphilosophie vom Kopf auf die Füße stellen?
Übrigens, seine Tötungsphantasien konnten Wilhelm Waiblinger keineswegs davon abhalten, rund zwei Jahre später ein Bündel seiner Gedichte an »Goethen« zu senden und untertänig um Begutachtung zu bitten. Bezeichnenderweise nennt er die Weimarer »Exzellenz« auch noch schmeichlerisch »Vater unserer aller« – damit zumindest, und sei es unfreiwillig, andeutend, wie stark er zwischen Vatermordgelüsten und Unterwerfungssehnsüchten schwankte. Noch weit mehr als viele seiner Altersgefährten, Mörike etwa, war Waiblinger das wankelmütige Kind einer Schwellenzeit, die sich zwischen Restauration und Fortschritt nicht entscheiden mochte. Auch in seiner Lebensführung offenbart sich eine extreme Unausgeglichenheit, die ihn selbst mehr als einmal befürchten ließ, an einer unheilbaren »Gemütskrankheit« zu leiden: Heute will er ins Kloster gehen, morgen träumt er von freier Liebe und nimmt an ausufernden Saufgelagen teil; heute verdammt er sich als Versager in die unterste Hölle, morgen hat er sich überschwänglich im Genieverdacht; heute verletzt er sich bei einem mutmaßlichen Selbstmordversuch, morgen lernt er Italienisch, um ein neues Leben im Süden anzufangen.
Leute wie Wilhelm Waiblinger sind zu allen Zeiten gern ausgewandert, oft nach mehreren Anläufen; in der Ferne beruhigte sich ihr »Streben nach Sonderbarkeit«, wie schon der Stuttgarter Gymnasiast im Tagebuch seinen Hauptantrieb genannt hat. Spannungen mit Eltern, Freunden, Autoritäten werden gegenstandslos. Die Glut, es der Heimat zu beweisen, verliert an Hitze. Und der Blick auf die eigenen, selbstgestellten Aufgaben ernüchtert sich. Ernsthaftigkeit kehrt ein. Die reifste Frucht der in Rom gewonnenen Waiblingerschen Ernsthaftigkeit ist der biographische Essay »Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn«. Dergleichen hatte der immer noch junge Mann nie zuvor geschrieben und daheim geblieben hätte er es höchstwahrscheinlich auch nie getan. Beim Lesen meint man bisweilen zu spüren, wie er sich selbst darüber verwundert – vorbei die Zeiten der Hyperidentifikation, die häufig nur durch ekstatische Ausrufe im Tagebuch ventiliert werden konnte, von der Art: »Nur einen Wahnsinnigen möcht ich schildern – ich kann nicht leben, wenn ich keinen Wahnsinnigen schildere … Hölderlin! Hölderlin!« Erst in der heimatlichen Fremde Roms, so könnte man sagen, findet er wirklich zu dem Mann aus dem Turm! Und damit zu sich selbst.
Die Niederschrift von Waiblingers Hölderlin-Porträt fiel in den Winter 1827/28. Der Autor konnte sich dazu im Großen und Ganzen nur auf sein Gedächtnis verlassen, weshalb vor allem im ersten Teil, dem Lebenslauf, fast zwangsläufig etliche Fehler entstanden sind; sie sollen am Ende dieses Buchs in einem knappen Anhang zu »Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn« berichtigt werden. Noch gravierender als Waiblingers Irrtümer und Flüchtigkeiten jedoch ist der erstaunliche Wandel seines Hölderlin-Bildes, der in größter Plastizität vor Augen tritt, wenn man dem abschließenden biographischen Essay sämtliche Dokumente vorausschickt, in denen die Begegnungen des jungen Mannes mit dem Alten im Turm ihren Niederschlag gefunden haben, also Briefstellen, Tagebucheinträge sowie den Hymnus »An Hölderlin«, der bereits 1826 in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde. Und genau das geschieht hier (mit fast allen stilistischen, orthographischen und grammatikalischen Besonderheiten) zum ersten Mal – wobei überdeutlich erkennbar wird, daß Hölderlin sich für Waiblinger vom gepriesenen Idol ganz allmählich in eine Art Menetekel verwandelt hat. Rund vier Jahre gingen die beiden miteinander um, nämlich vom Sommer 1822 – da war Waiblinger kaum 17, Hölderlin 52 – bis in den Frühherbst 1826; wie häufig, ist allerdings nicht überliefert. Die intensivste Phase ihres Umgangs dürfte rund anderthalb Jahre gedauert haben.
Alles beginnt beim Hörensagen. Freunde berichten Waiblinger von Hölderlin und seiner Turmexistenz, die bereits fünfzehn Jahre währt. Auch bekommt er hin und wieder ein einzelnes Gedicht aus Hölderlins besseren Tagen in die Hand, außerdem dessen gerade neu aufgelegten Roman »Hyperion«. Noch als Stuttgarter Gymnasiast entschließt er sich zu einem ersten Besuch im Turm, begleitet von einem Freund. Diese Erstbegegnung mit dem psychisch Kranken verstört Waiblinger, doch er fängt sich und geht – nunmehr Theologiestudent in Tübingen – abermals zu dem »Wahnsinnigen«, wie er ihn im Tagebuch unumwunden nennt. Der junge Mann reift in der Begegnung mit dieser nicht-alltäglichen Persönlichkeit, überwindet sein »Grauen« vor ihr und beginnt, sie akribisch zu studieren. Auch liest er parallel dazu mit hochschäumender Begeisterung in Hölderlins Roman, ja, er beschließt sofort, selbst einen Roman zu schreiben, den »Phaeton«, dessen Held modellhaft Hölderlin nachgebildet ist. Waiblingers Beziehung zu dem Mann im Turm wird vielschichtiger – er projiziert unentwegt von sich auf den anderen, identifiziert sich gar romantische