Aus der Klinik ins Haus am Neckar
Der ›Fall‹ Hölderlin
Herausgegeben von
Sabine Doering und Valérie Lawitschka
Der ›Fall‹ Hölderlin
Klaus Dörner im Gespräch mit Sabine Doering in seiner Hamburger Wohnung am Sonnabend, den 26. Januar 2013
Herr Dörner, Sie haben einmal pointiert gesagt: Es war für Hölderlin ein Glücksfall, dass er zu Autenrieth in Behandlung kam, weil Autenrieth noch nicht als Psychiater spezialisiert war. Was meinen Sie damit?
Das Jahr 1806, als die Bekanntschaft von Hölderlin und Autenrieth zustande kam, war eine Zeit, wo zumindest in Deutschland die Psychiatrie erst noch im Entstehen war. In England und Frankreich war das etwas früher geschehen. In England begann diese Entwicklung zur Psychiatrie etwa ab 1750. Das heißt: Ärzte kamen auf den Gedanken, dass der Mensch nicht nur aus dem Körper bestand, sondern auch so etwas wie eine Seele oder einen Geist habe. So versuchte man jetzt, die Erfolgsgeschichte der Medizin auf psychische Phänomene zu übertragen. Verdienstvoll daran ist, dass man das überhaupt getan hat. Andererseits entstand natürlich auch die Gefahr, dass die Begriffe, die man anhand des Umgangs mit einem kranken Körper gefunden hatte, jetzt auf die Seelen übertragen wurden. In Frankreich geschah dies um die Zeit der Revolution herum mit Pinel und Esquirol. In Deutschland kann man von einer vollprofessionalisierten Psychiatrie eigentlich erst ab 1830, 1850 reden. Das ist für Deutschland als verspätete Nation typisch.
Dieser Prozess hat in Deutschland mehr als in anderen Ländern dazu geführt, dass ein Teil der Pioniere von vornherein sagte, eins zu eins könne man die Medizin nicht auf die Psyche anwenden. So ging man in Deutschland davon aus, Psychiatrie sei ein Mischprodukt aus medizinischem (also naturwissenschaftlichem) und philosophischem Denken, gewissermaßen geprägt von philosophischer Reflexion. Das kann man auch daran sehen, dass die größten Philosophen – Kant, Hegel, Schelling – quasi ihre eigene Psychiatrie ausformuliert haben. Diese Pionierzeit, in die Hölderlins Erkrankungszeit fällt, war eine Zeit, in der sich – so die damalige Sprache – die Somatiker und Psychiker bekämpft haben. Jeder versuchte, Punkte auf seinem Konto zu sammeln. Dadurch entstand eine fruchtbare Spannung zwischen zwei verschiedenen Sichtweisen, die der Entwicklung der Psychiatrie sicher im Ganzen genützt hat. In der weiteren Abfolge hat sich das dann aber auch in Deutschland einseitig entwickelt. Sehr deutlich ist dies an den Revolutionsbürgern von 1848 erkennbar. Sie haben es als eine revolutionäre Forderung verstanden zu sagen: Jetzt wollen wir das Philosophikum für Medizinstudenten abschaffen und durch das Physikum ersetzen. Das ist eine der ganz wenigen Forderungen dieser Revolutionsbürger, die tatsächlich erfüllt wurden, wenn auch mit zeitlichem Verzug: 1861 wurde das Philosophikum abgeschafft und durch das Physikum ersetzt. Und als dieser Weg einmal beschritten war, wurde er für lange Zeit als einzig richtiger Weg erkannt. Es hat lange gedauert, bis es wieder zu einer gemischten Auffassung zwischen Philosophie und Medizin gekommen ist. Das ist erst in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 geschehen. Da gab es vorübergehend eine Phase, sicherlich auch in Nachbetrachtung auf die psychiatrischen Verbrechen in der Nazizeit, in der eine ganze Generation von Psychiatern wirkte, die gleichzeitig auch philosophisch dachte. Aber jetzt nochmal zurück. Ich habe gerade versucht, einen breiten Entwicklungsrahmen zu geben.
Der hilft uns, Hölderlins Situation zu verstehen.
1806 also war eine Zeit, wo es Psychiatrie im eigentlichen Sinn überhaupt noch nicht gab. Man war auf der Suche. Die Psychiatrie ist ja eine der späteren medizinischen Disziplinen. Das war einfach etwas Neues: das Psychische überhaupt zu denken und es dann nicht nur philosophisch, sondern eben auch medizinisch zu denken.
Autenrieth kann man allerdings nicht gut einordnen. Er hatte einen weiten Horizont, war gleichzeitig Somatiker und Psychiker. Er war der Chefarzt in der Tübinger Klinik; doch die unmittelbare Betreuung Hölderlins überließ er dem Assistenten Justinus Kerner. Es gibt keine Quellen, warum er das getan hat. Aber die zeitgenössischen Kommentatoren haben es immer so gesehen: Kerner sei ja bekanntlich jemand, der für Spinnereien aller Art offen sei. Und das war sicherlich, so sehe ich es, eine richtige Idee von Autenrieth.
Das ist aber noch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr: Autenrieth war ein Unikat. Wie er es später beschrieben hat, war er ja kurz zuvor, wie man heute sagen würde, von einer Dienstreise in die USA zurückgekommen. Er hatte von dort die entsprechenden amerikanischen philosophischen Ideen und die Vorformulierung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber vor allem von der Freiheit des Menschen mitgebracht. So sind die Probleme, mit denen er sich beschäftigte, aus der Situation des freien Menschen und natürlich auch des vernünftigen Menschen zu betrachten. Autenrieth hatte aber zugleich gesehen, dass man in den USA schon angefangen hatte, dazu überzugehen, die Irren, wie man damals sagte, in möglichst große Institutionen wegzusperren. So kam er ins damals noch bestehende Königtum Württemberg zurück und stellte fest, dass man auch dort im Begriff war, diesen Weg einzuschlagen, also die Irren in möglichst große Anstalten zu sperren. Denn davon war man überzeugt: Die neuen Heilmethoden, die man ja zu haben glaubte, könne man nicht zu den einzelnen psychisch Kranken in die Wohnung bringen, sondern man müsste die psychisch Kranken zur Hilfe bringen. Das war die positive Assoziation, die man dabei hatte. Weiter glaubte man: Wenn die in den Anstalten Beschäftigten hinreichend viele psychisch Kranke kennengelernt und sich entsprechend professionalisiert haben, dann würden die Heilungschancen erheblich steigen. Auf diese Weise hoffte man, den Traum der Aufklärung und noch mehr des beginnenden Industriezeitalters zu verwirklichen, dass man letztlich alle Krankheiten besiegen könnte. Wie man an vielen Beispielen zeigen konnte, gab es ja tatsächlich immer mehr Krankheiten, die man heilen konnte. So war man also überzeugt, an einem großen Berg zu arbeiten, nämlich der Herstellung der Machbarkeit, der Herstellung einer leidensfreien Gesellschaft. Und damit hätte man dann das Paradies auf Erden.
Wovon die Menschen zu allen Zeiten träumen.
Ja. Diese Glaubenshaltung, so nenne ich es, knüpfte an viele frühere Träume an, die man jetzt besser realisieren konnte. Dazu gehörte natürlich der Glaube an die Professionalisierung des Helfens. Nur wer hinreichend professionell ausgebildet ist, der ist auch in der Lage, dieses segensreiche Heilungswerk tatsächlich durchzuführen. Dies war der andere Grund, weshalb man sagte, das könne nur in großen Institutionen passieren, nämlich möglichst abgeschottet von der übrigen Welt, die als schädigend empfunden wurde, egal, ob es sich um die eigene Familie oder sonstige gesellschaftliche Gegebenheiten handelte. Die Psychiatrie begann also mit dem Motto: stationär vor ambulant. Es hat ziemlich lange gedauert, eigentlich bis in unsere Tage, bis wir das umgedreht haben: ambulant vor stationär.
So kann man die Psychiatrie als ein Produkt der Industriegesellschaft betrachten. Dazu gehörten drei Prinzipien: zunächst die Institutionalisierung des Helfens. Das segensreiche rationalisierende Heilungswerk, so die damalige Auffassung, kann nur im Schutz von Institutionen passieren, auch deshalb, weil man dort viele Menschen hatte, die man da vergleichen und beobachten konnte, um daraus entsprechende naturwissenschaftliche Schlüsse zu ziehen. Das ist ganz logisch gedacht. Das zweite ist die bereits erwähnte Professionalisierung, und das dritte die Medizinisierung des Helfens. Auch das war naheliegend; denn dank der sensationellen Erfolge bei der Bekämpfung von Krankheiten war die Medizin gewissermaßen zu einer Leitwissenschaft geworden, von der man sich die größten Erfolge versprechen konnte. Wenn ich damals gelebt hätte, hätte ich wahrscheinlich genauso gedacht.
Diese drei Prinzipien – Institutionalisierung, Professionalisierung, Medizinisierung – beherrschten also das Feld und führten zu der Frage, wie sich diese neue, noch gar nicht richtig etablierte Wissenschaft der Psychiatrie entwickeln sollte.
Darf ich eine Zwischenfrage stellen? Was bedeutet diese Entwicklung für die Diagnostik? Bedeutet das auch, dass die Patienten schematischer gesehen oder dass sie gerade individueller wahrgenommen werden?
Quer durch die drei Prinzipien zieht sich ein weitergehendes Prinzip, das der möglichst großen Spezialisierung. So sind ja auch die ganzen Spezialdisziplinen entstanden; das ist ein längerfristiger Prozess, der schon am Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, zunächst in der Körpermedizin. Dieses Prinzip übertrug man auf die psychisch Kranken, denn man hatte kein anderes Leitbild als eben die Medizin mit ihrer Entwicklung. Weil man also keine Alternative kannte, glaubte man, die Psychiatrie müsse sich parallel zur Körpermedizin entwickeln. Damit bezog man sich natürlich auf die vorangehende Entwicklung der Naturwissenschaften, auch der zoologischen und botanischen, und richtete sich im Grunde genommen nach Linné.
Damit begann der Glaube an den Fortschritt. Es galt, möglichst sorgfältig verschiedene Spezies, verschiedene Arten auseinanderzuhalten, zu unterscheiden. Das analytische Prinzip war also entscheidend, nicht das synthetische. Man muss analysieren, war die Devise, während die Philosophen ja immer synthetisiert haben. Das Synthetisieren hatte es schon immer gegeben und deshalb galt es dem naturwissenschaftlichen Fortschrittsglauben als falsch.