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Joy Fielding

Nur der Tod
kann dich retten



Roman




Deutsch
von Kristian Lutze








Inhaltsverzeichnis

Buch und Autorin
Copyright
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
DANKSAGUNG

DANKSAGUNG

Wie immer gilt mein Dank Larry Mirkin und Beverley Slopen für ihren Rat, ihre Unterstützung und ihre Freundschaft. Vielen Dank auch an meine Familie und alle bei der William Morris Agency sowie bei Atria Books in den USA und Doubleday in Kanada dafür, dass sie so viel für den Erfolg meiner Bücher tun. Danke auch an Corinne Assayag, die meine Website hervorragend betreut, und an alle meine ausländischen Verleger und Übersetzer für die großartige Arbeit, die sie bei der Veröffentlichung und Übertragung meiner Romane leisten.

Ich möchte diese Gelegenheit jedoch vor allem nutzen, um Owen Laster zu danken, der seit mehr als zwanzig Jahren mein Agent (sowie mein Freund und beherzter Unterstützer) ist. Er ist ein vollendeter Künstler seines Metiers, eine sanfte Seele und ein wahrer Gentleman, der nach 45 Jahren in der Branche in den Ruhestand geht. Auch wenn ich weiß, dass er mich in kundigen Händen zurücklässt, werde ich ihn schrecklich vermissen. Er ist einzigartig, und ich hoffe, dass er weiterhin stolz auf mich sein wird. Vielen Dank, Owen. Ich liebe dich und wünsche dir alles Gute.

1

TOTENBUCH

 

 

 

 

Das Mädchen wacht auf.

Sie rührt sich, die mascaraverklebten Lider flattern verführerisch, bevor sie die großen blauen Augen aufschlägt, wieder schließt und erneut öffnet, länger diesmal, um beiläufig die unvertraute Umgebung zu registrieren. Dass sie an einem fremden Ort ist, ohne sich daran zu erinnern, wie sie hierhergekommen ist, wird ihr erst in einigen Sekunden dämmern. Dass ihr Leben in Gefahr ist, wird sie unvermittelt mit der Wucht einer riesigen Sturzwelle treffen und sie wieder auf die schmale Pritsche zurückwerfen, die ich vorausschauend bereitgestellt habe.

Das ist das Beste, beinahe noch besser als alles, was später kommt.

Ich war nie ein großer Fan von Blut und Eingeweiden. Diese neuen Fernsehserien, die jetzt so beliebt sind, mit Top-Pathologen in hautengen Hosen und Push-up-BHs, lassen mich mehr oder weniger kalt. All die Leichen bringen es einfach nicht – all die Pechvögel, die mit einer exotischen Vielfalt immer blutrünstigerer Methoden ins Jenseits befördert worden sind und die nun in ultramodernen Pathologiesälen auf kalten Stahlplatten liegen, um von behandschuhten Fingern leidenschaftslos geöffnet und begrapscht zu werden. Selbst wenn die Leichen nicht so offensichtlich künstlich wären, würden sie mich nicht anmachen – wobei die künstlichsten Gummileiber immer noch echter aussehen als die allgegenwärtigen Brustimplantate, die von den tapferen Push-up-BHs im Zaum gehalten werden. Gewalt an sich war nie mein Ding. Ich fand den Spannungsaufbau vor der Tat immer interessanter als die Tat selbst.

Genauso wie mir die nie ganz perfekte, natürliche Form echter Brüste immer lieber war als die künstlich aufgeblasenen – und absolut schrecklichen – Ungetüme, die heutzutage allseits so beliebt sind. Und das nicht nur im Fernsehen. Man sieht sie überall. Selbst hier an der Alligator Alley, mitten in Florida.

Am Arsch der Welt.

Ich glaube, es war Alfred Hitchcock, der den Unterschied zwischen Schock und Thrill definiert hat. Ein Schock war seiner Ansicht nach eine stoßartige Attacke auf alle Sinne, die kaum eine Sekunde dauert, während Thrill eher ein langsames Reizen ist. Ungefähr so wie der Unterschied zwischen einem ausgedehnten Vorspiel und einem verfrühten Samenerguss, möchte ich hinzufügen und stelle mir vor, dass der alte Alfred schmunzelnd zustimmen würde. Er hat den Thrill dem Schock immer vorgezogen, weil es aufregender und letztendlich befriedigender war. Da bin ich ganz seiner Meinung, obwohl ich wie Hitch auch einem gelegentlichen Schock nicht abgeneigt bin. Es soll schließlich spannend bleiben.

Wie dieses Mädchen bald herausfinden wird.

Sie sitzt jetzt aufrecht auf ihrer Pritsche, die Hände ängstlich zu Fäusten geballt, während sie ihre schwach beleuchtete Umgebung mustert. Der verwirrte Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht – zum Sterben schön, wie mein Großvater immer sagte – verrät mir, dass sie sich anstrengt, ruhig zu bleiben, nachzudenken und zu begreifen, was geschehen ist, während sie sich weiter an die Hoffnung klammert, dass das Ganze vielleicht doch nur ein böser Traum ist. Denn eigentlich kann das alles doch nicht wahr sein. Sie kann nicht tatsächlich auf der Kante einer winzigen Pritsche in einem Raum sitzen, der aussieht wie ein Keller, wenn Häuser in Florida denn Keller hätten, was jedoch in der Regel nicht der Fall ist, weil der Staat Florida fast ausschließlich auf Sumpfland gebaut ist.

Gleich wird die Panik einsetzen. Sobald ihr klar wird, dass sie nicht träumt, dass ihre Lage vielmehr real und ziemlich verzweifelt ist, dass sie in einem verschlossenen Raum eingesperrt ist, dessen einzige Lichtquelle eine Lampe auf einem Sims weit jenseits ihrer Reichweite ist, selbst wenn es ihr gelänge, die Pritsche aufzurichten und hochzuklettern. Das hatte das letzte Mädchen versucht und war dabei auf den Lehmboden gestürzt. Dort saß sie, hielt ihr gebrochenes Handgelenk und weinte. Und dann fing sie an zu schreien.

Das war ganz spaßig – eine Zeit lang.

Gerade hat sie die Tür entdeckt, aber im Gegensatz zu dem letzten Mädchen geht sie nicht direkt darauf zu. Stattdessen sitzt sie einfach da, beißt sich auf die Unterlippe und blickt sich ängstlich um. Sie atmet laut und sichtbar, ihr pochendes Herz droht ihre Brust zu sprengen, ihre großen hängenden Brüste – die wenigstens echt sind – beben wie die einer hyperventilierenden Kandidatin bei Der Preis ist heiß. Soll sie sich für Tür Nummer eins, zwei oder drei entscheiden? Nur dass es hier bloß eine Tür gibt, und wer weiß, was sich dahinter verbirgt. Die Dame oder der Tiger? Rettung oder Vernichtung? Meine Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. Sie wird gar nichts finden. Zumindest noch nicht. Nicht, bevor ich so weit bin.

Sie hat sich von der Pritsche erhoben, ihre Neugier treibt sie an, die Füße voreinander zu setzen und zur Tür zu gehen, selbst wenn eine bohrende Stimme ihr warnend ins Ohr wispert, dass Neugier der Katze Tod ist. Verlässt sie sich auf das alte Ammenmärchen, dass eine Katze neun Leben hat? Glaubt sie, ein paar nutzlose alte Weiberweisheiten könnten sie retten?

Mit zitternder Hand greift sie nach dem Türknauf. »Hallo?«, ruft sie, leise zunächst, die Stimme ebenso zittrig wie ihre Finger. »Hallo?«, wiederholt sie kräftiger. »Ist da jemand?«

Ich bin versucht, ihr zu antworten, aber ich weiß, dass das keine gute Idee ist. Zunächst einmal würde es ihr verraten, dass ich sie beobachte. Im Augenblick ist ihr der Gedanke, dass sie observiert werden könnte, noch nicht gekommen, und wenn das geschieht, vielleicht in ein oder zwei Minuten, wird sie panisch die Augen aufreißen und den Raum absuchen. Vergeblich. Sie kann mich nicht sehen. Das Guckloch, das ich in die Wand gebohrt habe, ist zu klein und viel zu weit oben, als dass sie es entdecken könnte, vor allem in dem schwachen Licht. Außerdem würde der Klang meiner Stimme ihr nicht nur eine Ahnung von meiner Anwesenheit und meinem Aufenthaltsort geben, er könnte ihr auch helfen, mich zu identifizieren, was ihr einen unnötigen Vorsprung in der anstehenden Psycho-Schlacht verschaffen würde. Nein, ich werde mich schon früh genug zu erkennen geben. Es hat keinen Sinn, dem Spiel vorauszueilen. Das Timing wäre einfach nicht richtig. Und Timing ist, wie man so sagt, alles.

»Hallo? Irgendjemand da?«

Ihre Stimme klingt jetzt drängender, verliert ihr mädchenhaftes Timbre und wird schrill, beinahe feindselig. Das ist eines der interessanten Phänomene, die ich über weibliche Stimmen herausgefunden habe – wie schnell sie von herzlich in herrisch umschlagen, von tröstend in enervierend, wie schamlos sie alles enthüllen wollen, wie kühn sie ihre angstvollen Worte in die ahnungslose Luft schleudern. Die sanfte Flöte wird von einem wilden Dudelsack übertönt, das Kammerorchester von einer Marschkapelle niedergetrampelt.

»Hallo?« Das Mädchen packt den Türknauf und versucht, die Tür in ihre Richtung aufzuziehen. Aber die Tür gibt nicht nach. Schnell verkommen ihre Bewegungen zu einer Folge unbeholfener Posen, die immer unüberlegter und hektischer werden. Sie zieht an der Tür, drückt und rammt ihre Schulter dagegen, was sie mehrmals wiederholt, bevor sie aufgibt und in Tränen ausbricht. Das ist das Andere, was ich an Frauen beobachtet habe – sie heulen ständig. Es ist der einzige Punkt, an dem sie einen nie enttäuschen, das Einzige, worauf man sich verlassen kann.

»Wo bin ich? Was geht hier vor?« Zunehmend frustriert hämmert das Mädchen mit den Fäusten gegen die Tür. Sie ist jetzt nicht mehr nur verängstigt, sondern auch wütend. Sie weiß vielleicht nicht, wo sie ist, aber sie weiß, dass sie nicht freiwillig hierhergekommen ist. In ihrem Kopf beginnt es von immer grausameren Bildern zu wimmeln – Zeitungsschlagzeilen aus jüngerer Zeit über vermisste Mädchen, Fernsehberichte über Leichen, die man notdürftig in der Erde verscharrt gefunden hatte, Bilder von Messern und anderen Folterinstrumenten aus Versandhauskatalogen, Filmausschnitte von hilflosen Frauen, die vergewaltigt und erwürgt werden, bevor man ihre Leichen in schleimbedeckten Sümpfen versenkt. »Hilfe!«, fängt sie an zu schreien. »Bitte helft mir!« Aber auch ihre Klagerufe treffen nur auf die abgestandene Luft, und ich nehme an, dass sie weiß, dass sie völlig nutzlos sind, weil kein Mensch sie hören kann.

Kein Mensch außer mir.

Ihr Kopf schnellt hoch, ihre Augen richten sich wie Suchscheinwerfer auf mich, sodass ich von der Wand zurückzucke und im Rückwärtstaumeln beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Als ich mich wieder gesammelt habe und zu Atem gekommen bin, geht sie in dem kleinen Raum im Kreis und blickt sich hektisch in alle Richtungen um, während sie mit flachen Händen die blanken Betonmauern nach einer weichen Stelle abtastet. »Wo bin ich? Ist da draußen jemand? Warum hat man mich hierhergebracht?«, ruft sie, als ob sie auf die richtige Frage eine beruhigende Antwort bekommen würde. Schließlich gibt sie auf, sinkt auf der Pritsche in sich zusammen und weint noch eine Runde. Als sie den Kopf wieder hebt und mich zum zweiten Mal direkt ansieht, sind ihre großen blauen Augen tränenverquollen und unvorteilhaft rot gerändert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, und mein Wunsch ist Vater des Gedanken.

Sie richtet sich wieder auf und atmet mehrmals tief durch. Sie versucht offenkundig, sich zu beruhigen, während sie ihre Lage analysiert. Sie betrachtet ihre Kleidung – ein blassgelbes T-Shirt mit dem knallgrünen Schriftzug MOVE, BITCH auf der Brust, tief und eng auf ihren schmalen Hüften sitzende Jeans. Dieselbe Garderobe, die sie … wann noch gleich getragen hat? Gestern tagsüber? Gestern Abend? Heute Morgen?

Wie lange ist sie schon hier?

Sie streicht sich durch ihr langes, rotblondes Haar und kratzt sich am rechten Knöchel, bevor sie sich an die Wand lehnt. Irgendein Verrückter hat sie entführt und hält sie als Geisel, denkt sie und überlegt vielleicht schon, wie sie diese Geschichte nach ihrer Flucht möglichst effektvoll erzählen kann. Vielleicht meldet sich das People-Magazin. Vielleicht sogar Hollywood. Wer wird ihren Part spielen? Das Mädchen aus Spider-Man oder vielleicht doch besser die andere, die dieser Tage ständig auf den Titelseiten der Boulevardpresse zu sehen ist. Lindsay Lohan? Heißt sie so? Oder war es Tara Reid? Cameron Diaz wäre gut, obwohl Cameron mehr als zehn Jahre älter ist als sie. Es ist im Grunde egal. Sie sind alle mehr oder weniger austauschbar. Alle zum Sterben schön.

Und da komme ich ins Spiel. Dabei kann ich helfen.

Die Miene des Mädchens verdüstert sich. Ein weiteres Mal dringt die Realität in ihre Gedanken ein. Was mache ich hier, fragt sie sich. Wie bin ich hierhergekommen? Warum kann ich mich nicht daran erinnern?

Vermutlich kann sie sich daran erinnern, in der Schule gewesen zu sein, obwohl ich bezweifle, dass ihr viel von dem Unterrichtsstoff im Gedächtnis geblieben ist, wenn überhaupt etwas. Sie war mit anderen Dingen beschäftigt- starrte aus dem Fenster, flirtete mit den Neandertalern in der letzten Reihe und machte den Lehrern das Leben schwer. Immer hatte sie einen schlauen Spruch drauf, eine sarkastische Bemerkung parat oder eine ungefragte Meinung beizusteuern. An die Schulglocke zum Ende des Unterrichts, die sie aus dem Gefängnis ihrer zwölften Klasse befreit hat, wird sie sich garantiert erinnern, wahrscheinlich auch noch daran, auf den Schulhof gerannt und von irgendwem in der Nähe eine Zigarette geschnorrt zu haben. Vielleicht weiß sie noch, wie sie einer Klassenkameradin eine Dose Cola aus der Hand gerissen und sie ohne ein Dankeschön oder eine Entschuldigung heruntergestürzt hatte. Vielleicht erinnert sie sich sogar daran, sich auf den Heimweg gemacht zu haben – etliche Zigaretten und schnippische Kommentare später. Ich beobachte sie, während sie ihren eigenen Weg zurückverfolgt, bis zu der Ecke der ruhigen Nebenstraße, in der sie wohnt. Ich sehe, wie sie den Kopf hebt, als sie hört wie der Wind leise ihren Namen flüstert.

Irgendjemand ruft sie.

Das Mädchen beugt sich auf der Pritsche vor und öffnet den Mund. Die Erinnerung ist da, sie muss nur darauf zugreifen. Ihre Sinne spielen verrückt, die Erinnerung foppt sie wie die unterste Zeile einer augenärztlichen Tafel, in der die Buchstaben einem direkt vor Augen stehen, jedoch, egal wie sehr man sich anstrengt, verschwommen bleiben, sodass man sie nicht erkennen kann. Die Erinnerung liegt ihr auf der Zungenspitze wie ein exotisches Gewürz, das sie schmecken, aber nicht benennen kann. Sie weht ihr mit einem schwachen Hauch quälender Düfte um die Nase und schwappt durch ihren Mund wie ein Schluck teurer Rotwein. Wenn sie sie nur greifen und in Worte fassen könnte.

Sie erinnert sich daran, sich umgedreht und gelauscht zu haben, ob sie im warmen Wind ein weiteres Mal ihren Namen hörte, bevor sie auf eine Reihe überwucherter Büsche in einem ungepflegten Vorgarten in der Nachbarschaft zugegangen ist. Die Büsche locken sie, die Blätter rascheln, als wollten sie sie willkommen heißen.

Und dann nichts mehr.

Resigniert lässt das Mädchen die Schultern sinken. Sie hat keine Erinnerung daran, was als Nächstes geschehen ist. Die Büsche versperren ihr die Sicht, verwehren ihr den Eintritt. Sie muss das Bewusstsein verloren haben. Vielleicht wurde sie betäubt, vielleicht hat sie einen Schlag auf den Kopf bekommen. Welchen Unterschied macht das? Entscheidend ist nicht, was vorher geschehen ist, sondern was als Nächstes geschieht. Ich spüre, wie sie zu dem Schluss kommt, dass es unwichtig ist, wie sie hierhergekommen ist. Wichtig ist, wie sie wieder herauskommt.

Ich unterdrücke ein Lachen. Soll sie sich an die Illusion klammern, sie hätte eine Chance zu fliehen, so brüchig und unbegründet sie auch sein mag. Soll sie tapfer Pläne schmieden. Das ist schließlich auch Teil des Spaßes.

Ich kriege Hunger. Sie wahrscheinlich auch, obwohl sie im Augenblick noch zu viel Angst hat, um es zu merken. In ein oder zwei Stunden wird es sie treffen. Der menschliche Appetit ist wirklich erstaunlich. Er ist ungeachtet der Umstände ziemlich hartnäckig. Ich kann mich noch an den Tod meines Onkels Al erinnern. Es ist schon lange her, und meine Erinnerung ist wie die des Mädchens ein wenig verschwommen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal mehr genau, woran er gestorben ist. An Krebs oder einem Herzinfarkt. Ein ziemlich gewöhnlicher Tod, was immer es war. Wir standen uns nie besonders nahe, sodass ich nicht behaupten kann, schwer erschüttert gewesen zu sein. Aber ich erinnere mich, dass meine Tante geweint und geklagt hat, während ihre Freundinnen ihr Beileid und Trost bekundeten und erklärten, was für ein großartiger Mann mein Onkel gewesen sei, dessen Tod sie zutiefst bedauerten, um im nächsten Atemzug den wundervollen Kuchen zu loben, den meine Tante gebacken hatte. »Können wir das Rezept haben?«, fragten sie und ermahnten sie: »Du musst etwas essen. Es ist wichtig, bei Kräften zu bleiben. Al hätte das auch gewollt.« Und schon bald aß sie und lachte wenig später auch wieder. So viel zur Macht von Gebäck.

Ich habe keinen Kuchen für das Mädchen, obwohl ich ihr in ein paar Stunden vielleicht ein Sandwich mitbringe, nachdem ich selber gegessen habe. Ich weiß es noch nicht. Ein guter Gastgeber würde für seine Gäste sorgen. Andererseits hat niemand gesagt, dass ich ein guter Gastgeber bin. Keine fünf Sterne für mich.

Trotzdem ist die Unterkunft alles in allem nicht übel. Ich habe das Mädchen nicht in einem Sarg unter der Erde vergraben oder es in ein von Schlangen und Ratten verpestetes Dreckloch geworfen. Sie ist nicht in irgendeinen Schrank gesperrt ohne Luft zum Atmen oder über einem Nest von Feuerameisen angekettet. Ihre Arme sind nicht hinter dem Rücken gefesselt, sie ist nicht geknebelt und kann sich frei im Raum bewegen. Wenn es ein bisschen wärmer ist, als ihr behagt, kann sie sich damit trösten, dass wir April und nicht Juli haben, es für die Jahreszeit eher ein wenig zu kühl und außerdem Abend und nicht heller Nachmittag ist. Hätte ich die Wahl, auch ich würde für eine Klimaanlage plädieren wie jeder halbwegs vernünftige Mensch, aber man muss nehmen, was man kriegen kann, und in diesem Fall war das ein verfallenes altes Haus am Rand eines seit langem brachliegenden Feldes an der Alligator Alley, mitten in Florida.

Am Arsch der Welt.

Manchmal kann es auch ein verkannter Segen sein, am Arsch der Welt festzusitzen, obwohl ich mindestens zwei Mädchen kenne, die widersprechen würden.

Entdeckt habe ich das Haus vor fünf Jahren. Die Leute, die es gebaut haben, wohnten schon seit langem nicht mehr dort, und es war mehr oder weniger den Termiten und dem Verfall preisgegeben. Soweit ich weiß, hat nie jemand Anspruch auf das Grundstück erhoben oder vorgehabt, die Bruchbude abzureißen. Schließlich kostet es Geld, etwas abzureißen, und noch mehr Geld, etwas Neues an seiner Stelle zu errichten, und ich bezweifle ernsthaft, dass hier irgendetwas wächst, was den Anbau lohnt. Wozu also? Wie dem auch sei, ich bin eher zufällig darauf gestoßen, als ich eines Morgens herumgelaufen bin, um einen klaren Kopf zu kriegen. Ich hatte zu Hause ein paar Probleme und das Gefühl, alles würde gleichzeitig auf mich einstürzen, deshalb hatte ich beschlossen, dass es das Beste wäre, mich für eine Weile einfach ganz aus der Schusslinie zu nehmen. So war ich schon immer – eher ein Einzelgänger. Auseinandersetzungen sind mir unangenehm, und ich mag es auch nicht besonders, über meine Gefühle zu reden. Nicht, dass sich irgendjemand je besonders für meine Gefühle interessiert hätte.

Aber das ist der sprichwörtliche Schnee von gestern. Zwecklos, sich damit aufzuhalten und in der Vergangenheit zu leben. Lebe für den Tag – das ist mein Motto. Oder sterbe dafür. Je nachdem.

Sterben für heute.

Das klingt gut.

Okay, das ist jetzt also fünf Jahre her, und ich laufe draußen herum. Es ist heiß, Sommer, glaube ich, also sehr schwül. Die Mücken summen um meinen Kopf und fangen an, mir auf die Nerven zu gehen, als ich auf dieses alte hässliche Feld stoße. Eigentlich mehr ein Sumpf. In dem hohen Gras verbergen sich wahrscheinlich zahlreiche Schlangen und Alligatoren, aber vor Reptilien habe ich mich nie gefürchtet. Eigentlich finde ich sie sogar ziemlich toll, und ich habe festgestellt, dass sie einen für gewöhnlich in Ruhe lassen, wenn man sie auch in Ruhe lässt. Trotzdem bin ich vorsichtig, wenn ich herkomme. Ich habe einen Pfad platt getrampelt, an den ich mich zu halten versuche, vor allem im Dunkeln. Natürlich habe ich immer meine Pistole und ein paar scharfe Messer dabei für den Fall, dass etwas Unerwartetes passiert.

Man sollte immer gegen das Unerwartete gewappnet sein.

Das hätte auch irgendjemand diesem Mädchen erklären sollen.

Der Hauptteil des Hauses macht nicht viel her – ein paar kleine Zimmer, leer natürlich. Ich musste die Pritsche selbst herschaffen, was ziemlich kompliziert war, aber ich will jetzt nicht in die Details gehen. Am Ende habe ich es jedenfalls ganz alleine geschafft, so wie immer. Es gibt eine winzige Küche ohne Geräte oder fließendes Wasser. Gleiches gilt für das Bad mit seiner verdreckten Toilette, deren vormals weißer Sitz in der Mitte zerbrochen ist. Sitzen will man darauf jedenfalls bestimmt nicht.

Dem Mädchen habe ich aufmerksamerweise einen Plastikeimer hingestellt, falls sie sich erleichtern muss. Er steht in der Ecke links neben der Tür. Sie hat vorhin dagegengetreten, als sie wütend um sich geschlagen hat, sodass er jetzt auf der anderen Seite des Raumes liegt. Vielleicht hat sie noch nicht begriffen, wozu er da ist.

Das erste Mädchen hat ihn komplett ignoriert. Sie hat einfach den Rock gehoben und sich gleich auf den Boden gehockt. Nicht, dass sie den Rock weit hätte heben müssen. Er war so lächerlich kurz, dass er als Gürtel durchgegangen wäre, was vermutlich genau die Sorte Nutten-Look war, die sie beabsichtigt hatte. Und natürlich trug sie kein Höschen, was ziemlich widerlich war. Manche sagen jetzt vielleicht, sie war nicht besser als ein Tier, aber ich nicht. Das würde ich nie sagen. Warum nicht? Weil es mangelnden Respekt gegenüber Tieren ausdrücken würde. Zu behaupten, das Mädchen war ein Schwein, wäre eine Beleidigung für Schweine. Natürlich habe ich sie deshalb ausgewählt. Ich wusste, dass keiner um sie trauern würde. Ich wusste, dass niemand sie suchen würde.

Sie war erst achtzehn, hatte aber bereits diesen wissenden Blick, der sie viel älter wirken ließ. Ihre Lippen waren zu einem zynischen Schmollen erstarrt, eher ein Grinsen als ein Lächeln, selbst wenn sie lachte, und die Venen auf der Innenseite ihrer dürren Arme waren mit alten Einstichen übersät. Die Frisur war ein krauser Abklatsch von blonden Locken mit schwarzen Haarwurzeln, und wenn sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, konnte man die Zigaretten in ihrem Atem förmlich schmecken.

Sie hieß Candy – sie trug sogar ein Armkettchen mit Bonbon-Anhängern –, und man könnte wohl sagen, dass sie mein Pilotprojekt war. Ich mache nicht gern halbe Sachen, es muss schon perfekt sein, deshalb war mir klar, dass ich alles sorgfältig planen musste. Im Gegensatz zu vielen Tätern, über die man in der Zeitung liest, habe ich nämlich keine Lust, geschnappt zu werden. Wenn dieses Projekt erledigt ist, plane ich, mich zur Ruhe zu setzen und wenn schon nicht immer glücklich so doch friedlich bis ans Ende meiner Tage zu leben. Daher ist es wichtig, dass ich alles richtig mache.

Deshalb Candy.

Ich habe sie in einem Burger King kennen gelernt. Sie hing vor dem Eingang herum und ließ sich von mir bereitwillig zu einem Hamburger einladen. Wir haben geredet, obwohl sie nicht viel zu sagen hatte und komplett dichtgemacht hat, als meine Fragen zu persönlich wurden. Das ist okay. Ich verstehe das. Ich bin selbst auch kein großer Fan von persönlichen Fragen.

Aber ein paar Dinge fand ich trotzdem heraus: Sie war mit vierzehn von zu Hause weggelaufen und lebte seitdem auf der Straße. Sie hatte einen Typen kennen gelernt, der sie auf Drogen gebracht hatte, wodurch sie wiederum auf dem Strich gelandet war. Nach einer Weile hatte er sich verpisst, und sie war wieder allein. Im vergangenen Jahr war sie von einer Stadt zur nächsten gezogen und war hin und wieder in einem fremden Krankenhauszimmer oder einer Arrestzelle aufgewacht. Eins sah aus wie das andere, meinte sie.

Ich frage mich, ob sie das auch gedacht hat, als sie in dem unterirdischen Zimmer dieses alten verlassenen Hauses aufgewacht ist.

Habe ich vergessen zu erwähnen, dass der Raum unter der Erde liegt? Wie konnte ich … – es ist das, was dieses Haus so speziell macht, gewissermaßen sein Prunkstück.

Wie bereits gesagt haben die meisten Häuser in Florida keinen Keller. Das liegt daran, dass sie im Grunde auf Treibsand gebaut sind. Es kann sehr wohl passieren, dass man eines Morgens aufwacht und unversehens bis zu den Augen in Schlick steckt. Komplette Häuser sind schon verschluckt worden, und nicht nur ältere, weniger stabile. Ganz in der Nähe wurde eine neue Siedlung hochgezogen, die fast vollständig auf einer zugeschütteten Müllkippe errichtet wurde, was meiner bescheidenen und ungefragten Meinung nach eine unkluge Entscheidung war. Eines Tages war eines der Häuser einfach verschwunden. Die Bauunternehmer mussten natürlich nicht lange danach suchen. Sie standen darauf. Geschieht ihnen recht. Die Natur lässt sich eben nur begrenzt herausfordern.

Wenn ich vorhätte, ein Haus zu bauen, würde ich den Architekten nehmen, der dieses geplant hat. Zugegeben, das Haus hat bessere Tage gesehen, aber wer immer es entworfen hat, war ein Genie. Unter dem Hauptgeschoss hat er ein ganzes Labyrinth kleiner Räume angelegt, vermutlich zu Lagerzwecken.

Mir schwebt allerdings etwas ganz anderes vor.

Candy war ziemlich unbeeindruckt, nachdem sie festgestellt hatte, dass es sich nicht um die Art Arrestzelle handelte, die sie gewöhnt war. Nachdem ich mich schließlich blicken ließ und ihr der Ernst ihrer Lage bewusst wurde, probierte sie alle Tricks, die sie in petto hatte. Sie sagte, wenn es um Sex ginge, würde sie keinesfalls irgendwas auf dieser dreckigen alten Pritsche machen. Sie würde all meine perversen Gelüste befriedigen, aber nicht hier. Die Vorstellung, mit dieser Person Sex zu haben, war so widerwärtig, dass ich versucht war, sie auf der Stelle umzubringen, aber das Spiel war noch lange nicht vorbei.

Am Ende habe ich sie mit einem einzigen Schuss in den Kopf erledigt. Anschließend habe ich ihre Leiche in einem ein paar Meilen entfernten Sumpf versenkt. Wenn irgendjemand sie findet – was ich bezweifle –, wird nichts mehr auf meine Person hinweisen. Man wird den genauen Todeszeitpunkt nicht mehr bestimmen, nicht mehr feststellen können, wann genau ihr Herz aufgehört hat zu schlagen. Und selbst wenn man sie sofort und intakt gefunden hätte, wusste ich dank all der gelifteten Pathologinnen aus dem Fernsehen genug über DNA und dergleichen, um garantiert keine Spuren zu hinterlassen.

So wie Candy keine Trauernden hinterlassen hatte.

Aber das wird bei diesem Mädchen – zum Sterben schön mit ihren riesigen blauen Augen und den großen natürlichen Brüsten – anders sein.

Nicht nur, dass mehr Menschen nach ihr suchen werden – oder vielleicht schon in diesem Moment nach ihr suchen –, sie stellt ganz allgemein eine größere Herausforderung dar. Candy war ein bisschen zu beschränkt, um wirklich Spaß mit ihr zu haben. Dieses Mädchen ist stärker, sowohl mental als auch körperlich, also muss ich einen Gang hochschalten, wie man so sagt – mich schneller bewegen, fixer denken und härter zuschlagen.

Sie schaut wieder in meine Richtung, als wüsste sie, dass ich hier bin, als könnte sie das Kratzen meines Stiftes hören. Also mache ich jetzt erst mal Schluss und hole mir etwas zum Essen. Ich komme später zurück, um mit dem zweiten Teil meines Planes zu beginnen.

Vielleicht lasse ich das Mädchen bis zum Morgen am Leben. Vielleicht auch nicht. Alles eine Frage des kalkulierten Risikos. Und es zahlt sich nie aus, zu verwegen zu sein.

Bleiben Sie dran, wie es immer heißt. Ich bin bald zurück.