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Einleitung

Vor fünfzig Jahren, als die musikalische Welt seinen 400. Geburtstag beging, war Claudio Monteverdi ein weitgehend unbekannter und bestenfalls in Spezialistenkreisen geschätzter Name. 1567 geboren und 1643 gestorben, als Fünfzehnjähriger mit seinen ersten gedruckten Kompositionen an die Öffentlichkeit getreten und gut sechzig Jahre später mit seiner letzten Oper, hatte Monteverdi eine musikalische Epoche mitgestaltet, die bis heute als eine der zentralen Umbruchzeiten der Musikgeschichte angesehen wird – der Abschied von der vokalen Mehrstimmigkeit und die Morgendämmerung des Generalbasszeitalters, die Erfindung von Oper und Oratorium, von Kantate und Sonate, von spezifisch instrumentalen Idiomen, von neuen musikalischen Formkonzepten, der Übergang von der Modalität zu einer neuen Dur-Moll-Tonalität, von horizontal-melodischem zu vertikal-harmonischem Denken. Monteverdi hat viele dieser Entwicklungen vorangetrieben, und er hat mit seiner Wortschöpfung von der »Seconda pratica« das ebenso markante wie freilich auch zu Missverständnissen führende Schlagwort für den epochalen Wandel um 1600 geprägt. Dabei war Monteverdi alles andere als ein musikalischer Rebell. Das verbale Trommeln, die Musik neu erfunden zu haben, die Vokalpolyphonie mit ihrem Durcheinander der Stimmen auf den Scheiterhaufen der Geschichte geworfen und aus ihrer Asche den Phönix des akkordbegleiteten Sologesangs geboren zu haben, überließ er den florentinischen Musikern, allen voran Giulio Caccini. Nach Monteverdis Überzeugung sollte das Neue das Alte nicht ersetzen, sondern ergänzen; eine seiner ersten Amtshandlungen als Markuskapellmeister hatte darin bestanden, polyphone Messen aus dem vergangenen Jahrhundert anzukaufen, damit auch diese und nicht nur die neue konzertierende Musik im Markusdom erklingen konnte.

Und dennoch haben gerade Monteverdis musikalische Ideen, die kompositorischen wie auch die theoretischen, dazu beigetragen, dass die Musik zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine fundamental andere wurde als zuvor. Das betrifft zunächst konkrete kompositorische Errungenschaften, von denen manche bis heute in der Musik präsent sind, ohne dass sie als solche erkannt würden, darunter das als musikalische Signatur von Klage und Trauer allgegenwärtige absteigende Quartostinato, auch Lamentobass genannt, das auf Monteverdis Lamento della Ninfa (1638) zurückgeht, sowie jener »gehende Bass«, den Monteverdi in seiner Oper L’Orfeo als Klangchiffre für den Gang des Orpheus von der Unter- in die Oberwelt entwickelte und der als »walking bass« im Jazz und in der Popmusik neu erfunden wurde. Das betrifft aber vor allem die Frage, was Musik bewirken solle – erfreuen oder erschüttern? Wie ein roter Faden zieht sich die Bemerkung durch die Berichte über Aufführungen seiner Musik, dass das Publikum (oder zumindest dessen weiblicher Teil) vor Mitleid geweint hätte – oder beinahe. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Verhaltenslehre der Zeit den Verlust der Selbstkontrolle in Gesellschaft nicht duldete. Der Hinweis, die Damen im Publikum hätten die Contenance verloren, hätte auch als Affront verstanden werden können; er sollte aber vor allem belegen, welche emotionale Wirkungsmacht die Musik zu entfalten imstande war. Empathie mit den Mitteln der Musik zu erzeugen, verstand Monteverdi als seine wichtigste Aufgabe, und er war sich darüber im Klaren, dass dies eine andere Musik erforderte als jene madrigalische Wortausdeutung, mit der er aufgewachsen war. Vielleicht ist das, jenseits aller Tonsatzfragen, sein wichtigster Beitrag zur Geschichte der Musik: Ihm ging es, beim Übergang von der Madrigalkunst zum musikalischen Drama, immer weniger um die Analogien zwischen Sprache und Musik, dafür aber immer mehr um die Darstellung der Affekte, der seelischen Befindlichkeiten dessen, der diesen Text sprach. Den Weg von der Textdarstellung zur musikalischen Menschendarstellung, der den Epochenwandel um 1600 in hohem Maße kennzeichnet, hat Monteverdi maßgeblich mitgestaltet. Die Idee, dem Menschen hinter seinen Worten musikalisch eine Statur und ein Gesicht zu geben, stammte, auch das ist charakteristisch für sein Wirken, nicht von ihm, sondern war schon vorher in den Kreisen derer, die sich über eine Wiederbelebung der antiken Tragödie Gedanken machten, diskutiert worden. Keiner von denen, die sich an diesem akademischen Experiment beteiligten, wäre freilich in der Lage gewesen, praktische Lösungen aufzuzeigen, wie eine solche Musik beschaffen sein müsste, eine moderne Musik zu wagen, die nicht primär dem Blick nach hinten, sondern dem in eine musikalische Zukunft diente. Es sind weniger die theoretischen Überlegungen als vielmehr die kompositorischen Resultate dieser Gedankenspiele, die Monteverdi zum Motor der musikalischen Epochenwende um 1600 machten.

Der geographische Umkreis, in dem sich Monteverdi bewegte, war eher klein. Cremona, Mantua, Venedig: Die drei Stationen seines Lebens liegen nicht weit voneinander entfernt: Von Cremona nach Mantua sind es gerade einmal 65, von Mantua nach Venedig rund 160 Kilometer. Etwas anderes als die Poebene hat Monteverdi in seinem langen Leben nur selten zu Gesicht bekommen. Außer ein paar Reisen nach Mailand und Verona, Bologna und Parma, einer nach Rom und nur zwei, im Gefolge seines Herzogs, über die Grenzen Italiens hinaus nach Ungarn (1595) und nach Spa (1599) blieb Monteverdi der Region verbunden, in die er hineingeboren war. Freilich dürfen wir dabei nicht außer Acht lassen, dass die drei Standorte, an denen Monteverdi jeweils mehrere Jahrzehnte verbrachte, politisch und gesellschaftlich Welten voneinander trennten: Cremona, die Bischofsstadt an der Peripherie; Mantua, die Residenz eines Herzogtums und eines Fürsten, der mit dem Hochadel aus halb Europa verwandt war; Venedig, Handelsmetropole und Zentrum einer patrizischen Republik. Und wir müssen auch bedenken, dass die Position des Markuskapellmeisters in Venedig zu den interessantesten und lukrativsten in ganz Italien gehörte. Was also hätte Monteverdi von dort fortlocken können? Dem Angebot des polnischen Königs, ihn in Warschau zu beschäftigen, zog Monteverdi Venedig vor. Bedenkt man, dass ein Komponist wie Orlando di Lasso, aus Mons in den spanischen Niederlanden gebürtig, in Palermo, Neapel und Rom, in London und Antwerpen sein Glück als Musiker suchte, bevor er in der Münchner Hofkapelle Karriere machte, bedenkt man weiterhin, dass Monteverdis jüngerer Zeitgenosse Heinrich Schütz, geboren im thüringischen Köstritz, in Kassel, Venedig, Dresden und Kopenhagen tätig war, so wird deutlich, wie eng Monteverdis Radius im Vergleich zu sehr vielen Musikern seiner Zeit war, für die ein Dasein als Migrant zum Alltag gehörte.

Dass Monteverdi im Lande blieb, hinderte seine Musik freilich nicht daran, ihrerseits auf Wanderschaft zu gehen. Nachdrucke von Monteverdis Madrigalveröffentlichungen finden sich schon früh auch außerhalb Italiens, in Nürnberg oder Antwerpen, Kopenhagen oder Straßburg. Nun gehörten Madrigale insgesamt zu den wichtigsten musikalischen Exportartikeln Italiens in den Norden; der mit weitem Abstand erfolgreichste Madrigalkomponist außerhalb Italiens war Luca Marenzio. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie sich Monteverdis Musik im protestantischen Norden Deutschlands einnistete und wie aus seinen weltlichen Madrigalen geistliche Gesänge wurden. Ambrosius Profe etwa, Schullehrer und Organist in Breslau, veröffentlichte in den 1640er Jahren mehrere Sammlungen mit Titeln wie Erster Theil Geistlicher Concerten, in denen er zahlreiche Madrigale Monteverdis mit religiösen Texten in lateinischer und deutscher Sprache unterlegte. Und der Hamburger Kirchenmusiker Matthias Weckmann fertigte sich 1647 gar eigene Abschriften aus Monteverdis Selva morale e spirituale (1641) an, wohl um sie im Gottesdienst aufzuführen. Mit den Psalmtexten gab es dabei keine Probleme; das marianische »Salve Regina« aber konnte in der lutherischen Kirche nicht gesungen werden. Also änderte Weckmann den Text zu »Salve mi Jesu« und passte ihn auch im weiteren Verlauf an die Gegebenheiten an; so konnte der konfessionelle Graben mit Musik überwunden werden.

Claudio Monteverdi, Porträt von Bernardo Strozzi, um 1630

 

Von keinem Komponisten seiner Zeit sind so viele persönliche Dokumente erhalten wie von Monteverdi, rund 130 Briefe und etwa ebenso viele Dokumente über ihn. Reicht das, um ihm als Person nahezukommen? Um seine Musik besser zu verstehen? Die meisten erhaltenen Briefe stammen aus Zeiten, aus denen wir wenig Musik kennen, und sie handeln in der Mehrzahl von Kompositionen, die sich nicht erhalten haben oder vielleicht niemals niedergeschrieben wurden. Die überwältigende Zahl der Briefe ist an Empfänger des Mantuaner Hofs gerichtet, nicht etwa, weil Monteverdi am häufigsten nach Mantua schrieb, sondern weil die Briefe dort am sorgfältigsten aufbewahrt wurden. Monteverdis briefliches Nachdenken über die musikalische Ausgestaltung von Theaterstücken aller Art erlaubt es uns, ihm beim Komponieren ein wenig über die Schulter zu schauen. Wirklich erklären lässt sich seine Musik dadurch nicht. Wir kennen nicht einen Brief Monteverdis an seinen Bruder Giulio Cesare, seit sich die Wege der beiden 1612 getrennt hatten, nicht einen an seinen Vater, der erst starb, als Monteverdi 50 Jahre alt war, nicht einen an seine beiden Söhne, um die er sich doch so hingebungsvoll kümmerte. Und doch erlauben Monteverdis Briefe einen Versuch, der Persönlichkeit des Komponisten ein paar Geheimnisse abzuringen – mit aller Vorsicht und der Bereitschaft, zwischen den Zeilen zu lesen. Vordergründig ging es in Monteverdis Briefen so häufig um Geld, dass man eine gewisse Raffgier mutmaßen könnte. Doch gemach: Monteverdi war sich seines Wertes sicher bewusst, und er kannte seinen Preis; doch ist von Geld in seinen Briefen immer dann die Rede, wenn er einfordert, was ihm zusteht und verweigert wird. Fast bekommt man den Eindruck, dass es ihm mehr um Gerechtigkeit und Wertschätzung zu tun war als um das Geld selbst. Neun von zehn Mal, so schreibt Monteverdi am 10. September 1627, hätte sich in der Staatskasse kein Geld gefunden, wenn er seine Außenstände hätte abholen wollen. Diese Unzuverlässigkeit brachte ihn auch dann noch auf, als der weltliche Besitz ohnedies immer weniger wichtig wurde. Noch in seinen letzten Lebensmonaten und in einer Position, die ihm einen behaglichen Lebensabend garantierte, kämpfte er für die Anerkennung und Auszahlung einer Pension, die ihm 35 Jahre zuvor zugesagt worden war.

Ein weiteres häufiges Thema in seinen Briefen sind die zahlreichen Krankheiten, die ihn im Laufe seines Lebens befielen. War Monteverdi, ungeachtet des hohen Alters, das er erreichte, ein Mann, der seinen eigenen Körper bezwingen musste, um seine Werke zu vollbringen? Auch hier ist Vorsicht geboten. Von Krankheiten ist in seinen Briefen immer dann die Rede, wenn er einen Kompositionsauftrag nicht annehmen, eine Reise nicht antreten kann – oder vielleicht nicht will? Migräne, Rheuma, Magenverstimmungen bis hin zu Vergiftungserscheinungen scheinen auch dort als willkommene Begründung herhalten zu müssen, wo ein klares Nein aus taktischen Gründen unangebracht erscheint.

Und schließlich fällt auf, dass Monteverdi sich sein Leben lang, ob zu Recht oder zu Unrecht, von Feinden umzingelt sah. Schon in der Widmung seiner ersten Veröffentlichung ist von bösen Zungen die Rede; in der Widmung der geistlichen Publikation von 1610, die auch die Marienvesper enthält, gar von Verleumdungen, die nun ein Ende haben mögen, und die Vermutung, ein Opfer von Intrigen zu sein, findet sich immer wieder in seinen Briefen. Dass solche Mutmaßungen nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, dokumentiert eine Anzeige, die, zehn Jahre nach seinem Amtsantritt als Markuskapellmeister in Venedig, anonym bei den Prokuratoren eingereicht wurde: Monteverdi habe Hochverrat begangen und einmal öffentlich geäußert, er zöge den (kaiserlichen) Adler dem (venezianischen) Löwen vor, ein andermal aber, der spanische König möge die Herrschaft über die Serenissima bekommen. Außerdem berichtete die Anzeige in aller Ausführlichkeit von unflätigen Beschimpfungen der weltlichen und geistlichen Autoritäten aus Monteverdis Mund, sowie – horribile dictu – von wiederkehrenden Flüchen im Namen des Herrn und der Jungfrau Maria. Wahr oder nicht – die Anzeige wurde nicht weiter verfolgt; offenbar hielten die Prokuratoren sie für wenig vertrauenswürdig.

Claudio Monteverdi, Titelblatt der Fiori poetici raccolti nel funerale del molto illustre e molto reverendo signor Claudio Monteverde, 1644

Ungeachtet solcher Ausfälle, die, wenn sie denn wahr wären, auf einen gewissen Jähzorn schließen lassen könnten, scheint Monteverdis hervorstechendste Charaktereigenschaft eher die Bedächtigkeit gewesen zu sein, und nichts hasste er mehr als angetrieben und unter Zeitdruck gesetzt zu werden. Klagen darüber ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Korrespondenz. Kein Ereignis grub sich traumatischer in seine Erinnerung ein als die Hochzeitsfeierlichkeiten für den mantuanischen Thronfolger im Mai 1608, die ihn an den Rand der totalen Erschöpfung gebracht hatten. Immer wieder kam er in seinen Briefen darauf zurück, bestand darauf, für Kompositionsaufträge genügend Zeit zu bekommen, ließ Projekte einfach liegen, wenn er sich gedrängt fühlte. Er wisse, dass man schnell komponieren könne, aber gut und schnell zusammen sei ein Ding der Unmöglichkeit, schrieb er in einem Brief vom 1. Mai 1627.

Und der Mensch Monteverdi? Die Gefühle des jungen Ehemanns, der seine Angetraute nur wenige Tage nach der Hochzeit bei Hof zurücklassen muss, weil er seinen Dienstherrn auf einer langen Reise zu begleiten hat? Der seine Frau nach nur acht Jahren Ehe begraben muss? Der einen Haushalt mit zwei Kleinkindern organisieren muss, während er vor Arbeit kaum zum Atmen kommt? Der seinen langjährigen und wichtigsten Freund und möglicherweise auch seinen Bruder an die Pest verliert? Monteverdi verrät uns darüber nichts. Immerhin aber wissen wir, womit er sich bisweilen in seiner Freizeit beschäftigte. Eine Gruppe von Briefen an einen Mantuaner Hofbeamten erzählt uns von seinem Hang zur Alchimie und seinen Versuchen, Goldmünzen in kochendem Blei zu pulverisieren und mit Quecksilber zu experimentieren. Dieses Hobby war wohl stadtbekannt; zumindest wird Monteverdi in einem der Gedichte, die zu seinem Gedenken verfasst wurden, als »Gran Professore della Chimica« (›großer Kenner der Chemie‹) gepriesen. So ganz scheint er dieser Materie aber dann doch nicht getraut zu haben: mit einem Augenzwinkern berichtete er am 28. März 1616, er werde jetzt ein »Ich-weiß-nicht-was« ansetzen, um daraus ein »Ich-weiß-nicht-was« herzustellen, das ein »Ich-weiß-nicht-was« erklären könne. Sarkasmus und Ironie gehörten immer wieder zu Monteverdis argumentativen Strategien.

Der Mensch Monteverdi, über den wir scheinbar so viel wissen, verbirgt sich auch in seinen Briefen freilich zumeist hinter der Fassade höfischer Konventionen, zu denen auch gehörte, Ranghöheren mit einer gewissen Subordination zu begegnen und auch Kritisches so zu formulieren, dass es wie Ehrerbietung daherkam. Monteverdi war ein Meister solcher Formulierungen, und seine Sätze wurden umso komplexer, je heikler das, was gesagt werden musste, war. Es ist ein Geschenk der Archivgeschichte, dass wir wenigstens ein paar Briefe kennen, in denen Monteverdi die Maske des Hofmanns fallen lässt und Klartext schreibt – sei es aus Empörung oder sei es im Vertrauen darauf, dass diese Äußerungen bei dem Empfänger des Briefes gut aufgehoben sind.

Die Versuchung ist groß, bei einem Defizit an biografischen Informationen in der Musik nach Hinweisen auf die Person ihres Schöpfers zu suchen. Die Musikgeschichtsschreibung hat davon, nicht nur in Zusammenhang mit Monteverdi, ausgiebig Gebrauch gemacht – so als könne in Tönen nur abgebildet werden, was der Komponist selbst erfahren habe. In die Komposition des Lamento d’Arianna sei, so eine gängige Ansicht, die Trauer über den Tod von Monteverdis Frau Claudia wenige Monate zuvor eingeflossen. Würde man dieses Argument konsequent weiterdenken, so bedürften nicht nur die zahlreichen erotisch-frivolen Madrigale aus Monteverdis Feder einer Erklärung, sondern vor allem auch L’incoronazione di Poppea, seine letzte Oper, in der der 75-Jährige dem Ehebruch und den Wonnen der körperlichen Liebe huldigt. Monteverdis Musik verrät uns viel über seine kompositorischen Reflexionen, einiges über seine Weltsicht, aber wenig bis nichts über seine Wesensart. Dennoch bleibt uns Nachgeborenen nicht viel anderes, als uns über die Werke, die wir kennen und studieren können, der Person eines Komponisten zu nähern, der die Musikgeschichte verändert hat. Denn es ist ja die Musik, derentwegen wir uns für den Komponisten interessieren, eine Musik, die auch heute noch verstören und trösten, unterhalten und erschüttern kann.

Anders als die meisten seiner Zeitgenossen geriet Monteverdi nie ganz in Vergessenheit. Die Erinnerung an den Schöpfer des Lamento d’Arianna hielt sich, und sei es nur vom Hörensagen, über die Jahrhunderte hinweg in Schriften wie Athanasius Kirchers Musurgia universalis (1650), Claude-François Ménestriers Des représentations en musique anciennes et modernes (1681), Stefano Arteagas Le rivoluzioni del teatro musicale italiano dalla sua origine fino al presente (1783) bis hin zu den ersten Darstellungen der Musikgeschichte mit wissenschaftlichem Anspruch, wie etwa Raphael Georg Kiesewetters Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik (1834). In seinem L’esemplare o sia saggio fondamentale pratico di contrappunto (1774), einer Kontrapunktlehre mit ausführlichen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart, diskutierte der Bologneser Musiktheoretiker Giovanni Battista Martini einige Kompositionen Monteverdis ausführlich und veröffentlichte die Partituren zweier Madrigale und des Agnus Dei aus der Missa In illo tempore vollständig. Diese drei Kompositionen sollten für lange Zeit die einzigen bleiben, die in einer Ausgabe verfügbar waren. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an Monteverdi auf wissenschaftlicher wie auf praktischer Seite. Schon 1887, im dritten Jahrgang jener Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, die als Gründungsdokument der Musikwissenschaft gilt, veröffentlichte Emil Vogel seinen 135 Seiten langen Artikel über Claudio Monteverdi. Leben, Wirken im Lichte der zeitgenössischen Kritik und Verzeichnis seiner im Druck erschienenen Werke, der bis heute vorbildlich ist und zwar um neue Dokumentenfunde erweitert wurde, aber kaum korrigiert werden musste. Als die Musikwissenschaft sich als universitäres Fach zu etablieren begann, suchte sie zunächst nach Forschungsgegenständen jenseits der musikalischen Praxis, um als philologische Disziplin wahrgenommen und nicht mit schnöder Musikkritik oder gar mit Anleitungen zum praktischen Musizieren verwechselt zu werden. Musik vor Bach – darüber waren sich Wissenschaftler wie Praktiker einig – gehörte nicht in den Konzertsaal und war deshalb ein willkommener Gegenstand der Forschung. Editionen solcher Musik, wie sie seit den 1880er Jahren zur Verfügung gestellt wurden, dienten nicht der Aufführung, sondern dem Studium von Werken, die als unaufführbar galten.

Dennoch gab es Orte, an denen man auch an der klanglichen Realisierung Monteverdischer Musik arbeitete. Die Versuche, Monteverdi für die musikalische Praxis wiederzugewinnen, fanden aber vor allem in akademischen Kontexten statt. Vincent d’Indy war der Erste, der Monteverdis L’Orfeo 1904 in der Pariser Schola Cantorum aufführte, gekürzt und bearbeitet, weil er sich nicht in der Rolle des Archäologen sehen mochte, sondern in der des Künstlers. 1910 bereitete der italienische Komponist Giacomo Orefice, dem die Operngeschichte auch ein Werk mit dem Titel Chopin (1901) verdankt, L’Orfeo für eine Aufführung in Verona mit einem Orchesterklang auf, der, den Worten Adolf Sandbergers zufolge, viel von Schumann und etwas von Wagner, aber wenig von Monteverdi wusste. 1923 nahm sich schließlich Carl Orff der Oper an und veränderte sie bis zur Unkenntlichkeit. All das veranlasste Sandberger, Professor für Musikgeschichte an der Universität München, 1927 Monteverdis L’Orfeo im Faksimile zu veröffentlichen, um dem Werk seine Identität und seine Würde zurückzugeben.

Einen großen Schritt für die Wissenschaft wie für die musikalische Praxis bedeutete die Gesamtausgabe der Werke Monteverdis, die der italienische Komponist Gian Francesco Malipiero in den 1920er Jahren in Angriff nahm. Nach einem frühen Privatdruck des I. Madrigalbuches wurden die sechzehn Bände der Ausgabe zwischen 1926 und 1942 bei der Universal-Edition in Wien gedruckt, wo auch noch ein letzter Band 1968 erschien. Die Monteverdi-Renaissance wäre ohne diese Ausgabe nicht möglich gewesen. Und sie beflügelte auch die frühen Tonaufnahmen Monteverdischer Werke. Nadja Boulanger, Komponistin, Pianistin, Musikpädagogin, Dirigentin und die erste Frau, die 1938 das Boston Symphony Orchestra dirigierte, eine musikalische Institution, in deren Pariser Salon alles verkehrte, was in der musikalischen Welt Rang und Namen hatte, entdeckte in dieser Gesamtausgabe ihre Liebe zu Monteverdi und bemühte sich, zahlreiche Madrigale aufzuführen und sogar mitschneiden zu lassen. Die Tonaufnahmen sind aufregende Dokumente aus der Frühzeit einer Interpretationsgeschichte, die von Historischer Aufführungspraxis wenig weiß und dennoch einen Ton trifft, der auch heute noch die Faszination von den Besonderheiten Monteverdischer Musik zu vermitteln vermag. Gleiches gilt für die vermutlich erste Einspielung des Orfeo 1939 mit Enrico de Franceschi in der Titelrolle. 1955 dann wagte sich August Wenzinger mit der neugegründeten Capella Coloniensis an eine Einspielung des Orfeo in historischer Spielweise; die Titelrolle sang Helmut Krebs, der bekannteste aller Evangelisten in Bachs Passionen; in der Rolle eines Hirten war ein junger, unbekannter Tenor namens Fritz Wunderlich zu hören. Mit Wenzingers Orfeo war der Grundstein für jene neue Beschäftigung mit Monteverdis Musik nach historischen Kriterien gelegt, die dann, nach dem 400. Geburtstag des Komponisten, zur Wiederentdeckung all seiner Musik und zu dem Monteverdi-Boom auf den Opernbühnen der Welt, in den Kirchen aller Konfessionen und in den Konzertsälen führte, der aus einem vergessenen Komponisten eine Stütze des aktuellen Musiklebens machte.

Ein Wort noch zum Schluss. Erzählte Musik ist wie erzähltes Mittagessen – dieses bekannte Diktum Franz Grillparzers galt und gilt für jeden, der sich bemüht, Musik ohne Notenbeispiele, ohne Klangbeispiele durch schieres Beschreiben lebendig zu machen. Auch dieses Buch muss auf Klangbeispiele und auf Notenbeispiele verzichten. Vor fünfzig Jahren, als die Monteverdi-Renaissance begann, lag zwar das Werk des Komponisten in einer Gesamtausgabe der Noten vor, zu hören war freilich wenig. Inzwischen sind Einspielungen von Monteverdis Hauptwerken wie etwa der Opern oder der Marienvesper Legion, und in den Gesamteinspielungen der Madrigalbücher und der Selva morale e spirituale ist jedes einzelne Stück verfügbar. Und bei aller Skepsis gegenüber Segen und Fluch des Internets: Wir sind heute in der komfortablen Lage, die Ebene der Notenbeispiele und vor allem die der Klangbeispiele auslagern zu können. Heute lassen sich Monteverdi-Noten in den Originaldrucken wie auch in Editionen in den einschlägigen Notenportalen wie Petrucci/IMSLP oder ChoralWiki/CPDL jederzeit abrufen, und auf YouTube ist nahezu alles, was Monteverdi je vertont hat, in professionellen und manchmal auch weniger professionellen, dafür umso entwaffnenderen Aufnahmen hochgeladen. Es gibt sogar didaktisch begabte Musikliebhaber, die eine Einspielung gemeinsam mit den Noten und einer eigenen musikalischen Analyse ins Netz stellen. Wer sich also näher über die erzählte und hier notwendigerweise nur rudimentär besprochene Musik Monteverdis informieren möchte, wer die Werke hören möchte, über die er gerade etwas gelesen hat, kann dies ohne Zeitverlust am Computer tun, oder eine der vielen wunderbaren Aufnahmen anhören, die die Plattenindustrie bereithält.

Cremona

Stadtansicht von Cremona, aus: Thesaurus philopoliticus von Daniel Meisner und Eberhard Kiesner, Frankfurt a. M. 162426

Als Thomas Coryat, Schriftsteller und Gesellschafter im Hofstaat des britischen Thronfolgers Henry Frederick Stuart, im Jahre 1608 fünf Monate lang durch Europa, von London über Mailand nach Venedig, über Verona und Brixen nach Deutschland und zurück nach England, reiste, führte ihn sein Weg in Italien die Adda entlang auch nach Cremona. Es war Mitte Juni, die Sonne brannte, und die Luft an den Ufern des Flusses, der in der Nähe von Cremona in den Po mündet, war feucht und drückend. Coryat, der seine Erlebnisse 1611 als Reisebericht unter dem Titel Coryat’s Crudities: Hastily gobled up in Five Moneth’s Travels veröffentlichte, fand zwei Dinge, die er zuvor noch nie gesehen hatte, unter diesen Umständen besonders erwähnenswert: Das eine waren Fächer aus Papier, mit denen man sich in der Hitze des Tages ein wenig Abkühlung zufächeln konnte, und das andere ein ausgefallenes Gerät namens »umbrella« (›kleiner Schatten‹) aus einem hölzernen Gestänge und ledernen Segmenten, das man zusammenklappen und wie einen Baldachin über sich aufspannen konnte, um, besonders zu Pferde, vor der Sonne geschützt zu sein. Coryat, der das Wort »umbrella« in die englische Sprache einführte, konnte nicht ahnen, dass dieses praktische Utensil aus der Umgebung von Cremona einst zu einem Markenzeichen britischer Lebensart werden sollte. Cremona selbst fand Coryat sehr schön und elegant; er bewunderte die Zitadelle, die reichen Patrizierhäuser und den hohen Turm der Kathedrale. Er besuchte eine öffentliche Sitzung des Magistrats und aß gebratene, wundervoll gewürzte Frösche. Als er Cremona bald darauf Richtung Mantua verließ, staunte er über die schier endlosen und sechs Wochen vor der Zeit in seiner Heimat bereits erntereifen Weizenfelder, die seinen Weg säumten.

Cremona fedelissima città

Im Konzert der oberitalienischen Städte spielte Cremona eher eine untergeordnete Rolle. Am linken Ufer des Po gelegen, gehörte die Stadt zum Herzogtum Mailand und war auf Gedeih und Verderb dem politischen Schicksal ausgeliefert, das aus dem Herzogtum im 16. Jahrhundert einen Spielball zwischen den Habsburgern und der französischen Krone machte. Schon im Mittelalter war die Lombardei mit ihrem flachen Land in der Poebene auf dem Weg zwischen Deutschland oder Frankreich und dem Kirchenstaat immer wieder Schauplatz verheerender Schlachten gewesen. Das hatte schon der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa 1176 in der Niederlage bei Legnano nordwestlich von Mailand schmerzlich erfahren müssen. Um das Herzogtum Mailand, dessen Herrscher aus der Familie Sforza gern einmal die politischen Seiten wechselten, stritten sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Frankreich und die Habsburger mit wechselndem Erfolg: Mal siegte der französische König Franz I. in der Schlacht von Marignano 1515, mal Kaiser Karl V. zehn Jahre später in der Schlacht von Pavia. Der Tod des letzten Sforza 1535 ließ die Begehrlichkeiten auf beiden Seiten wieder aufflammen. Auch diesmal siegte Karl V. und setzte seinen Sohn Philipp als Herzog von Mailand ein. Als der Kaiser 1555 abdankte und sein Erbe zwischen Philipp und seinem Bruder Ferdinand aufteilte, erhielt Ersterer neben der spanischen Krone auch das Herzogtum Mailand, das fortan für 150 Jahre in spanischer Hand blieb. Um ihre Herrschaft zu festigen, hielten sich Karl V. wie auch Philipp II. mehrfach in der Lombardei auf, übergaben die Regierungsgeschäfte jedoch an einen Statthalter, zumeist spanischer Herkunft. Sie bauten Mailand zu einer Militärbastion aus und bemühten sich, die Inquisition nach spanischem Vorbild zu intensivieren, wenn auch mit geringem Erfolg, weil die Mailänder dagegen rebellierten.

Von allen diesen Wechselfällen blieb Cremona nicht unberührt. Zwar geriet die Stadt selbst eher selten unter den Beschuss der fremden Heere. Aber sie musste immer wieder Kontingente von Soldaten stellen, Einquartierungen zulassen und vor allem hohe Abgaben für die Ausrüstung der Heere zahlen. Das Umland von Cremona, das hatte schon Coryat bemerkt, war die Kornkammer der Lombardei und deshalb für die Verpflegung der Soldaten immens wichtig. Große Ereignisse wie die Hochzeit Philipps II. von Spanien mit Maria von Portugal im fernen Salamanca wurden auch in Cremona gefeiert; und wenn der Kaiser selbst die Stadt mit seiner Gegenwart beehrte, und sei es nur für einen Tag auf der Durchreise, war nichts zu teuer und zu aufwendig, dem Herrscher Ehre zu erweisen. Cremona fedelissima città (›Cremona allertreueste Stadt‹) betitelte Antonio Campi sein 1585 publiziertes Buch über Geschichte und Gegenwart seiner Heimatstadt; da war Monteverdi 18 Jahre alt.

Der Frieden von Cateau-Cambrésis 1559, anlässlich dessen der französische König, nunmehr Franz’ I. Sohn Heinrich II., definitiv auf Gebietsansprüche in Italien verzichtete, bedeutete ein Aufatmen für die geschundene Lombardei. Nicht dass die Herrschaft der Spanier leichter zu ertragen gewesen wäre als die der Franzosen – aber zumindest versprach dieser Friedensschluss ein Ende der Unsicherheit, wann der nächste Kampf um Mailand ausbrechen würde. Zu dieser politischen Konsolidierung gesellte sich ein lokales Ereignis, das für das Cremoneser Kulturleben entscheidend wichtig werden sollte. 1560 wurde mit Nicolò Sfrondati ein Mann zum Bischof von Cremona ernannt, der der Stadt neue Impulse geben und eine kulturelle Blütezeit heraufbeschwören sollte, die bis zu seiner Wahl zum Papst als Gregor XIV. im Jahre 1590 andauern sollte. Sfrondati entstammte einem alten Cremoneser Patriziergeschlecht und war mütterlicherseits mit der Mailänder Familie Visconti verwandt. Unter seiner Herrschaft blühte das Musikleben Cremonas auf; er förderte Marc’Antonio Ingegneri und machte ihn zum Kapellmeister der Kathedrale. Er unterstützte die Gründung einer Akademie mit dem Namen Accademia degli Animosi, in der sich Patrizier und Intellektuelle der Stadt zum Gespräch über philosophische, literarische und auch musikalische Fragen trafen; und er gründete ein Priesterseminar, in dem der Musikunterricht einen festen Platz im Lehrplan hatte. In Ermangelung eines Hofes und einer fürstlichen Familie hatte es in Cremona nie ein höfisches Musikleben mit Turnierspielen und Balletten, mit musikalischer Prachtentfaltung gegeben; Sfrondati aber lag daran, seiner Stadt dennoch ein wenig den an eine Residenzstadt gemahnenden Glanz zu verleihen.

Sfrondati war freilich auch ein Mann jener katholischen Reform, die man im Deutschen auch als »Gegenreformation« bezeichnet hat. Er nahm am Konzil von Trient teil, gehörte der Kommission zur Indizierung von Schriften an, die 1564 eine lange Liste verbotener Bücher veröffentlichte, und setzte als einer der Ersten die Beschlüsse des Trienter Konzils in seinem Bistum um. Er war ein enger Freund des Mailänder Erzbischofs Carlo Borromeo, der Mailand zum Zentrum der katholischen Reform machte und in seinem Erzbistum hart durchgriff. Borromeo führte sogenannte »Visite pastorali« – Inspektionsreisen – durch und überprüfte vor Ort, ob und wie die lokalen Kirchenoberen den Beschlüssen des Konzils Rechnung trugen. Dazu gehörten, allen voran, Rechte und Pflichten der Geistlichkeit wie etwa die Residenzpflicht der Bischöfe oder die Priesterweihe, die Frage, wer die Messe lesen dürfe, oder die Reform der geistlichen Orden, aber auch theologische Dekrete, etwa zur Festlegung der Sakramente oder zur Existenz des Fegefeuers. Eine solche Inspektionsreise führte ihn auch nach Cremona, und er hatte an der dortigen Amtsführung durchaus einiges auszusetzen. Borromeo lebte selber vor, was es hieß, sich ganz und gar der Religion zu verschreiben. Als in Mailand 1576 eine Pestepidemie ausbrach, pflegte er persönlich und ohne Rücksicht auf seine eigene Gesundheit die Kranken. Gegenüber Andersgläubigen war er jedoch nicht minder gnadenlos als die spanischen Inquisitoren, unterzog vermeintliche Häretiker der Tortur und sorgte dafür, dass die Gemeinschaft der Humiliaten, deren Gedankengut dem der verhassten Protestanten ähnelte, verboten wurde.

Nicolò Sfrondati, Kupferstich von Antonio Campi und Agostino Carracci, um 1582/84

Nach und nach begannen die Tridentiner Reformen nicht allein die Institution Kirche, sondern das ganze Leben zu durchdringen. Sfrondati wusste, dass die Religionsübung im Kindesalter beginnen musste und dass die Bindung an die Kirche nur dann erreicht werden konnte, wenn diese – buchstäblich und im übertragenen Sinne – die Sprache der Gläubigen sprach. Auch über die Rolle der Musik in der Vermittlung von Glaubensinhalten war er sich klar. Eine seiner ersten Maßnahmen nach Beendigung des Tridentiner Konzils war die Gründung der Compagnia della Dottrina Cristiana, einer Körperschaft für die Verbreitung und die Didaktik der christlichen Lehre, die darüber wachen sollte, dass die religiöse Erziehung der Kinder in den kleinen Pfarrkirchen des Bistums nicht vernachlässigt und vor allem vereinheitlicht wurde. Drei Jahre später erschienen die ersten Hefte mit christlichen Liedern in italienischer Sprache im Druck – für Kinder und Erwachsene, einfach in der musikalischen Struktur, ohne Kenntnisse der Notenschrift lernbar und leicht im Kopf zu behalten. Und auch das polyphone Madrigal, die Musik der gehobenen Schichten, begann neben den weltlichen, den erotischen und pastoralen Texten geistliche Inhalte zu absorbieren. Im Jahr der Beendigung des Tridentinums erschien die erste Sammlung mit dem Titel Musica spirituale im Druck. Sie wurde von Giovanni del Bene in Verona kuratiert und enthielt religiöse Dichtungen aus seiner eigenen Feder und anderer Autoren in der Vertonung verschiedener Komponisten. Bald darauf häuften sich geistliche Madrigale in den Notendrucken, seien es einzelne in ansonsten weltlichen Sammlungen, oder seien es ganze Madrigalbücher mit dem Titel Madrigali spirituali. Und schließlich sollte sogar noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Mailänder Rhetorikprofessor weltliche Madrigale Claudio Monteverdis mit lateinischen Texten religiösen Inhalts unterlegen und in dieser Form neu veröffentlichen.

Auch die Kirchenmusik erlebte, obwohl in Trient keinerlei Beschlüsse gefasst worden waren, eine Neuorientierung. In Mailand machte Vincenzo Ruffo, seit 1563 Domkapellmeister des Erzbischofs Carlo Borromeo, vor, wie man die Ideen von einer liturgischen Musik in die Tat umsetzen konnte, die von Textverständlichkeit einerseits und von dem Verzicht auf weltliche Einflüsse andererseits geprägt war: Ruffo, der sich zuvor als ein Kontrapunktiker von Rang präsentiert hatte, schrieb nun Messen in einem akkordischen Satz, der ganz von der Konzentration auf die Deklamation der Worte lebte. Und wenn Nicolò Sfrondati unter den Musikern besonders Marc’Antonio Ingegneri förderte, so vielleicht auch deshalb, weil dieser dem Dunstkreis der musikalischen Reformer um Vincenzo Ruffo und Giovanni del Bene entstammte.

Vor dem Amtsantritt des neuen Bischofs hatte Cremona musikalisch vor allem eines zu bieten gehabt: Andrea Amati hatte den Namen der Stadt unter den Instrumentenbauern bekannt gemacht. Wo er sein Handwerk gelernt hatte, ist unbekannt; geboren um 1505, wurde er 1526 zum ersten Mal als »lutier«, als Lautenbauer erwähnt. Sein Metier aber wurden die Streichinstrumente; er gilt als einer der Väter der Violine, und sein Ruhm reichte weit über Cremona hinaus: Der französische Hof und auch der spanische Hof kauften seine Instrumente. Über seine Söhne und seinen Enkel, der seinerseits Andrea Guarneri und Antonio Stradivari zu seinen Schülern zählte, wurde Andrea Amati der Stammvater jenes Geigenbauzentrums, als das Cremona später weltberühmt wurde.

Der frische Wind, der seit Sfrondatis Amtsantritt durch das kleine Cremona wehte, zog junge, ehrgeizige Menschen an, darunter auch Marc’Antonio Ingegneri. 1535/36 in Verona geboren und dort zum Musiker ausgebildet, führten ihn seine Lehr- und Wanderjahre auch nach Parma, wo er, wie er in der Widmung seines I. Madrigalbuches bemerkt, von Cipriano de Rore lernte. 1566 ist er zum ersten Mal in Cremona erwähnt, und in den folgenden Jahren stieg er in der kirchenmusikalischen Hierarchie des Doms bis zum Kapellmeister auf. Ingegneri pflegte enge Kontakte zu der Accademia degli Animosi, deren Mitgliedern er mehrere seiner Madrigaldrucke widmete. In seiner geistlichen Musik bekannte er sich zu den Zielen der Tridentiner Reform, wenn auch nicht ausschließlich. Seine Responsorien sind schlicht und homorhythmisch komponiert, aber seine Messen basieren auf Choralmelodien und Vorlagen anderer Komponisten, darunter auch auf einer weltlichen, sehr weltlichen Chanson von Orlando di Lasso: Eine solche Komposition wäre in Kreisen der Reformer verpönt gewesen. Und auch der instrumentalen Ensemblemusik zollte Ingegneri seinen Respekt: In seinem zweiten Buch vierstimmiger Madrigale von 1579, einem Verwandten des Bischofs gewidmet, finden sich zwei instrumentale Kompositionen. Ingegneri machte sich auch bei der zeremoniellen Musik unentbehrlich. Wann immer illustre Gäste in der Stadt willkommen geheißen werden mussten, lieferte er die Musik dafür und wurde mit Sonderzahlungen belohnt. Ingegneris überlieferte Werke zeigen eine große Bandbreite an stilistischen Möglichkeiten; er konnte die Erwartungen verschiedenster Auftraggeber bedienen, ließ sich aber nicht vereinnahmen. Diese Fähigkeit scheint er an seinen berühmtesten Schüler, Claudio Monteverdi, weitergegeben zu haben.

Cremona, Festa del Toro, Kupferstich von Giovan Maria Cippelli, 1572

In diesem allgemeinen Klima des Aufbruchs, das seit 1560 in Cremona herrschte, machte sich auch ein junger Mann daran, seinen persönlichen Aufstieg in die Tat umzusetzen. Von seinem Vater hatte Baldassare Monteverdi, um 1542 geboren, das abwechslungsreiche Handwerk des Baders gelernt und übte sein Gewerbe in einer der Buden nahe der Kathedrale aus – Zähne ziehen, Schröpfköpfe setzen, Salben rühren, Kräuter mischen, Gicht und Syphilis behandeln, Bärte scheren, Wunden versorgen, Knochenbrüche schienen, Klistiere vorbereiten und was dergleichen sonst noch der Gesundheit, der Hygiene und dem Wohlbefinden des Körpers diente. Zu seinen Kunden gehörten die einfachen Leute des Viertels, aber wohl auch mancher Kirchenmann aus der Kathedrale. Baldassare heiratete 1566 Maddalena Zignani, die Tochter eines angesehenen Goldschmieds, und zog in ein anderes Viertel der Stadt – weg von dem Markttreiben an der Kathedrale, wo er seine Dienste zwischen Fischhändlern und Gemüseständen anbieten musste, in die Nähe des großen Hospitals S. Maria della Pietà, wo seine medizinischen Fähigkeiten wohl stärker in den Vordergrund rücken konnten. Hier, im Kirchsprengel SS. Nazzaro e Celso, wurde sein erster Sohn Claudio geboren und am 15. Mai 1567 getauft.

Zielstrebig verfolgte Baldassare Monteverdi sein Emporkommen. Je erfolgreicher die Bader ihr Gewerbe betrieben, umso heftiger wehrten sich die studierten Ärzte gegen die unerwünschte Konkurrenz. Und die Obrigkeiten versuchten immer wieder, die Kontrolle über die medizinische Versorgung des Volkes zu behalten und den Badern komplexere Eingriffe zu verbieten. 1583 schließlich kam aus Mailand ein Dekret, das allgemeine Regeln für die Zulassung zu bestimmten Tätigkeiten forderte und die Bader anwies, ein solches Regelwerk zu formulieren und eine Zunft zu begründen, die über die Einhaltung der Standards wachte. Baldassare Monteverdi begriff dies als eine Chance. Zwar sollte es drei Jahre dauern, bis eine Abordnung der Cremoneser Bader ihre Statuten in Mailand präsentierte. In dieser Zeit aber hatten sie erfolgreich mit den Cremoneser Ärzten verhandelt und sinnvolle Absprachen hinsichtlich der unterschiedlichen Kompetenzen getroffen. Baldassare Monteverdi dürfte einer der Wortführer dieser Verhandlungen gewesen sein. Er stand an der Spitze der Delegation, die den Entwurf der Statuten vor den Mailänder Juristen präsentierte, und sie hatte Erfolg: Am 17. März 1587 wurde das Collegium Chirurgorum Civitatis Cremonae offiziell anerkannt, mit Wirkung vom 25. Mai 1587. 25 Cremoneser Bader unterwarfen sich der Kontrolle durch eine ständische Vereinigung, durften sich nun Chirurgen nennen und verliehen sich bei der guten Gelegenheit gleich noch selbst einen Doktortitel. An erster Stelle der Namensliste steht Baldassare Monteverdi – offenbar war er der Vorsitzende. In kaum mehr als zwanzig Jahren hatte er seinen Aufstieg von einem gewöhnlichen Vertreter eines wenig ehrenhaften Gewerbes zu einem geachteten Bürger der Stadt mit Leitungsfunktionen im Gesundheitswesen vollbracht. In dieser Zeit hatte er dreimal geheiratet und war sechsmal Vater geworden. Maddalena Zignani hatte ihm drei Kinder geboren – Claudio Zuan Antonio, Maria Domitilla und Giulio Cesare. Sie starb um 1575. Bald darauf nahm Baldassare Monteverdi Giovanna Gadio zur Frau, die weitere drei Kinder gebar und bald verstarb. Seine dritte Frau Francesca Como blieb kinderlos.

Egregii Ingegnerii Discipulus

Zu einer Aufsteigerbiografie wie der Baldassare Monteverdis dürfte auch der Wunsch gehört haben, dass es die Kinder einmal besser haben sollten. Statt seine Söhne in Chirurgie zu unterweisen, scheint er bereit gewesen zu sein, ihre speziellen Begabungen uneigennützig zu fördern. Wir wissen freilich nichts über ihre Ausbildung, wo sie zur Schule gingen, wer ihnen die ersten Kenntnisse der Musik vermittelte. An einem Ort, der die Schulbildung zu einem Desiderat der katholischen Reform machte, dürfte es freilich nicht schwer gewesen zu sein, einen Platz zu finden, an dem Claudio und später sein sechs Jahre jüngerer Bruder Giulio Cesare lesen und schreiben, singen und ein Instrument spielen lernen konnten. Die einzige gesicherte Information über seine Ausbildung liefert uns Monteverdi selbst: In seinen ersten Veröffentlichungen bezeichnet er sich als Schüler des herausragenden Ingegneri, als Schüler des Domkapellmeisters. Da sich Monteverdis Name an keiner Stelle in den Musikerlisten des Doms findet, muss davon ausgegangen werden, dass er Privatunterricht erhielt, für den sein Vater vermutlich tief in die Tasche greifen musste. Doch die Investition lohnte sich: Bei Ingegneri lernte Monteverdi alles, was er für den Beruf des Musikers brauchte – Singen, Spielen, Komponieren –, und er profitierte von den zahlreichen Kontakten, die dieser ihm vermitteln konnte. Ingegneri förderte seinen begabten Schüler nach Kräften.

Die ersten Veröffentlichungen Monteverdis, vermutlich von den jeweiligen Widmungsträgern mitfinanziert, dokumentieren einen durchdachten didaktischen Plan, mit dem der erfahrene Kapellmeister den jungen Komponisten an immer größere Aufgaben heranführte. Schon früh, im Alter von 15 Jahren, veröffentlichte Monteverdi 1582 seine ersten Kompositionen, die Sacrae cantiunculae, eine Sammlung dreistimmiger kleiner geistlicher Gesänge in lateinischer Sprache, gewidmet einem Cremoneser Geistlichen. Ein Jahr später erschien eine Sammlung vierstimmiger Madrigali spirituali mit der Widmung an einen einflussreichen Cremoneser Patrizier im Druck. Mit zwei religiösen, aber nicht liturgischen Sammlungen empfahl sich Monteverdi in Kreisen der katholischen Reform für weitere Aufgaben, ohne sich auf eine kirchliche oder weltliche Laufbahn festzulegen. Auch in der weltlichen Musik ließ Ingegneri seinen Schüler klein beginnen; wieder ein Jahr später gab der nunmehr siebzehnjährige Monteverdi 1584 dreistimmige Canzonette zum Druck, einem weiteren Cremoneser Patrizier gewidmet.

Nach den Plänen Ingegneris hätte nun die berufliche Laufbahn seines Schülers beginnen können. Er war bestens ausgebildet, hatte mit drei Publikationen seine musikalischen Visitenkarten parat und war mit 17Polyphonie27158711590