Daniel-Pascal Zorn
Logik für
Demokraten
Eine Anleitung
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96096-9
E-Book: ISBN 978-3-608-10862-0
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Einleitung
Eine Logik für Demokraten – was soll das sein?
Dialektik – die Logik der Gesprächsführung
Die Prinzipien der konkreten Redepraxis
Das Prinzip der ausgeschlossenen dogmatischen Setzung
Das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch
Was dieses Buch nicht will
Teil I
Populistisches Denken
Der Populismus ist wieder da
Empirische und logische Beschreibung
Die primäre Grundstruktur des populistischen Denkens
Die sekundären Grundstrukturen des populistischen Denkens
Die Kernstrategien des populistischen Denkens
Die Vermittlungstaktiken des populistischen Denkens
Die Taktiken des Fallenstellers
Demagogen im Theater
Ist ein Populist absichtlich Populist?
Teil II
Totalitäres Denken
Warum reden und handeln Menschen dogmatisch?
Ein anthropologisches Gedankenexperiment
Ein anderer Anfang
Diktatoren im Kino
Eine viel zu extreme Hypothese
Teil III
Demokratisches Denken
»Ziel der Demokratie ist Freiheit.«
Das Paradox der Gewalt
Drei Dogmatiker – eine Methode
Demokratie als Dialog
Vernunft, die sich selbst verteidigt
Der Widerspruch der radikal direkten Demokratie
Das Scheinproblem des Volkes
Ethik statt Moralismus
»Wo aber das Rettende ist, wächst Die Gefahr auch«
Anhang
Anmerkungen
Glossar
Namen- und Sachregister
Die deutsche Diskussionskultur ist in der Krise(1). Sie wird immer mehr von Redeweisen bestimmt, die jede vernünftige Zurückhaltung vermissen lassen. Jeden Tag versammeln sich in sozialen Netzwerken, Blogs und Kommentarspalten von Onlinemedien Hunderte von Menschen, die bestimmte Diskussionen mit Hass(1), Hetze(1) und Häme vergiften. Jede Woche versammeln sich in der Realität Menschen, um gegen Islamisierung(1), Überfremdung(1) oder den angeblichen oder tatsächlichen Verlust einer gemeinsamen Kultur(1) zu demonstrieren. Sie rufen »Wir sind das Volk(1)!« und fühlen sich bedroht. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die für die Offenheit ihrer Zivilgesellschaft(1) eintreten, manchmal für eine utopische Vorstellung von Gesellschaft, oft aber auch solche, die das, was sie als Gewalt begreifen, mit tatsächlicher Gewalt beantworten – was auf der Gegenseite wieder Gewalt provoziert.
Seit Monaten gewährt unsere Gesellschaft Hunderttausenden Asyl, die vor Krieg, Armut, Hunger oder schlechten Perspektiven in den reichen Norden und Westen geflohen sind. Und das bringt ebenfalls seit Monaten bestimmte Formen von Argumenten hervor, wie sie sich in einer bestimmten Rhetorik(1) immer wiederholen: der Rhetorik des Populismus(1). Dem Vorwurf des ›Populismus‹ folgt der Gegenvorwurf der ›Diffamierung‹, die ›Nazi-Keule‹ wird ausgepackt oder pauschal, sogar prophylaktisch, beklagt. Auf YouTube werden Hitler-Reden(1) hochgeladen und hunderttausendfach abgespielt. Versatzstücke daraus finden sich in den Kommentarspalten ebenso wieder wie in politischen Reden und Vorträgen, die Schritt für Schritt den Diskurs(1) für sich vereinnahmen wollen.
In der deutschen Debattenkultur lässt sich eine Lagerbildung(1) ausmachen: hier diejenigen, denen es reicht, die die Schnauze voll haben, die es ›denen da oben‹ jetzt mal richtig zeigen wollen, die ihre ganze Frustration und Angst und ihr ganzes Unbehagen ins Internet und auf die Straße tragen. Und dort diejenigen, die unter Berufung auf das Gemeinsame versuchen, die Zivilgesellschaft(2) und die offene Gesellschaft gegen die Vor- und Anwürfe zu verteidigen.
Doch die Betrachtung der Diskursentwicklung der letzten fünf Jahre zeigt, dass die Argumente(1) beider Seiten sich in gegenseitigen Zuschreibungen verhärten und so einen Dialog immer unwahrscheinlicher machen: ›Gutmensch(en)‹ (das Unwort des Jahres 2015), ›linksgrünversiffte Rosarote-Brillen-Träger‹ und ›Tugendterroristen‹ treffen auf ›Homohasser‹, ›Nazis‹, ›Rechtspopulisten‹ und ›Hassbürger‹. Die einstigen politischen Orientierungskategorien ›links‹ und ›rechts‹ sind wieder zu absoluten Kampfbegriffen geronnen, wobei die Zugehörigkeit schon an einzelnen Aussagen festgemacht wird.
Längst hat diese Frontstellung nicht nur kleinere, randständige, sondern auch größere und große Redaktionen erreicht. Sie multiplizieren und legitimieren Formen der Argumentation, die die Lagerbildung(2) zum Normalfall des öffentlichen Diskurs(2)es werden lassen. Die langersehnte Repolitisierung der Gesellschaft verkommt zum geistigen Schubladenkampf. In einer solchen Situation ist Gewalt meistens nur noch einen Steinwurf entfernt.
Die Reaktionen des öffentlichen Diskurs(3)es auf diese Krise(2) der Diskussionskultur folgen ihren Konfliktlinien. Während die Zeit der politischen Verlage wieder angebrochen scheint, die alten Wein in neuen Schläuchen anbieten, werden auf allen Seiten schrille Warnungen ausgesprochen, meistens vor irgendeiner Gegenseite. Ob nun der Liberalismus und die Modernisierung oder der Rechtspopulismus(2) und der Rassismus(1), der Staat und die Herrschaft der Schwachen und Minderwertigen oder die Rechten und die Neonazis, die linksgrüne Einheitsideologie oder gleich die Diktatur(1) der Altparteien(1) – Deutschland ist wieder voller Gegner, über die beinahe lustvoll alles ausgegossen wird, was der Kübel mit Vorurteilen und Herabwürdigungen hergibt. So verstärkt und verhärtet sich die allseitige Frontstellung immer weiter selbst.
Das vorliegende Buch möchte nicht zu dieser Verhärtung und damit zur Abschaffung des vernünftigen Diskurses beitragen. Es will und wird keine Stellung beziehen auf dem Kampfplatz der neuen Metaphysik. Stattdessen möchte es diesen Kampfplatz selbst einmal etwas näher betrachten, um herauszufinden, wie ein Weg von den verhärteten Fronten zurück zu einem vernünftigen Diskurs(4) aussehen könnte.
Anstatt vor dieser oder jener Ideologie zu warnen und entsprechend die eigene Ideologie als einzige Lösung vorzustellen, setzt dieses Buch sich mit dem Einzigen auseinander, was in der ganzen Debatte(1) wirklich unstrittig ist: den vorgebrachten Argumenten und Argumentationsformen. Anstatt in düstere Vorhersagen oder moralisches Dozieren zu verfallen, sollen hier der öffentliche Diskurs(5) selbst und das, worauf er basiert, unsere Demokratie, mit den Mitteln der Logik untersucht und geprüft werden. Diese Untersuchung beruht auf einer Überzeugung, die das vorliegende Buch hofft, seinen Lesern auf den folgenden Seiten nahebringen zu können: Vernunft(1) verteidigt sich selbst – und Unvernunft schlägt sich selbst.
Der Titel Logik für Demokraten klingt allerdings einigermaßen rätselhaft. Gibt es denn überhaupt so etwas wie eine demokratische Logik(1)? Basiert Demokratie nicht auch oder vor allem auf moralischen Werten? Was kann Logik hier beitragen? Ich möchte versuchen, im Folgenden kurz zu erklären, was mit dem Titel gemeint ist. Auf dem Weg werde ich dabei schon ein paar erste Gedanken entwickeln, die für die folgenden Abschnitte grundlegend sein werden. Teilen wir also den Titel in zwei Teile, ›Logik‹ und ›für Demokraten‹.
Kürzer lässt sich die Frage nach dem Teil ›für Demokraten‹ beantworten: Das vorliegende Buch richtet sich an Demokraten. Es ist eine Logik für Demokraten, d. h. für solche, die es mal waren, die es noch sind, oder die es (wieder) werden wollen. Der zweite Teil des Titels möchte also nicht nur die ansprechen, die schon Demokraten sind und die sich zur Demokratie bekennen. Er möchte auch diejenigen adressieren, die sich – aus welchen Gründen auch immer – von der Demokratie abgewandt haben, und diejenigen, die noch nicht genau wissen, ob sie sich für die Demokratie entscheiden sollen.
In meinem Buch möchte ich also eine moralisierende Grenzziehung vermeiden, mit der man die Leserschaft von vornherein in Demokraten und Nichtdemokraten einteilt und die nur die Ersteren ansprechen will. Als Philosoph ist es nicht meine Aufgabe, mich auf die eine oder andere ideologische Seite zu schlagen. Natürlich kann man das vorliegende Buch so lesen. Aber das könnte dazu führen, dass man nur das findet, was man vorher in es hineingelegt hat. Meine Aufgabe liegt darin, für das, was ich aus bestimmten Gründen für richtig halte, diese Gründe in einer Diskussion vorzubringen.
Die hier entwickelte Logik für Demokraten möchte ihren Leser und ihre Leserin davon überzeugen, dass die Demokratie aus einer bestimmten Perspektive vernünftig ist und sich vernünftig rechtfertigen lässt. Sie bietet Argumente(2), um demokratisches Denken(1) zu stärken und diejenigen, die an der Demokratie zweifeln, zum Widerspruch herauszufordern. Sie teilt die Überzeugung, dass das Verstehen dieses Widerspruchs nötig ist, um ihn überzeugend zu widerlegen. Entsprechend geht nicht nur der Teil über das demokratische Denken, sondern gehen auch die beiden Teile über das populistische und das totalitäre(1) Denken nicht von → Pappkameraden(1) aus. Sie nehmen das, was im alltäglichen Sprechen ›populistisch‹ oder ›totalitär(1)(1)‹ genannt wird, als Argument ernst und nehmen es somit genauer unter die Lupe.
Deswegen wird, wenn hier ab und zu von einem ›Wir‹ die Rede ist, explizit nicht beansprucht, für den Leser zu sprechen. Vielmehr ist dieses ›Wir‹ eine Einladung an den Leser, probeweise die von diesem Buch vorgeschlagene Perspektive einzunehmen. Er kann und soll sie ausprobieren, unter fairen Voraussetzungen überprüfen, und er kann und soll selbst entscheiden, was er damit machen will. Entsprechend gilt von diesem Buch, was Friedrich Nietzsche(1) über seinen Zarathustra gesagt hat: Es ist ein Buch »für Alle und Keinen«. Es bietet dem Leser eine Perspektive an, mit der er sich auseinandersetzen kann. Es belehrt ihn nicht mit feststehendem Wissen(1), sondern lädt ihn zu einem ausgedehnten Dialog über bestimmte Aspekte des öffentlichen Diskurs(6)es ein. Es will ihm keine alten oder neuen Werte einhämmern, sondern macht sich Gedanken darüber, wie eine gemeinsam gestaltete Diskussionskultur aussehen könnte.
Wenn dieses Buch aber ein Buch »für Alle und Keinen« ist, dann ist eine Warnung an dieser Stelle durchaus angebracht: Hier wird eine philosophische Perspektive entwickelt. Philosophische Perspektiven haben es an sich, dass sie ihre Gedanken kreuz und quer zu einem herrschenden Wissen(2) oder Diskurs(7) entwickeln. Diese Eigenschaft der Philosophie(1) nehme ich hier sehr ernst. Die hier entwickelten Gedankengänge versuchen aktiv, ein ungewöhnliches Licht auf bereits bestehendes Wissen zu werfen. Denn es geht in der Philosophie nicht um die Rekapitulation bestehenden Forschungswissens, sondern darum, Denkrahmen zu verschieben, die sich durch Gewohnheit verfestigt haben.
Der Vater dieses Gedankens, der zugleich eine Praxis(1) ist, ist Sokrates(1), der Lehrer Platons. Seine Fragen auf dem Marktplatz von Athen dienten nicht nur der Erkenntnisgewinnung. Sie dienten auch und vor allem der Erschütterung allzu selbstverständlichen Wissens. Oft genug musste der so Erschütterte dann erkennen, dass das, was er für sicheres Wissen(3) gehalten hatte, gar keines war. So weit will ich hier nicht gehen. Dennoch möchte ich den Leser bitten, die Irritationen und Abweichungen vom eigenen Denkrahmen nicht als Mangel (dieses Buches, seines Autors) wahrzunehmen, sondern als Versuch, ein möglicherweise neues Licht auf alte Probleme zu werfen.
Der andere (1)Begriff des Titels, der vielleicht Stirnrunzeln hervorruft, ist der Begriff der ›Logik‹. Weil es im Folgenden die ganze Zeit um diese Logik gehen wird, muss etwas ausführlicher darauf eingegangen werden, wie dieser Begriff hier gebraucht wird. Diese kleine Hürde am Anfang zu nehmen lohnt sich – auch deswegen, weil es danach, was die Voraussetzungen dieses Buches angeht, nicht mehr schwieriger wird.
Wenn von Logik die Rede ist, tauchen meistens bestimmte Fragen auf: Ist die Logik nicht ein festgefügtes System richtiger Schlussfolgerungen? Ein festes Gesetz, das unser Denken regiert? In diesem Sinne sprechen wir jedenfalls in der Alltagssprache von ›logisch(1)‹ und ›unlogisch‹. Etwas erscheint uns logisch, wenn es uns einleuchtet, und unlogisch, wenn es das nicht tut. ›Unlogisch‹ meint: nicht der Logik entsprechend. Aber was unlogisch erscheint, ist nicht deswegen unlogisch, weil es nicht zur Logik gehört. Es ist unlogisch, weil es uns aus logischen Gründen nicht überzeugt. Auch das ›Unlogische‹ gehört zur Logik. Ein Außerhalb der Logik gibt es nicht, denn es wäre schon innerhalb. Logik ist eine Norm, gemäß derer eine Behauptung(1) richtig oder falsch ist, gilt oder nicht gilt.
Aber diese Norm wurde nicht irgendwann von irgendwem allen anderen aufgezwungen. Das versteht man, wenn man sich den Begriff ›Logik‹ genauer ansieht.
Der Begriff ist eine Zusammensetzung aus zwei griechischen Wörtern, ›lógos(1)‹ und ›techné(1)‹. Den Logos kennen wir aus dem Neuen Testament: »Im Anfang war das Wort (lógos) …« Logos bedeutet also ›Wort‹ – aber auch ›(eine ganze) Rede‹ sowie ›Setzung‹ (z. B. durch Sagen oder Zählen) und ›Verhältnis‹. Dieses Buch ist ein Logos, ebenso wie jede mögliche Antwort oder jedes mögliche Gegenargument des Lesers oder der Leserin ein Logos ist. Ein einfaches »Nein!« ist ebenso ein Logos wie der Hinweis auf die eigene, abweichende Meinung.
Der römische Philosoph Cicero(1) übersetzt Logos(2) entsprechend der Bedeutung ›Verhältnis‹ mit Ratio. Wer ›rational(1)‹ denkt, legt alle Verhältnisse so offen, dass alle anderen sich zu jedem Teil seiner Rede verhalten können. Und so sprechen wir heute noch von rationalem Denken, wenn wir vernunftgemäßes – oder vernünftiges – Denken bezeichnen wollen. ›Irrational‹ ist das, wozu wir uns nicht verhalten können, weil es für das Verstehen verborgen ist oder nicht existiert. Das englische ›ratio‹ hat den alten Sinn direkter erhalten: Es bezeichnet z. B. das Seitenverhältnis bei Fernsehgeräten.
Auch der andere griechische Begriff, die Techné(2), ist uns geläufig aus dem Begriff ›Technik‹. Auch er besitzt mehrere Gebrauchsweisen: Einmal dient er als Sammelbezeichnung für mechanische oder elektronische Geräte. In diesem Sinn ist Technologie die Gesamtheit der Lehre davon, wie man solche Gerätschaften baut. Aber wer diese Lehre beherrscht, der weiß vor allem, wie er etwas bauen muss. Er besitzt ein ›Know-how‹. Genau das verweist auf den älteren Sinn von ›Techné‹, aus dem unsere heutige ›Technik‹ abgeleitet wurde: das Können(1), die Kunst – durchaus auch Handwerkskunst –, das Wissen(4) darum, wie man etwas macht. In diesem Sinne sprechen wir heute von Techniken, wenn wir bestimmte Vorgehensweisen beschreiben wollen, die ihren Zweck auf eine sehr gute oder effiziente Weise erfüllen.
Nimmt man Logos(3) und Techné(3) in dieser Weise zusammen, erhält man so etwas wie das ›Know-how‹ der Verhältnissetzung. Wer Logik beherrscht, der weiß, wie er die Teile seiner Rede ins Verhältnis setzen muss, damit sie ihren Zweck erfüllen.
Doch was ist der Zweck einer solchen Rede? Sofern eine Rede nicht einfach zur Unterhaltung oder Information vorgebracht wird, zielt sie darauf ab, dass die Hörer oder Leser ihr zustimmen. Eine solche Rede beansprucht, die Zustimmung ihrer Hörer oder Leser durch eine gute Verhältnissetzung verdient zu haben. Sie beansprucht Geltung, d. h. das Einlösen der Verantwortung, die der Behauptende durch die Behauptung(2) auf sich lädt. Denn nur weil eine Rede vorgebracht wird, gilt sie nicht deswegen schon. Sie verdient keine Zustimmung nur deswegen, weil sie geäußert wurde. Wäre das so, dann könnte man alles Beliebige und sein Gegenteil behaupten, und alle müssten dem zustimmen. Damit aber würde die Unterscheidung von richtig und falsch ihren Sinn verlieren.
Die Logik ist also das Können(2) oder die Kunst, die eigene Rede so zu gestalten, dass alle anderen nicht nur zufälligerweise oder aus subjektiver Überzeugung zustimmen, sondern aus empirischen(1) oder logischen(2) Gründen zustimmen müssen. Empirische Gründe beziehen sich dabei auf das, was wir alle mit unseren Sinnen wahrnehmen und wozu wir uns alle entsprechend verhalten können. Die Frage, was logische Gründe sind, können wir beantworten, indem wir uns die Gründe der Logik selbst ansehen, ihre Prinzipien.
Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Auffassungen darüber herausgebildet, was die Prinzipien der Logik sind. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn ein Prinzip(1), von dem es verschiedene in gleicher Weise geltende Versionen gibt, ist keines mehr. Die verschiedenen Auffassungen über die logischen(3) Prinzipien sind außerdem abhängig davon, welchen Logikbegriff man voraussetzt. So befinden sich die Theorien über die Logik in einem Jahrhunderte währenden Streit darüber, was Logik ist und was ihre Prinzipien sind. Gibt es also überhaupt so etwas wie einheitliche logische Prinzipien?
Diese Prinzipien gibt es in der Tat. Denn was all diese Theorien über Logik gemeinsam haben, ist, dass sie Theorien sind. Theorien setzen sich aber aus Grundsätzen, Hypothesen, Behauptungen, Begründungen und Schlussfolgerungen zusammen. Das bedeutet: Theorien sind immer Formen von Rede, die danach strebt, dass alle anderen ihr zustimmen. Jede Theorie ist ein Logos(4), ganz gleich, welche inhaltliche Bestimmung sie darüber vorbringt, was Logik ist und was ihre Prinzipien sind. Eine Theorie beansprucht, dass das, was sie als Logos sagt, gelten soll.
Blickt man also nicht auf die vielfältigen Rede-Inhalte darüber, was Logik ist, sondern sieht man sich ihre Rede-Praxis(2) an, dann lassen sich Prinzipien gewinnen, die mit dieser Redepraxis zu tun haben: Sie sind Prinzipien der Rede, die diese verschiedenen Theorien als vorgebrachte Rede sind und insofern Prinzipien einer Logik, die sich mit dieser Redepraxis beschäftigt. Die Redepraxis, d. h. die konkrete Gesprächsführung(1), heißt auf Griechisch ›dialegesthai‹. Noch heute sprechen wir von einem Dialog, wenn zwei oder mehr Menschen miteinander ein Gespräch führen. Die Logik, die sich mit dem Geltenkönnen oder Nichtgeltenkönnen der Redepraxis auseinandersetzt, nennt man entsprechend Dialektik(2).
Die Dialektik(3), als Logik der konkreten Rede- und Argumentationspraxis, kennt zwei oberste Prinzipien: das Prinzip(2) der ausgeschlossenen dogmatischen Setzung(1) und das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs bzw. Selbstwiderspruchs. Beide Prinzipien sind der Philosophie(2) seit ihren Anfängen bekannt, obwohl sie oft nur implizit in der Redepraxis auftauchen. Sie werden angewendet, aber nur selten als Prinzipien tatsächlich formuliert. Der erste Philosoph, der das tut, ist Aristoteles(1)(1). Er beobachtet die Redepraxis der Philosophen vor ihm ganz genau und entnimmt ihr die beiden Prinzipien als Bedingungen für eine sinnvolle Diskussion.
Das Prinzip(4) der ausgeschlossenen dogmatischen Setzung(3) ist in der Tradition unter dem Titel der → Petitio Principii(1) bekannt geworden. Dieser lateinische Titel lautet übersetzt »(das) Beanspruchen des Anfangs«, wobei ›petitio‹ oft mit ›Bitten‹ übersetzt wird. Tatsächlich bedeutet ›petitio‹ aber auch ›Angriff‹ oder ›Stoß‹. Dieser Aspekt der Gewalt wird durch den griechischen Begriff, den Aristoteles(2) benutzt, bestätigt. Er lautet übersetzt: »Sich-Nehmen der Anfangsnahme«1. Wer eine Petitio Principii in einem Argument benutzt, der beansprucht, ohne weitere Begründung etwas für alle anderen festlegen zu können. Aristoteles gibt für diese Argumentationsform das Beispiel: »Das sei, weil das sei.«2 Heute würde man sagen: »Es ist so, weil es eben so ist.« Deshalb kennt man eine Version der Petitio Principii auch unter dem Begriff ›Zirkelschluss‹.
Etwas für alle anderen festzulegen bedeutet zweierlei: Alle anderen müssen einem ohne Weiteres – d. h. ohne weitere Begründung – zustimmen oder alle anderen haben einem schon von vornherein zugestimmt. Im ersten Fall wäre die Rechtfertigung für eine Petitio Principii(4)(2) wieder eine: Auf die Frage, warum man denn nun ohne Weiteres zustimmen müsse, lautete die Antwort: »Weil das eben so ist.« Im zweiten Fall ergibt sich sogar ein Widerspruch. Denn wenn jemand eine Behauptung(3) zum ersten Mal in einer Rede vorbringt, dann ist es unmöglich, dass alle anderen schon zugestimmt haben, außer in einer vorherigen Rede. Dann wurde die Behauptung aber nicht zum ersten Mal in einer Rede vorgebracht. Wurde sie aber in einer vorherigen Rede vorgebracht, dann muss ihr dort auch zugestimmt worden sein, weil sonst die Behauptung, dass der Behauptung von vornherein zugestimmt wurde, falsch ist. Wenn ihr aber schon in einer früheren Rede nicht zugestimmt wurde, wiederholt sich das ganze Spiel.
Wer in einer gemeinsamen Diskussion nicht nur behauptet, dass die Rede – nach einer Prüfung durch andere – gelten soll, sondern dass sie schon gilt, ohne jede Prüfung, der versucht, die Diskussion zu beenden, bevor sie begonnen hat. Denn worüber sollte man diskutieren, wenn die Antwort schon von vornherein feststeht? Eine Diskussion, die mit einer Petitio Principii(5)(3) beginnt, ist keine. Entsprechend sagt (2)Aristoteles(3) auch von dem, der eine Petitio Principii gebraucht, dass er »von Gesprächsführung(2) nichts versteht«3.
Das zweite Prinzip(6) der auf konkrete Gesprächsführung(2) bezogenen Logik ist das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch(2). Über dieses Prinzip ist viel geschrieben worden, und es wurde auf verschiedene Weisen verstanden: als ein Gesetz, das dem Denken von Natur aus eingeschrieben ist; als eine Eigenschaft Gottes, der alles kann, nur nicht sich selbst widersprechen; als willkürliche Setzung des Menschen, der vor der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit(1) kapituliert.
Doch in seiner ursprünglichen Form bei Aristoteles(4) – und schon vor ihm, bei Platon(1) – bezieht sich dieses Prinzip(7) des ausgeschlossenen Widerspruchs einfach auf die konkrete Rede. Es besagt, dass »dasselbe demselben in derselben Beziehung … unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann«4. Das ist zunächst ganz inhaltlich zu verstehen: Ein Elefant kann nicht in derselben Hinsicht(1) kein Elefant sein. Es kann nicht in derselben Hinsicht regnen und nicht regnen. Ich kann nicht in derselben Hinsicht zugleich im Haus und außerhalb des Hauses sein. Wohl kann ich auf der Türschwelle stehen und so mit einer Körperhälfte – in einer Hinsicht – im Haus und mit der anderen Körperhälfte – in der anderen Hinsicht – außerhalb. Aber mit derselben Körperhälfte zugleich im Haus und außen stehen, das kann ich nicht.
Die im Prinzip(8) des ausgeschlossenen Widerspruchs genannte Unterscheidung von Hinsichten(2) gilt es auch im Folgenden zu beachten. Denn die Dialektik(4), die Logik der konkreten Gesprächsführung(3), löst Schwierigkeiten und Probleme vor allem dadurch, dass sie Hinsichten unterscheidet. Sie denkt und argumentiert – so würde man heute sagen – differenziert und differenzierend. Dabei geht es keineswegs nur darum, alles in Differenzen zu zersplittern. Denn das Denken in Hinsichten gilt noch für dieses Denken selbst: Ebenso wie es die Hinsicht der Differenz nennt, nennt es auch die Hinsicht der Gemeinsamkeit und betont beide dort, wo sie für alle sichtbar gegeben sind.
Dieser auf die eigene Redepraxis bezogene dialektische Aspekt betrifft auch das Prinzip(9) des ausgeschlossenen Widerspruchs. Dass »dasselbe demselben in derselben Beziehung … unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann«, gilt auch für eine Rede, die über das spricht, was sie selbst macht. Wenn ich z. B. sage: »Ich sage gerade nichts«, dann habe ich mir selbst widersprochen. Das, worüber ich spreche, steht im Widerspruch zu dem, womit oder wodurch ich darüber spreche. Der Inhalt gerät in einen Widerspruch mit der Praxis(3), der Operation oder der Form. Deswegen heißt diese Version des Widerspruchs auch → performativer oder reflexiver Widerspruch(1). Er kommt durch die Form zustande oder dadurch, dass sich der Inhalt auf die Operation zurückwendet. Hier bedeutet »in derselben Beziehung«: in der Beziehung, die der Inhalt herstellt und die etwas an der Operation betrifft. Andere Beispiele für den performativen Widerspruch(1) sind Sätze wie »Dieser Satz ist nicht auf Deutsch geschrieben«, »Alle Sätze haben weniger als zehn Buchstaben« oder »Das Wort ›Nichts(1)‹ in einem Satz zu verwenden, ist unmöglich«.
Das Prinzip(10) des ausgeschlossenen Widerspruchs besagt: Wer sich widerspricht, dessen Rede kann keine Geltung, d. h. Zustimmung, beanspruchen. Er kann selbstverständlich jederzeit widersprüchliche Sätze formulieren. Aber niemand muss einer Rede zustimmen, die inhaltlich oder performativ behauptet, etwas komme demselben in derselben Beziehung zu und zugleich nicht zu.
Ebenso wie das Prinzip(11) der ausgeschlossenen dogmatischen Setzung(6) bezieht sich aber das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs noch in einer viel direkteren Weise auf unsere Redepraxis. Weil es das höchste Prinzip der Logik konkreter Gesprächsführung(3) ist, kann es nicht mehr abgeleitet werden. Es kann für das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs also keinen ableitenden Beweis geben. Gäbe es nur ableitende Beweise, dann wäre dieses Prinzip selbst eine Petitio Principii(4) und die ganze Sache mit den Prinzipien umsonst.
Deswegen hat sich Aristoteles(3)(5) eine Beweisführung einfallen lassen, die sich ganz konkret auf die Redepraxis im Dialog konzentriert. Nehmen wir an, jemand würde das Prinzip(12) des ausgeschlossenen Widerspruchs verneinen. Wir könnten nun sagen: »Wenn du das Prinzip verneinst, dann widersprichst du dir, denn du kennst ja den Unterschied von Bejahen und Verneinen.« Aristoteles weist darauf hin, dass das noch nicht der Beweis sein kann, denn so eine Antwort würde die Geltung des Prinzips ja schon wieder voraussetzen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Begründung dieser Antwort: Wer »Nein« sagt, hat etwas Bestimmtes gesagt. Und das bedeutet, er hat nicht etwas anderes gesagt. In genau dieser Praxis(4) hat der Gesprächspartner das Prinzip durch seine bloße Redepraxis akzeptiert. Er bestätigt seine Geltung dadurch, dass er es in Anspruch nimmt. Und es ist gerade seine Verneinung(1), die es belegt: Ein »Nein« ist kein »Ja«. Er muss das Prinzip nicht einmal verneinen – egal, was er sagt, er wird etwas anderes nicht gesagt haben. Genau diesen Umstand, dass etwas Bestimmtes, das man sagt, in ein und derselben Hinsicht(3) nicht ein anderes Bestimmtes ist, drückt das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs aus.
Die hier vorgestellte Logik für Demokraten bezieht sich also auf Logik als eine Kunst der Rechtfertigung, als ein ›Know-how‹ der Gesprächsführung(4), das sich auf das Geltenkönnen einer Behauptung(4) oder Begründung einer Argumentation bezieht. Diese Logik ruht auf zwei Prinzipien5: dem Ausschluss der dogmatischen(8) Setzung und dem Ausschluss des (performativen) Widerspruchs. Beide Prinzipien beziehen sich auf die konkrete Gesprächssituation(5). Sie stellen sicher, dass eine Diskussion nicht endet, bevor sie begonnen hat, und sie verweisen auf den Umstand, dass jemand, der etwas sagt, etwas Bestimmtes gesagt hat. Mehr als das braucht es nicht, um zu verstehen, wie hier logisch(4) gedacht wird.
Der Gegenstand dieser Logik, die konkrete Rede, die einen Geltungsanspruch(1) erhebt, wird hier mit dem Begriff ›Denken‹ ausgedrückt. Wenn also in den folgenden Teilen vom populistischen Denken oder vom demokratischen Denken gesprochen wird, dann ist damit die Art und Weise der Argumentation eines – in einer Diskussion vorgebrachten – Redebeitrags gemeint. Das dient der Übersichtlichkeit und der Anpassung an Gepflogenheiten des alltäglichen Sprechens. Allerdings ist der Begriff ›Denken‹ mehrdeutig: Er bezeichnet auch den psychischen Vorgang des Denkens, den die Psychologie beschreibt. Dieser Vorgang ist nicht gemeint, wenn hier von ›Denken‹ gesprochen wird.
Das hat folgenden Grund: Logik und Psychologie unterscheiden sich darin, dass die Psychologie nach empirischen(2) Vorgängen, ihren Eigenschaften und ihren Ursachen fragt. Sie beschreibt das menschliche Denken als Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung und versucht, seine Entstehung zu verstehen. Die Logik wiederum fragt nicht nach empirischen Vorgängen, sondern nach der Geltungskraft von Argumenten. Sie forscht nicht nach Eigenschaften eines empirischen Gegenstandes, sondern nach Eigenschaften eines vorgebrachten Arguments, z. B. seiner Struktur. Und sie fragt nicht nach Ursachen, sondern nach Gründen. Die Unterscheidung von Ursachen und Gründen fällt nicht immer ganz leicht. Allzu schnell sieht eine Ursache zugleich wie ein Grund aus. Aber eine Ursache erklärt nur, woher und woraus sich ein empirischer Sachverhalt(1) ergibt. Ein Grund gibt an, warum alle anderen einer Behauptung(5) zustimmen sollen. Die Angabe einer Ursache kann ein Grund sein, aber die Angabe eines Grundes ist nie eine Ursache. Die Ursache betrifft das Gegebene und das Faktische, der Grund betrifft die Geltung. In dieser Hinsicht(4) sind Logik und Psychologie klar voneinander zu trennen.
In diesem Buch werden populistisches, totalitäres(2)(2) und demokratisches Denken(2) aus einer bestimmten philosophischen Perspektive beschrieben und diskutiert. Diese Perspektive ist die einer Logik als Dialektik(5), d. h. einer Argumentationsanalyse, die konkrete Rede auf ihren Geltungsanspruch(2) hin prüft und die Struktur ihrer Argumente(3) beschreibt. Zusätzlich zu dieser Orientierung an der Praxis(5) lädt dieses Buch seine Leser dazu ein, es ihm gleichzutun. Zu diesem Zweck sind die wichtigsten Argumentationsfehler in einem Glossar zusammengefasst. Das vorliegende Buch ist also ebenso ein Buch zum Mitmachen und Ausprobieren, wie es eine bestimmte These(1) vertritt und begründet darzulegen versucht.
Aus dieser Beschreibung ergibt sich, was dieses Buch nicht ist. Es ist zuallererst keine wissenschaftliche Abhandlung über die in ihm besprochenen Gegenstände, die Vollständigkeit in der Darstellung beanspruchen könnte. Hier wird auch keine neue Theorie des Populismus(3) oder der Demokratie entworfen, die sich mit systematischen Theoriegebäuden messen könnte. Wohl wurde auf diese geachtet, der Gedankengang aber wurde in bewusster Abgrenzung von ihnen entwickelt.
Auch den Definitionen und Diskursen der Sozialwissenschaften – Politikwissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie – wird hier keine Konkurrenz in der ganzheitlichen Beschreibung der Phänomene gemacht. Vielmehr soll zusätzlich zu diesen etablierten wissenschaftlichen Perspektiven eine weitere entwickelt werden, die sich als philosophische versteht. Damit ist das vorliegende Buch nicht gleich als Philosophie(3) des Populismus(4), des Totalitarismus oder der Demokratie zu verstehen. Es beansprucht aber, als Philosophie der Redeformen, die populistisches, totalitäres(3)(3) und demokratisches Denken(3) ausmachen, seinen Lesern einige Anhaltspunkte für ihre eigenen Debatten zu liefern.
Weiter oben wurde gesagt: Es geht in der Philosophie(4) um die Verschiebung von Denkrahmen, die sich durch Gewohnheit verfestigt haben. Das bedeutet, dass die hier entwickelten Gedanken in manchen Abschnitten ganz bewusst von vorgebahnten Wegen abweichen. Manche der Probleme, die in den oben genannten Sozialwissenschaften als unlösbare Paradoxien gelten, lassen sich durch logisch(5)-dialektische Analyse überzeugend auflösen. Umgekehrt werden manche Selbstverständlichkeiten der wissenschaftlichen Betrachtung hier als Problem wahrgenommen. Wie immer in der Philosophie sollte die Leserin also die Bereitschaft mitbringen, sich produktiv irritieren zu lassen.
Natürlich kann ein Buch seinem Leser nicht vorschreiben, wie es zu lesen ist. Aber wer auf die hier entwickelten Gedanken, die (vermeintlich) feststehendes Wissen(5) kritisch hinterfragen, mit feststehendem Wissen antwortet, der wird von diesem Buch nicht profitieren können. Er kann dann nur die Differenz zu seinen eigenen Voraussetzungen feststellen und das Buch enttäuscht zur Seite legen. Denn es wird ihm den Gefallen nicht tun, nur eine Bestätigung dessen zu liefern, was er oder sie ohnehin schon weiß. Wer aber Lust hat, einmal aus ungewohnter Perspektive über so schwierige Themen wie Populismus(5) oder Demokratie nachzudenken, der könnte diese Differenz als Herausforderung verstehen und einige Aspekte für sich selbst fruchtbar zu machen versuchen.
Teil I
»Kennt man den bescheidenen Vorrat der Tricks und das Wesen ihres Effekts, so sollte es möglich sein, die Massen dagegen zu ›impfen‹, so daß sie sie als abgefeimte, aber auch abgebrauchte Instrumente erkennen, sobald sie ihnen vorkommen. Wer sich über die beabsichtigten Wirkungen Rechenschaft ablegt, wird nicht länger ihnen naiv verfallen, sondern sich schämen, so dumm sich zu erweisen, wie die Demagogen(1)(2) ihn einschätzen. Sachlich-aufklärende Broschüren, die solche Widerstände zu wecken vermögen, die Mitwirkung von Rundfunk und Film, die Bearbeitung der wissenschaftlichen Resultate für den Schulgebrauch sind praktische Mittel, der Gefahr des völkischen Massenwahns für die Zukunft energisch vorzubeugen.«1
Der Populismus(7) ist wieder da. Das heißt: Er war eigentlich nie weg. Aber er versteckte sich in politischen Debatten und tauchte nur auf, wenn es wieder einmal darum ging, den politischen Gegner zu diffamieren. »Das ist doch Populismus!«, rief dann ein Diskutant dazwischen, z. B. wenn Sahra Wagenknecht von DIE LINKE oder Markus Söder von der CSU besonders scharfe Formulierungen benutzten, um ihrer Parteilinie Nachdruck zu verleihen.
Nun aber ist der Populismus(8) mit voller Wucht zurückgekehrt. Der ›Linkspopulismus‹, einst Bezeichnung für anarchistische oder kapitalismuskritische Weltanschauungen, wird in der akademischen Diskussion als ernsthafte Position(1) diskutiert.2 Allenthalben liest man in den Medien von der ›rechtspopulistischen‹ AfD(1) in Deutschland oder dem ›nationalpopulistischen‹ Front National in Frankreich. Sie gehören zu »Europas Populisten« (RP Online), zusammen mit der englischen Ukip(2) (UK Independence Party), der österreichischen FPÖ, der Schweizerischen Volkspartei und der polnischen Partei(4) PiS (Recht und Gerechtigkeit(1)).
Insbesondere der Begriff ›Rechtspopulismus(9)‹ dient dazu, Aussagen zu etikettieren, die zwischen Konservativismus(1) und Rechtsextremismus verortet werden. Gleichzeitig vertreten ›Rechtspopulisten‹ verwirrenderweise Argumente(4), die eher neoliberalen oder sogar libertären Argumentationsformen(1) zuzuordnen wären. Ungeachtet der Tatsache, dass der klassische Konservativismus und der Liberalismus ideengeschichtlich eigentlich direkte ideologische Gegner sind, sehen Konservative(2) wie Liberale aus und Liberale wie Konservative.3 Sogenannte Linke übernehmen rechte Ideen wie den Nationalismus, sogenannte Rechte eignen sich linke Strategien an.4
Kurz gesagt: Es herrscht ein vollkommenes Durcheinander. Politische Ausschluss- und Diffamierungsstrategien stehen neben akademischen Debatten, die entweder das Phänomen ›Populismus(10)‹ beschreiben oder die Position(2) ›Populismus‹ vertreten wollen. Definitionen von Populismus werden selbst als populistisch wahrgenommen oder wegen einer angeblichen Schwammigkeit des Begriffs ganz abgelehnt.