DER BLICK AUS MEINEM FENSTER
Richard Bletschacher
DER BLICK
AUS MEINEM FENSTER
Essays
Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer
unter Verwendung einer Zeichnung von Richard Bletschacher
Lektorat: Johann Lehner, Teresa Profanter
Satz: Johann Lehner, Gabriel Fischer
Hergestellt in der EU
Richard Bletschacher:
Der Blick aus meinem Fenster
Essays
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2016
www.hollitzer.at
eBook ISBN 978-3-99012-245-7
INHALT
Vorwort
Der Blick aus meinem Fenster
Die Lauten- und Geigenmacher des Füssener Landes und ihre Werkstätten in Italien
Vom Vergessen und Wiederfinden des Mittelalters
Ludwig van Beethovens einzige Oper Fidelio
Vogelfangen im Salzkammergut
Erste Unterweisungen in der sozialen Frage
Vom Haben und Entbehren und vom Geben und Nehmen
Giorgione da Castelfranco
Zur Baugeschichte der Wiener Hoftheater
Über die Kränze des Nachruhms.
In Erinnerung an Maria Reining
Jean-Paul Sartres Theorien zu einem kritischen Theater
Was heißt Fortschritt, wovon führt er fort, wo führt er hin?
Die Wege der irischen Mönche im südlichen Germanien
VORWORT
DER BLICK AUS MEINEM FENSTER
Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung schaue, kann ich den Blick über die Dächer der alten Häuser der Wiener Innenstadt und um die Türme dreier Kirchen herum spazieren führen. Manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an ihnen verändert, nicht alles zu meinem Wohlgefallen. Aber ich weiß doch, dass sich in der Ferne hinter ihren Silhouetten die bewaldete Kuppel des Kahlenbergs duckt und dass die Donau, wenn auch nicht sichtbar, so doch nahe vorbeirauscht. Ihre Wasser nähren sich von den Flüssen der Alpen, an deren Ufern ich auch einmal zu Hause war. Die Geräusche des Regens und das Pferdegetrappel, Motorengeräusch und Stimmengewirr der Straßen dringen nur gedämpft bis zu mir an die Leselampe oder den Schreibtisch. Da sitze ich allein, aber nicht aus der Welt. In der hab’ ich mich viele Jahrzehnte lang umgetrieben, mit den Füßen und auch mit dem Kopf. Wen wundert es, wenn das, was ich schreibe, sich aus tausend Erfahrungen und Erinnerungen nährt. Manches davon findet sich nun in den Versuchen, die ich in diesem dritten Band meiner Essays aus den Händen gebe.
Essays nennt man Versuche, intellektuelle Fragestellungen in literarischer, das heißt künstlerischer Form zu beantworten. Die gewählten Themen in der nachfolgenden Sammlung sind auch diesmal wieder sehr unterschiedlicher Art. Sie wurden ebenso aus „fernen Zeiten“ wie aus der „Fülle des Lebens“ unserer Gegenwart gegriffen. Es mag sein, dass die Vielfalt der behandelten Themen den Leser mehr verwirrt als dass sie durch Abwechslung und Neubesinnung sein immer erneuertes Interesse weckt. Doch es entspricht meinem eigenwilligen Charakter, dass ich immer wieder voneinander unterschiedene Themen und diese dann auch in unterschiedlicher Weise und wechselnder Jagdlust verfolge. Eine Durchmischung von ernsten und halbernsten Texten ist also durchaus in meinem Sinn. Es ist da manches von Literatur, von Baukunst und Musik zu lesen, manches auch vom sozialen Leben. Und wenn man ein wenig zurücktritt, um dies alles zu überblicken, so kann man vielleicht doch erkennen, dass sich fast alles davon in der gesellschaftlichen und kulturellen Form des Theaters zusammenführen lässt. Die Bemühung darum hat eben auch den großen Teil meines Lebens erfüllt. Man könnte darum auch eine chronologische Anordnung der Gegenstände dieser Betrachtungen, sei es nach der Thematik, sei es nach der Entstehung der Texte, für angemessen halten. Das könnte den trügerischen Eindruck erwecken, ich sei der Wahrheit auf der Spur.
Vielleicht wird man in all dem zum Wort Gebrachten die Absicht des Autors erkennen, den vieltausendfachen und immer wieder wundersamen Erscheinungen des allgemeinen Lebens und des Wirkens kundiger Hände, wie es sich ihm bietet, einmal mit wechselnden Mitteln gerecht zu werden. Es ist schon so: Die aus solchen Absichten entstandenen Essays wollen ihm selbst – und mit ihm auch dem Leser, der ihm nach drei Dutzend Büchern immer noch wohlgesinnt ist – über Dinge, die eben in unseren Lebenstagen weiterhin oder neuerdings beachtenswert scheinen, größere Klarheit verschaffen. Das aber gelingt ihnen trotz Sammlung und Wägung von Fakten und trotz unterschiedlichster Blickwinkel der Betrachtung nicht immer so, wie er hoffte, als er begann. Und kann wohl auch, da es sich eben nur um Versuche handelt, am Ende nicht anders sein.
DIE LAUTEN- UND GEIGENMACHER DES FÜSSENER LANDES UND IHRE WERKSTÄTTEN IN ITALIEN
Dass Füssen, die Stadt am Fuße der Alpen und an der Grenze der bayerischen, schwäbischen und Tiroler Siedlungsgebiete, die europäische „Heimat der Lauten“ sei, das hätte in meiner Jugendzeit, d. h. vor mehr als einem halben Jahrhundert die meisten ihrer Bewohner und mich selbst auch mitten unter ihnen sehr verwundert. Man hatte in der Stadt lange nichts mehr gehört von dergleichen altertümlichen Instrumenten. An einem der älteren Häuser war immerhin noch ein Fresko des Füssener Malers Kurt Geibel-Hellmeck zu sehen, das Männer bei der Arbeit an musikalischen Geräten zeigte; an einem Haus in der Ritterstraße und einem zweiten in der Hinteren Gasse waren Tafeln angebracht, die auf Handwerker verwiesen, die dort gelebt haben sollen. Die Gedenktafeln waren damals schon so wie heute in einem bedauerlichen Zustand. Man konnte sie kaum mehr recht lesen.
In der Schule hörte man nichts von all diesen Dingen. Lauten, Theorben, Chitarronen, Cistern, Lyren, Trumscheite, Poschetten, Barytone, Violen d’amore oder Gamben kannte man kaum vom eigenen Sehen oder Hören, am ehesten noch von den Bildern des Füssener Totentanzes im Kloster des heiligen Magnus oder von Sendungen alter Musik aus dem Rundfunk. Was die Instrumente der Geigenfamilie betraf, so war dies eine andere Sache. Aber all das war aus einer fremden Welt. Mag sein, dass manch einer im Schulorchester die Violine oder das Cello spielte. Ohne Geigen konnte man sich eine musikalische Messe in der Kirche oder bei einem Kurkonzert gar nicht vorstellen. Aber Geigen, so dachte man, wurden doch vor allem in der bayerischen Schwesterstadt, in Mittenwald an der Isar, gebaut, wenn nicht überhaupt in Brescia, Mailand oder Cremona. Was hatte denn Füssen, die Stadt der barocken Kirchen, der Schlösser, Burgen, Burgruinen, des Eislaufsports und der Sommerfrische mit Geigen oder Gitarren zu tun?
Man hat sich belehren lassen. Es erschienen unmittelbar nacheinander in den Jahren 1978 und 1979 zwei umfängliche Bücher, das eine davon von einem geborenen Füssener, der meinen bescheidenen Namen trug, das andere von Adolf Layer, einem Privatgelehrten aus Dillingen, verfasst, in deren erstem die Geschichte des Lautenmacherhandwerks im Füssener Land und in deren zweitem die im gesamten Allgäu aufgedeckt wurden. Und da erwies sich, dass die erste und älteste aller Städte, die dieses kunstvolle Handwerk beherbergten, keine andere war als Füssen, Füssen am Lech, Füssen am Fuße der Alpen oder – wie es heute heißt – Füssen im Königswinkel. Und dass von Füssen aus, wie von einer schier unerschöpflichen Quelle, die neu gefertigten Instrumente über die umliegenden und dann über die immer ferneren Länder verteilt worden waren. Und dass endlich die Meister des Handwerks selbst über die Berge gegangen waren oder sich auf Flößen hatten tragen lassen in die großen Städte der musikliebenden Länder, nach Deutschland, nach Österreich, Böhmen und Ungarn, weiter nach Frankreich, nach England, nach Schweden und Russland und vor allem über die Alpen hinweg – nach Italien.
So ziemlich genau 200 Namen von Instrumentenbauern konnte ich mit mancher Hilfe allein in den italienischen Musikzentren ausfindig machen, Namen, die ihren Ursprung in der Stadt Füssen oder den umliegenden Dörfern und Gemeinden hatten. Wenn sich Ungenauigkeiten bei deren Zählung ergaben, so einerseits, weil manche Namen an verschiedenen Orten auftauchten und ihre Träger oder deren Nachkommen offenbar unterwegs waren, um einmal hier, einmal dort ihr Glück zu versuchen und eine Werkstatt zu gründen. Andererseits aber kamen einige Meister nach Süden, die dort ihre nicht immer leicht vermittelbaren Namen der italienischen Zunge anglichen und dann nur mehr schwer oder gar nicht auszuforschen waren. So haben sich etwa ein Magnus Lang aus Schwangau als Mango Longo im 16. Jahrhundert in Padua und einer seiner gleichnamigen Nachkommen im 18. Jahrhundert in Neapel niedergelassen. Ein Albert nannte sich Alberti, ein Buchenberg nannte sich Boccaber und ein Vierter gar nur Leopoldo Tedesco, die Letzteren alle in Rom. Insgesamt konnten in Füssen und seiner näheren Umgebung, will sagen im früheren Landkreis der Stadt Füssen und in den Nachbarorten des Tiroler Außerfern, an die 700 Namen von Lauten- oder Geigenmachern ausgeforscht werden, von denen viele in den großen Städten Europas den Lauten- oder Geigenbau entweder begründet oder aber wesentlich befördert haben. So etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, stammten die Hoflauten- und Geigenmacher in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, die für die besondere Qualität ihrer Geigen berühmt ist, über zweihundert Jahre lang allesamt aus der kleinen Stadt Füssen oder so war fast das gesamte Handwerk des Baus von Saiteninstrumenten in Rom, der Stadt der Päpste, während der Barockzeit in der Hand von Füssener Meistern. Man zählte dort an die siebzig Namen, deren Herkunft in den Lechgau zurückverfolgt werden konnte. Von ihnen lebten und arbeiteten die meisten in der Via Leutari, der Lautenmacherstraße, und wurden nach ihrem Tod auf dem Campo Santo dei Tedeschi im Vatikan begraben. Das Handwerk des Instrumentenbaus blühte in Füssen selbst wohl an die 500 Jahre, spätestens aber seit Beginn des 15. Jahrhunderts, in dem es erstmals urkundlich nachzuweisen ist, bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dann ging es zugrunde. Und wurde letztlich fast gänzlich vergessen.
Es sollen nun hier in gebotener Kürze die Gründe für das Entstehen, die rasche Blüte und den allmählichen Niedergang dieses edelsten aller Kunsthandwerke dargelegt werden. Warum nur und auf welchen Wegen gelangte die Saat dorthin, auf einen Boden, in dem sie so wohl gedeihen konnte? Dies ist die Frage, die sich den meisten erhebt, die staunend auf den Gebieten der Musikwissenschaft und der Sozialgeschichte forschen. Um sie zu beantworten, muss ich ein paar Jahrhunderte zurücktreten und Umschau halten nach der Geschichte der Instrumente.
Dem Namen des ältesten der Füssener Saiteninstrumente, dem Namen der Laute entnehmen wir ihre orientalische Herkunft. Al’aud ist das arabische Wort für Holz. Und lautenähnliche Instrumente wurden seit unvordenklicher Zeit im Osten des Mittelmeers gefertigt und gespielt. Viele Abbildungen und Dichterverse belehren uns darüber. Sie waren auch im ferneren Osten nicht unbekannt. Diese Lauten kamen mit arabischen Eroberern oder Siedlern und durch Vermittlung der Kreuzfahrer einerseits über Spanien, andererseits über Italien nach Europa. Man weiß, dass der des Arabischen kundige Kaiser Friedrich II. (1194–1250) an seinem Hof in Palermo arabische Tänzerinnen in Diensten hatte. Ihre Tänze wurden von Lautenspielern begleitet. In einer Epoche, da Sizilien den staufischen Kaisern untertan war, kamen die Lauten von dort über die Alpen nach Norden. Man hätte meinen können, dass sie zuerst im italienischen Alpenvorland heimisch geworden wären. Aber dort zog der Kaiser nur vorüber, auf dem Boden seines Erblands machte er Rast. Auch wenn noch immer manche Stimme laut wird, die behauptet, die Stadt Füssen habe ihre Rechte erst um 1280 durch Rudolf von Habsburg erhalten, und dies aus keinem anderen Grund gesagt wird, als weil im Jahre 1288 einer ihrer Bewohner erstmals als „civis“, d. h. als Bürger, bezeichnet wurde, so scheint es, da alle Dokumente aus älteren Zeiten verloren sind, doch keinen vernünftigen Zweifel daran zu geben, dass sie ihre Farben Schwarz-Gold, die denen der staufischen Kaiser gleichen, und ihr Wappen, den kreisenden Dreifuß, das dem Wappen Siziliens entspricht, von Friedrich II. erhalten haben, der erstmals im Jahre 1208 und letztmals im Jahre 1237 deutschen Boden betreten hat. Wenn man dessen Hin- und Rückwege aus Italien über die Alpen betrachtet, so könnte er sehr wohl bei einer seiner beiden Reisen der traditionellen Heerstraße über den Brenner folgend und dann über den Fernpass oder aber über die Obere Straße über den Reschenpass und dann am Lech entlang auf der alten Via Claudia der Römer gezogen sein. Zwei seiner Routen sind bekannt, die erste über Konstanz, die zweite über Wien. Die beiden anderen sind nicht nachgewiesen und kommen für diese Vermutung in Frage. Gesichert ist jedenfalls, dass das Füssener Land altes staufisches Herrschaftsgebiet war und dass Friedrich von Ulm aus dem Füssener Kloster des heiligen Magnus alte Besitzrechte verbrieft und neue gewährt hat. Man wird also nicht weit von der Wahrheit liegen mit der Annahme, dass durch den staufischen Kaiser und die stets prunkvolle Begleitung seiner Heerzüge auch die arabischen Musikinstrumente nach Füssen gelangten. An einen Ort, der schon von den Römern besiedelt worden und seit alter Zeit durch seine Lage an der Lechpforte zu einem bedeutsamen Umschlagplatz italischer und deutscher Handelsgüter geworden war. In Füssen wurden die aus dem Süden kommenden Waren von den Maultieren, die die Alpen überquerten, auf Flöße umgeladen für ihren Weitertransport auf dem ab hier erstmals schiffbaren Lech.
Was den zweiten Weg der kulturellen Vermittlung zwischen Orient und Okzident anlangt, den man vielleicht in Betracht ziehen könnte, so brachte, wie wir wissen, die maurische Besiedelung die arabischen Saiteninstrumente auch auf die iberische Halbinsel. In Portugal ist der Name der Laute noch in seiner ursprünglich arabischen Form in Gebrauch. In Spanien lebt und blüht die Tradition vornehmlich durch das beliebte Gitarrenspiel. Eine Verbindung über Katalonien, die Provence und Frankreich zu den deutschen Landen ist jedoch nicht erkennbar geworden und wenig wahrscheinlich, auch wenn manche der Minnesänger durchaus Berührungen und einen regen Austausch von Sagenstoffen mit den Trouvères des nördlichen Frankreich hatten. Jedenfalls blieb die Kenntnis des Baus dieser Saiteninstrumente auf Spanien beschränkt und ist von dort nicht nach Füssen am Fuße der Alpen gelangt.
Die schriftlichen Nachrichten über die Geschichte der Stadt Füssen sind in den frühen Jahren sehr selten. Es ist nicht allein die Urkunde der Stadterhebung verloren gegangen. Diese muss man ungefähr auf die Zeit um 1235 ansetzen, als auch Innsbruck, das ebenfalls auf seinem traditionellen Weg über die Alpen lag, von Kaiser Friedrich II. die Stadtrechte verliehen bekam. Vieles aus den Füssener städtischen Archiven wurde bei den mehrfachen kriegsbedingten Plünderungen der Stadt verschleppt oder vernichtet. Die Benediktinermönche des Klosters hingegen retteten ihre Dokumente unter anderem nach Stams in Tirol, als die Gefahren sich nahten. Und so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn in den lückenhaft bewahrten Urkunden der Stadt auch über ihre Handwerker nur wenig überliefert ist. Die ersten schriftlichen Nachweise von der Existenz eines Lautenmachers entnehmen wir, noch ohne Nennung eines Namens, dem Urbar des Füssener Klosters für die Jahre 1436 bis 1439. Der erste namentlich bekannt gewordene Lautenmacher wurde darin für die Jahre 1461, 1463 und 1481 dokumentiert. Berchtold hat er geheißen. Er wird nicht der einzige in der Stadt gewesen sein, wohl aber der einzige, der dem Kloster verpflichtet war. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass eben das Kloster einen Zusammenhang mit Musik erweist, auch wenn die Laute wohl kaum in der Kirche, sondern eher bei der Tafel gespielt worden ist. Die mächtigen oder auch nur reichen Herren jedoch, die auf dem Weg über die Alpen in Füssen Station machten, nahmen meist in den Mauern des Klosters ihren Aufenthalt und brachten wohl den einen oder anderen Musiker zu ihrer Unterhaltung mit in ihrem Gefolge.
Es lohnt sich, hier noch einmal innezuhalten und einer zweiten Frage nachzugehen, die angesichts der erstaunlichen Entwicklung dieses Handwerks gerade in dieser Stadt oftmals gestellt wird. Warum Füssen, warum nicht Konstanz, Chur, St. Gallen, Bregenz, Kufstein, Salzburg, Linz, Wien oder eine andere der Städte am Nordrand der Alpen, über die die Wege aus Italien in die Länder des Reiches führten? Warum nistete sich zuerst in Füssen und später dann in Mittenwald das Handwerk ein und blühte so viele Jahre und Jahrhunderte lang fort?
Drei Gründe sind dafür anzugeben. Den ersten haben wir schon genannt: Es ist die alte, viel begangene Alpenstraße, die Via Claudia der Römer, die die Länder des Südens mit denen des Nordens, vor allen anderen aber die wichtigen Handelsstädte Verona und Augsburg verband, und zusammen mit ihr ist es der Lechfluss, auf dem die Waren, die Künste und die Ideen aus dem so fruchtbaren Süden nach Norden verbracht wurden. So etwa kamen aus Venedig, dem Hafen zum Orient, viele der Ingredienzien, die das Handwerk benötigte, wie Farben, Harze, Öle und Lacke, Ebenholz, Sandel und Elfenbein auf kurzem Wege über Innsbruck und Füssen ins Deutsche Reich.
Der zweite Grund bestand im Holzreichtum der Füssener Gegend, in welcher besonders die Eiben, die man für die Späne der Laute bevorzugte, einstmals sehr zahlreich waren. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden deren Bestände durch den Raubbau im Auftrag von englischen Heeresausrüstern bedroht, die das sehnige Holz für ihre Langbogen nutzten. Heute sind die Eiben im Ammerwald fast ganz ausgetilgt. Im 17. Jahrhundert gelangten die Klanghölzer für den Geigenbau zu immer größerer Bedeutung. Dies waren meist Fichte und Ahorn, seltener Tanne oder Buchsbaum und in einigen Fällen auch Obstbaumhölzer. Die besten Fichten wuchsen in windgeschützten Lagen am Nordhang der Alpen und bildeten bei den geringeren Temperaturschwankungen dichte und regelmäßige Maserungen aus. So kam es, dass selbst manche Geigenbauer vom Südrand der Alpen ihr Holz aus der nördlichen Nachbarschaft bezogen.
Der dritte Grund für die Vorrangstellung der Stadt Füssen auf dem Gebiet des Baus von Saiteninstrumenten liegt in der besonderen Vorliebe eines einzigen Mannes, eines leidenschaftlichen Jägers, für diese wald- und wildreiche Gegend. Es war einer der mächtigsten Männer seiner Epoche, der Füssen zu dem machte, was es danach lange Zeit bleiben sollte: zur Heimat der Lauten. Dieser Mann hieß Maximilian und trug den Beinamen „der letzte Ritter“. Maximilian I. von Habsburg (1459–1519), seit 1486 deutscher König, seit 1493 Erzherzog von Österreich und seit 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, hat Füssen offenbar mehr als alle anderen Städte geliebt, denn er hat, wie man in den vergangenen Jahrzehnten forschend ermittelt hat, wohl 38-mal in ihren Mauern residiert, zum ersten Mal im Jahre 1484. Seinen Wohnsitz bezog er einmal im Haus seines Freundes und Geldgebers, des Ritters Gossenbrod, der reiche Besitzungen in Augsburg wie in Südtirol und ebenso auch in Füssen hatte, wo sein Haus an der Lechhalde neben dem St.-Mang-Kloster stand. Ein anderes Mal nächtigte der hohe Gast im Kloster, in dem der geborene Füssener Benedikt Furtenbach, ein kunstsinniger Mann, über Jahrzehnte hin Abt war, und endlich residierte der Kaiser auf dem Hohen Schloss, einem der schönsten im ganzen Reich, das der Augsburger Bischof Friedrich von Hohenzollern, nicht zuletzt um dem Habsburger dienstbar zu sein, bis zum Jahre 1499 erweitern und erneuern ließ. Damit jedoch nicht genug: Maximilian ließ sich am nahen Schwaltenweiher auf dem Gebiet des heutigen Weilers Goldegg ein Jagdschloss erbauen, von dem heute nur mehr die Fundamente zu sehen sind. Die Bauern aus der Umgebung haben sich die Steine des bald schon in den folgenden Kriegen zerstörten und verfallenden Gebäudes für die Errichtung ihrer eigenen Mauern geholt. Das Jagen war einer der vornehmsten Gründe, weswegen Maximilian als Erzherzog und bald danach auch als Kaiser immer wieder an die Lechpforte kam. Er musste dafür sein Pferd nicht weitab vom Wege lenken, denn die Stadt liegt auf halber Strecke zwischen Augsburg und Innsbruck, den beiden Reichsstädten, die er oft mit seiner Gegenwart beehrte, um in der einen seinen Geldbeutel zu füllen und ihn in der anderen zu leeren.
Dass dieser habsburgische Kaiser nun aber großen Wert darauf legte, als ein zweiter David nicht allein durch das Schwert, sondern auch durch das Saitenspiel zu Ruhm zu gelangen, das ist in seiner Biographie, dem Weißkunic, in seinem eigenen Auftrag vermerkt worden. Der allen Künsten geneigte Maximilian führte auf seinen Reisen nicht selten den von ihm begründeten Chor der Sängerknaben mit im Gefolge, manches Mal auch die berühmten Musiker seines Hofes wie Paul Hofhaimer, Heinrich Isaak und Ignaz Senfl. Von Hofhaimer und den Sängerknaben ist ein Aufenthalt in Füssen dokumentiert, wo er an der Orgel der Klosterkirche gespielt haben soll. Oftmals wurde bei solchen Besuchen in Füssen musiziert und gesungen, wie die Bücher des Klosters berichten. Dass dabei ausgerechnet die Leiter der Kapelle, Isaak und Senfl, nicht gegenwärtig gewesen sein sollten, ist kaum vorzustellen. Und so ist es nicht zu verwundern, dass in eben den Jahren von Maximilians Regentschaft der Lautenbau in Füssen die größten Fortschritte machte. Denn es wird in der Begleitung des Kaisers an wohlmögenden und wohlhabenden Herren und Damen, der Fugger etwa oder der Welser, nicht gefehlt haben, die der Liebe des Kaisers zur Musik nacheiferten und auf solche Weise das Ansehen und das Einkommen der Füssener Lautenbauer mehrten, deren Instrumente sie in ihren Musikkammern häuften und schließlich in alle Teile des Reiches trugen. Und nicht nur dorthin, sondern auch nach Italien. Noch zu Maximilians Lebzeiten sind ihren Instrumenten folgend dann auch die ersten Füssener Meister selbst bis nach Venedig gelangt.
Rasch mehren sich nun in immer kürzeren Abständen die Namen der frühen Lautenmacher in Füssen. Sie alle sind vermerkt in meiner umfänglichen und durch viele Bilder ergänzten Publikation zu diesem Thema, und es würde den Rahmen dieses Essays weit überschreiten, mehr als nur die allerwichtigsten hier zu nennen. Ob Caspar Tieffenbrucker der bedeutendste unter ihnen war, ist heute nicht mehr zu entscheiden, jedenfalls aber ist er bis in unsere Tage der berühmteste geblieben. Dies verdankt er neben einigen kostbaren Lauten und Gamben auch einem Kupferstich, der ihn umgeben von einer großen Zahl von Instrumenten zeigt, unter denen sich einige mit deutlich erkennbaren Merkmalen der Violine befinden. Den Stich hat der Meister, der in jenen Jahren in Lyon seine Werkstatt hatte, von einem Künstler namens Woeriot im Jahre 1562 anfertigen lassen, um so für seine Instrumente zu werben.
Man hat später irrtümlich geglaubt, in Caspar Tieffenbrucker den „Erfinder der Geige“ erkennen zu müssen. Unsere Väter noch wurden in dieser Annahme unterrichtet. Heute weiß man, dass Tieffenbrucker, der in Frankreich auch Gaspard Duiffobrocard genannt wurde, 1514 in dem kleinen Weiler Tieffenbruck bei Füssen geboren wurde, mit großer Gewissheit in Füssen sein Handwerk erlernt hat, im Jahre 1544 nach Heirat mit einer Bürgerstochter (möglicherweise der Tochter eines Lautenmachermeisters, wie dies damals der Brauch war) die Füssener Bürgerrechte zuerkannt bekam und sich, nachdem er im Jahr darauf auch noch als Händler mit flämischen Tüchern tätig geworden war, recht bald danach auf Wanderschaft nach Italien begab. Mag sein, dass ihn die Verwüstungen der Kriegsparteien des Schmalkaldischen Krieges, die auch Füssen nicht verschonten, gemeinsam mit vielen anderen Handwerkern im Jahre 1546 aus dem Land getrieben haben. Sein erster Aufenthalt wird, da er sich in manchen seiner Instrumente als Bologneser bekannt hat, in Bologna vermutet. 1553 wird er in Lyon aktenkundig. Gestorben ist er dort im Dezember 1571 nach einem erfolgreichen Berufsleben und einer privaten Tragödie in großer Armut. Sein Haus war abgerissen worden, um einem Festungsbau Platz zu schaffen, eine Entschädigung wurde erst nach seinem Tod der Witwe gewährt. Von ihm und namensgleichen Verwandten werden einige der wertvollsten aller alten Instrumente in den großen Museen aufbewahrt – unter anderem viele unter den Schätzen der Sammlung alter Musikinstrumente in der Hofburg von Wien. Dort sind nun über achtzig Lauten und Geigen der Füssener Schule zu besichtigen, von denen die meisten nicht in Füssen selbst, sondern in Venedig, Padua, Rom, Lyon oder auch in Wien geschaffen wurden.
Neben Caspar und Wendelin Tieffenbrucker galten Laux Maler, Hans Frei, Jakob Langenwalder, Matthias Buchenberg (genannt Matteo Boccaber) und Hans Burgholtzer als die größten Meister des Lautenbaus, deren Instrumente in der ganzen musikalischen Welt gefragt waren. Es wurden von manchen jedoch nicht allein Lauten und Gamben, sondern auch Gitarren gefertigt, unter denen die in den venezianischen Werkstätten der Füssener Meister die kostbarsten sind. Hier ist vor allem die Familie Sellas zu nennen, deren Mitglieder – noch unter ihrem deutschen Namen Seelos – über Innsbruck nach Süden gewandert waren. Ihre Instrumente waren außer ihren klanglichen Vorzügen auch wegen ihrer reichen Verzierungen und Einlegearbeiten von Elfenbein und Ebenholz an den Fürstenhöfen des Nordens und in den Palästen der Adeligen von Venedig und Rom sehr begehrt.
Die Blüte des Lautenbaus, eines Sammelnamens auch für die Fertigung von Theorben, Chitarronen, Gitarren, Cistern, Lyren, Gamben und anderen Streich- oder Zupfinstrumenten, währte in Füssen über das ganze 16. Jahrhundert bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648). Im Jahre 1563 wurde in Füssen die erste Zunftordnung der Lautenmacher niedergeschrieben, die vorbildlich wurde für alle anderen europäischen Zentren des Instrumentenbaus. 1606 wurde sie noch einmal erneuert. Um das Jahr 1618 arbeiteten in der Stadt Füssen allein vierzig Lautenmacher nebeneinander. Lehrlinge, die noch nicht in die Zunft aufgenommen waren, oder Meister, die in den Dörfern oder auf den Höfen in der Umgebung lebten, nicht mitgezählt. Am Ende des Krieges aber zählte man nur mehr sechs ihres Handwerks. Fünf weitere kamen in den folgenden Jahren von ihren Fluchtorten wieder zurück. Während der dreißig furchtbaren Jahre sind insgesamt 135 Lautenmacher aus dem Füssener Land namentlich bekannt geworden. Von diesen waren 93 bald auch in anderen Städten, vornehmlich in Italien, nachzuweisen. Zwanzig wurden in Füssen selbst als verschollen gemeldet. Die Stadt war nach 1648 nicht mehr die gleiche. Von ihren 2300 Einwohnern waren nur mehr 800 am Leben. Franzosen, Schweden, Österreicher hatten nicht nur Burg und Kloster, sondern auch Häuser und Werkstätten geplündert. Und die berühmten Musikinstrumente waren von Marodierern entweder achtlos zerschlagen oder von Kennern mit aller Sorgfalt beschlagnahmt worden. Und da will es wie ein kleines Wunder erscheinen, dass 1643, mitten in dieser Zeit der Verwüstungen, in der Werkstätte des Füsseners Raffael Möst auf dem Lautenmacherhof die erste Viola d’amore entstand, die uns bis heute bekannt geworden und erhalten ist. Sie wird im Wiener Museum als besondere Kostbarkeit aufbewahrt. Langsam nur erholte sich in den folgenden Jahrzehnten das Handwerk in Füssen.
Auf dem Gebiet der Instrumentalmusik hatte sich unterdessen in ganz Europa manches verändert. In der Epoche des Barock war dem Orchesterspiel durch die neubegründete Kunst der Oper größere Bedeutung erwachsen. Und dort wie auch in den Konzertsälen hatte die Violine begonnen sich gegen die Instrumente der Violenfamilie, Gamben, Baritone und viole da braccio, durchzusetzen. Und so wurden in Füssen mehr und mehr Geigen und Celli gebaut und immer weniger Gamben oder Lauten und Gitarren. Einzig der sogenannte Kontrabass war als eine Abwandlung der alten Violonenform der gleiche geblieben. Und trotz allen durchlittenen Unheils war der Stadt eine neue Blüte nun auch des erneuerten Handwerks beschieden. Füssen wurde zum ersten Mittelpunkt des deutschen Geigenbaus. Viele Füssener Meister und Gesellen hatten sich auf der Flucht vor dem Krieg über die Alpen nach Italien gerettet. Dort waren einige von ihnen an der Entwicklung des neuen Instruments beteiligt, dessen nach vielen Versuchen erste vollkommen gelungene Beispiele wohl schon um 1530 in einer Werkstätte Oberitaliens, in Cremona, Brescia oder Bologna, entstanden sein dürften. In all diesen Städten waren auch Füssener Meister tätig, und so ist die anonym überlieferte Vermutung nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Form der f-Löcher in den neuen Geigen ursprünglich eine Erinnerung an die Heimat ausgewanderter Geigenbauer darstellen sollte. Denn bisher hatte es nur Schalllöcher in c- oder s-Form gegeben.
Es würde nun zu weit führen, die Wege der vielen Geigenmacher des Füssener Landes durch halb Europa zu verfolgen. Hingewiesen sei jedoch darauf, dass sie es waren, die wohl nicht, wie einst die Lautenmacher, in Italien, doch aber nun in Deutschland, Frankreich, England, Österreich, Böhmen und Ungarn die ersten Werkstätten des Geigenbaus gründeten und ihr Handwerk heimisch machten. Lyon, Paris, London, Amsterdam, Den Haag, Lübeck, Mainz, München, Augsburg, Nürnberg, St. Petersburg, Prag, Budapest, Innsbruck und Wien verdankten die Entwicklung des Baus von Saiteninstrumenten vor allen anderen den Füssener Kunsthandwerkern. Wenn man die Namen der ältesten und höchstgeschätzten dortigen Meister nennen hört, so kann man ihre Herkunft fast ausnahmslos in die kleine Stadt am Lech oder ihre Umgebung verfolgen. Und seltsamerweise nicht ins nördliche Italien. So etwa kam einer der höchstgeschätzten deutschen Meister, der Münchner Hofgeigenmacher Paul Alletsee, aus dem kleinen Dorf Schwangau, das Füssen gegenüber nahe am Lech liegt. Der sogenannte „Wiener Stradivari“ Franz Geissenhof wurde in Füssen in einem schönen gotischen Haus am Brotmarkt gegenüber dem Kloster geboren. Der Römer David Tecchler stammte ebenso aus Füssen wie der Neapolitaner Giorgio Bairhoff, der in der Hutergasse zur Welt kam. Und ein Bernhard Fendt aus der Füssener Reichenstraße beförderte um 1800 entscheidend die Geigenbauschule in London, die sein Landsmann Jacob Rayman um die Zeit des Dreißigjährigen Krieges schon gegründet hatte.
Warum die große Tradition dann aber doch ermattete und endlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz zum Erliegen kam, das hat mehr als nur einen Grund. Der Ruhm der italienischen Violinen überstrahlte bald alle Konkurrenz in den nördlichen Ländern. Das alte barocke Füssener Modell der Geige war der Klangfülle etwa des flacheren Stradivari-Modells nicht mehr vergleichbar. Die großen neuen Konzertsäle erforderten kräftigere, nicht mehr mit Darm-, sondern mit Drahtsaiten bespannte Instrumente. Lauten und Gamben fanden immer weniger Anklang bei den Musikern und in den Orchestern. Die Manufakturen, die im 18. Jahrhundert in den Vogesen, in Nordböhmen, im Vogtland, im südlichen Sachsen und teilweise auch in Mittenwald entstanden waren, konnten nun billigere Ware liefern, gegenüber der die Füssener Handarbeit nicht mehr konkurrenzfähig war. Bis zuletzt hatten sich die Füssener Meister dagegen gewehrt, auch nur Teile ihrer Instrumente zur Fertigung aus der eigenen Hand zu geben. Zudem war die Stadt selbst immer mehr abseits von den großen Verkehrswegen geraten. Niemand mehr verschiffte seine Waren auf Flößen über Lech und Donau. Auch wurde die Straße am Lech entlang aufwärts und über den Reschenpass immer seltener befahren. Man fuhr durch das Inntal oder das Isartal südwärts nach Innsbruck und von dort über den Brenner nach Verona und weiterhin nach Venedig und Rom. Nicht nur die Fuhrwerke und Postkutschen, auch die Eisenbahn fand andere Wege. Und da all dies zusammenkam, so wanderten die letzten Meister und Gesellen den Märkten nach in reichere Städte, und die daheim gebliebenen verloren den Mut und die Kundschaft. Der letzte Füssener Meister, Josef Alois Stoß, war ein armer Verwandter des Wiener Hofgeigenmachers Martin Stoß, dessen Celli weit und breit gerühmt wurden. Er wohnte und arbeitete noch bis 1866 in der Hinteren Gasse. Seine Instrumente gehören nicht mehr zu den besten ihrer Gattung. Mag sein, dass ihn angesichts der hoffnungsarmen Lage seines Gewerbes die Lust an der Arbeit schon verlassen hatte, ehe er sein Werkzeug aus der Hand legte. Mit ihm starb der Geigenbau in Füssen, so wie er zuvor schon in den umliegenden Gemeinden, in Schwangau, Trauchgau, Bayerniederhofen auf der rechten Seite des Lech, in Lechbruck, Tiefenbruck, Roßhaupten, Rieden, Pfronten und Eschach links des Lech und auch im tirolischen Vils gestorben war. Es begann das Vergessen. Das nachbarliche Hohenschwangau war zur Residenz der bayerischen Könige geworden. Der Zustrom neuer Gäste, unter ihnen berühmte Wissenschaftler, Architekten, Maler, Dichter und Musiker, die die Nähe des Hofes suchten, bewirkte, dass man sich anderen Zielen zuwandte in der Stadt und ringsum im Land.
Und so kam es, dass, wenn man vor einigen Jahrzehnten von deutschen Geigen sprach, man zuerst an Mittenwald an der Isar dachte. Dort hat sich das Handwerk bis auf den heutigen Tag erhalten. Das größte Verdienst daran hat die Gründung einer Geigenbauschule, die eben zur rechten Zeit den altrenommierten Namen zur Erweckung neuer Impulse genutzt hatte. Dort dachte kaum einer mehr daran, dass auch der Gründer der Mittenwalder Schule, Matthias Klotz, bei einem Füssener Meister, Johannes Railich mit Namen, geboren im Dorfe Bayerniederhofen, in die Lehre gegangen war. In Padua war dies geschehen, in Padua an der Brenta während der Jahre 1672 bis 1678. Ein wieder aufgefundener Lehrbrief hat es bewiesen. Die geschwisterlichen Alpenstädte, so nahe beieinander gelegen, mussten zueinander kommen über Vermittlung Italiens. Denn Bayern und Italien fanden wie in vielem anderen auch in diesem edelsten aller Handwerke immer wieder zusammen, zwei Länder, die einander, gebend und nehmend, so vieles verdanken.
Seit die Geschichte des Lauten- und Geigenbaus wieder entdeckt und in großer Ausführlichkeit dokumentiert wurde, hat sich in Füssen das eine oder andere ereignet, das sich ausnehmen kann wie eine Neubesinnung auf die unvergleichliche Leistung der Vorfahren. Ein bronzenes Denkmal für den berühmten Caspar Tieffenbrucker wurde auf dem Brotmarkt errichtet. In repräsentativen Räumen des Klosters wurden Instrumente, Dokumente und Gegenstände zusammengetragen, die die wenigen verbliebenen Erinnerungen wieder beleben und weiter am Leben erhalten. Es haben sich sogar, aus der Schweiz und aus Mittenwald kommend, drei junge Geigenbauer wieder in der Stadt niedergelassen, auf dem Schrannenplatz, in der Brunnengasse und auf dem Brotmarkt. Sie haben das Handwerk wieder belebt. Ihre in alter Tradition von einer Hand gefertigten Instrumente können sich im internationalen Vergleich durchaus sehen und hören lassen. Aller erdenkliche Erfolg ist ihnen zu wünschen. Geborene Füssener selbst haben dazu noch den Mut nicht gefunden. Aber die neu geschaffenen Werke, zu denen auch Nachbauten von alten Lauten- und Gitarrenmodellen gehören, wecken lang entschlafene Hoffnungen. Mit Stolz und Mut setzen sie sich zur Wehr gegen eine Industrie, die heute die Saiteninstrumente nicht mehr nur in Manufakturen, sondern gar in Fabriken für den in allen Erdteilen erwachsenen Massenbedarf produziert.
Unerfüllt bleiben neben manchem Erreichten dennoch einige Wünsche, die ich mehrfach vergebens beim Magistrat der Stadt angemeldet habe. Der Hof neben der Franziskanergasse sollte durch Beschluss des Stadtrats wieder als „Lautenmacherhof“ benannt werden. An ihm hatten einige der bekanntesten Lautenmacher ihre Werkstätten: Burgholtzer, Hellmer, Greiff, Hollmayr, Kolb und Möst. Man darf eine größere Anzahl von Nachkommen, Schwiegersöhnen, Gesellen und Lehrlingen zu ihnen zählen, die unter ihrer Aufsicht gearbeitet haben. Nur von den wenigsten Meistern der Zunft ist eine genaue Adresse zu ermitteln gewesen. Insgesamt gelang es mir, mit Hilfe des seither verstorbenen Heimatforschers Dr. Georg Guggemoos, nur sechsundsechzig von vielen hundert Wohn- bzw. Arbeitsstätten auszuforschen. Die verteilten sich über die gesamte Stadt. Keine Straße ist dabei ausgenommen. Der Hof bei der Franziskanergasse wurde jedoch, wie mir Dr. Guggemoos versicherte, in alten Dokumenten mehrfach als „Lautenmacherhof“ bezeichnet und war gewiss das historische Zentrum des Handwerks. In jedem der sechs Häuser, die den Platz umgeben, wurden einst Instrumente gefertigt. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die Tieffenbrucker dort ihre Füssener Werkstätte gefunden haben. Dass man dort wie auch an anderen ehemaligen Wohnhäusern bekannter Meister keine Tafeln zu ihrem Gedächtnis hat anbringen oder eine Straße in den neuen Siedlungsgebieten nach einem von ihnen hat benennen wollen, ist sehr zu verwundern. Gewiss auch könnte die Pflege der Musik, insbesondere des Lauten- und Geigenspiels, entschiedener gefördert oder gar die Begründung einer Festspielwoche alter Musik in Betracht gezogen werden. Es bliebe noch vieles zu tun in der schönen Stadt Füssen, um dem großen Erbe gerecht zu werden, das einst bedeutsam genug war, um ihrem Namen in der weiten Welt der Musik einen guten Klang zu verschaffen.
VOM VERGESSEN UND WIEDERFINDEN DES MITTELALTERS
Von den Epochen der abendländischen Geschichte hat mich keine von jeher so sehr in ihren Bann gezogen wie das Mittelalter. Dabei hat die kritiklos schwärmende Begeisterung der Romantiker für dieses Zeitalter und später dann die maßlos phantastische Aufbereitung alter Sagenstoffe durch die Filmindustrie mich von einem unvoreingenommenen Zugang lange abgedrängt. Für mich war das Mittelalter die Epoche des alles überwältigenden und überwölbenden Glaubens, der Kathedralen, der renovatio imperii, der Gründung und Verteidigung der sich selbst verwaltenden Städte, der Gestaltwerdung der europäischen Sprachen und des Wiedererwachens einer allgemeineren philosophischen Selbstbesinnung. Nur nebenbei war es mir auch die Zeit der Undinen und Fischpredigten, das Zeitalter der Kaiser, Könige, Päpste, Inquisitoren, Gralsritter, Bußprediger, Tempelherren, Wegelagerer und Hexen. Auch fand ich mich immer mehr unbefriedigt von Operninszenierungen des Tannhäuser, der Rusalka oder des Troubadour, von Schuberts Fierabras ganz zu schweigen. Und ich konnte nicht übersehen, dass es trotz aller romantischen Schwärmerei das alles umwälzende und verschlingende 19. Jahrhundert war, das die Mauern und Tore niedergerissen, die Gassen gewaltsam zu Straßen und Boulevards erweitert und an die Stelle der ehrwürdiger Fassaden nach ihrem eigenen Geschmack geformte gesetzt hatte, die doch wiederum nur eine Plünderung alter Formen und Übersteigerungen zu einem bombastischen neuromanischen oder neugotischen Stil zeitigen konnten. Mir war das Bild, das sich das bürgerliche Zeitalter vom Mittelalter gemacht hatte, nie recht geheuer, nicht in der Literatur, nicht in der Musik und erst recht nicht in der Architektur. Und wenig staunte ich darüber, dass die gründerzeitlichen Bauwerke, die sich des Formenkanons der Renaissance bedienten, eine weitaus größere Klarheit und Ausgewogenheit zeigten als die, welche sich nach älteren Vorbildern auszurichten suchten. Es ist, als hätten sie mit der Rückbesinnung auf die klassischen Vorbilder trotz mancher Übertreibungen versucht, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Mit seinen neuen Stadtpalästen, Hotels, Konzertsälen und Theatern feierte das bürgerliche Jahrhundert sich selbst. Alles blickte neuen Zeiten entgegen und ahnte nicht, was kommen würde.
Wenn ich aber, nach lang anhaltendem Schrecken über das, was danach gekommen ist, zurückblickte oder -lauschte, erschien mir das Mittelalter als das Zeitalter der romanischen und gotischen Kathedralen, der ersten mehrstimmigen Gesänge, der zierlichen, elegant gekleideten Gestalten aus den Illustrationen der Manesseschen Liederhandschrift, der farbglühenden Bilder der Glasmaler und der ernsten oder grotesken Sandsteinskulpturen. Ich suchte nach überlieferten Bildern oder baulichen Überresten der ehmals wehrhaften Städte, nach verlassenen Werkstätten der Instrumentenbauer und nach leer stehenden Scriptorien der Mönche, in denen das Wissen des Altertums kalligraphisch kopiert und für uns aufbewahrt worden war. Ich suchte vor allem nach den ersten Zeugnissen der Dichtung in deutscher Sprache, die sich nach und nach aus der Bevormundung durch die lateinische Bildungs-, Rechts- und Kirchensprache gelöst hatte. Ich suchte nach den Wurzeln unserer Märchen und den Niederschriften unserer Sagen. Ich suchte nach Tonzeugnissen und alten Notenschriften aus der Zeit, in der unsere heute so weltumspannend sieghaft klingende abendländische Musik entstanden war. Und ich fand nirgendwo größere innere Ruhe und Einkehr bei mir selbst als in einem schlichten romanischen Kirchenraum, der mich allem Lärm und Getriebe unserer Straßen und Schienen entrückte.
Die alten mauer- und turmbewehrten Städte waren mir immer als die größten je erschaffenen Gesamtkunstwerke unserer abendländischen Kultur erschienen. Meist eng an Flüsse geschmiegt oder von Bächen durchzogen und von bunten Obstgärten, Olivenhainen und Weinbergen umgeben, schöpften sie Leben aus der Natur. Die spitzgiebeligen, engen Häuser drängten sich um die himmelweisende Kathedrale, die Mauern, obwohl zur Abwehr von äußeren Feinden errichtet, umgrenzten ein in sich geschlossenes und vielfach geordnetes Ganzes und hoben es aus der Landschaft. In diesen Mauern war nicht nur der neue Stand der Bürgertums zu selbstbewusster Wirkung erwacht, in ihnen waren Kirchen, Klöster, Stadtpalais, Kornspeicher, Rats- und Gerichtsgebäude, Armenspitäler, Herbergen und vor allen anderen die Bürgerhäuser der Kaufleute errichtet worden. In deren Kontoren war der Handel mit allen beweglichen Gütern begründet und auf Land- und Seewegen wie ein Netz über die bekannte Welt ausgebreitet worden. Auch wenn das Gewinnstreben ein nicht zu unterschätzender Antrieb für die weitgespannten Unternehmungen bis ins fernste Asien gewesen sein mag, so sind doch die wissbegierige Welterforschung und die Darstellung selbstbestimmter Macht und Stärke durch die versammelten Künste nicht geringer zu werten. Der Gewinn war auf allen Seiten nicht allein materieller Art. Auf solche ihres eignen Werts bewusste Weise grüßte die eine Stadt die andere über Länder und Meere hinweg. Der italienische Städtebund und die nordische Hanse gaben Zeugnis von gegenseitiger Achtung und wechselseitiger Hilfe lange vor dem Erwachen nationaler Selbstüberhebung.
In unseren Tagen aber schien mit der Zerstörung der Städte durch die Bombenwerfer zuerst und dann durch die nicht minder barbarischen Neugestalter auch das Ende unserer abendländischen Kultur angebrochen. Wer heute in die Schweiz oder in die oberitalienischen Städte fährt, die von den Kriegen nicht oder nur wenig berührt wurden, ahnt, was wir verloren haben. Von all dem großen architektonischen Erbe, das unsere Städte so unvergleichlich geprägt hatte, war vieles durch die furchtbaren Gewalttaten des 20. Jahrhunderts in Trümmer gelegt worden. Traumatisch verstört wollte man sich das Alte, Russgeschwärzte und Bombenzerschlagene aus den Augen schaffen, suchte das Geschehene bald zu vergessen. Und so überließ man allzu vieles der beweglichen Güter, das man vielleicht noch hätte restaurieren und bewahren können, den Händen der Sieger, die es ostwärts oder westwärts, über die Landesgrenzen oder übers Meer in ihre Museen verschleppten: Altäre, Kirchenstühle, Möbel, Glasfenster, Skulpturen, Gemälde, Pergamentrollen und Codices. Was nicht zur rechten Zeit versteckt worden war, wurde von fremden Augen begutachtet und beschlagnahmt. Die Inkunabeln und Partituren der Bibliotheken wurden durch die Fenster auf Lastwagen geworfen. Aus unseren Kirchen und Schlössern wurden Betstühle, Kandelaber und Gemälde geraubt, so wie einst die Tempel und Paläste antiker Kulturen durch unsere Vorfahren geplündert worden waren. Ein allzu rascher Wiederaufbau tat das Übrige. Zerschossene Mauern und Türme wurden niedergerissen, Schneisen wurden durch die Ruinen gelegt. Die ebenso besinnungslose wie gewissenlose Gier nach Neuem, das das schmerzhaft Erinnerte sollte vergessen lassen, zerstörte mehr, als den Siegern gelungen war zu zerstören. Und lange Jahre dauerte es, bis man sich die Asche mit dem Schweiß von der Stirn wischte und sich besann, wie tief man sich von den Gewalthabern hatte demütigen lassen.
Nach und nach erst wurde manches wieder gesucht und aufgefunden. Nach und nach dachte man zurück an die Zeiten vor dem großen Weltuntergang. In Deutschlands Nachbarstaaten, deren Männer früher nach Hause gekehrt waren, begann man manches wieder zusammenzufügen, was zerbrochen lag, begann man wiederaufzubauen, was als Ruinen drohend und mahnend zugleich überdauert hatte. Der Russ der großen Feuer wurde abgewaschen. Fassaden wurden gereinigt und Dächer erneuert. Endlich auch kehrten die Gefangenen aus den sibirischen Lagern nach Hause. Und da man einander wieder in die Augen sah, begann man erst recht zu begreifen, was man getan hatte und was einem angetan worden war.
Seither ist viel geschehen. Das erste Entsetzen über die eigenen Taten ist verflogen, Reue hat sich eingestellt. Wiedergutmachungsversuche sind zögernd, aber endlich doch unternommen worden. Und nicht allein in unseren mitteleuropäischen Ländern, die am meisten gelitten hatten, hat man sich einer großen Vergangenheit entsonnen. Manch verloren Geglaubtes ist wieder aufgefunden, manch einst nur wenig Beachtetes ist neu geprüft worden. Alte Musiknoten wurden, soweit sie in den kalten Jahren nicht zum Heizen verwendet worden waren, neu entdeckt und, nachdem sie über Jahrhunderte hin kaum beachtet worden waren, auf alten Instrumenten in alten Sälen erstmals wieder zum Klingen gebracht. Einst verborgene Buchillustrationen oder in großer Höhe außer Sichtweite entrückte Glasfenster wurden nach ihrer Restauration durch die neue Kunst der Fotografie den Augen unserer Zeit erstmals sichtbar gemacht. Dokumente wurden mit Hilfe neuer Technik brandsicher gespeichert. Auf solche und andere Weise wurde vieles vielen erstmals vor Augen und Ohren geführt oder wurde, wenn es vor Zerstörung nicht hatte gerettet werden können, so doch vor Vergessenheit bewahrt. Man hatte gelernt, sich selbst und seinesgleichen zu misstrauen.
Und so beginnen wir in diesen Jahrzehnten endlich auch die Vergangenheit wiederzufinden, von der die Generationen unserer Väter und Großväter noch als vom finsteren Mittelalter gesprochen hatten. Es war dies eine der törichtsten Aussagen einer selbstgefälligen idealistischen Geschichtsbetrachtung, die sich selbst als vorläufigen Endpunkt einer zielbewussten Entwicklung sehen wollte, deren Vollendung in der Zukunft zu erwarten sei. Wir Ernüchterten aber erkennen allmählich, dass eine solche Aburteilung nur einem Geist entspringen konnte, dem die Sicht verstellt worden war durch die unleugbaren Errungenschaften, die ihm die Aufklärung zugebracht hatte. Aus einem Geist, der nicht oder nicht mehr erkennen wollte, dass es vor den neuen Erkenntnissen auch Werte gegeben hatte, die von Schulweisheiten nicht zu begründen waren, war neu gelehrt und apodiktisch geurteilt worden. Diese Haltung hat man bald Dummheit des Bescheidwissens genannt. Denn nach und nach erkennen wir heute, dass aus dem Geist des Mittelalters Werke geschaffen wurden, die dem Menschengeschlecht mehr Ehre und Würde verliehen haben als das meiste, was uns die letzten beiden Jahrhunderte beschert haben. Vieles davon hat die Zeit verschlungen, oder besser gesagt: vieles ist von uns in Verblendung selbst zerstört, verbrannt oder niedergerissen worden. Manches haben wir zu seiner Zeit nicht begriffen und auch später nur gering geachtet. Unter sorgsam forschenden Händen aber kommen noch immer Jahr für Jahr unter dem Schutt des Vergessens Dinge zu Tage, die uns staunen lassen über den Gang des menschlichen Geistes durch die Geschichte.