In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Mexiko-Stadt der Mittelpunkt der Neuen Welt und Mauro Larrea einer ihrer wohlhabendsten Bewohner. Er nennt einen Barockpalast sein Zuhause, besitzt Minen, Ländereien, Kutschen, Pferde, Logen überall … Jahre zuvor kam er mit nichts ins Land, als Witwer, als Vater zweier Kinder. Sein kühner Aufstieg begann. Doch jetzt soll nach zwanzig Jahren Arbeit im Bauch der Erde alles verloren sein, wegen einer einzigen Entscheidung! Hals über Kopf verlässt er die Stadt, versucht sein Lebensglück ein zweites Mal zu machen und begegnet Soledad Montalvo, einer schönen, einer klugen, einer unberechenbaren Frau.
»María Dueñas ist die Expertin, wenn es darum geht, den Leser von der ersten Zeile an gefangen zu nehmen.« La Verdad
MARÍA DUEÑAS, geboren 1964, lehrte in Murcia Englische Literatur, bis ihr Debütroman 2009 alle Rekorde brach. Mittlerweile ist ihr Werk in 35 Sprachen übersetzt, mehrfach ausgezeichnet und in eine Fernsehserie verwandelt. ›Wenn ich jetzt nicht gehe‹ ist ihr dritter Roman und war 2015 das meistverkaufte Buch Spaniens.
Petra Zickmann lebt als Übersetzerin (u. a. Jaume Cabré, Carme Riera, Manuel Vázquez Montalbán) in Frankfurt am Main.
María Dueñas
Wenn ich jetzt nicht gehe
Roman
Aus dem Spanischen von
Petra Zickmann
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017.
© Misorum S.L., 2015.
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Umschlagabbildung: Merche Gaspar, Barcelona
Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
eISBN 978-3-458-75183-0
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Für meinen Vater Pablo Dueñas Samper,
der sich mit Minen und Weinen auskennt
Welche Gedanken und Gefühle bewegen einen erfolgverwöhnten Mann, wenn er eines Nachmittags im September seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet sieht?
Keine heftige Geste, kein ungehaltenes Wort. Nur ein flüchtiger, kaum wahrnehmbarer Schauder, der ihm über den Rücken lief, hinauf bis zu den Schläfen und hinunter bis zu den Zehennägeln. Nichts schien sich jedoch an seiner Haltung zu verändern, als er bestätigt fand, was er bereits geahnt hatte. Unerschütterlich, so wirkte er. Eine Hand auf das harte Nussbaumholz des Schreibtisches gestützt, den Blick fest auf die Überbringerinnen der Nachricht gerichtet, ihre vor Müdigkeit hohlwangigen Gesichter, ihre Trauerkleider.
»Trinken Sie Ihre Schokolade aus, meine Damen. Ich bedaure Ihre Unannehmlichkeiten und bin Ihnen dankbar, dass Sie so gütig gewesen sind, herzukommen und mich persönlich zu informieren.«
Wie auf Kommando gehorchten die Amerikanerinnen, sobald der Dolmetscher ihnen Wort für Wort übersetzt hatte. Dieser war ihnen von ihrer Botschaft zur Verfügung gestellt worden, eine Brücke, über die sich die beiden erschöpften, niedergeschlagenen Frauen verständlich machen und somit den Zweck ihrer Reise erfüllen konnten.
Lustlos hoben sie die Tassen zum Mund. Sicher aus reiner Höflichkeit. Um ihn nicht zu verärgern. Die Biskuits der Nonnen von San Bernardo rührten sie dagegen nicht an, und er bestand nicht darauf. Während die Frauen mit kaum verhohlenem Unbehagen die dicke Flüssigkeit schlürften, kroch eine Stille, die keine wirkliche Stille war, ins Zimmer wie ein Reptil, schob sich über den gefirnissten Dielenboden und die stoffbespannten Wände, glitt über die europäischen Importmöbel und schlängelte sich zwischen die Ölgemälde, Landschaften und Stillleben.
Der Dolmetscher, ein kaum zwanzigjähriger Milchbart, stand verwirrt herum, hielt die schwitzenden Hände in Leibhöhe gefaltet und fragte sich insgeheim, was zum Teufel tue ich hier. Indessen schwirrte die Luft von tausend Tönen. Aus dem Innenhof drangen die Geräusche der Dienstboten herauf, die die Bodenplatten mit Lorbeerwasser besprengten. Von der Straße, durch die schmiedeeisernen Gitter, kam das Hufklappern der Maultiere und Pferde, das klagende Flehen der Bettler um Almosen und das Geschrei des Verkäufers an der Ecke, der lautstark seine Waren anpries: süße Teigtaschen, Maisfladen mit Milchkonfitüre, Guavenpaste, Maisplätzchen.
Die Frauen tupften sich mit den frisch gebügelten holländischen Servietten die Lippen ab, es schlug halb sechs. Und dann wussten sie nicht, was sie noch tun sollten.
Der Hausherr löste die Spannung.
»Darf ich Sie bitten, meine Gäste zu sein, und Ihnen ein Nachtlager anbieten, ehe Sie Ihre Heimreise antreten.«
»Vielen Dank, Señor Larrea«, erwiderten sie fast wie aus einem Mund. »Aber wir haben bereits ein Zimmer in einem Gasthof reserviert, der uns von der Botschaft empfohlen wurde.«
»Santos!«
Obwohl der herrische Ton nicht ihnen galt, zuckten sie zusammen.
»Laureano soll die Damen zu ihrem Gepäck begleiten und sie ins Hotel Iturbide bringen, die Kosten gehen auf meine Rechnung. Und dann machst du dich auf die Suche nach Andrade, zerrst ihn von seiner Domino-Partie weg und sagst ihm, er soll umgehend herkommen.«
Der bronzehäutige Diener beantwortete die Anweisung seines Herrn mit einem schlichten »Zu Befehl, patrón«. Als hätte er nicht hinter der Tür gestanden, das Ohr fest ans Holz gedrückt und zugehört, wie das Leben des bis dahin vermögenden Silberminenbetreibers Mauro Larrea in Scherben fiel.
Die Frauen erhoben sich aus den Sesseln, und ihre Röcke bauschten sich knisternd wie Rabenflügel. Sie folgten dem Diener aus dem Zimmer hinaus und auf die kühle Galerie. Die, die gesagt hatte, sie sei die Schwester, ging vorweg. Die, die sich als die Witwe vorgestellt hatte, hinterher. Ihre mitgebrachten Schriftstücke ließen sie zurück als Bestätigung einer Vorahnung, schwarz auf weiß. Als Letzter wollte der Dolmetscher den Raum verlassen, doch der Hausherr vertrat ihm den Weg.
Er legte eine raue, immer noch starke Hand auf die Brust des Amerikaners. Die entschiedene Geste eines Mannes, der Gehorsam gewohnt war.
»Moment, eine Sache noch.«
Dem Dolmetscher blieb nichts anderes übrig, als Folge zu leisten.
»Samuelson ist Ihr Name, nicht wahr?«
»Ganz recht.«
»Hören Sie zu, Samuelson«, sagte Mauro und senkte die Stimme. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass dieses Gespräch absolut vertraulich war. Ein einziges Wort darüber, und ich sorge dafür, dass Sie nächste Woche abgeschoben und in Ihrer Heimat zum Wehrdienst einberufen werden. Woher kommen Sie, mein Freund?«
»Aus Hartford, Connecticut, Señor Larrea.«
»Umso besser. Dann könnten Sie dazu beitragen, dass die Yankees endlich den Krieg gewinnen.«
Als er schätzte, dass die Schwägerinnen die Tür erreicht haben müssten, schob er mit zwei Fingern den Vorhang vor einem der Balkone zur Seite und sah zu, wie sie aus dem Haus traten und seine Berline bestiegen. Der Kutscher Laureano trieb die Stuten an, diese setzten sich zügig in Bewegung und bahnten sich ihren Weg zwischen ehrenwerten Bürgern, zerlumpten, barfüßigen Kindern und Dutzenden von in bunte Sarapes gehüllten Indios, die wild durcheinanderschreiend Talg, Teppiche aus Puebla, Dörrfleisch, Avocados, Sorbets und Jesusfiguren aus Wachs feilboten. Sobald die Kutsche in die Calle de las Damas eingebogen war, wandte er sich vom Balkon ab. Er ging davon aus, dass Elías Andrade, sein Prokurist, frühestens in einer halben Stunde da sein konnte. Und er wusste genau, was er in der Zwischenzeit tun würde.
Allen fremden Blicken entzogen, hastete Mauro Larrea durch die Räume, wobei er wütend das Jackett auszog, die breite Halsbinde herunterriss, die Manschettenknöpfe löste und die Ärmel seines Chambrayhemdes bis über die Ellbogen aufkrempelte. Als er sein Ziel erreicht hatte, mit bloßen Unterarmen und offenem Kragen, holte er tief Luft und drehte den rouletteförmigen Ständer, in dem senkrecht seine Queues steckten.
Heilige Mutter Gottes, murmelte er.
Nichts hätte vermuten lassen, dass er den Queue wählen würde, nach dem er letztlich griff. Er besaß andere, neuere, elegantere und wertvollere, angesammelt im Lauf der Jahre wie handfeste Beweise seines unaufhaltsamen Aufstiegs. Doch an diesem Nachmittag, der sein Leben mittendurch gebrochen hatte und nun allmählich verglomm, während die Bediensteten in allen Ecken seines großen Hauses Lampen und Kerzen anzündeten, in den Straßen noch lebhaftes Treiben herrschte und sich das Land, verblendet und unregierbar, weiterhin hartnäckig in endlosen Scharmützeln aufrieb, erwies er sich als unberechenbar. Mit dem alten, derben Queue, einem Relikt aus seiner Vergangenheit, ging er am Billardtisch in Position für einen Kampf gegen seine eigenen Dämonen.
Minutenlang führte er Stoß um Stoß mit rigoroser Präzision. Einen nach dem anderen, nur begleitet vom Geräusch der Kugeln beim Schlag gegen eine Bande oder dem trockenen Knall von aufeinandertreffendem Elfenbein. Wachsam, kalkulierend, entschieden, wie immer. Oder fast immer. Bis von der Tür hinter ihm eine Stimme ertönte.
»Mir schwant nichts Gutes, wenn ich dich mit diesem Queue in der Hand sehe.«
Er stellte sich taub und spielte weiter, drehte das Handgelenk, um punktgenau zu zielen, formte mit den Fingern einen stabilen Kreis. Die beiden zerquetschten Fingerspitzen seiner linken Hand und die dunkle Narbe, die sich von der Daumenwurzel aufwärtszog, waren jetzt deutlich zu sehen. Kriegsverletzungen, pflegte er sie spöttisch zu nennen. Spuren seines Aufenthaltes in den Eingeweiden der Erde.
Freilich hatte er die Stimme seines Bevollmächtigten gehört. Die wohlklingende Stimme eines hochgewachsenen Mannes von übernächtigter Eleganz, dessen Glatze einen wachen Verstand barg. Elías Andrade war nicht nur der Wächter über seine Finanzen und Interessen, sondern auch sein engster Freund. Der ältere Bruder, den er niemals hatte, das Flüstern seines Gewissens, wenn ihm im Strudel der Ereignisse Gelassenheit und Urteilskraft abhandenkamen.
Mauro Larrea beugte sich über das Billardtuch und versetzte zum Abschluss seiner einsamen Partie der letzten Kugel einen kraftvollen Stoß. Dann stellte er den Queue an seinen Platz zurück und wandte sich gemächlich seinem Besucher zu.
Sie blickten einander offen ins Gesicht, wie so viele Male zuvor. In guten wie in schlechten Zeiten, so war es immer gewesen. Direkt in die Augen. Ohne Ausflüchte.
»Ich bin bankrott, compadre.«
Sein Vertrauter schloss fest die Lider, sagte aber nichts. Er zog lediglich ein Taschentuch heraus und fuhr sich damit über die Stirn. Er hatte angefangen zu schwitzen.
Während der Bergmann auf eine Antwort wartete, hob er den Deckel einer Zigarrenkiste an und nahm zwei Havannas heraus. Sie zündeten sie an einem silbernen Kohlebecken an, und die Luft füllte sich mit Rauch; erst dann reagierte Andrade auf die Hiobsbotschaft.
»Das Ende von Las Tres Lunas.«
»Das Ende von allem. Damit ist auf einen Schlag alles im Eimer.«
Sein Leben zwischen zwei Welten hatte zur Folge, dass er sich manchmal einer streng kastilischen Ausdrucksweise bediente und manchmal rotziger klang als jeder mexikanische Bauer. Zweieinhalb Jahrzehnte waren vergangen, seit er in das alte Neuspanien kam, das sich damals nach einem langen und schmerzvollen Ringen um die Unabhängigkeit gerade in eine Republik verwandelt hatte. Er selbst trug zu jener Zeit schwer an Kummer und Verantwortung, und nichts ließ vermuten, dass sich sein Weg mit dem Elías Andrades kreuzen würde, des letzten Sprosses einer alten spanischen Einwanderersippe, die hoch angesehen, aber seit dem Ende der Kolonialherrschaft verarmt war. Doch der Zufall wollte, dass sich die beiden Männer in der schäbigen Kneipe eines Bergarbeiterlagers in Real de Catorce begegneten, als die Geschäfte des zwölf Jahre jüngeren Mauro allmählich in Schwung kamen und die Träume Andrades längst zerplatzt waren.
»Hat dich der Gringo reingelegt?«
»Schlimmer. Er ist tot.«
Andrade zog fragend eine Braue hoch.
»Die Südstaatler haben ihn in der Schlacht von Manassas erledigt. Seine Frau und seine Schwester sind extra aus Philadelphia gekommen, um es mir zu sagen. Es war sein letzter Wille.«
»Und die Maschinen?«
»Die hatten sich seine eigenen Partner schon für die Kohleminen im Lackawanna-Tal gesichert.«
»Wir hatten sie komplett bezahlt«, murmelte Andrade entgeistert.
»Jede einzelne Schraube, es blieb uns ja nichts anderes übrig. Aber verladen wurde nicht ein Teil.«
Wortlos trat der Prokurist an einen der Balkone und öffnete die Tür sperrangelweit, vielleicht in der unsinnigen Hoffnung, ein Luftzug möge das, was er gerade gehört hatte, hinauswehen. Doch von der Straße drang nur das übliche Getöse und Geschrei herauf, das unablässige Lärmen der Stadt, die noch vor wenigen Jahrzehnten die bedeutendste Metropole von ganz Amerika gewesen war, die reichste und mächtigste: das alte Tenochtitlan.
»Ich habe dich gewarnt«, knurrte Andrade, ohne sich umzuwenden, die Augen blicklos auf den Straßentumult gerichtet.
Mauro Larreas einzige Reaktion war ein kräftiger Zug an seiner Havanna.
»Ich habe dir gleich gesagt, dass es tollkühn ist, diese Mine wieder in Betrieb zu nehmen. Dass du diese Berechtsame nicht beantragen sollst, dass du keine solchen Wahnsinnssummen in ausländische Maschinen investieren sollst, statt dir Aktionäre zu suchen und das Risiko zu verteilen … Dass du dir diese verfluchte Schnapsidee aus dem Kopf schlagen sollst.«
In der Nähe der Kathedrale heulte eine Feuerwerksrakete, man hörte zwei Kutscher miteinander streiten und das Wiehern eines Gauls. Mauro blies den Rauch aus, ohne etwas zu erwidern.
»Hundertmal habe ich dir erklärt, wie vollkommen überflüssig es ist, so hoch zu pokern«, fuhr Andrade fort. »Aber du hast meinen Rat in den Wind geschlagen und halsstarrig dein letztes Hemd gesetzt. Auf die Hazienda in Tacubaya hast du eine Hypothek aufgenommen und auf die in Coyoacán und die Güter in San Antonio Coapa, die Lagerhallen in der Calle Sepulcro, die Äcker von Chapingo, die Viehhöfe bei der Katharinenkirche hast du alle verkauft.«
Die Ländereien zählte er auf, als spuckte er Galle.
»Du hast deine Aktien abgestoßen, deine Staatsanleihen, deine Forderungen und Beteiligungen. Aber das Risiko war dir immer noch nicht groß genug, du musstest dich obendrein bis über beide Ohren verschulden. Und wie, Mauro, sag mir, wie zum Teufel sollen wir all dem, was jetzt über uns hereinbrechen wird, deiner Meinung nach die Stirn bieten?«
Endlich unterbrach Mauro ihn.
»Etwas ist uns noch geblieben.«
Er spreizte die Hände, als wollte er den Raum umfangen, in dem sie sich befanden, und darüber hinaus Wände und Decken, Höfe, Treppen und Dächer.
»Denk nicht mal dran!«, stöhnte Andrade und umklammerte seinen Kopf mit allen zehn Fingern.
»Wir brauchen Geld, zum einen für die dringlichsten Schulden und zum anderen, damit ich anfangen kann, mich zu bewegen.«
Wäre ihm ein Geist erschienen, hätte Andrade nicht erschrockener dreinblicken können.
»Dich bewegen? Wohin denn?«
»Das weiß ich noch nicht, aber klar ist, dass ich wegmuss. Ich habe keine andere Wahl, Bruder. Hier ist es für mich vorbei; keine Chance, noch einmal anzufangen.«
»Warte«, begann Andrade wieder und bemühte sich um einen besänftigenden Ton. »Warte, um Himmels willen. Das sollten wir vorher gut abwägen, vielleicht können wir das alles eine Zeit lang geheim halten, während ich ein paar Feuer lösche und mit den Gläubigern verhandle.«
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir damit nicht weit kommen werden. Am Ende der Rechnerei steht nichts als Verwüstung.«
»Beruhige dich, Mauro, nimm dich zusammen. Du solltest jetzt nichts überstürzen und keinesfalls dieses Haus verpfänden. Es ist das Letzte, was noch dir gehört, und das Einzige, was dir womöglich helfen kann, zumindest den Schein zu wahren.«
Den imposanten Kolonialbau in der Calle de San Felipe Neri hatte Mauro den Nachkommen des Grafen von Regla abgekauft, der der bedeutendste Bergbauunternehmer des Vizekönigreichs gewesen war. Eine Residenz, die ihn gesellschaftlich an der begehrtesten Stelle der Stadt positionierte. Dieser alte Barockpalast war das Einzige, was er nicht aufs Spiel gesetzt hatte, als er die ungeheure Menge Geld aufbrachte, um die Mine Las Tres Lunas wieder zum Leben zu erwecken; alles, was ihm von all dem Grundbesitz, den er mit den Jahren angehäuft hatte, noch geblieben war. Beide wussten um die Bedeutung dieses Hauses, die weit über seinen materiellen Wert hinausging: Es war ein Pfeiler, der sein öffentliches Ansehen aufrechtzuerhalten vermochte. Es zu behalten, bewahrte ihn vor Hohn und Demütigung. Verlor er es, stünde er vor der ganzen Stadt als Versager da.
Erneut entstand zwischen den beiden Männern ein zähes Schweigen. Die früher vom Glück verwöhnten und vielbewunderten Freunde starrten einander nun an wie zwei Schiffbrüchige im Sturm, die eine Welle hinterrücks ins eiskalte Meer gespült hatte.
»Du warst ein Narr«, beharrte Andrade nach einer Weile, als ließe sich die Wucht des Schlages dadurch dämpfen, dass er seine Gedanken ein ums andere Mal wiederholte.
»So hast du mich auch genannt, als ich dir erzählt habe, wie ich mit La Elvira begonnen hatte. Und als ich La Santa Clara übernahm. Und wegen La Abundancia und La Prosperidad ebenfalls. Und in allen diesen Minen bin ich auf dicke Flöze gestoßen und habe das Silber tonnenweise herausgeholt.«
»Aber da warst du noch nicht mal dreißig, ein Wildfang, den es ans Ende der Welt verschlagen hatte, und durftest Risiken eingehen, du Idiot! Jetzt bist du fast fünfzig, hältst du dich etwa für fähig, noch einmal ganz unten anzufangen?«
Der Bergmann wartete ab, bis Andrade sich seinen Zorn von der Seele gebrüllt hatte.
»Die größten Unternehmen des Landes haben dir Partnerschaften und Beteiligungen an Konsortien angetragen! Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen haben dich umgarnt, du könntest Minister sein, wenn du auch nur das geringste Interesse gezeigt hättest! Kein Salon, in dem du kein gern gesehener Gast wärst, an deinem Tisch hat die Hautevolee Mexikos gespeist, und jetzt haust du mit deiner Dickköpfigkeit alles in den Sack! Deine Reputation wird dir um die Ohren fliegen, dein Sohn ohne dein Geld nichts weiter als ein törichter Schwätzer sein, und die Ehre deiner Tochter verloren!«
Nachdem er ihm das alles an den Kopf geworfen hatte, stieß er die halbgerauchte Havanna in den Aschenbecher und ging zur Tür. Im selben Moment erschien der Indio Santos Huesos, Mauros Diener: Auf einem Tablett trug er zwei geschliffene Gläser, eine Flasche katalanischen Schnaps und eine Flasche Schmuggelwhiskey aus Louisiana.
Andrade ließ es ihn nicht einmal abstellen. Er vertrat ihm den Weg und schenkte sich mit brüsker Geste einen Schluck ein, kippte ihn hinunter und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Lass mich die Zahlen heute Abend durchgehen und sehen, ob wir noch etwas retten können. Aber das Haus zu verkaufen, bei allem, was dir heilig ist, vergiss es! Es ist das Letzt, was dir bleibt, wenn dir je wieder irgendjemand vertrauen soll. Dein Alibi. Dein Schutzschild.«
Mauro Larrea tat, als hörte er ihm zu, nickte sogar, doch seine Gedanken preschten bereits in eine völlig andere Richtung.
Er wusste, dass er von vorn anfangen musste.
Und dafür brauchte er Kapital und Ruhe zum Überlegen.
Sein Magen war wie zugeschnürt, er hätte nichts essen können, nachdem Andrade wutschnaubend unter den Bögen der prachtvollen Galerie verschwunden war. Stattdessen beschloss er, ein Bad zu nehmen, um nachzudenken, ohne dass ihm die Stimme seines Prokuristen wie eine Messerklinge ins Gewissen stach.
Als er in der Wanne lag, kam ihm Mariana in den Sinn. Sie würde, wie immer, die Einzige sein, die von ihm persönlich erfuhr, was geschehen war. Obwohl sie inzwischen ihr eigenes Leben führte, sahen sie sich fast täglich. Kaum ein Tag verging, an dem sie keine Spazierfahrt über die Avenida Bucareli unternahmen oder Mariana in ihrem früheren Zuhause vorbeischaute. Und für die Dienstmädchen war es jedes Mal ein Fest, wenn sie zur Tür hereinkam, vor allem jetzt mit ihrem Bäuchlein, sie sagten ihr, wie schön sie aussehe, bedrängten sie, doch noch ein Weilchen länger zu bleiben, und setzten ihr Baisers und Eierbrötchen und Süßigkeiten aus Kandis vor.
Mit Nicolás war es etwas anderes, der war sein größter Kummer. Zu ihrer aller Glück würde ihn die Schreckensnachricht in Europa ereilen. In Frankreich, in einer der Kohleminen von Pas-de-Calais, wo ihn ein alter Freund unter seine Fittiche genommen hatte, um ihn für eine gewisse Zeit von Mexiko fernzuhalten. Ein seltsam widersprüchlicher Charakter war er, Engel und Teufel, geistreich und leichtsinnig, temperamentvoll, unberechenbar in allem, was er tat. Sein guter Stern und die schützende Hand seines Vaters hatten stets über ihn gewacht, bis er anfing, den Bogen zu überspannen. Mit neunzehn hatte er eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau eines republikanischen Parlamentariers. Ein paar Monate später veranstaltete er ein Saufgelage, das mit dem Einsturz eines Salons endete. Als sein Sohn zwanzig wurde, hatte Mauro Larrea es längst aufgegeben, die Kalamitäten zu zählen, aus denen er ihn hatte retten müssen. Trotz alledem stand jetzt gottlob die vielversprechende Eheschließung mit der Gorostiza-Tochter in Aussicht. Und um ihm für den Eintritt in die väterliche Firma den letzten Schliff zu geben und ihn nebenbei bis zur Hochzeit an weiteren Sperenzchen zu hindern, hatte er ihn überredet, ein Jahr jenseits des Ozeans zu verbringen. Danach allerdings musste alles anders werden, und darum wollte jeder Schritt gut durchdacht sein. Von den Sorgen angesichts seines bevorstehenden Untergangs plagte ihn die um seinen Sohn zweifellos am meisten.
Er schloss die Augen und versuchte, den Kopf frei zu bekommen. Wenigstens für einen Moment nicht an den toten Gringo zu denken, nicht an die Maschinen, die ihren Zielhafen niemals erreichen würden, nicht an das krachende Scheitern seines ehrgeizigsten Projektes, weder an Nicolás' Zukunft noch an den Abgrund, der sich zu seinen Füßen aufgetan hatte. Was er jetzt dringend brauchte, war Aktivität, Vorwärtsbewegung. Und wie er es auch drehte und wendete, er wusste, dass es nur einen Ausweg gab. Überlege dir das gut, alter Freund, ermahnte er sich. Aber du hast keine andere Wahl, so schwer es auch fällt, klang es in ihm zurück. Hier kannst du nichts unternehmen, ohne dass es sich herumspricht. Die Stadt zu verlassen, ist die einzige Lösung. Also entscheide dich endlich, verdammt noch mal.
Wie so viele Männer, die sich aus eigener Kraft emporgearbeitet haben, hatte Mauro Larrea die Fähigkeit entwickelt, die Flucht immer nach vorn anzutreten. Die Silbermine von Guanajuato in seinen ersten Jahren in Amerika hatte ihn auch charakterlich gestählt: täglich elf Stunden Maloche tief unter der Erde, der Kampf gegen den Fels im Licht der Fackeln, bekleidet nur mit einer ärmlichen Lederhose und einem schmierigen Stoffstreifen um die Stirn, der die Augen vor der üblen Mischung aus Dreck, Schweiß und Staub schützen sollte. Elf Stunden am Tag, sechs Tage pro Woche, in der Finsternis der Hölle mit roher Gewalt Steine zu zertrümmern, hatte ihn ein Durchhaltevermögen gelehrt, das für immer ein Teil von ihm geblieben war.
Vielleicht war ihm Verdrossenheit deshalb so wesensfremd, auch im Wissen darum, dass er nie wieder in dieser herrlichen Badewanne aus belgischem Emaille liegen würde, die bei seiner Ankunft in Mexiko nichts als ein unerfüllbarer Traum gewesen war. In jener Anfangszeit wusch er sich unter einem Feigenbaum in einer halben Tonne voller Regenwasser, und da er keine Seife hatte, schrubbte er sich den Schmutz mit einem Strohbüschel herunter. Zum Abtrocknen hatte er nur sein Hemd und die Sonne, zum Rasieren den scharfen Wind. Sein größter Luxus waren ein Holzkamm und die Pomade aus Zitronenmelisse, von der er sich jeweils am Zahltag ein cuartillo kaufte, weil es damit gelang, sein dichtes, widerspenstiges, damals noch kastanienbraunes Haar zu bändigen. Harte Jahre waren das. Bis ihn die Mine verstümmelte und er beschloss, dass es Zeit für einen Ortswechsel war.
Und jetzt, Ironie des Schicksals, war die Rückkehr in die Vergangenheit seine einzige Chance, den Zusammenbruch zu vermeiden. Trotz der vernünftigen Ratschläge seines Prokuristen. Wenn er verhindern wollte, dass seine Umgebung von der Sache erfuhr, wenn er das Weite suchen wollte, bevor etwas durchsickerte und ihm endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen würde, gab es nur einen Ausweg. Den unangenehmsten. Den, der ihn nach all den Jahren und Verwandlungen zurück auf dunkle Pfade voller Schatten zwang.
Er schlug die Augen auf. Das Wasser war abgekühlt und seine Seele auch. Er stieg aus der Wanne und griff nach dem Handtuch. Tropfen rollten über seine nackte Haut bis auf den Mamorboden. Als zollte sein Organismus den früheren Anstrengungen Tribut, hatte er sich für seine siebenundvierzig Jahre gut gehalten. Abgesehen von den Spuren etlicher Verletzungen, der auffälligen Narbe an der linken Hand und den beiden gequetschten Fingern, waren seine Gliedmaßen sehnig, sein Bauch straff und die Schultern von solcher Stattlichkeit, dass sie nach wie vor die Blicke von Schneidern, Widersachern und Frauen auf sich zogen.
Er trocknete sich ab, rasierte sich rasch, rieb sich, ohne hinzusehen, das Kinn mit Makassaröl ein und wählte dann die für sein Vorhaben passende Kleidung. Dunkel, strapazierfähig. Er zog sich mit dem Rücken zum Spiegel an und schnallte seine Waffen um. Das Messer. Die Pistole. Zum Schluss entnahm er einem Aktenschrank eine mit roten Bändern verschnürte Mappe. Und dieser mehrere Papiere, die er achtlos faltete und in die Brusttasche schob.
Erst als er fertig war, betrachtete er sich in dem großen Spiegel des Kleiderschranks.
»Dein letzter Gang, compadre«, verkündete er seinem Spiegelbild.
Schließlich blies er die Lampe aus, rief nach Santos Huesos und trat auf den Flur.
»Morgen früh besuchst du Don Elías Andrade und sagst ihm, ich sei dort hingegangen, wohin er mich nicht gehen lassen wollte.«
»Zu Don Tadeo?«, fragte der Chichimeke verblüfft.
Doch sein Chef eilte bereits auf die Stallungen zu, und der Indio hatte Mühe, Schritt zu halten. Seine Frage blieb unbeantwortet, dafür jagte eine Anweisung die nächste.
»Wenn Mariana kommt, kein Sterbenswörtchen. Und jedem anderen, der an der Tür nach mir fragen mag, erzählst du das Erstbeste, was dir einfällt.«
Der Diener öffnete den Mund, doch sein Herr kam ihm zuvor.
»Nein, diesmal nicht. Wie auch immer dieser Irrsinn ausgehen mag, ich werde mich allein hineinstürzen und auch allein wieder herauskommen.«
Es war nach neun, dennoch pulsierte die Stadt weiter in unaufhaltsamem Rhythmus. Auf dem Rücken seines Criollos, das Gesicht unter der breiten Hutkrempe fast verborgen und in einen Querétaro-Umhang gehüllt, bemühte er sich, die belebtesten Kreuzungen und Straßen tunlichst zu meiden. Bei anderen Gelegenheiten hatte er dieses Getümmel gemocht, als Auftakt zu einer interessanten Gesprächsrunde, einem gewinnträchtigen Geschäftsessen oder einem Rendezvous. An diesem Abend jedoch wünschte er sich nichts sehnlicher, als all das hinter sich zu lassen.
Gringo, du alter Drecksack, murmelte er, während er dem Pferd die Sporen gab. Aber den Gringo traf keine Schuld, das wusste er. Der Gringo war früher im Ingenieurskorps der US-Armee gewesen und Puritaner bis ins Mark, er hatte seine Verpflichtungen erfüllt und war obendrein so anständig gewesen, seine Frau und seine Schwester bis nach Mexiko zu schicken, um ihm das mitzuteilen, was er selbst ihm nicht mehr sagen konnte. Scheißkrieg, verfluchte Sklaventreiber, knurrte er wieder. Wie hatte nur alles so danebengehen können? Wie hatte Fortuna ihm einen so bösen Streich spielen können? Diese Fragen marterten ihn, während er im Trab die nächtliche Calzada de los Misterios überquerte.
~
Der Yankee hieß Thomas Sachs, er war drei Monate zuvor in sein Leben getreten, weil ihn ein alter Freund aus San Luis Potosí zu ihm geschickt hatte. Als er eintraf, hatte Mauro soeben sein Frühstück beendet, das Haus war noch nicht ganz aufgeräumt, und hinten aus der Küche hörte man das Schwatzen der Dienstmädchen beim Zwiebelhacken und Maismahlen. Santos Huesos geleitete den Amerikaner ins Büro und bat ihn zu warten. Sachs wartete, ohne sich zu setzen, den Blick zu Boden gerichtet, und wippte auf den Fußspitzen.
»Ich habe gehört, Sie seien an Maschinerie für Grabungen interessiert.«
Dies war sein Gruß, als der Hausherr hereinkam. Bevor Mauro Larrea antwortete, musterte er seinen Besucher. Stämmig, mit rosiger Haut und einem recht ordentlichen Spanisch.
»Kommt darauf an, was Sie zu bieten haben.«
»Neuartige dampfbetriebene Pumpen. Hergestellt in unserer Fabrik in Harrisburg, Pennsylvania, von der Maschinenbaufirma Lyons, Brookman & Sachs. Auf Bestellung, in Abstimmung mit den speziellen Anforderungen des Kunden.«
»Geeignet für die Entwässerung in siebenhundert Ellen Tiefe?«
»Und in achthundertfünfzig.«
»Dann wüsste ich gern mehr.«
Und während er zuhörte, fühlte er in seinem Inneren ein Brodeln, wie er es seit Jahren nicht empfunden hatte. Den Wunsch, die alte Mine Las Tres Lunas in neuem Glanz erstrahlen zu lassen, ihr wieder zum Aufschwung zu verhelfen.
Die Leistungsfähigkeit der Maschinen, die Sachs in Aussicht stellte, erschien ihm überwältigend. Weder die alten spanischen Bergleute zu Zeiten des Vizekönigs noch die Engländer in Pachuca und Real del Monte, noch die Schotten, die in Oaxaca gruben, niemand in ganz Mexiko war jemals so weit gegangen. Er wusste sofort, dass es sich hierbei um etwas ungeheuer Verheißungsvolles handelte.
»Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen.«
Am nächsten Morgen streckte er ihm seine feste Bergarbeiterhand hin, die Hand eines Menschenschlages, der dem Ausländer wohlvertraut war: kühne Männer mit sicherem Gespür, die ihren Beruf als einen steten Wechsel von Sieg und Niederlage verstanden. Mit einer klaren, entschlossenen Art, mutige, sogar verwegene Entscheidungen zu fällen und das Glück immer wieder herauszufordern.
»Machen wir Nägel mit Köpfen, mein Freund.«
Sie kamen ins Geschäft, er beantragte die nötigen Genehmigungen bei der Bergbaubehörde und entwarf einen riskanten Finanzierungsplan, den Andrade bis zuletzt beanstandet hatte. Und von da an zahlte er regelmäßig in zuvor vereinbarten Raten hohe Geldbeträge. Im Gegenzug erhielt er pünktlich alle drei Wochen Nachricht aus Pennsylvania über die Fortschritte des Projektes: die Montage der hochkomplexen Maschinen, das Zubehör, das sich tonnenweise in Lagerhallen stapelte, die Kessel, Kräne, Zusatzausrüstungen. Bis mit einem Mal keine Briefe mehr aus dem Norden kamen.
~
Ein Jahr und ein Monat waren vergangen seit jenen hoffnungsfrohen Tagen bis zu dieser Nacht, in der seine schwarze Gestalt unter einem Himmel ohne Sterne über kahle Wege ritt, auf der Suche nach einer Lösung, die ihn zumindest Atem schöpfen ließe.
Im ersten Grau des Tages hielt er vor einem großen Holzportal an. Er war steif, sein Mund trocken, die Augen gerötet; er hatte sich und dem Tier kaum Pausen gegönnt. Dennoch sprang er flink aus dem Sattel. Das Pferd, erschöpft und durstig, Schaum vor dem Maul, knickte mit den Vorderbeinen ein und ließ sich fallen.
Der Morgen empfing ihn nahe einer Zuckerrohrplantage am Fuß des San-Cristóbal-Hügels, einen Steinwurf entfernt vom Bergwerk von Pachuca. Man erwartete ihn nicht auf der abgelegenen Hazienda, zu dieser Unzeit rechnete niemand mit einem Gast. Die Hunde allerdings hatten ihn sofort bemerkt. Ein wild kläffender Chor zerriss die morgendliche Stille.
Einen Augenblick später vernahm er Schritte, Schnalzen und Rufe, um die Hunde zum Schweigen zu bringen. Als das Gebell abgeebbt war, schrie von drinnen eine junge Stimme:
»Wer ist da?«
»Ich muss mit Don Tadeo sprechen.«
Mit einem kreischenden Geräusch wurden zwei schwere, rostige Riegel zurückgezogen. Dann ein dritter, der jedoch auf halbem Weg innehielt, als hätte der Mann auf der anderen Seite es sich im letzten Moment anders überlegt. Man hörte, wie er sich mit knirschenden Schritten entfernte.
Drei oder vier Minuten später rührte sich wieder etwas hinter der Tür. Diesmal waren sie zu zweit.
»Wer ist da?«
Dieselbe Frage, aber eine andere Stimme. Und auch wenn Mauro Larrea die vor über fünfzehn Jahren zum letzten Mal gehört hatte, war sie unverwechselbar.
»Einer, von dem du geglaubt hast, dass du ihn nie wiedersehen würdest.«
Mit schrillem Quietschen wurde auch der dritte Riegel geöffnet, und das Tor schwang auf. Die Hunde begannen wieder zu jaulen, als wäre der Teufel in sie gefahren. Bis plötzlich ein Schuss krachte und dem Tumult ein Ende setzte. Das Pferd, schläfrig nach dem Galopp durch die Nacht, hob den Kopf und rappelte sich auf. Die schattenhaften Gestalten von vier oder fünf Hunden, schmutzig, mager und zerzaust, klemmten die Schwänze ein und verzogen sich winselnd.
Vor Mauro standen breitbeinig zwei Männer. Der jüngere, ein einfacher Wachmann, hielt den Stutzen vor sich, mit dem er eben in die Luft gefeuert hatte. Der andere starrte ihn aus schlafverklebten Augen an. Hinter ihnen, jenseits eines weiten Vorplatzes, begannen sich allmählich die Umrisse des Hauses gegen den Morgenhimmel abzuzeichnen.
Der ältere der beiden Männer und Mauro Larrea tauschten einen spannungsgeladenen Blick. Dürr und trübselig wie immer und seit mindestens einer Woche nicht rasiert, stand dort Dimas Carrús. An seiner rechten Seite hing leblos der Arm, der seit einer väterlichen Tracht Prügel in früher Kindheit zu nichts zu gebrauchen war.
Ohne Mauro aus den Augen zu lassen, sammelte er Speichel und spuckte einen zähen Schleimklumpen aus. Erst dann kam die Begrüßung.
»Ich fasse es nicht, Larrea. Hätte dich nicht für so irre gehalten, dass du hier noch mal aufkreuzt.«
Ein kalter Wind erhob sich.
»Weck deinen Vater, Dimas. Sag ihm, ich muss mit ihm reden.«
Der andere schüttelte langsam den Kopf, nicht ablehnend, eher erstaunt. Ihn wiederzusehen. Nach all der Zeit.
Wortlos ging er auf das Haus zu, sein schlaffer Arm baumelte an ihm herunter wie ein toter Aal. Mauro folgte ihm bis in den Hof, Steine knirschten unter seinen Stiefeln. Während der künftige Erbe dieses Anwesens durch eine der Seitentüren verschwand, blieb er stehen. Er war ein einziges Mal in diesem Haus gewesen, damals, nachdem ihm alles um die Ohren geflogen und Real de Catorce am Ende war. Es schien sich kaum verändert zu haben, obwohl die erbärmliche Verwahrlosung trotz des matten Lichts nicht zu übersehen war. Dasselbe Gebäude mit seinen dicken Mauern, groß, plump und schmucklos. Unnützes Werkzeug überall, Haufen von Müll und Resten, Tierexkremente.
Kurz darauf trat Dimas aus einer anderen Tür.
»Komm rein und warte hier. Du wirst ihn hören, wenn er kommt.«