Als Tomas Venclova an einem Morgen im Mai 1975 seinen Brief abschickte, wusste er, dass er die wichtigste Entscheidung seines Lebens getroffen hatte. In Berufung auf die Menschenrechte und die sowjetische Verfassung bat er das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Litauens um Genehmigung zur Ausreise. In einem Land, in dem Andersdenkende unterdrückt und die absolute Herrschaft nur Unglück gebracht habe, könne er nicht länger leben.
Was diesem Schritt vorausging und was ihm folgte, entwickeln Tomas Venclova und Ellen Hinsey in ihrem fesselnden Dialog. Der magnetische Norden ist ein Dokument moralischer Unbestechlichkeit, das Selbstporträt eines der letzten großen Zeitzeugen der totalitären Epoche.
Als Kind erlebte er die Okkupation seiner Heimat – erst durch die Sowjets, dann durch die Nazis. Sein Hunger nach Welt war unstillbar: Er ging nach Moskau, besuchte Anna Achmatowa und Boris Pasternak, lernte Sprachen und geriet als Übersetzer und Dichter früh ins Visier des KGB. 1976 gehörte er zu den Mitbegründern der litauischen Helsinki-Gruppe für Menschenrechte. Kurz darauf wurde ihm während eines Aufenthaltes in den USA die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen. Seit 1990 lebt er auf zwei Kontinenten – ein Emigrant, der Litauens Weg in die Unabhängigkeit kritisch begleitete und sein Exil als »glückliche Fügung« empfand.
Tomas Venclova, 1937 in Klaipėda geboren, ist einer der bedeutendsten europäischen Lyriker seiner Generation. Seit den sechziger Jahren gehörte er zu den sowjetischen Dissidenten um Andrej Sacharow und Ljudmila Alexejewa. Er lebt seit 1977 in den USA und lehrte bis 2012 an der Yale University. Sein lyrisches und essayistisches Werk wurde vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein Essay Vilnius. Eine Stadt in Europa (2006; es 2473) und der Gedichtband Gespräch im Winter (2007).
Ellen Hinsey, 1960 in Boston, Massachusetts, geboren, Lyrikerin, Essayistin und Performerin, lebt seit 1987 in Paris und unterrichtet Literatur und Schreiben. Für ihre Gedichtbände Cities of Memory (1996), The White Fire of Time (2002), Update on the Descent (2009) erhielt sie mehrere Auszeichnungen. Auf Deutsch erschien Des Menschen Element (2017).
Claudia Sinnig, 1965 geboren, studierte Anglistik, Russistik und Lituanistik in Leipzig und Vilnius. Seit 1992 freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin u.a. von Tomas Venclova, Jonas Mekas, Eugenijus Ališanka, Antanas Škėma, Sigitas Parulskis. 2002 erschien Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter (it 2844).
Tomas Venclova
Der magnetische Norden
Gespräche mit Ellen Hinsey
Erinnerungen
Aus dem amerikanischen Englisch
von Claudia Sinnig
Suhrkamp Verlag
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017
© Suhrkamp Verlag Berlin 2017
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Karte mit freundlicher Genehmigung von Inga Genytė
Karte: Peter Palm, Berlin
Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Ralph Velasco
eISBN 978-3-518-75099-5
Inhalt
EINFÜHRUNG
Der magnetische Norden – Eisen und Anmut von Ellen Hinsey
ERSTER TEIL
Kindheit und Familie
Die Sowjets 1939-1941
Die Kriegsjahre 1941-1944
Die Rückkehr der Sowjets
Nachkriegszeit
Gymnasium
Antanas Venclova
An der Universität Vilnius
Das Jahr 1956
ZWEITER TEIL
Boris Pasternak
Studiengruppe und KGB
Moskau 1961-1964
Anna Achmatowa
Sprachzeichen. Gedichte
Joseph Brodsky
Zivilgesellschaft und Dissens
Die litauische und die Moskauer Helsinki-Gruppe
Vorbereitung auf das Exil
DRITTER TEIL
Czesław Miłosz und Berkeley
Reisen. Exil als glückliche Fügung
Der Kreuzweg. Gedichte
ANHANG
Zeittafel
Bibliographie
Biographische Notiz
Dank
Register
EINFÜHRUNG
Der magnetische Norden – Eisen und Anmut
von Ellen Hinsey
In seiner Einführung zu den Charles-Eliot-Norton-Vorlesungen für Poesie an der Harvard-Universität unterstrich Czesław Miłosz die Tatsache, dass das zwanzigste Jahrhundert – »proteushafter und vielgestaltiger als jedes andere« – sein Erscheinungsbild nicht nur in Abhängigkeit vom eigenen Blickwinkel wechselt, sondern auch in Abhängigkeit von den unbeständigen Koordinaten des Längen- und des Breitengrads – »den geographischen [Blickwinkel] eingeschlossen«. Miłosz führt weiter aus:
»Mein Winkel Europas ermöglicht aufgrund der dort stattfindenden außerordentlichen und todbringenden Ereignisse, für die nur verheerende Erdbeben die passende Metapher scheinen, eine besondere Perspektive, der zufolge alle, die von dort stammen, die Poesie unseres Jahrhunderts etwas anders zu beurteilen pflegen als die Mehrheit meiner Hörer: sie suchen in dieser Poesie einen Zeugen und Teilnehmer an der großen Umwandlung, die die Menschheit erlebt.«1
Tomas Venclova, der unter demselben Himmel aufgewachsen ist und dieselbe Universität besucht hat wie Miłosz, wenngleich in der umgetauften litauischen Hauptstadt Vilnius, hätte diese Zeilen ohne weiteres selbst schreiben können. Die »besondere Perspektive«, die Miłosz nur vage andeutet, ist eine fast achthundert Jahre alte intellektuelle Tradition, mit ihrer spezifischen, reichhaltigen und komplexen Identität und Geschichte. Und während der Erdball, wie uns John Donne erinnert, eine perfekte Kugel ist, einer Träne gleich, bleibt es ein menschliches Kuriosum, dass gewisse loci auf der Erde als weiter entfernt vom »Zentrum« wahrgenommen werden, selbst wenn ihr Magneterz einige der gewaltsamsten Erdbeben der Geschichte überdauert hat. Dieser Umstand – ergänzt durch das systematische Schweigen des Totalitarismus – hat für die Schriftsteller der »Grenzräume« Osteuropas zu der Notwendigkeit geführt, dessen Topographie zu erläutern, zu versuchen, die Konturen dieses kritischen kulturellen und geopolitischen Punktes im Raum zu erhellen. Hierbei ist die Poesie tatsächlich ein wesentlicher Zeuge und Teilnehmer gewesen.
Venclova ist diese Aufgabe zuteilgeworden, weil sein Leben einige der dunkelsten seismischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts durchlaufen hat. Geboren 1937 in Klaipėda, Litauen, auf dem Höhepunkt von Stalins Großem Terror, hat Venclova seine frühe Kindheit zunächst in Kaunas verbracht, dann in Freda, einem Vorort, im Haus von Merkelis Račkauskas, seinem Großvater mütterlicherseits. Nach Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krieges 1941 wurde Venclovas Mutter, Eliza Venclovienė, von den Nazis verhaftet, und sein Vater, der Schriftsteller Antanas Venclova, damals Bildungsminister der litauischen Sowjetrepublik, wurde nach Moskau evakuiert.
Diese ersten Umbruchserfahrungen sind für Venclova bis heute von Bedeutung, wie etwa der Heimweg nach seinem ersten Schultag, als er sich in den Nachkriegsruinen von Vilnius verirrte. In diesen Augenblicken schon war für Venclova das chaotische Potenzial der Geschichte sichtbar geworden – das, was Jan Patočka als Erlebnis der »Erschütterung« bezeichnet. Zugleich jedoch barg dieses Terrain noch immer die Überreste einer einst kohärenten Welt. Als Venclova in der späten Stalinzeit erwachsen wurde, begannen diese Relikte auf ihn wie ein Zeichen zu wirken, das von »etwas sprach […] und Ansprüche« stellte. Aus dieser Herausforderung sollte ein Lebenswerk der intellektuellen Bergung und Wiederherstellung erwachsen.
Trotz der Position von Venclovas Vater als Teil der sowjetischen Nomenklatura brach Venclova 1956, nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, mit der in seiner Umgebung herrschenden Ideologie. Es war in dieser Periode, dass er seinem Gefühl, die Sowjetunion der Nachkriegszeit sei »aus den Fugen«, eine poetische Stimme zu geben begann. Bald schon kursierten seine Gedichte; im dritten Studienjahr warf ihm der litauische Schriftstellerverband antisowjetische Tendenzen vor – eine Tatsache, die Venclova nicht in Abrede stellte. Während seiner Aufenthalte in Moskau und Leningrad in den sechziger Jahren suchte er die Gesellschaft von gleichgesinnten Schriftstellern: Menschen, die noch mit dem sogenannten Silbernen Zeitalter verbunden waren wie Boris Pasternak, Anna Achmatowa und Nadeschda Mandelstam, aber auch Dichter der jüngeren Generation, darunter Joseph Brodsky und Natalja Gorbanewskaja. Venclova reiste auch nach Tartu, um Kontakt zu Juri Lotman zu knüpfen, dessen Untersuchungen zur strukturellen Poetik und Semiotik einen bedeutenden Einfluss auf sein Werk ausüben sollten. 1972 erhielt Venclova die Genehmigung zur Veröffentlichung von Sprachzeichen, seinem einzigen Gedichtband, der in Sowjetlitauen erschienen ist.
In der Stagnationszeit der Breschnew-Ära engagierte sich Venclova zunehmend in der litauischen und der sowjetischen Dissidentenbewegung. 1975 verfasste er einen offenen Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Litauens, in dem er seine Ansichten über das kommunistische System darlegte und das Recht auf Emigration einforderte. Dieser riskante Schritt hatte die politische Ausgrenzung zur Folge und gefährdete seinen Lebensunterhalt; überdies bestand die Möglichkeit, wegen »Sozialparasitismus« angeklagt zu werden, wie es Joseph Brodsky ergangen war, der 1964 auf diese Weise vor Gericht gebracht und verurteilt wurde. 1976, ein Jahr nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, gehörte Venclova zusammen mit Viktoras Petkus, Eitan Finkelstein, Ona Lukauskaitė und Karolis Garuckas zu den Gründungsmitgliedern der litauischen Helsinki-Gruppe. Wegen seines öffentlichen Widerstands gegen das System und seines Engagements für dissidentische und »unsowjetische« kulturelle Aktivitäten erreichte Venclovas ohnehin schon angespanntes Verhältnis zu den Machthabern einen kritischen Punkt.
Bereits seit März 1971 war die Ausreise von sowjetischen Juden stillschweigend erleichtert worden, um unmittelbar vor dem vierundzwanzigsten Parteitag der KPdSU politische Gegner loszuwerden, entweder durch Ausweisung oder indem man ihnen die Emigration »nahelegte«. Mitte der siebziger Jahre sollte diese Taktik flächendeckend zur Demontage der sowjetischen Dissidentenbewegung genutzt werden. Nach seiner Rückkehr von der Moskauer Pressekonferenz am 1. Dezember 1976, bei der die Gründung der litauischen Helsinki-Gruppe verkündet wurde, luden die litauischen Machthaber Venclova vor und »empfahlen« ihm die Emigration – ein Schicksal, das er mit anderen bedeutenden Aktivisten teilte, darunter Juri Orlow, Ljudmila Alexejewa, Pawel Litwinow und Andrei Amalrik. Venclova hatte zu jenem Zeitpunkt keine Kenntnis davon, dass der offizielle Beschluss, ihn auszuweisen, auf höchster Ebene in Moskau getroffen und von Juri Andropow unterzeichnet worden war, dem damaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB). In einem Dokument vom 20. Januar 1977, das Maßnahmen gegen vier Dissidenten – Juri Orlow, Alexander Ginsburg, Mykola Rudenko und Venclova – festlegt, heißt es, Venclova solle die Emigration gestattet, über sein Schicksal jedoch »auf Grundlage seines Verhaltens im Ausland entschieden« werden.2
Nach seiner Ankunft in den USA am 25. Januar 1977 setzte Venclova sein politisches Engagement fort und sagte vor dem Komitee für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über die religiöse und politische Unterdrückung in Sowjetlitauen aus. Der Einladung von Czesław Miłosz folgend, ein Semester an der University of California zu lehren, zog Venclova vorläufig nach Berkeley. Fünf Monate später wurde ihm »aufgrund von Aktivitäten, die den Ruf eines Sowjetbürgers beflecken«, die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen – Venclovas Exil in den USA begann. In Litauen war er unmittelbar nach der Emigration zur »Unperson« geworden: seine Bücher (in Buchhandlungen ohnehin nicht erhältlich) wurden aus den Bibliotheken entfernt. Und doch sollte sich Venclovas Exil, wenngleich es mit Herausforderungen belastet war, als Glücksfall für die Weltliteratur erweisen, wie bei Miłosz. In dieser Periode ist eine ganze Reihe von Venclovas wichtigsten Lyrikbänden, Essays und journalistischen Schriften erschienen, in denen er sich häufig mit verfolgten Autoren befasst. Wie andere litauische, polnische und russische Emigranten fand auch Venclova Zuflucht in der amerikanischen intellektuellen Gemeinschaft und begann ab 1980 eine herausragende Karriere als Professor an der Yale University.
Im vorliegenden Dialog werden die persönliche, die politische und die literarische Geschichte miteinander verwoben. Dieses Verfahren ist beabsichtigt, da Venclovas Leben und Schaffen auf komplizierte Weise mit seiner Epoche verquickt ist und mit den Herausforderungen, vor die er sich gestellt sah. Aus diesem Grund stößt man neben der Erkundung von Ereignissen und Erfahrungen auf eine parallel verlaufende moralische Untersuchung, die zu einem basso continuo des Buches geworden ist. Für den Magnetischen Norden ist die Frage wesentlich, wie es unter den real existierenden Bedingungen von Totalitarismus und Autokratie möglich war, ein Leben in Würde zu leben. Venclova beschreibt die Versuche, die er und seine Freunde unternommen haben, der Sowjetrealität zu widerstehen – einem konformistischen, absurden, gefährlichen Universum, das die Macht hatte, »menschliche Seelen zu verstümmeln«, wie der Dichter schreibt. Dieses Buch ist auch ein Bericht über die tagtägliche moralische Praxis, und es handelt nicht nur von Mut und Beharrlichkeit, sondern auch von menschlicher Gebrechlichkeit. Venclova traut dem Mitgefühl mehr zu, wenn es darum geht, eine solche Komplexität auszuhalten, als einem moralischen Rigorismus, der zu »bedingungsloser Verurteilung« führt. Bei einer Betrachtung über Thomas Manns Aufsatz »Lübeck als geistige Lebensform« beschreibt er diese schwierige, aber essentielle Herausforderung: »Wichtig in [Manns] Welt sind Kategorien wie Vernunft, Pflicht, Heim und Herd. Das hat sich bestimmt geändert. Diese Kategorien sind uns nicht mehr ›von Anbeginn‹ gegeben durch Tradition; sie können nur noch Aufgabe sein: das heißt, wir müssen erst reif werden für ein Pflichtgefühl, für ein vernünftiges, würdiges Leben, für einen eigenständigen, nichtmechanischen Platz, wenn nicht im Raum, dann in der Zeit, reif werden unter großen Mühen, immer darauf gefasst, zu verlieren. Das ist vor allem die Folge der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts.«3
Die heutige Aktualität Venclovas und seiner Generation, die um eine ethische Haltung gerungen haben, war in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem angekündigten »Ende der Geschichte«, kaum vorauszusehen. Aber Venclova hatte längst verstanden, dass uns der Umstand, das Weltende schon hinter uns zu haben, »mitnichten der Verantwortung«4 enthebt.
Von Beginn an scheute Venclova nie vor schwierigen Themen zurück, und seine Einlassungen sind bis heute wesentliche Beiträge zum europäischen Dialog geblieben. Als erster Schriftsteller überhaupt hat sich Venclova in seinem Essay »Juden und Litauer« einer schmerzliche Realität angenommen: dass es bei den Verbrechen an den Juden im Zweiten Weltkrieg eine einheimische Kollaboration gab – ein Thema, das bis zum heutigen Tag höchst kontrovers diskutiert wird. In seinem berühmten Dialog mit Czesław Miłosz haben die beiden Dichter den historischen Konflikt um Vilnius oder Wilno erkundet – ihre »Stadt ohne Namen« –, ein Versuch, die polnisch-litauische Verständigung zu fördern. Wie in den siebziger Jahren für die Menschenrechte, so setzt sich Venclova auch nach 1989 weiterhin für Toleranz und Versöhnung ein, in einer Zeit, in der das Thema der territorialen Souveränität wieder aktuell ist und das Gespenst des Nationalismus umgeht und die Zukunft Europas infrage stellt.
Dennoch steht die Dichtung im Mittelpunkt seines Œuvres. In seinen acht Lyrikbänden, die in über zwanzig Sprachen übertragen worden sind, setzt Venclova die Tradition des »Augenzeugen und Teilnehmers« historischer Veränderungen fort. Einen Großteil der litauischen Literatur und Geschichte, die in seiner Kindheit verboten war, fand er in der umfangreichen Bibliothek seines Vaters; »Hunderte von Gedichtzeilen« prägte Venclova sich in seiner litauischen Muttersprache ein und machte früh die Erfahrung, dass er sich, konfrontiert mit einer unverständlichen Welt, am ehesten in diesen Versen zu Hause fühlte. Für Venclova war und ist die Dichtung einer jener Orte, wo dem Bewusstsein am wenigsten Beschränkungen widerfahren, ein ganz und gar freier Raum der Kontemplation. In der Dichtung kann die Rückbesinnung zur Grundlage des Widerstands werden – was auch die sowjetischen Machthaber am frühen Schaffen Venclovas bemerkten. In seinem Essay »Dichtung als Sühne« schrieb Venclova: »Jene Mächte, die den Geist der Menschheit erschüttern, zucken vor unserem Bewusstsein und Gedächtnis zurück.«5 Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass Venclovas Generation, die die antike Praxis der ars memoriae mit Leidenschaft wieder aufgenommen hat, indem sie sich nicht nur Gedichte, sondern auch die verbotene Geschichte, Wissenschaft und Literatur ins Gedächtnis rief, nur noch von ihren Vorläufern in der Renaissance übertroffen wurde. Venclovas Herkunft ließe sich sogar noch weiter zurückdatieren, bis zu Simonides von Keos, jenem altgriechischen Dichter, der als Begründer dieser Kunst gilt. Denn es war Simonides, der nach einer Gedichtrezitation das Festmahl vorzeitig verließ, deshalb dem Einsturz des Daches entging und nun die Aufgabe übernahm, die Namen der Toten aus dem Gedächtnis zu rekapitulieren.
Auf den Seiten dieses Buches fällt es häufig Venclova zu, die Erinnerung an jene Menschen heraufzubeschwören, die in den Trümmern des zwanzigsten Jahrhunderts verloren gegangen sind, Erinnerung aber auch an die zahllosen Gebäude, Straßen und Denkmäler, die nicht mehr existieren, die zuweilen über Nacht verschwunden sind, ihren Namen wechseln mussten oder deren Fundamente gesprengt wurden. Die Wahl der Dialogform für Der magnetische Norden – polnisch wywiad-rzeka, »ein Interview wie ein Fluss« – ist deshalb nicht willkürlich. Während es sich auf eine Reihe von illustren Beispielen dieses Genres bezieht, darunter die gesprochenen Erinnerungen der Dichter Aleksander Wat, Czesław Miłosz und Joseph Brodsky6, verfolgt Der magnetische Norden nicht nur ein Zwiegespräch in Frage und Antwort, sondern bewahrt die Persönlichkeiten einer ganzen Generation, deren Stimmen auf diesen Seiten hörbar werden.
So rekonstruiert Venclova, mit der Gewissenhaftigkeit eines Genealogen, die Geschichten von Deportierten und anderen, deren Leben von der Stalin-Ära unwiderruflich zerstört worden sind. Wir erfahren von »prophylaktischen Gesprächen« der Geheimpolizei, von zwielichtigen Ritualen, in deren Verlauf die Machthaber ihre Rollen im Verhör wechselten wie eine vielköpfige Hydra. Auch familiäre Tragödien sind präsent, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Venclovas Vater trotz seiner privilegierten Position seinen eigenen Bruder nicht vor Deportation, Zwangsarbeit und Tod bewahren konnte. Doch wird man auch Zeuge heimlicher Triumphe, etwa wenn eine Lehrerin von Venclova – eine weitere Meisterin der ars memoriae – den Machthabern die Stirn bietet und ihren Studenten ein verbotenes Geschichtsbuch aus der Vorkriegszeit vollständig aus dem Gedächtnis vorträgt. Wie ein Reigen auf einem arbor consanguinitatis der Renaissance erscheint hier eine Reihe von Porträts von litauischen, russischen, polnischen und ukrainischen Intellektuellen, Malern und Schriftstellern. Diese Hingabe an das Gedächtnis bestimmt auch viele andere Werke Venclovas, wie Vilniaus vardai (Personen in Vilnius) und Vilnius. Eine Stadt in Europa, die sein langjähriges Engagement für die Bewahrung der Archäologie der Stadt und ihre kulturellen Persönlichkeiten zeigen.
Giorgio Agamben stellt in Signatura rerum fest, dass die Archäologie eine Wissenschaft der Ruinen ist, eine Ruinologie. Der magnetische Norden kann verstanden werden als ein dialogischer Fluss, der die archäologische Stätte des zwanzigsten Jahrhunderts umgrenzt und zwischen ihren Ruinen fließt. Und während kein einzelner Text jemals das »empirische Ganze« der Vergangenheit zurückholen kann, gibt es Momente, in denen die verlorene Vergangenheit wiederaufersteht – wie an einem strahlenden Tag, wenn man auf einer Bank am Fluss sitzt und sie in den unruhigen Sätzen von Venclovas Prosa gespiegelt sieht.
Die Geschichte einer Generation zu rekonstruieren, die das Ziel von seelischer und oft auch physischer Vernichtung gewesen ist, bedeutet, einen stillschweigenden Sieg davonzutragen. Während es einem Leser im Westen durchaus gelingen könnte, die Beziehungen zwischen westlichen Malern, Intellektuellen und Schriftstellern der Nachkriegszeit nachzuvollziehen, ist das Wissen um das kulturelle und intellektuelle Milieu Litauens noch immer ein »weißer Fleck« in der europäischen Geschichte, ein Wissen, das vor der Löschung gerettet werden muss, solange es im lebendigen menschlichen Gedächtnis noch aufscheint. Denn wie Venclovas Mentorin Anna Achmatowa glaubte, ist es das Gedächtnis, das die Totalität der menschlichen Geschichte, Gut und Böse, versammelt. Und wie Gott hat das Gedächtnis letztlich die Macht, zu überdauern und auf diese Weise über die Ereignisse der Geschichte und ihre Tyrannen zu triumphieren.
*
Die Entstehung dieses Buches ist in vieler Hinsicht so erstaunlich wie die Geschichten, die es enthält. Tomas Venclova und ich sind uns im Sommer 2003 in der Schweiz begegnet, im Château de Lavigny, knapp zehn Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem Miłosz 1954 mit seinen berühmten Erinnerungen Rodzinna Europa, deutsch: West und Östliches Gelände, begonnen hatte. Aufgrund einer rätselhaften Chemie, die sich nur durch die Tatsache erklären lässt, dass Dichter Angehörige ein und derselben erweiterten Familie sind, hatten Venclova und ich sofort eine Verbindung zueinander und haben Gedanken über die Dichtung ausgetauscht. An jenem ersten Nachmittag, im Schatten eines Baums, hat Venclova von seiner Kindheit, seinen Eltern und seiner Bekanntschaft mit Achmatowa, Pasternak und Brodsky erzählt. Ehe wir unsere Unterhaltung beendet hatten, war die Saat für dieses Buch gelegt worden, obwohl wir noch bis 2009 warten mussten, bevor wir mit der Arbeit beginnen konnten; es war ein Projekt, das sechs Jahre in Anspruch nehmen sollte.
Aufgrund der Gedrängtheit des Materials und unserer räumlichen Entfernung – Venclova befand sich an der Yale University in New Heaven, ich unterrichtete am Skidmore College in Paris – beschlossen wir, dass ein schriftlich geführter Dialog der Sache am förderlichsten wäre. Nach Recherchen und Vorbereitungen habe ich Venclova Fragen geschickt, die er einige Wochen später großzügig beantwortete, manchmal auf mehr als fünfundzwanzig Seiten. Viele Bücher und Artikel wurden herangezogen, von denen ich einige nennen möchte, die für mich von besonderer Bedeutung sind: Ljudmila Alexejewas Soviet Dissidence und The Thaw Generation, Natalja Gorbanewskajas Red Square at Noon und Donata Mitaitės Tomas Venclova. Speaking through Signs. Dankbar bin ich auch für Interviews mit Ljudmila Alexejewa in Moskau, Romas (Ramūnas) Katilius in Vilnius und Eitan Finkelstein in München. Romas Katilius und Eitan Finkelstein haben freundlicherweise einige der Kapitel gelesen, überprüft und hilfreich kommentiert. Gleichzeitige Aufenthaltsstipendien an der American Academy in Berlin und dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD im Jahr 2015 haben Tomas Venclova und mir kostbare Zeit für die Endredaktion des Manuskripts gegeben. Wir sind unserer Lektorin Katharina Raabe beim Suhrkamp Verlag außerordentlich dankbar für ihre fortgesetzte Unterstützung des Projekts und danken auch Claudia Sinnig, Tomas Venclovas deutscher Übersetzerin, die nicht nur die enorme Aufgabe der Übersetzung ins Deutsche übernommen, sondern eine unschätzbar genaue Lektüre geleistet hat. Schließlich möchten wir Tatjana Milovidova-Venclova und Mark Carlson für ihre Geduld und Unterstützung danken.
Abschließend sei gesagt, dass Tomas Venclova und ich zwar versucht haben, das Buch so umfassend wie möglich zu gestalten, doch glauben wir beide nicht, dass der Mensch lediglich die Summe seiner Lebenserfahrungen ist oder diese den »Werdegang eines Dichters« erklären können. Im Unterschied zum deterministischen marxistischen Weltbild, dem Venclova früh entsagt hat, sind wir der Auffassung, dass der Mensch ein frei handelndes Individuum ist, dessen Leben, Schaffen und Leidenschaften das rein Biographische sowie die Grenzen von linearer Prosa übersteigen. Wie Achmatowas Überzeugung, dass alle große Lyrik »ein Mysterium enthalten muss«, hoffen wir, dass Der magnetische Norden – wie ein Werk von Rembrandt van Rijn, den Mandelstam einmal den »Vater der grünschwarzen Dunkelheit« genannt hat – in seinen Tiefen trotz allem jene Geheimnisse bewahrt, die sich, wenn überhaupt, nur in Venclovas Versen entdecken lassen. Denn das Leben besteht auch aus Dingen, die sich nur indirekt erschließen, die der Lichtstrahl des Leuchtturms in der Nacht nicht erreicht und die trotzdem ein spürbarer Teil der Erfahrung sind – ganz gleich, ob tragisch oder froh, gehören auch sie zu dem magnetischen Eisen und der Anmut des Lebens.
1 Czesław Miłosz: Das Zeugnis der Poesie. Aus dem Polnischen von Peter Lachmann. München / Wien 1984, S. 9 f.
2 Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees der KPdSU »Über Maßnahmen zur Beschneidung der kriminellen Aktivitäten von Orlov, Ginsburg, Rudenko und Venclov«. 20. Januar 1977. In: Soviet Archives, collected by Vladimir Bukovsky, Folder 3.2. Veröffentlicht auf der Internetseite INFO-RUSS am 1. Februar 1999.
3 Tomas Venclova an Czesław Miłosz, in: Czesław Miłosz: Die Straßen von Wilna. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. München 1997, S. 129f.
4 ebenda, S. 129.
5 Tomas Venclova: Forms of Hope. Riverdale-on-Hudson 1999, S. 134.
6 Aleksander Wat: Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen. 1926-1945. Mit einem Vorwort von Czesław Miłosz. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Matthias Freise. Frankfurt am Main 2000. – Ewa Czarnecka, Aleksander Fiut: Conversations with Czesław Miłosz. Translated by Richard Lourie. New York 1987. – Solomon Volkov: Conversations with Joseph Brodsky. A Poet’s Journey Through the Twentieth Century. Translated by Marian Schwartz. New York 1998.
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