Seit Herbst 2015, als zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland kamen, hat sich das Land grundlegend verändert. Viele erleben die Migrationsbewegung als eine Zäsur, deren Folgen noch längst nicht abzusehen sind. Um zu verstehen, was da in den letzten Monaten eigentlich genau passiert ist, ist Tuvia Tenenbom einmal mehr kreuz und quer durch die Republik gereist.

Er wollte wissen, was die wahren Gründe der »Willkommenskultur« waren, warum Deutschland ein großes Herz gezeigt hat, aber immer noch keinen Plan hat, und wie es hier eigentlich um die Meinungsfreiheit bestellt ist. Seinen Gesprächspartnern – seien es Gregor Gysi, Volker Beck oder Kardinal Reinhard Marx, seien es Frauke Petry von der AfD, Pegida-Gründer Lutz Bachmann oder der geistige Führer der neuen Rechten, Götz Kubitschek, seien es Akif Pirinçci oder Jürgen Todenhöfer – hat er unbequeme Fragen gestellt. Die Erkenntnisse, die er dabei gewonnen hat, sind mindestens ebenso verstörend wie seine Besuche in den Flüchtlingslagern, wo er von beschämenden Zuständen berichtet, deren Auswirkungen nicht nur individuell verheerend sind, sondern in nicht allzu ferner Zukunft die gesamte deutsche Gesellschaft betreffen werden.

Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutsch-jüdisch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, in Europa und Israel. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller Allein unter Deutschen (st 4659) und Allein unter Juden (st 4684) sowie Allein unter Amerikanern (2016).

Tuvia Tenenbom

ALLEIN UNTER FLÜCHTLINGEN

Fotos, Organisation, Beratung: Isi Tenenbom

Aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Adrian und Bettina Engels

Suhrkamp

Aufgrund rechtlicher Erwägungen wurde das Gespräch mit Volker Beck in Kapitel 22 kurz vor Drucklegung unkenntlich gemacht.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4758.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Copyright © by Tuvia Tenenbom 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: Max Zerrahn

Umschlaggestaltung: Regina Göllner und Hermann Michels

eISBN 978-3-518-75136-7

www.suhrkamp.de

Für Isi,
deren Gegenwart und Einsatz
die Reise in jedem Moment lohnenswert machte

INHALT

1. KAPITEL  Flüchtlingsnation Deutschland

2. KAPITEL  Deutsche töten nicht, Punkt

3. KAPITEL  Queere Muslime und deutsche Politiker

4. KAPITEL  Hätten Sie gern Sex in einem Flüchtlingslager?

5. KAPITEL  Wie syrische Männer bei deutschen Frauen das Kartoffelschälen lernen

6. KAPITEL  Der Untote

7. KAPITEL  Die Deutschen behandeln jeden Hund besser als uns

8. KAPITEL  Hat Frauke Petry geweint?

9. KAPITEL  Zwei Semiten gegen 2000 Katholiken

10. KAPITEL  Was ist Pegida? Ein Mann und ein Laster

11. KAPITEL  Ich bete zu Allah, dass er mir eine blonde deutsche Frau gibt

12. KAPITEL  Die Deutschen sind kalt

13. KAPITEL  Selbstmordgedanken? Der Psychiater kümmert sich um dich – in zwölf Monaten

14. KAPITEL  Achtung! Da taucht gerade ein Flüchtling aus Ihrer Kloschüssel auf!

15. KAPITEL  Wenn Sie mich namentlich zitieren, verklage ich Sie

16. KAPITEL  Gregor Gysi liebt sein Frühstück, den Bundestag kann man vergessen

17. KAPITEL  Drei junge Muslime werden bei Ihnen einziehen, okay?

18. KAPITEL  Alle Araber sind willkommen, die Juden aber sind Nazis

19. KAPITEL  Keine Presse, bitte!

20. KAPITEL  Journalisten bekommen ein kostenloses Frühstück, damit sie keine dummen Fragen stellen

21. KAPITEL  Der Volksfeind

22. KAPITEL  Die Geschichte fängt mal wieder mit den Juden an

23. KAPITEL  Erst warfen sie Feuerwerkskörper auf die Kirche, dann vergewaltigten sie die weißen Mädchen

24. KAPITEL  Daimler bringt einem Flüchtling das Schrauben bei

25. KAPITEL  Wir brauchen eine eigene Wohnung, umsonst, plus regelmäßige Unterhaltszahlungen, kostenlose Krankenversicherung und Schulbildung

26. KAPITEL  Adiós, Germany

Danksagung

1. KAPITEL Flüchtlingsnation Deutschland

Syrien beziehungsweise das, was davon übriggeblieben ist, liegt nur einen Katzensprung von mir entfernt, aber ich kann nicht hin. Ich bin, siehe da, in Syriens größtem Feindesstaat: Israel. Ich meine, so war es jedenfalls bislang. Heute weiß niemand, wer Syriens größter Feind ist, am wenigsten die Syrer selbst oder die Israelis. Manchmal laufe ich in Israel durch die Straßen und erzähle den Leuten, ich sei Syrer. Die Juden fragen mich dann, ob ich Christ bin, während die Araber mich fragen, ob ich Muslim bin. Warum ich mich als Syrer ausgebe? Ich weiß es nicht. Ich war mehr als einmal in der arabischen Welt, in Saudi-Arabien, Jordanien, Katar und Ägypten, aber noch nie in Syrien. Ich habe hier und da einige Syrer kennengelernt und mochte sie, warum auch immer – Liebe ist schwer zu erklären. Ich mag die arabische Welt ganz allgemein, aber ein besonderes Faible habe ich für die Syrer.

Wie viele Syrer laufen derzeit durch Israels Straßen? Ich bin mir nicht sicher, schätze ihre Zahl aber auf irgendwas zwischen null und zwei, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger.

Ja, es gibt eine Handvoll Syrer hierzulande, da Israel einige Verwundete aus dem syrischen Bürgerkrieg in seinen Krankenhäusern behandeln lässt, aber diese Syrer laufen nicht, sie liegen.

Wo sind die Syrer, die noch laufen können? Man hört, dass sie sich zu Hunderttausenden in Deutschland befinden – und noch weitere auf dem Weg nach Deutschland sind.

Ja, da könnte ich mich unter Syrer mischen. Unter alle mögliche Syrer, nebenbei bemerkt. Ein deutscher Freund hat gerade eine Einladung zu einer Veranstaltung in Deutschland an mich weitergeleitet, bei der es unter anderem, man höre und staune, eine »Podiumsdiskussion mit und zu queeren Flüchtlingen« geben wird. Organisiert wird diese Veranstaltung von niemand Geringerem als den Grünen, lese ich in der Einladung. Wow! So etwas darf ein Mann wie ich nicht verpassen. Vielleicht gehört das nicht in die Öffentlichkeit, aber es war schon immer ein heimlicher Traum von mir, ein paar syrische Lesben und Transgender-Afghanen kennenzulernen. Diese diskursive Sause der Grünen sollte dafür doch die ideale Gelegenheit bieten. Das wird bestimmt eine tolle Sache. Ich bin noch nie einem queeren Muslim begegnet, in Deutschland aber werde ich von ihnen umringt sein!

Ich buche umgehend einen Flug und bereite mich geistig darauf vor, vom Heiligen Land in das Land der Deutschen zu fliegen.

Zugegeben, dies ist nicht der einzige Grund, warum ich nach Deutschland reise. Suhrkamp, mein Verlag, hat mich beauftragt, ein Buch über die Flüchtlinge in Deutschland zu schreiben. Ich habe meinen Abflug bislang allerdings hinausgezögert, weil es da, wo ich bin, so außerordentlich köstliches Essen gibt.

Mir geht es hier also prächtig, danke der Nachfrage. Ich habe mir ein Apartment direkt auf dem riesigen Markt von Jerusalem gemietet, dem Mahane-Yehuda-Markt, und genieße das Leben. Der Markt ist 20 Stunden am Tag geöffnet, und das Essen hier wurde im Paradies zubereitet, kostet aber nur kleines Geld. Gelinde gesagt, bin ich im siebten Himmel. Soweit ich das sehe, ist hier niemand ein Transgender-Muslim. Der siebte Himmel dieser Leute, vermute ich, ist der über Berlin.

Ich gönne mir eine Pause vom guten Essen und nähre meine Wissbegierde.

Ich fliege nach Deutschland.

Im Flugzeug versuche ich, meine Gedanken über das Flüchtlingsthema zu ordnen. Was weiß ich eigentlich über die Flüchtlinge in Deutschland oder anderswo?

Nicht viel. Ich habe über dieses Thema vor allem in amerikanischen und britischen Medien gelesen, das war’s dann aber auch. Ich las beispielsweise, dass die Türkei die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, insgesamt über zweieinhalb Millionen; dass der Libanon und Jordanien zusammen rund zwei Millionen Schutz bieten, die meisten anderen arabischen Länder aber, wenn überhaupt, dann keiner nennenswerten Anzahl von Flüchtlingen Zuflucht gewähren; dass Deutschland 2015 1,1 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern aufgenommen hat, mehr als jedes andere europäische Land, und in den kommenden Jahren weitere Hunderttausende pro Jahr aufzunehmen bereit ist. In der New York Times, Amerikas ungekrönter Zeitungsqueen, stand neulich ein Kommentar mit dem Titel: »Flüchtlingsnation Deutschland.« Nicht schlecht, was?

Ich habe Durst, aber es gibt noch nichts zu trinken. Hoffentlich kommen sie bald mit ihren Rollwagen durch die Kabine. Ich hätte mir eine Flasche von meinem Lieblingsgetränk, Cola light, kaufen sollen, bevor ich in den Flieger stieg, war aber zu spät dran. Ich stand nämlich draußen, um meine geliebten indonesischen Zigaretten zu rauchen, die besten Zigaretten der Welt, und erreichte gerade noch rechtzeitig das Gate.

Was weiß ich noch über das Flüchtlingsproblem?

Mitte Juli gab es einen im Fernsehen übertragenen »Bürgerdialog«, bei dem man Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit einem 14-jährigen palästinensischen Mädchen aus dem Libanon sah. Das Mädchen sagte zu Angela, die die ganze Welt inzwischen als »Mutti« kennt, sie habe Angst davor, zurück in den Libanon abgeschoben zu werden, worauf Angela erwiderte, dass sie ihr nicht wirklich helfen könne. Ich habe den genauen Wortlaut tatsächlich auf meinem iPad. »Du weißt auch«, entgegnete Angela dem Mädchen, »in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende, und wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen, und ihr könnt alle kommen, das, das können wir auch nicht schaffen.« Daraufhin brach das Mädchen in Tränen aus, und Angela ging zu ihr, um sie zu trösten, tat das aber auf eine etwas merkwürdige Weise, sodass ihr »Mutti«-Image ein klein wenig Schaden nahm.

Ja, und schon bald vollzog Angela einen Sinneswandel, und Deutschland nahm immer mehr Flüchtlinge auf. »Wir schaffen das«, verkündete Mutti am 31. August auf einer Pressekonferenz. Wahrscheinlich hat sie sich diesen Spruch vom amerikanischen Präsidenten Barack Obama und dessen erstem Wahlkampfslogan »Yes We Can« abgeschaut.

Anfang September, als Ungarn Flüchtlinge mit Tränengas daran hinderte, sein Staatsgebiet zu passieren, beschloss Angela, die europäische Dublin-Verordnung außer Kraft zu setzen und den Flüchtlingen in Ungarn die Einreise nach Deutschland zu gestatten. Das Dublin-Verfahren legt fest, dass Asylsuchende ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, in dem sie die EU erstmals betreten, Angela aber nimmt es mit solchen Regeln offenbar nicht so genau. Für sie und viele andere Deutsche – vor allem die kulturelle Elite – ist die Norm, an die sie sich gebunden fühlen, Artikel 16a, Paragraph 1 des Grundgesetzes, in dem steht:

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«

Punkt.

In Wirklichkeit aber heißt es in Paragraph 2 dieses Artikels: »Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften […] einreist.« Aber was soll’s? Wie jedes Gesetz auf der Welt kann auch dieses in vielfältiger Weise interpretiert werden, und Mutti weiß es am besten.

Ich entnehme diese Informationen übrigens meinem iPad. Ein Teil meines Gehirns, falls es Sie interessiert, befindet sich in diesem Gerät. Ja, wirklich. Wenn ich mein iPad verliere, bin ich die Hälfte meines IQ los, kein Witz.

Wann kommen die endlich mit den Getränken? Ich brauche eine Cola light. Jetzt. Hoffentlich muss ich sie nicht extra bezahlen. Bei Fluggesellschaften weiß man nie; bald werden sie einem den Sitzplatz und die Toilettenbenutzung berechnen. Ja, ja, Sie werden schon sehen. In zehn oder 20 Jahren wird jedes Verkehrsflugzeug über einen Bereich mit Stehplätzen verfügen, es wird unterschiedliche Toilettengrößen geben, je nachdem, wie viel man zahlt. Das ist die Zukunft, Baby, der westliche Kapitalismus kennt keine Grenzen.

Was finde ich noch auf meinem iPad? Bitte schön: Am 11. September zitierte die Deutsche Welle Angela Merkel wie folgt: »Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen.« Als die Syrer das hörten, strömten sie in Scharen nach Deutschland. Hätten Sie das an ihrer Stelle nicht auch getan?

Bald schon vollzog Mutti einen weiteren Sinneswandel. Am 13. September schrieb der Guardian, dass »Deutschland am Sonntag Grenzkontrollen eingeführt und in einer drastischen Maßnahme jeglichen Zugverkehr mit Österreich unterbrochen hat, nachdem die Bundesländer gewarnt hatten, dass sie die erdrückende Zahl von Flüchtlingen, die ins Land kommen, nicht mehr bewältigen können«.

Rund einen Monat später, schrieb der britische Independent, wie ich auf meinem iPad sehe, dass Angela Merkel »Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Ministerpräsidenten Ahmet Davutog˘lu geführt hat, um Ankaras Unterstützung für den Plan einer verstärkten Pufferzone in der Region zu gewinnen. Diese solle die Flut an Kriegsflüchtlingen aus Syrien und Afghanistan bremsen, die gegenwärtig nach Europa kommen.«

Die Tage, Wochen und Monate zogen ins Land, und bevor es irgendjemand bemerkte, ging das Jahr 2015 zu Ende und das Jahr 2016 stand vor der Tür, und mit ihm die Silvesterfeiern.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass ein Steward und eine Stewardess Anstalten machen, den Passagieren Getränke anzubieten. Wäre aber auch Zeit!

Wenn der Sekundenzeiger am Times Square in New York die Zwölf erreicht, tauschen Zehntausende von Menschen Küsse mit ihren Liebsten aus. Deutschland aber ist nicht die USA, und an Silvester 2015 war eine ziemlich große Anzahl von Leuten mit etwas ganz anderem beschäftigt als mit dem Austauschen von Küssen. Sie waren mit Vergewaltigen beschäftigt, um es deutlich zu sagen. Dies geschah in einer Reihe von deutschen Städten, nirgendwo aber in solchem Ausmaß wie in Köln. Tausende von Männern, die nach Augenzeugenberichten »arabisch« oder »nordafrikanisch« aussahen, versammelten sich auf dem Platz zwischen Hauptbahnhof und Dom und begannen, mit deutschen Frauen zu »spielen«. Sie grapschten hier und stahlen da, sie steckten hier ihre Finger in Vaginas und drückten dort Brüste, sie schlugen hier einige Frauen zusammen und vergewaltigten andere da – bis sie genug hatten. In den darauffolgenden Tagen und Wochen gingen über tausend Anzeigen bei der Polizei ein.

Ich war in New York, als das geschah, und erinnere mich, dass ich von diesen Ereignissen nicht aus der Presse, sondern aus den sozialen Medien erfuhr. Die Mainstream-Medien, stellte sich Tage später heraus, wussten, was auf dem Platz und in den umliegenden Straßen vor sich gegangen war, beschlossen aber, die Öffentlichkeit nicht davon zu unterrichten. Warum? Wenn die Leute davon erfahren, sagten sich die Verantwortlichen, werden sie ungehalten über Angelas Politik der »offenen Tür« gegenüber den Flüchtlingen und stimmen bei den nächsten Wahlen für die rechte Alternative für Deutschland (AfD).

Da ich eine Politikkolumne für Zeit online schreibe, bin ich selbst Teil der deutschen Medien und weiß, wie sie funktionieren. Die meisten deutschen Journalisten, die ich kennengelernt habe, halten den Journalismus für ein Instrument der »Volkspädagogik«, bei dem Tatsachen viel weniger zählen als das »richtige Denken«. In ihrer Selbstwahrnehmung stehen sie eine Stufe über den »Massen« und halten es für ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Leute das Richtige denken, was in diesem Fall bedeutete, dass sie es mit Mutti halten.

Was aber denkt Mutti wirklich?

Das ist schwer zu sagen.

Im März 2016 verständigte sich die Europäische Union durch Angelas Vermittlung auf ein komplexes Abkommen mit der Türkei. Im Rahmen dieses Abkommens wird die Türkei ihre Grenzkontrollen verschärfen, um zu verhindern, dass Flüchtlinge irregulär von türkischem Staatsgebiet aus nach Griechenland gelangen. Flüchtlinge, denen dies dennoch gelingt, werden in die Türkei zurückgeführt. Für jeden Syrer, der wieder in die Türkei abgeschoben wird, nimmt die EU einen syrischen Flüchtling auf, der sich in der Türkei befindet, bis zu einem Kontingent von 72 000. Flüchtlinge, die Asyl beantragen und deren Antrag nicht abgelehnt wird, dürfen bleiben. Die Türkei erhält sechs Milliarden Euro und ein paar weitere Vergünstigungen.

Kurz gesagt und in einem Satz zusammengefasst bedeutet dieses Abkommen für Deutschland: Deutschland steht immer noch als ein Land da, das Flüchtlinge aufnimmt, nur dass diese Flüchtlinge gar nicht mehr in Deutschland ankommen, weil sie irgendwo in weiter Ferne feststecken, tot oder lebendig.

Ich lache still in mich hinein, wenn ich an die New-York-Times-Überschrift denke: »Flüchtlingsnation Deutschland.«

Aber ob einem nun zum Lachen oder zum Weinen zumute ist, die Reise in diesem deutschen Flugzeug ist alles andere als ein Vergnügen. Der Sitz ist schmal, nicht nur für einen dicken Mann wie mich. Der Abstand zwischen den Sitzreihen ist höchstwahrscheinlich in vielen Religionen verboten, nur sind Fluggesellschaften bekanntlich atheistisch. Wenn man nicht äußerste Vorsicht walten lässt, drückt man unweigerlich mit den Knien gegen das Hinterteil seines Vordermanns. Katholische Priester stehen vielleicht auf sowas, ich jedoch bin nicht katholisch, zumindest noch nicht.

Und es wird immer noch nichts zu trinken gereicht!

Wie lange mag dieser Flug noch dauern, um Himmels willen?

Es sollte, meine ich, ein Genfer Flugreisenden-Abkommen geben, das den Kunden von Fluggesellschaften Grundrechte wie eine minimale Beinfreiheit sichert. Es gibt übrigens eine Genfer Flüchtlingskonvention, ein Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Sie ist im Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert, in dem es heißt: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.« Das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung von Flugreisenden würde feststellen: »Jeder hat das Recht, seinen Flug zu genießen und seine Beine in bequemer, natürlicher und menschengerechter Weise bewegen zu können.«

Abkommen oder nicht, die Zeit vergeht, und ich kriege endlich eine lauwarme Cola light, die natürlich der reine Horror ist. Es ist mir unbegreiflich, wie Menschen, fast immer Nichtamerikaner, lauwarme Cola light trinken können.

Der Rest ist schnell erzählt: Das Flugzeug landet.

Nein, nicht in Berlin; noch nicht. Ich strecke meine Glieder in Hamburg.

Warum in Hamburg?

Nun ja, mir wurde von einigen Deutschen gesagt – Deutsche, falls Sie’s noch nicht wussten, verspüren oft das Bedürfnis, Fremden Flüchtlingsgeschichten zu erzählen –, dass ich in das Villenviertel Harvestehude kommen müsste, wenn ich Flüchtlinge sehen wollte, die in einer von Hamburgs schöneren Gegenden leben.

Bevor ich mich mit queeren Flüchtlingen treffe, sollte ich mich erst mal mit reichen Flüchtlingen treffen.

Voll logisch, oder?

Für mich schon.

Jedenfalls bin ich noch vor Sonnenuntergang im Villenviertel.

2. KAPITEL Deutsche töten nicht, Punkt

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Harvestehude ist wunderschön. Wenn ich jemals deutscher Kanzler werde, was mein nächstes Lebensprojekt ist, kaufe ich mir eine Villa hier. Sollte dieser Traum allerdings nicht in Erfüllung gehen, nehme ich einen Flug nach Syrien und kehre als Flüchtling nach Deutschland zurück.

Allerliebst, dieses Viertel, wirklich malerisch.

Ich lasse mich treiben und genieße es, wie hier eine Prachtvilla nach der anderen darum buhlt, von mir in Besitz genommen zu werden. Das stattliche Anwesen direkt vor mir scheint eine Art Galerie zu sein und ist mit allerlei Buddha-Skulpturen geschmückt. Hier steht ein Buddha neben einem imposanten Baum und wird kunstvoll beleuchtet.

Reizender Buddha.

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als die Deutschen auf Buddha abgefahren sind? Ich schon. Das war eine lustige Episode der deutschen Geschichte, meiner deutschen Geschichte. Als ich vor rund 15 Jahren das erste Mal nach Deutschland kam, war jeder dritte Deutsche, den ich kennenlernte, auf dem Buddha-Trip.

Eine schöne Zeit war das! Ich konnte meinen neuen deutschen Freunden endlos zuhören, vor allem wenn sie auf dem Boden saßen, Gras aßen, Kerzen anzündeten und miteinander irgendetwas sprachen, das sie für Hindi hielten. Mit starkem deutschen Akzent versuchten sie, mir faszinierende Geschichten über den Tod und das Nirwana zu erzählen.

Ich treffe solche Leute nicht mehr. Die, die ich kannte, sind älter geworden und haben Kinder bekommen, eins oder ein halbes, und dann haben sie sich scheiden lassen und sind eines Tages aus meinem Leben verschwunden. Weiß Gott, wo sie heute sind; in Kuba vielleicht.

Ich überlasse Buddha sich selbst und gehe weiter. Und sehe direkt neben den prachtvollen Villen in einer Straße namens Sophienterrasse ein Gebäude, das eher keine Villa ist. Ursprünglich beherbergte dieses ausgesprochen nichtssagende Bauwerk irgendeine Verwaltung. Meinen Informationen zufolge hat die Stadt Hamburg annähernd 20 Millionen Euro investiert, um die Immobilie zu erwerben und in eine Unterkunft für rund 200 Flüchtlinge umzuwandeln.

Das schaue ich mir von innen an.

Das Haus ist überfüllt mit Flüchtlingen aller Art, Erwachsenen und Kindern, und ich mache die Bekanntschaft eines reizenden arabischen Paars. Wirklich nette Leute. Sie stammt ursprünglich aus Syrien und er aus dem Libanon, wo sie beide lebten, bevor sie hierherkamen.

Wie seid ihr nach Deutschland gekommen?, frage ich sie in Erwartung einer anrührenden Geschichte über Menschen, die in einem permanent vom Kentern bedrohten Schlauchboot mit den Elementen rangen, durch ihre Entschlossenheit aber, die stärker war als der wütendste Wind und die wildesten Wellen, emporgehoben und direkt nach Deutschland getragen wurden. Na ja, die Art von Geschichte halt, die ich in den Zeitungen lese. Aber nein. Sie haben nicht mit den Elementen gerungen. Sie kamen, erzählen sie mir, auf die denkbar einfachste Weise nach Deutschland, mit dem Flugzeug, zusammen mit ihren beiden Söhnen.

Der Mann, ein ehemaliger Textilverkäufer, lernt derzeit Deutsch, weil man ihm eröffnet hat, er bekäme weniger Geld vom deutschen Staat, wenn er es nicht täte. Seine Frau lernt gar nichts; sie beteuert, sie sei krank und könne daher nicht sitzen, nur liegen, und deshalb an keinem Unterricht teilnehmen. Das ist in Ordnung für die Deutschen, die nette Menschen sind und die die Summe, die sie ihr zahlen, um keinen Cent reduzieren werden.

Ich gehe in ihr Zimmer.

Jetzt zumindest sitzt sie. Aber ich bin kein Deutschlehrer, also alles gut.

Der Mann sieht mich an und erkennt sofort, dass ich etwas zu mir nehmen muss. Möchtest du einen Kaffee?, fragt er mich.

Natürlich möchte ich einen Kaffee.

Er macht mir einen Kaffee, einen arabischen Kaffee.

O Allah! Ich probiere den Kaffee und würde am liebsten gleich zum Islam konvertieren!

Während ich die schwarze Magie genieße, höre ich der Frau zu. Sie erzählt mir, dass sie daheim im Nahen Osten vor einigen Jahren zum Christentum übergetreten ist und die beiden deshalb aus dem Libanon weggegangen sind. Im Libanon drohe jedem, der dem Islam abschwöre, tagtäglich der Tod, weil die Muslime Menschen, die vom Glauben abgefallen seien, besonders verabscheuten.

Wurde sie persönlich von irgendjemandem bedroht? Das weiß Allah.

Ich nippe weiter an dem magischen Gebräu.

Und nach noch ein paar Schlucken sagt sie mir, dass Deutschland ein großartiges Land ist.

Ihr Mann pflichtet ihr bei.

Und wieso?

Deutschland ist ein reiches Land, sagen sie beide, und die »Deutschen lieben uns«.

Warum lieben sie euch? Was glaubt ihr?, frage ich das Paar.

Das wissen sie nicht. Sie wissen nur, dass jedes Familienmitglied, jeder von ihnen vieren, 400 Euro im Monat erhält, als Geschenk des deutschen Volkes.

Die Unterkunft ist umsonst, das Essen ist umsonst, aber es gibt keinen Alkohol.

Nun ja, mit 1600 Euro können sie sich, wenn sie es denn wollen, die eine oder andere Flasche leisten.

Der Mann ist übrigens auch Heilmasseur und behandelt mich zwei Minuten lang umsonst. Ich bekomme noch eine Tasse Kaffee und bin selig.

»In Syrien bringen die Menschen einander um, sie schlachten sich gegenseitig ab, in Deutschland hingegen sind die Leute nett, sehr nett. Die Deutschen haben Kultur; sie töten nicht«, lässt mich die Frau wissen.

Töten nicht?

»Nein! Die Deutschen sind nett!«

Der Kaffee schmeckt fantastisch, sage ich zu ihnen.

»Willst du noch einen? Es ist noch welcher da!«

Danke, danke. Übrigens: Wisst ihr, was sich hier, im schönen Hamburg, vor 70 oder 80 Jahren abgespielt hat? Wisst ihr, was die Deutschen da taten?

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Sie starren mich an.

Mann wie Frau, mit Namen Tanios und Maha, verstummen.

Ich verabschiede mich von ihnen und verlasse die Flüchtlingsunterkunft.

Sie waren meine ersten Flüchtlinge auf dieser Reise. Werden die anderen so sein wie sie?

Am nächsten Tag nehme ich einen Zug nach Berlin. Weitere Flüchtlinge warten auf mich, die queeren Syrer.

3. KAPITEL Queere Muslime und deutsche Politiker

Ich fahre gern mit der Bahn, vor allem mit der Deutschen. Sie ist schnell, sie ist sauber, und sie ist pünktlich. Vielen Deutschen gefällt es nicht, wenn ich das sage. Die Bahn ist nie pünktlich, klagen sie. Haben sie recht? Meistens nicht, aber sie nörgeln gerne.

Die Deutschen sind ewige Nörgler, genau wie die Juden, das weiß ich schon lange.

Der Zug nach Berlin gleitet gewohnt sanft und ziemlich schnell durch die Landschaft.

Eine freundliche Mitarbeiterin der Deutschen Bahn geht mit einem Tablett voller Kaffees durchs Abteil. Möchten Sie einen Kaffee?, fragt sie. Warum eigentlich nicht? Ich kaufe einen Becher Cappuccino zu einem stattlichen Preis. Am oberen Rand des Pappbechers zeigt ein kleiner Strich die 0,3-Liter-Marke an. Ich öffne den Becher und stelle fest, dass der Milchschaum exakt die 0,3-Marke erreicht. Das ist Deutschland. Exakt.

Der Libanese gestern servierte mir den Kaffee nicht in einem Pappbecher, sondern in einem Glas, auf dem sich keine Strichmarkierung befand. Wer braucht Striche? Niemand im Libanon hat irgendeine Verwendung für solche Striche. Wir sind aber nicht im Libanon. Das hier ist Deutschland, dies ist ein Zug, und die Kaffeebecher haben Markierungen.

Was soll ich sagen? Der arabische Kaffee, der im Glas ohne Markierung, war viel, viel, viel, viel besser als dieser Kaffee!

Ich kann diesen lausigen 0,3-Liter-Becher nicht austrinken, sorry für meine ewige Nörgelei, und bin sowieso schon bald in Berlin. Wo ich aussteige und mich schnurstracks auf die Party begebe.

Plakate und Broschüren mit dem Slogan »Du. Wir. Queer« begrüßen die Ankommenden, die sich als Allererstes auf die alkoholischen Getränke stürzen. Sind das Muslime? Ich dachte, Muslime trinken keinen Alkohol, aber vielleicht bilden queere Muslime da ja eine Ausnahme.

Moment mal! Diese Leute sehen nicht besonders arabisch oder afghanisch, persisch oder pakistanisch aus. Die sind so muslimisch wie ich syrisch. Wo sind die queeren Syrer? Wo die Trans-Afghanen? Ich kann sie nicht finden. Ich schaue mich um auf dieser queeren Veranstaltung, aber die Gesichter, die zurückglotzen, sind allesamt höchst deutsch. Könnte es sein, dass syrische oder afghanische Queere von Natur aus Deutschen gleichen?

Könnte natürlich sein.

In Deutschland ist alles möglich, wie ich im Lauf der Jahre gelernt habe. In Deutschland passieren die seltsamsten Dinge; das gehört zur Geschichte dieses Landes.

Wer immer diese Leute sind, hier gibt es nicht nur Getränke. Das ist schließlich eine politische Party, und Politiker lieben Reden, also genau das, was hier jetzt gerade auf dem Programm steht. Gehalten werden die Reden übrigens in perfektem Deutsch, ohne nennenswerten ausländischen Akzent.

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Ich treffe auf Volker Beck, Bundestagsabgeordneter sowie migrations- und religionspolitischer Sprecher der Fraktion der Grünen im Bundestag. Der Mann hat kaum noch ein Haar auf dem Kopf, sieht aber trotzdem cool aus. Ich frage ihn, ob er unter den Besuchern, die ich auf 200 bis 300 Leute schätze, irgendeinen queeren Araber kennt, woraufhin er einen ausdeutet. Einen.

Toni Hofreiter, Bundestagsabgeordneter und einer von zwei Fraktionsvorsitzenden der Grünen-Fraktion im Bundestag, trägt langes Haar und einen Bart. Er trinkt ein Bier und verweist mich bei meiner Frage, ob er hier irgendwelche queeren Syrer kennt, an Volker.

Also gut. Soweit ich das beurteilen kann, gibt’s in Muttis Schlafzimmer mehr queere Syrer als hier. Diese Party ist, wie mir so langsam dämmert, eine stinknormale Parteiveranstaltung der Grünen, bei der man listigerweise die Vorstellung von queeren und tuntigen Flüchtlingen als Köder benutzt hat, um Sie und mich anzulocken.

Kein schlechter Trick.

Die Redner hier tun, was Redner überall tun: Reden halten. Worüber? Über etwas in der Art, dass man ein Recht auf Ehe und Frohsinn hat. Nichts Grundstürzendes für einen Bewohner des heutigen Westens. Dann aber gibt es doch noch ein Schmankerl: Ein Mann namens Mahmud betritt die Bühne. Mahmud ist ein 41-jähriger syrischer Autor, der als Berater für Schwule und Lesben in Berlin tätig ist.

Mahmud ist eigentlich kein Flüchtling, sieht aber wie einer aus. 2011 ging er von Syrien in die Türkei und arbeitete dort als Journalist, bis er irgendwann nach Deutschland eingeladen wurde. Er kam in dieses Land, blieb länger, als sein Visum gültig war, und hat heute einen legalen Aufenthaltsstatus.

Er spricht über Ehrenmorde in den Kurdengebieten und Schwulenmorde in Syrien. Das klingt so, als würden in Syrien nur Jungfrauen, die Sex mit Männern haben, und Männer, die Sex mit anderen Männern haben, ermordet. Man muss schon ein ziemlicher Hohlkopf sein, um ihm das abzukaufen, aber mit genügend Alkohol im Blut kauft man sogar die Brooklyn Bridge.

Erwartungsgemäß spricht auch Volker. Ich höre nicht wirklich zu, aber wenn ich mich nicht irre, geht es um schwule, lesbische und Transgender-Flüchtlinge. Ich frage mich, wie viele Muslime sich in den syrischen, libyschen, afghanischen und irakischen Krankenhäusern gerade einer Geschlechtsumwandlung unterziehen. Aber wenn einem Raketen und Kugeln um die Ohren pfeifen, ist natürlich alles möglich.

Nach dem Ende der Veranstaltung begegne ich Inana, einer jungen Frau aus Syrien, wie sie sagt, die freizügig gekleidet ist und jedem, der möchte, ihre nackte Haut zeigt. Inana spricht fließend Englisch, wobei sie durchschnittlich alle drei Sekunden das Wort »fuck« einfließen lässt. Und, ach ja, sie ist lesbisch.

Zwei LGBT-»Flüchtlinge« auf dieser Veranstaltung. Mehr nicht. Lieben Sie nicht auch die Politiker? Ich jedenfalls schon.

Ich verlasse die Party. Sollen sie doch ihren Spaß daran haben, sich gegenseitig zum Narren zu halten.

Draußen laufen mir zwei Leute über den Weg, die sich als Journalisten bezeichnen. Einer von ihnen erzählt mir, die AfD habe soeben einen jüdischen Rechtsanwalt beauftragt, bei der Amtsenthebung Angela Merkels behilflich zu sein. Warum sollte ein »jüdischer« Anwalt so etwas tun? Weil, höre ich zur Antwort, der jüdische Anwalt Angela Merkel als Verräterin ansieht.

Ich bin kaum einen Tag in Deutschland und bekomme bereits Geschichtchen über »jüdische Anwälte« zu hören.

Warum überrascht mich das so?

Wie auch immer es sich damit verhalten mag, Millionen von Deutschen hätten gerne, dass die AfD wieder vom Erdboden verschwindet, während nicht wenige andere sie ziemlich gut finden – in den Umfragen jedenfalls legt die Partei zu.

Unter der energischen Führung von Frauke Petry hat sich die AfD rasch als neue rechte Partei mit einer »antimuslimischen« Philosophie etabliert. Im Mai 2016 verabschiedete sie ein Grundsatzprogramm, das ein Verbot von Minaretten und Burkas vorsieht. Die Muslime in Deutschland mögen die AfD natürlich ganz und gar nicht. Tatsächlich verglich Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, die Ideologie der AfD mit der Ideologie von Hitlers Nazipartei.

Obwohl ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen würde, vermute ich, dass die AfD heute Abend keine Party mit queeren Syrern und Trans-Afghanen feiert. Schande über sie.

Ich nehme ein Taxi zu meinem Hotel und unterhalte mich mit dem Fahrer, einem gesprächigen Mann, der mir unter anderem verrät, wie Journalisten an ihre Informationen kommen: Sie reden mit den Taxifahrern, dann gehen sie ins Büro und schreiben auf, was der »Volksmund« von sich gibt. Das ist nicht fair, findet er, schließlich gibt es viele Menschen auf der Welt, die keine Taxifahrer sind.

Wonach fragen deutsche Journalisten Sie derzeit am häufigsten?, will ich von ihm wissen.

»Sie wollen meine Meinung über die Flüchtlinge hören«, antwortet er.

Seine Beobachtung über Journalisten ist meiner Erfahrung nach korrekt.

Beweg deinen Hintern aus diesem Taxi und triff dich mit Flüchtlingen, sage ich mir. Nur, wo leben die Flüchtlinge, außer in Harvestehude? Das muss ich als Erstes herausfinden.

4. KAPITEL Hätten Sie gern Sex in einem Flüchtlingslager?

Vor langer Zeit, als die Welt noch nicht so entwickelt war und Flugreisende sich ausreichender Beinfreiheit erfreuten, wäre man beim Anflug auf die deutsche Hauptstadt wahrscheinlich auf dem Flughafen Tempelhof gelandet.

Zu einer bestimmten Zeit, an die sich Tanios und Maha lieber nicht erinnern möchten, gab es in Tempelhof, einem Stadtteil mitten in Berlin, ein nationalsozialistisches Konzentrationslager. Auf demselben Areal befand sich auch noch ein Zwangsarbeitslager, in dem bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs arme Seelen von morgens bis abends auf dem Flughafen Tempelhof schufteten. Dieser Flughafen aber diente nicht nur den Nazis, sondern auch den Alliierten. In den späten 1940er-Jahren warfen alliierte Flugzeuge, hierzulande als »Rosinenbomber« bezeichnet, Rosinen und Süßigkeiten über der Stadt ab; die Berliner Luftbrücke bewahrte Westberlin davor, den Sowjets in die Hände zu fallen.

Geschichte, das ist die Substanz von Berlin. Oder?

Zu Beginn dieses Jahres wurde in Berlin ein neues historisches Kapitel aufgeschlagen: die Eröffnung des Tempelhofer Flüchtlingszentrums, in dem zusätzlich zu den aktuell 2000 Flüchtlingen bis zu 5000 weitere dort untergebracht werden sollen – der alte Flughafen Tempelhof würde damit zu Deutschlands größtem Flüchtlingslager.

Habe ich gehört.