Auf einer Reise in Pakistan sieht Mr B, ein britischer Gentleman, eine kleine Eselin: Sie ist vollbepackt, ihre dünnen Beine zittern unter der schweren Last. Kurzerhand springt Mr B ihr bei, fest entschlossen, sich um das Tier zu kümmern und es mit nach Hause zu nehmen. Das einzige Problem: Sein Zuhause liegt in London, und eine Eselin kann nicht im Flugzeug reisen. Also begeben sich Mr B und Pawlowa, wie er die Eselin von nun an nennt, auf eine lange Reise durch den Mittleren und den Nahen Osten bis nach Europa – zu Fuß. Die Reise führt sie an einige der faszinierendsten Orte dieser Erde, bis sie plötzlich getrennt werden: Mr B wird grundlos in der Türkei ins Gefängnis gesteckt. Und der Reise droht ein abruptes Ende.
Eine liebenswerte Geschichte, die von der Kraft der Freundschaft erzählt und uns zeigt, wie farbenprächtig unsere Welt ist, wie unbekannt und nah zugleich.
Brian Sewell, geboren 1931 in London, galt als der »berühmteste und umstrittenste« (The Guardian) Kunstkritiker und Kolumnist Großbritanniens. Er verfasste mehrere Autobiographien und war als großer Tierfreund bekannt. 2015 verstarb er mit 84 Jahren in London. Pawlowa ist sein erstes Buch in deutscher Übersetzung.
Sally Ann Lasson ist als Illustratorin, preisgekrönte Innendesignerin und als Cartoonistin u. a. für den Independent tätig. Ihre Cartoonbände erschienen in zahlreichen Ländern.
Claudia Feldmann studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Unter anderem hat sie Eoin Colfer, Reggie Nadelson, Bernard Werber und Morgan Callan Rogers ins Deutsche übertragen.
PAWLOWA
oder Wie man eine Eselin
um die halbe Welt schmuggelt
Roman
Aus dem Englischen
von Claudia Feldmann
Insel Verlag
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
The White Umbrella bei Quartet Books, London.
eBook Insel Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017.
Text © Brian Sewell, 2015.
Illustrationen © Sally Ann Lasson, 2015.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg nach einer Idee von e-Digital Design, Konzept: Jeffrey James
Umschlagabbildung: Sally Ann Lasson
eISBN 978-3-458-75184-7
www.suhrkamp.de
Geschrieben mit Hoffmanns Nicklausse zur einen Seite, Blaise Cendrars zur anderen und immer noch einem schlechten Gewissen wegen jenes Esels in Peschawar.
I. Mr B rettet ein Eselfohlen
II. Faruk der Apotheker
III. Der versehentliche Drogenkurier
IV. Ein persischer Dichter und eine persische Karte
V. Pawlowa fährt mit dem Zug nach Isfahan
VI. Pawlowa wird auf Teppichen nach Täbris getragen
VII. Mr B wird an der türkischen Grenze verhaftet
VIII. Der britische Botschafter lässt Mr B abholen
IX. In Istanbul übernimmt die Frau des Botschafters das Kommando
X. Der langsame Zug von Andreas Papagos
XI. Auf Schusters Rappen bis zur Rettung durch einen Rolls-Royce
XII. Eine Nacht in einem Kloster
XIII. Wie man eine Eselin über den Ärmelkanal schmuggelt
XIV. Zu Hause in Wimbledon
Mr B, ein drahtiger kleiner Mann von fünfzig Jahren mit weißem Haar, saß auf dem Rücksitz eines großen weißen Landrover, als er den Esel sah. Es war früher Abend, und der dichte Feierabendverkehr in Peschawar bewegte sich nur im Schneckentempo vorwärts – was auch gut war, denn Mr B öffnete plötzlich die Tür, sprang auf die Straße und verschwand ohne ein Wort zwischen den Karren und Lieferwagen, den Bussen und Motorrädern.
Seine Gefährten, ein Fernsehteam aus London – denn Mr B war im nördlichen Pakistan, um einen Film über die Vorgeschichte dieses Landes zu drehen –, waren überrascht. Dominic, der Jüngste und Unwichtigste, aber auch der Größte und Gelenkigste von ihnen, besaß die Geistesgegenwart, ebenfalls aus dem Auto zu springen und Mr B hinterherzulaufen. Sie mochten Mr B nicht besonders. Er nahm seine Arbeit ernst und wusste eine Menge über antike Geschichte, aber er begriff nicht, dass sein Wissen bei der Produktion von Fernsehdokumentationen niemanden interessierte und dass er als Moderator lediglich die Marionette des Regisseurs und des Kameramanns war.
Bereits zwei Tage nach der Ankunft in Pakistan sprachen sie kaum noch miteinander. Der Kameramann wollte nur die bunt bemalten Laster und Transporter filmen, die unablässig vorbeidonnerten, besetzt mit Passagieren, die sich an allem festhielten, was sich ihren Händen oder Füßen bot. Wenn ihnen ein Büffel oder ein Kamel über den Weg lief, befahl der Regisseur Mr B sofort, auf dessen Rücken zu klettern; außerdem nötigte man ihn, das Essen von allen möglichen Straßenständen zu kosten und auf diversen Musikinstrumenten zu spielen. Mr B hingegen, der wusste, dass zweitausenddreihundert Jahre zuvor Alexander der Große, der ruhmreichste Held der Geschichte der griechischen Antike, seine Armeen den ganzen weiten Weg von Mazedonien nach Pakistan geführt hatte, wollte erforschen, ob in der heutigen Sprache, Kultur und Tradition noch immer Spuren dieser Eroberung existierten. Vor allem aber hätte er gerne in den abgelegeneren Regionen des Hindukusch einen stolzen pakistanischen Krieger gefunden, der in der Lage war, sich mit ihm auf Altgriechisch zu unterhalten. Doch in den vergangenen zwei langen Wochen hatte man Mr B nicht gestattet, etwas in der Art zu finden, und mittlerweile platzte er beinahe vor Ärger und Enttäuschung.
Allein dass sie ihn Mr B nannten, zeigte schon, welche Kluft sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Da sie höchst unfreundliche Gefühle für ihn hegten, wollten sie seinen Vornamen nicht benutzen, und ihn mit dem Nachnamen anzusprechen, hätte womöglich den Schluss nahegelegt, dass sie ihm wegen seines Wissens großen Respekt entgegenbrachten, was nun wirklich nicht zutraf. Es war der junge Dominic – der ihn tatsächlich mochte und respektierte und sehr gut verstand, wie schmerzhaft es für ihn sein musste, zuzusehen, wie der Film, den er sich vorgestellt hatte, sich zusehends in Luft auflöste –, der ihn als Erster mit Mr B angeredet hatte, und die anderen hatten es dann übernommen. Ihn Mr B zu nennen, war nicht offen feindselig, aber es zeugte von einer gewissen Distanz, und Dominic gelang es, diese glaubwürdig zugetan wirken zu lassen.
Als Dominic Mr B eingeholt hatte, stand dieser neben einem kleinen Esel, hatte den Arm um dessen Hals gelegt und tupfte mit seinem Taschentuch das Blut von vier tiefen Wunden im Rücken des Tieres. Sie stammten von einer Art Sattel aus Weidenruten, der in Pakistan verwendet wird, um eine ebene Ladefläche für die gewaltigen Lasten zu haben, die die Esel dort häufig tragen müssen. Doch dieser Esel, das sah Dominic sofort, war noch viel zu jung zum Arbeiten. Außerdem sah Dominic, dass Mr B mächtig wütend war. »Ich wette, die Kleine ist noch nicht mal ein halbes Jahr alt. Vielleicht wird sie sogar noch von ihrer Mutter gesäugt. Jeder Dummkopf kann sehen, dass ihre Knochen und Gelenke noch nicht ausgewachsen sind!«
In diesem Moment kamen der dicke Regisseur und der Kameramann schwitzend und keuchend angelaufen. Dominic erklärte die Situation. »Lassen Sie den Esel und steigen Sie wieder ins Auto«, verlangte der Regisseur. »Nicht ohne die Eselin«, sagte Mr B. »Ich kann und werde sie nicht einfach hier zurücklassen.« Während sie stritten, wurden ihre Stimmen immer lauter, und um sie herum bildete sich ein Ring aus verständnislosen Zuschauern. Es wäre vernünftig gewesen, die kleine Eselin ihrem Schicksal zu überlassen und nach Islamabad weiterzufahren, von wo sie am nächsten Tag nach London zurückfliegen würden, doch Mr B war kein vernünftiger Mann – im Gegenteil, wenn man ihn provozierte, konnte er ausgesprochen unvernünftig sein. »Wir fahren ohne Sie«, drohte der dicke Regisseur. »Nur zu«, erwiderte Mr B erstaunlich klar und entschlossen. Der Kameramann nahm seinen Arm, doch Mr B schüttelte ihn ab. »Was werden Sie tun, wenn wir Sie hier zurücklassen?«, fragte Dominic leise. »Zu Fuß nach Hause gehen«, sagte Mr B. »Mit der Eselin.« Und er lächelte übers ganze Gesicht.
Eine ganze Stunde lang rangen sie miteinander, und die Menge, die sich langweilte, weil niemand zu Tode kam oder auch nur verletzt wurde, löste sich auf, bis nur noch Mr B und das Fernsehteam zurückblieben. Es wurde dunkel, doch nicht einmal die abendliche Kälte konnte Mr Bs Entschlossenheit etwas anhaben. Schließlich holte Dominic Mr Bs Gepäck aus dem Auto und half ihm, nur das Nötigste davon in einen kleinen, bequemen Rucksack zu packen, der Mr B schon auf vielen Reisen und Wanderungen begleitet hatte: seinen Waschbeutel, eine Nagelschere, ein noch unbenutztes Notizbuch, ein paar Stifte und Kleider, die ihn warm und trocken halten würden. Dominic dachte auch daran, Mr B seinen Schirm zu bringen – und das war kein gewöhnlicher Schirm. Er bestand aus festem weißem Leinen, einem sorgsam verarbeiteten Metallgestänge und einem schweren, auch zum Wandern verwendbaren Holzstock, und er hatte ihn sich zehn Jahre zuvor nur einen Steinwurf vom British Museum entfernt anfertigen lassen, von der Firma James Smith und Söhne (und Enkel und Urenkel und so weiter, denn ihren ersten Schirm hatten sie im Jahr 1830 hergestellt, dem Jahr, als Wilhelm IV. auf den Thron kam). Der Stoff war nicht mehr weiß, denn dieser Schirm hatte bereits die Sahara und ihre Sandstürme erlebt, als Mr B dort nach Spuren prähistorischer menschlicher Besiedlung gesucht hatte, und er war mit ihm in Pompeji und im hintersten Winkel Siziliens gewesen, ja, im Grunde überall zwischen Barcelona und Bagdad, und er hatte sich als der Rolls-Royce aller Schirme erwiesen.
»Was sollen wir den Leuten sagen, wenn wir wieder in London sind?«, fragte der Regisseur, der immer noch nicht recht glauben mochte, dass sich ihre Wege hier trennten.
»Die Wahrheit: dass ich eine kleine Eselin gefunden habe und mit ihr zu Fuß nach Hause gehe.«
»Sie sind verrückt«, sagte der Regisseur.
»Mag sein«, sagte Mr B. »Aber es ist eine anständige Art von Verrücktheit, zu der Sie nicht fähig sind. Wir sehen uns dann in einem Jahr oder so.«
Worauf der Regisseur schroff erwiderte: »Von mir aus können Sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Sie und ihr verdammter Esel.«
Dominic, der als Letzter zum Landrover zurückging, umarmte Mr B zum Abschied und flüsterte: »Ich sage dem Außenministerium Bescheid – und natürlich Mrs B.«
Da stand Mr B nun und zitterte ein wenig in der Kälte, die abends vom Himalaya auf Peschawar herabsinkt. Denn obwohl es dort tagsüber für einen Engländer glühend heiß sein kann, sind die Nächte so kalt wie in seiner Heimat zu Weihnachten. Die ganze Zeit über hatte das Eselfohlen dicht bei ihm gestanden und sich an seinen Oberschenkel geschmiegt, wie es große Hunde oft bei ihrem Herrchen tun. Als er spürte, dass die kleine Eselin ebenfalls zitterte, nahm er seine warme, winddichte Jacke aus dem Rucksack, legte sie ihr um und knotete die Ärmel um ihren Hals, so dass zumindest ihre Schultern bedeckt waren. Dann zog er den Gürtel aus seiner Hose, der vom langjährigen Tragen ganz weich war, und schlang ihn ebenfalls um ihren Hals, wie ein Hundehalsband mit Leine. Alle Geschäfte hatten mittlerweile geschlossen, nur eines, das sich mit leuchtend heller Schrift als APOTHEKE auswies, war noch geöffnet, und das war genau das, was Mr B brauchte.
Er und die Eselin überquerten die Straße und blieben höflich vor der Tür stehen, denn Mr B nahm an, dass ein Apotheker vielleicht nicht so gerne einen Esel in seinem Geschäft haben wollte. Als er versuchsweise »Guten Abend« in den Eingang rief, kam ein alter Mann mit sorgfältig gestutztem Bart zur Tür. Mr B erklärte ihm, dass er etwas brauchte, um die vier Wunden auf dem Rücken der Eselin zu desinfizieren, und dann noch etwas, um diese während der Heilung vor den Fliegen zu schützen. Der alte Mann schmunzelte. Er war so alt, dass er sich noch an die Zeit erinnern konnte, als Pakistan und Indien ein großes, ungeteiltes Land waren und zum Britischen Weltreich gehörten. Er war so alt, dass er Schulen besucht hatte, die so englisch gewesen waren wie jede damalige Schule in England selbst, und sein Englisch war ebenso gebildet, korrekt und präzise wie das von Mr B. Und er war so alt, dass er sehr genau wusste, wie beharrlich die Engländer in ihrer Tierliebe sein konnten.
Sein Name war Faruk, was Mr B sehr erheiterte, denn er war in der Torheit seiner Jugend einmal einem entthronten ägyptischen König begegnet, der genauso hieß. Doch er begriff, dass diese Geschichte hier nichts zur Sache tat, und behielt seine Erinnerung für sich.
Faruk wies Mr B an, die Eselin um den Häuserblock herum zu seiner Hintertür zu führen, wo das baufällige Geschäft in einen Schuppen überging, der ihm als Lager diente; dort würde er sich um ihre Wunden kümmern. Er säuberte sie vorsichtig, nähte sie geschickt mit ein paar Stichen (wobei die Eselin keinen Laut von sich gab – aber Tiere wissen ja oft instinktiv, wann Menschen ihnen Gutes wollen, selbst wenn es wehtut) und klebte Pflaster darüber, um die Fliegen fernzuhalten. Er vermutete, dass sie erst drei oder vier Monate alt war, ganz sicher noch die Milch ihrer Mutter brauchte und niemals hätte Lasten tragen dürfen. Und dann kam die Überraschung: »Ihnen ist ja sicher klar, dass sie noch viel zu jung ist, um viertausend Meilen zu gehen. Sie werden sie tragen müssen.« Obwohl er dies mit einem Lachen in der Stimme und in den Augen sagte, war es ihm vollkommen ernst.
Faruk war Mr Bs erster Glücksfall. Nachdem er die Eselin verarztet hatte, stellte der Apotheker ihm eine Liste mit Dingen zusammen, die sie fressen durfte, und eine mit Dingen, die ihr nicht bekommen würden. Er erklärte ihm, wie viel Wasser sie trinken sollte, und zwar sauberes Wasser aus einem Eimer, nicht schmutziges Wasser aus einer Pfütze. Und er sagte Mr B, dass sie möglichst im Schatten gehen sollte – wie sie in der Natur ja auch im Schatten ihrer Mutter gehen würde –, nicht mehr als fünf Meilen am Tag, und diese fünf Meilen niemals an einem Stück. Es gab noch weitere Anweisungen, zum Beispiel dass sie nachts eine Decke brauchte, damit sie nicht fror, etwas Wetterfestes, damit sie bei Regen und Sturm nicht nass wurde, und vielleicht einen Hut, damit ihr Kopf nicht der Sonne ausgesetzt war. Die Liste wurde immer länger, und allmählich dämmerte Mr B, dass seine ursprüngliche Vorstellung – sie trug sein Gepäck, während er den Schirm über sie beide hielt, und sie schafften zwanzig Meilen am Tag – himmelweit von der Wirklichkeit entfernt war.
»Woher wissen Sie so viel über Esel?«, fragte Mr B.
»Ach, ich bin so alt, ich stamme aus einer Zeit, als es noch nicht überall Autos gab. Damals hatte jede Familie einen oder zwei Esel, und wir Kinder mussten uns um sie kümmern. Meine Mutter hat ihre Einkäufe immer auf einem Esel erledigt, und als meine Brüder und ich noch klein waren, haben wir oft vor ihr gesessen, wenn sie zum Markt geritten ist. Damals war die Luft in Peschawar viel sauberer, aber für Esel war das Leben oft hart und kurz, denn fast alle mussten viel zu schwer arbeiten. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Eselin nach England zu bringen, wird sie vielleicht dreißig Jahre lang Ihre Gefährtin sein. Unsere Esel wurden meistens etwa zehn Jahre alt, aber manche mussten so sehr schuften, dass sie schon nach fünf Jahren starben.«
»Sie halten mich sicher für verrückt«, sagte Mr B.
»Keineswegs«, erwiderte Faruk mit einem Schmunzeln, während er sich daranmachte, aus plattgedrückten Kartons und anderem Verpackungsmaterial ein Nachtlager für die Eselin zu bereiten. »Vielleicht für ein wenig exzentrisch. Jetzt gebe ich ihr, was ich an Obst und Gemüse dahabe, und auch wir müssen etwas zu Abend essen.«
Faruk wohnte über dem Geschäft, und er lebte allein, denn seine Frau war schon vor vielen Jahren gestorben, und seine Söhne hatten Besseres zu tun, als eine Apotheke zu führen, die rund um die Uhr geöffnet war. »Das ist mein Beruf«, sagte er, als Mr B ihn vorsichtig fragte, warum er mit achtzig Jahren noch so viele Stunden arbeitete. »Was soll ich denn sonst tun? Und dieses Gespräch führen wir überhaupt nur, weil ich diesen Service anbiete. Ist das nicht gut? Ist das nicht besser für Sie, als wenn Sie vor verschlossener Tür gestanden und nicht gewusst hätten, was Sie mit Ihrer armen kleinen Eselin bis zum Morgen tun sollen?« Dann bot er Mr B ein Bett an, doch der hatte bereits beschlossen, dass er die Nacht lieber bei seiner neuen Gefährtin verbringen würde, sofern Faruk das nicht als Beleidigung auffasste. Und so streckte er sich neben der Eselin im Schuppen auf den Kartons aus, wie er es in Wimbledon, dem Vorort von London, wo er wohnte, mit seinen Hunden machte, nur dass sie da alle in seinem großen, bequemen Bett lagen.
Mr B wurde früh wach, mit Schmerzen in allen Gelenken, und als die Eselin hörte, dass er sich rührte, stand sie ebenfalls auf, wenn auch ein wenig schwankend. Er bemerkte, dass sie nur aus Haut und Knochen bestand, und als er mit der Hand über ihr Fell strich, konnte er jede einzelne Rippe fühlen. Auf ihren wackeligen, geradezu absurd langen Beinen saß ein Körper, der kaum größer war als der eines Schäferhunds. Er maß alle Tiere anhand der großen Schäferhündin, die zu Hause auf ihn wartete, und als er die Eselin hochhob (was ihr nichts auszumachen schien), fand er, dass sie auch ungefähr gleich schwer waren. Draußen im hellen Morgenlicht sah er, wie hübsch sie war; ihr Fell war weich und seidig wie das eines Windhunds – und er hatte auch einen Windhund zu Hause, genau in der gleichen Farbe wie die Eselin, wie ein sehr heller Milchkaffee. »Mit deinen langen Beinen könntest du glatt eine Ballerina werden«, sagte er leise. »Und deshalb werde ich dich Pawlowa nennen – Kleine Miss Pawlowa, bis du groß bist.« Seine Gedanken wanderten zu einer anderen Pawlowa, der Pawlowa, jener wunderschönen russischen Balletttänzerin, die an dem Tag gestorben war, an dem Mr B das Licht der Welt erblickt hatte, und die immer noch so berühmt ist, dass Ballettfreunde, die viel zu jung sind, um sie auf der Bühne gesehen zu haben, und sie nur von zerkratzten Schwarzweißfilmen kennen, voller Ehrfurcht von ihr sprechen.1
Als Faruk mit dem Frühstück für Pawlowa kam – einem frischen Heuballen –, sagte er: »Ich habe gute Neuigkeiten für Sie. Ein Freund von mir fährt morgen nach Quetta, um eine Bestellung für mich abzuholen, und er kann Sie mitnehmen. Das bedeutet für Sie einen Umweg von etwa fünfhundert Meilen, und es zwingt Sie, erst nach Süden und dann nach West-Nordwest zu reisen, aber dafür müssen Sie nur eine Grenze überqueren. Wenn Sie nach Norden gehen, ist die Reise wesentlich kürzer, aber wahrscheinlich werden Sie ein Dutzend Grenzen passieren müssen, und einige davon – vor allem in Afghanistan, Kaschmir und Russland – sind gefährlich und unberechenbar. An jeder davon können Sie verhaftet werden, und wenn man Sie von Ihrer Eselin trennt, bedeutet das fast sicher den Tod für sie.«
Mr B wünschte, er hätte eine Karte. Er hatte zwar eine in seinem Kopf, aber das Einzige, woran er sich deutlich erinnern konnte, war, dass die ausgedehnte, bergige Masse von Afghanistan im Weg lag (und das war für einen Engländer noch nie ein sicherer Ort gewesen). Die Schlichtheit von Faruks längerer Route gefiel ihm, denn sie ersparte ihm nicht nur die mühsame Kletterei und die Eiseskälte des Hindukusch (der nur wenig niedriger war als der Himalaya, in den er überging), sondern er musste auch nur ein Land durchqueren (wenn auch ein recht großes), bevor er zur türkischen Grenze kam, und in der Türkei hatte er Freunde. »Kommen Sie«, sagte Faruk. »Wir müssen für die Reise einkaufen.«
Sie besorgten einen kleinen Plastikeimer, aus dem Pawlowa trinken konnte, zwei flache Wasserflaschen aus Plastik, für den Notfall, und ein Paar einfache Satteltaschen, die aus alten Kelims genäht (und recht hübsch) waren, damit sie ihr Gepäck selbst tragen konnte. Ein Schuhmacher fertigte ein breites ledernes Halsband und eine Leine für sie an. Ein Schneider nähte ihr aus einer schweren Decke eine Art Mantel, arbeitete eine alte Armeeplane zu einem wasserdichten Überwurf um und schnitt ein dickes Schaffell so zurecht, dass es als Sattel dienen konnte. Nie wieder sollte es Löcher in Pawlowas zarter Haut geben. Mr B ruinierte mehrere Strohhüte (die er natürlich bezahlte), bis er raushatte, wo und wie er die Löcher schneiden musste, damit ihre Ohren hindurchpassten, und für sich selbst kaufte er eine große Decke, die er zu einem Kissen falten und mit der er sich und Pawlowa nachts zudecken konnte. Nachdem er noch einen weiteren Heuballen und eine Kiste mit Obst und Gemüse erstanden hatte, war Mr B überzeugt, dass die Reise nach Quetta mühelos und bequem vonstattengehen würde.