Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1996 als gekürzte einbändige Ausgabe unter dem Titel H. P. Lovecraft, A Life. Die vollständige zweibändige Ausgabe erschien erstmals 2010 unter dem Titel I am Providence. The Life and Times of H. P. Lovecraft bei Hippocampus Press, New York.
Deutsche Erstausgabe© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Golkonda Verlag GmbH, München ∙ Berlin
© 2010 S. T. Joshi
© der Übersetzung 2017 Andreas Fliedner
© des Vorworts 2017 Michael Siefener
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.
Lektorat: Andy Hahnemann
Redaktion: Hannes Riffel
Korrektur: Andreas Fliedner
Umschlag & Gestaltung: benswerk [https://benswerk.wordpress.com/]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz, Berlin
ISBN 978-3-944720-51-7 [Print]
ISBN 978-3-944720-53-1 [E-Book]
Alle Rechte vorbehalten
www.golkonda-verlag.de
Inhalt
Impressum
Inhalt
Eine Vorbemerkung
1. Reinblütiger englischer Adel
2. Ein waschechter Heide
3. Dunkle Wälder und unergründliche Höhlen (1898–1902)
4. Und das unerforschte Afrika? (1902–1908)
5. Barbar und Fremder (1908–1914)
6. Ein neuerlicher Lebenswille (1914–1917)
7. Metrischer Mechaniker (1914–1917)
8. Träumer und Visionäre (1917–1919)
9. Fiebriges und unaufhörliches Geschreibsel (1917–1919)
10. Zynischer Materialismus (1919–1921)
11. Dunsany-Studien (1919–1921)
12. Ein Fremder in diesem Jahrhundert (1919–1921)
13. Der Scheitelpunkt meines Lebens (1921–1922)
14. Zu meinem eigenen Vergnügen (1923/1924)
15. Ehebande (1924)
Anhang
Abkürzungen
Zitate
Literaturverzeichnis
Phantastik im Golkonda Verlag
Eine Vorbemerkung
von Michael Siefener
Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) war gewiss der bedeutendste Autor phantastischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber braucht man deshalb gleich eine zweibändige Biographie über ihn? Die Antwort ist einfach und eindeutig: ja.
Lovecrafts äußeres Leben mag vergleichsweise ereignislos verlaufen sein, sein inneres Leben hingegen war überreich und stark facettiert. Aus diesem inneren Leben zog er die Kraft für seine außergewöhnlichen Erzählungen, die in der Folge so unterschiedliche Autoren wie Stephen King, Ramsey Campbell, Thomas Ligotti und Neil Gaiman oder hierzulande Wolfgang Hohlbein inspiriert haben. Eine Biographie über Lovecraft muss daher genauso eine äußere wie eine innere Biographie sein, also eine Entwicklungsgeschichte seiner Ideen, Ansichten und Vorstellungen.
Noch einmal die Frage: und das alles auf rund anderthalbtausend Seiten?
Noch einmal die Antwort: ja.
Wenn ich mich als Kind über das eine oder andere beschwert habe, zum Beispiel über die Qualität des häuslichen Essens, pflegte mein Großvater stets zu sagen: »Sei still und zufrieden. Wir damals … wir hatten doch gar nichts.« Jetzt, einige Jahrzehnte später, ertappe ich mich dabei, dass ich denselben Satz immer öfter denke und manchmal auch laut ausspreche, so zum Beispiel: »Wir damals … wir hatten doch gar nichts, nicht einmal eine Lovecraft-Biographie.« Schon für ein schmales Bändchen über diesen Autor wäre ich dankbar gewesen, von substanzielleren Werken ganz zu schweigen.
Wie viele andere Leser meiner Generation entdeckte ich die Erzählungen Lovecrafts durch die legendäre BIBLIOTHEK DES HAUSES USHER, zwischen 1969 und 1975 herausgegeben von Kalju Kirde, und später durch die Nachfolgebände in der PHANTASTISCHEN BIBLIOTHEK bei Suhrkamp, herausgegeben von dem unvergleichlichen Franz Rottensteiner. Nachdem ich die ersten Geschichten über unnennbare Wesenheiten jenseits von Raum und Zeit gelesen hatte, wuchs in mir der Wunsch, etwas über den Urheber dieser faszinierenden Garne zu erfahren. Doch außer den Vor- oder Nachworten in den betreffenden Bänden fand ich nichts über ihn. Eben: »Wir hatten doch gar nichts.«
In Deutschland änderte sich das erst im Jahre 1983. Damals erschien im Corian-Verlag Heinrich Wimmer der Band H. P. Lovecraft – der Poet des Grauens, herausgegeben von Hans Joachim Alpers. Auch dies war keine Biographie, sondern eine Sammlung von Aufsätzen über Lovecraft, in der Hauptsache von deutschen Autoren verfasst. Beigegeben waren eine Erzählung Lovecrafts sowie einige Briefe aus seiner ungeheuer umfangreichen Korrespondenz. Damit bekamen wir zumindest einen ersten Einblick in das Leben und Denken dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Vorher gab es meines Wissens nur eine kurze Erwähnung zum Werk und zur Biographie Lovecrafts in Kalju Kirdes bahnbrechendem Aufsatz »Bemerkungen über Weird Fiction« (QUARBER MERKUR/MUTANT 1966/67). In den USA war die Lage natürlich anders.
Schon 1941 veröffentlichte W. Paul Cook einen kleinen Band mit den Erinnerungen verschiedener Personen an H. P. Lovecraft, und 1945 erschien H. P. L.: A Memoir von August Derleth bei Ben Abramson in New York. Dies war die erste substanzielle Abhandlung über Lovecrafts Leben und Werk und umfasste 122 Seiten. Derleth war, auch wenn er Lovecraft nie persönlich begegnet ist, ein enger Freund des Autors und gründete 1939 zusammen mit Donald Wandrei den Verlag Arkham House, zunächst um das Werk Lovecrafts in gebundenen Büchern herauszubringen. Später wurde das Programm um etliche andere lebende und tote Autoren erweitert, und bis zum Jahr 2003 erschienen knapp über zweihundert Bände (seitdem ist der Verlag leider zum publizistischen Äquivalent eines Zombies geworden). Derleth, der selbst ein beachtlicher Autor phantastischer Literatur und ein noch beachtlicherer Autor von Regionalliteratur war (er lebte in Wisconsin), ließ 1959 bei Arkham House ein weiteres Bändchen über Lovecraft folgen (Some Notes on H. P. Lovecraft), das hingegen nur 42 Seiten umfasste.
Schon 1955 hatte der Dichter und Phantastikautor Joseph Payne Brennan einen Aufsatz mit dem Titel H. P. Lovecraft: An Evaluation veröffentlicht, der sich vorwiegend mit Lovecrafts Werk beschäftigte und ganze acht Seiten umfasste. All das – und einige weitere kleine Schriften, die in der Folgezeit entstanden – war noch meilenweit von einer »richtigen«, ausführlichen Biographie entfernt, aber es bereitete den Boden für die erste umfassende Arbeit über Lovecraft von L. Sprague de Camp, die 1975 bei Doubleday & Co. unter dem Titel Lovecraft: A Biography erschien. Dieses Werk war immerhin schon 510 Seiten stark, doch es wurde rasch angefeindet, da de Camp es gewagt hatte, psychologische Spekulationen über Lovecraft anzustellen und Wertungen vorzunehmen, die seinen – bereits sehr zahlreichen – Fans zutiefst widerstrebten. Trotz ihrer Mängel ist diese Arbeit die erste detaillierte Biographie über Lovecraft, die in großem Umfang aus schriftlichen und mündlichen Quellen schöpft und den Autor wahrhaft lebendig werden lässt.
Ebenfalls 1975 veröffentlichte Lovecrafts Freund und Kollege Frank Belknap Long seine persönlichen Erinnerungen an Lovecraft während dessen New Yorker Zeit unter dem Titel Howard Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightside bei Arkham House. Hierbei handelt es sich eher um eine Reihe von Anekdoten, nicht um eine erschöpfende Biographie. Doch gerade die enge Beziehung zwischen Long und Lovecraft und der Charakter eines »Augenzeugenberichtes« verleihen diesem Buch eine ungeheure Authentizität, die Lovecrafts Charakter und Gewohnheiten plastischer zeichnet als alle Bücher davor. Deshalb sei diese Publikation jedem ans Herz gelegt, der sich eingehend für Lovecraft interessiert.
Diese Reminiszenzen von F. B. Long waren es, die ich, nachdem ich voller Freude und Verwunderung den von Hans Joachim Alpers herausgegebenen Band H. P. Lovecraft – der Poet des Grauens eines Tages in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung entdeckt und sogleich mit zitternden Händen gekauft hatte, in einer Fremdsprachenbuchhandlung in Köln bestellte, was leider nicht ganz einfach war. Man bedenke, die Vor-Internet-Ära war eine Zeit dickleibiger Kataloge und unwilliger Buchhandlungen, wenn es um Bestellungen aus dem Ausland ging. Ich wartete viele Monate auf den Long-Band, nachdem ich den Buchhändler wortreich hatte überreden müssen, dass er dieses kleine, für ihn läppische Buch aus einem obskuren Verlag in den Vereinigten Staaten für mich bestellte. Als ich trotz dieser Widrigkeiten Howard Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightside endlich in Händen hielt, war mir das Buch umso wertvoller und lieber, und trotz meiner damals noch sehr mangelhaften Englischkenntnisse verschlang ich es sofort und sah HPL, wie er von seinen Freunden abgekürzt wurde, ungeheuer deutlich vor mir. Doch da das Buch nicht gerade vor Fakten strotzt, wuchs in mir das Verlangen nach einer ausführlichen und informativen Biographie.
Was war es da für eine Freude, als 1989 endlich de Camps Werk bei Ullstein auf Deutsch unter dem Titel Lovecraft: Eine Biographie erschien – leider stark gekürzt, aber »wir hatten doch sonst nichts …«
In der Folgezeit wuchs das Interesse an Lovecraft auch in Deutschland beständig, was zu weiteren sekundärliterarischen Veröffentlichungen führte, zum Beispiel zu dem sehr informativen Band Der Einsiedler aus Providence: Lovecrafts ungewöhnliches Leben, herausgegeben von Franz Rottensteiner, erschienen im Jahre 1992 in der PHANTASTISCHEN BIBLIOTHEK bei Suhrkamp. In diesem Buch sind Aufsätze US-amerikanischer Autoren wie Winfield Townley Scott, Kenneth W. Faigh (der u. a. wertvolle Forschungen zu Lovecrafts Stammbaum betrieben hat) und W. Paul Cook enthalten.
Während in Amerika die Literatur über Lovecraft explosionsartige Zuwächse verzeichnete, nahm auch hierzulande die Beschäftigung mit dem Autor und seinem Werk an Fahrt auf. Es wäre ermüdend, alle oder auch nur die bedeutendsten Publikationen diesseits und jenseits des Atlantiks hier aufzuführen – wer sich ein Bild machen möchte, dem empfehle ich einen Blick in die Bibliographie am Ende dieses Buches.
Die maßgeblich treibende Kraft hinter der Lovecraft-Forschung der letzten 35 Jahre war Sunand Tryambak Joshi (geboren 1958), der im Jahre 1980 sein erstes Buch über Lovecraft veröffentlichte. Zum großen Schlag in biographischer Hinsicht holte Joshi im Jahre 1996 aus. Damals erschien bei der – inzwischen leider nicht mehr existenten – Necronomicon Press in Warwick, Rhode Island, das umfangreichste Buch, das dieser Kleinverlag je gedruckt hat: H. P. Lovecraft: A Life, in dem auf 704 äußerst eng bedruckten Seiten Leben und Werk des Autors ausgebreitet werden. Doch dieses Werk war gekürzt, und so ließ Joshi 2010 in der New Yorker Hippocampus Press die vollständige zweibändige Ausgabe unter dem Titel I Am Providence: The Life and Times of H. P. Lovecraft folgen. Die vorliegende deutsche Ausgabe, ebenfalls in zwei Bänden, stellt eine ungekürzte Übersetzung dieser Edition dar.
Joshis Monumentalwerk ist eine wahre Fundgrube an Informationen zu Lovecrafts Leben und Werk. Zunächst drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Woher weiß man so viel über diesen Autor, dass man Tausende von Seiten über ihn füllen kann? Die Antwort ist einfach: Lovecraft war ein überaus fleißiger Briefschreiber, und die meisten seiner Korrespondenten haben seine Briefe aufbewahrt. Viele sind später in öffentlichen Institutionen archiviert worden, und etliche befinden sich noch in privatem Besitz. Bei Arkham House wurden zwischen 1965 und 1976 fünf Bände mit Briefen von H. P. Lovecraft veröffentlicht, und in den letzten Jahren sind etliche weitere Bände bei anderen Verlagen hinzugekommen. Während ich diese Zeilen schreibe, bietet das führende amerikanische Fachantiquariat für Phantastik, L. W. Currey in Elizabethtown, New Jersey, ein Konvolut von 52 Briefen und drei Brieffragmenten H. P. Lovecrafts an den bereits erwähnten Frank Belknap Long an – für 150.000 Dollar. Auch einzelne Briefe finden sich immer wieder im antiquarischen Handel – stets zu Preisen jenseits der 1000 Dollar. Zumindest zeigen diese exorbitanten Summen die Wertschätzung, die Lovecraft gegenwärtig genießt.
So konnte sich Joshi also auf Unmengen von schriftlichen Äußerungen Lovecrafts stützen – ein Umstand, um den ihn die Biographen moderner Autoren sicher beneiden, da heutzutage doch der größte Teil des Schriftverkehrs über E-Mails und andere elektronische Wege abgewickelt und nur selten ausgedruckt und aufbewahrt wird.
Joshi beginnt seine Biographie mit Lovecrafts Familiengeschichte. Man mag sich fragen, ob es sinnvoll ist, den Leser am Anfang mit solch umfangreichen genealogischen Informationen zu traktieren, doch die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Ja, es ist sinnvoll. Lovecraft selbst legte stets großen Wert auf seine Abstammung, und sein Interesse an Genealogie und Geschichte ist im Lichte seiner eigenen Familienhistorie zu sehen, die weit in die von Lovecraft so geliebte Vergangenheit zurückreicht und ihn mit anderen, scheinbar besseren Zeiten verband. Die Familie Phillips, der Lovecraft entstammte, gehörte schließlich zu den Alteingesessenen in Neuengland und umgab sich mit gleichsam aristokratischem Gehabe. Besonders bei Lovecraft ist zu sehen, wie das Verständnis für die Vergangenheit – auch die eigene – den Blick auf die Gegenwart zu bestimmen vermag.
Auf seinem langen Weg durch Lovecrafts Leben räumt Joshi auch mit einigen Mythen auf, die sich um die Person des Autors gebildet hatten. So wurde Lovecraft früher stets als der »Einsiedler von Providence« beschrieben, doch nach der Lektüre dieser Biographie wird der Leser erkennen, dass dies eine Fiktion ist. Lovecraft hatte unzählige soziale Kontakte, teils durch seinen umfangreichen Briefwechsel, teils – vor allem während seiner New Yorker Jahre – durch persönlichen Umgang. Außerdem reiste er viel, besuchte seine Brieffreunde, war in verschiedenen Amateurschriftsteller-Organisationen tätig und sogar einige Jahre lang verheiratet (auch wenn diese Ehe unter keinem guten Vorzeichen stand und schließlich wieder aufgelöst wurde). Auf alle Fälle stand er mit mehr Menschen in persönlichem Kontakt, als ich selbst je kennenlernen werde.
Lange Kapitel sind Lovecrafts Kindheit gewidmet, und auch diese Kapitel sind äußerst wichtig, denn sie zeigen uns einen relativ normalen Jungen, den die seltsame Erziehung durch seine Mutter nicht wesentlich hatte schädigen können.
Es mag stimmen, dass Lovecrafts äußeres Leben nicht sonderlich aufregend verlief, dafür aber war sein inneres Leben umso reichhaltiger. Und in ihm liegt auch der Schlüssel zu seinem Werk. Daher ist es unerlässlich, immer wieder Lovecraft selbst durch seine Briefe und andere überlieferte Aussagen zu Wort kommen zu lassen. So entfaltet sich vor unseren Augen die Genese einer ungeheuer reichhaltigen Phantasie, die durch einen analytischen Verstand fortwährend in Zweifel gezogen wird. Wir erleben den Kampf um die adäquate Ausdrucksweise sowie die Entwicklung der Anschauungen und der Fähigkeit, diese Anschauungen in Literatur umzusetzen. Wir erfahren die Hintergründe der einzelnen Geschichten und ihrer allmählichen Entstehung. Wir spähen gleichsam in den ungeheuer komplexen Geist eines Autors und spüren den unzähligen Verästelungen nach, die Joshi vor uns ausbreitet wie eine innere Landkarte. Wer vertraut ist mit den Werken Lovecrafts, wird faszinierende Erkenntnisse erlangen, und wer noch nicht viel von ihm gelesen hat, wird einen unbändigen Appetit auf mehr bekommen. Gerade die Detailfülle von Joshis Biographie macht sie so interessant und sorgt dafür, dass hier jeder auf seine Kosten kommt. Sie ist ein Meisterwerk und ein Musterbeispiel für ihr Genre, weil sie ihrem Gegenstand gerecht wird und den Horizont des Lesers auf eine geradezu unheimliche Weise bereichert.
Zumindest die zeitgenössischen Entdecker von Lovecrafts Werken können also nicht mehr behaupten: »Wir haben ja gar nichts«, wenn sie abseits der oft zweifelhaften Quellen des Internets nach verlässlichen Informationen über das Leben Lovecrafts suchen. Hier sind sie.