Weltwirkung der Reformation
Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat
Herausgegeben von Udo Di Fabio und Johannes Schilling
C.H.Beck
Die Reformation hat unsere moderne Kultur – Recht, Wirtschaftsethik, Literatur, Musik – tief geprägt, und sie hat damit weltweit gewirkt. Das Buch beschreibt anschaulich diese Verwandlung des Weltlichen und der Welt durch die Reformation.
Am 31. Oktober 2017 jährt sich zum 500. Mal die Veröffentlichung der 95 Thesen, die Martin Luther an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg bekannt gemacht hat. Aus diesem Anlass erinnert der Wissenschaftliche Beirat «Reformationsjubiläum 2017» daran, welche Rolle die Reformation bei der Entstehung der Moderne gespielt hat. Denn die Impulse, die von Wittenberg im 16. Jahrhundert ausgingen, veränderten Deutschland, Europa und die Welt nachhaltig. Die Autoren, alle Mitglieder des Beirats, zeigen in ihren Beiträgen, wie der Protestantismus Recht, Verfassung und andere weltliche Institutionen der Moderne geprägt hat.
Udo Di Fabio ist Professor für öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und war bis 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Johannes Schilling ist Professor für Kirchengeschichte an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel.
Karten
Einleitung
Die Reformation – ein historischer Überblick
1. Einleitung
2. Bedingungen und Voraussetzungen der Reformation – die lateineuropäische Christenheit um 1500
3. Luther und die Folgen
Vorbemerkungen
Die Entwicklung im Reich bis 1530
Katholische Reform und Gegenreformation
Europäische Reformationsprozesse und ihre Lösungen
Ohne Wittenberg keine Reformation!
Leuchtfeuer der Reformation – Luthers Bibelübersetzung
Ein Mythos
Ein Ereignis
Ein Kunstwerk
Ein Hybrid
Ein Anstoß
Protestantismus und Moderne
1. Zwei Meistererzählungen
2. Die Moderne
3. Wurzeln der Moderne im Mittelalter
4. Die frühe lutherische Reformation
5. Der Durchbruch zur Moderne in der Sattelzeit
Die weltweite Verbreitung des Protestantismus
Die Ausgangslage: die geschlossenen Corpora Christiana Europas
Der erste Weg der Verbreitung des Protestantismus: Koloniengründung, religiös motivierte Flucht und Auswanderung
Der zweite Weg der Verbreitung des Protestantismus: Mission
Die Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation
1. Neuzeit und Reformation
2. Ambivalenzen der Neuzeit: Offenheit und Begrenzung, Partikularität und Universalität
3. Die KoEvolution von Religion, Staat und Recht
4. Mittelalterliche Universalität und partikulare Modernität
5. Schlüssel der Neuzeit: Freiheit durch Selbstbegrenzung
6. Reformation und die Selbstbegrenzung als Bedingung der Freiheit
7. Selbstgefährdung durch Entgrenzung und institutionelle Sorglosigkeit
8. Die Politik der Neuzeit: zwischen Rationalität und Leidenschaft
Reformation und Recht
1. Das Problem des Nachweises konfessionsspezifischer Kulturwirkungen
2. Rechtssystematik
3. Öffentliches Recht
4. Natur- und Völkerrecht
5. Résumé
Reformation als Konfliktgeschichte. Beobachtungen zum Reformationsgedenken 2017
I. Die unerträgliche Leichtigkeit historischer Sinnstiftung
2. Gefühlte Geschichte? Geschichtskonsum mit und ohne Identitätsbezug
3. Ordnung und Konflikt: Reformation als Konfliktgeschichte
Literaturhinweise zum Kapitel: Die Reformation
Literaturhinweise zum Kapitel: Ohne Wittenberg keine Reformation!
Literaturhinweise zum Kapitel: Leuchtfeuer der Reformation
Anmerkungen zum Kapitel: Leuchtfeuer der Reformation
Literaturhinweise zum Kapitel: Protestantismus und Moderne
Anmerkungen zum Kapitel: Protestantismus und Moderne
Literaturhinweise zum Kapitel: Die weltweite Verbreitung des Protestantismus
Literaturhinweise zum Kapitel: Die Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation
Anmerkungen zum Kapitel: Die Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation
Literaturhinweise zum Kapitel: Reformation und Recht
Anmerkungen zum Kapitel: Reformation und Recht
Literaturhinweise zum Kapitel: Reformation als Konfliktgeschichte
Herausgeber und Autoren
Bildnachweis
Personenregister
Udo Di Fabio
Wenn Gedenktage «begangen» werden, sagt das häufig mehr über die jeweilige Gegenwart als über das historische Ereignis. Schon aus diesem Grund steht die Wissenschaft in einer Spannungslage zu den medialen und politischen Aktionen aus Anlass der Reformation, weil Geschichtspolitik zwar Politik sein mag, aber gewiss nicht historische Forschung ist. In einer freien Gesellschaft ist die Kluft allerdings nicht unüberbrückbar. Als sich Vertreter des Bundes, der Länder und der Evangelischen Kirche an die Vorbereitung des Reformationsjubiläums machten, ergänzten sie ihr Kuratorium durch einen wissenschaftlichen Beirat. Einige Vertreter dieses Beirats machen in diesem Band ihre Perspektive kenntlich, die Sicht ihrer Disziplin und ihre eigene Deutung der Reformation.
Thomas Kaufmann legt die Basis in einem historischen Überblick, der mehr ist als nur ein kurzer Handbuchartikel. Er und andere führende Sachverständige der Geschichte der frühen Neuzeit und speziell der Reformation haben publizistisch viel getan, um Luther der Öffentlichkeit nahezubringen, als Auslöser eines epochalen Umwälzungsprozesses, als Person seiner Zeit, in seinem Glauben und seinem Glaubenseifer, mit Ecken und Kanten, mit seinen Widersprüchen. Es geht aber nicht nur um den Wittenberger Mönch, der gegen Papst und Kaiser aufrecht steht, sondern er selbst als Person mit Wirkungsmacht ist bereits Ergebnis einer tiefen Umgestaltung und Verunsicherung der europäischen Gesellschaften in der anbrechenden Neuzeit. Luther treibt die Zeit voran, obwohl er in vielen Dingen zurück will. Doch er ist auch Getriebener und wird ein Rad im großen Getriebe der Modernisierung und funktionalen Ausdifferenzierung des westlichen Gesellschaftmodells. Kaufmann macht in seinem Überblick auch deutlich, was geistesgeschichtlich und theologisch die Reformation im katholischen Widerlager auslöste, etwa die Reformation der römischen Kirche durch das Konzil von Trient (1545–1563). Geöffnet wird der Blick für die internationale Verflechtung des Reformationsprozesses, in England, Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Frankreich oder der Schweiz.
Wer ein geschichtliches Ereignis verstehen will, braucht den Überblick und die großen Linien. Er braucht aber auch die Detailskizze, Momentaufnahmen, den Blick auf Personen oder auf einen Ort. Stefan Rhein schaut auf Wittenberg, jenen unbedeutenden Ort im Kurfürstentum Sachsen, die «kleine arme Stadt», die einen großen Namen erlangte. Dass die kleine Residenzstadt überhaupt das Potential hatte, Raum für das reformatorische Denken zu bieten, verdankt sich auch der Universität. Sie lag, wie anderwärts, im Abschied von der aristotelisch geprägten Scholastik des Mittelalters, ohne bereits in der Neuzeit wirklich angekommen zu sein. Hier, auf kurzem Wege zwischen Universität und Kloster, gedeiht Luthersches Denken, der Rückgriff auf Augustinus und die Gnadenlehre.
Von Wittenberg führt den Reformator der Weg zur Wartburg: Hier wird die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt. Dieses gewiss nachdrücklich wirksame Ereignis wurde über Generationen hinweg gefeiert als titanische Leistung, als Grundsteinlegung der deutschen Sprache, so als hätte es Walther von der Vogelweide nie gegeben. Aber auch wer die mythische Überhöhung nicht mitmacht, wie Thomas Söding in seinem Beitrag zu Luthers Bibelübersetzung, wird die kulturprägende Leistung würdigen, die Kunst dieser von Melanchthon assistierten Übersetzung und den Beitrag zur Eroberung der Schriftsprache durch das Volk richtig gewichten.
Geschichte in der Tiefe verstehen heißt, sich nicht auf ökonomische und politische Prozesse zu beschränken, sondern auch evolutionstheoretisch und kultursoziologisch zu fragen. Dafür ist Detlef Pollack prädestiniert. Was der Geist des Protestantismus für die Neuzeit, für die Moderne bedeutet, wird von ihm aus der Sicht der Soziologie beleuchtet. Seine These stellt sich gegen materialistische Welterklärungen, wonach wirtschaftliche Prozesse den kulturellen Überbau gleichsam mit mechanischer Zwangsläufigkeit umwälzen, aber auch teilweise gegen die Annahme Max Webers, dass sich religiöse Alltagsethik unmittelbar in wirtschaftliche Rationalität verwandelt und damit die Wirtschaft revolutioniert. Die Religion ist im Mittelalter bestimmend und sie sei es gewesen, die sich ein hohes Maß an Autonomie erlaubte und damit nicht nur Konflikte erzeugte, sondern mit ihrem Primat der eigenen Funktion anderen Systemen das Gleiche nahelegte. Seit den Hildebrandschen Reformen des 11. Jahrhunderts sei die Religion auf dem Weg der funktionalen Ausdifferenzierung gewesen. Das ist gewiss richtig, aber das lässt sich eben auch für die merkantile Welt der Städte und die anhebende Territorialisierung politischer Herrschaft oder für die Verselbständigung der Rechtsschule von Bologna für das Recht beobachten und legt damit die Annahme multifunktionaler Verselbständigungsprozesse nahe. Interessant ist auch, dass die römische Kirche ebenso wie die thomistische Scholastik eine Modernisierung und Individualisierung bereits vorangetrieben hatten, die der Institution und ihrem ideellen System die Grundlagen allmählich entzogen. Die Veränderung des Gottes- und Christusbildes vom Weltenherrscher zum menschgewordenen Gott der Liebe und Barmherzigkeit, die für jeden und jede Erlösung verspricht, hatte etwas Umwälzendes an sich. In diese Zeit einer Erschütterung der Weltinterpretation wurde Luther hineingeboren, ihre Tendenzen, etwa des die Perspektive individualisierenden Renaissancehumanismus, nahm er theologisch auf und artikulierte sie stoßkräftig wieder in die Gesellschaft hinein.
Ein ähnliches Verständnis wie Pollacks Modernisierungsthese findet sich in meinem Beitrag zur «Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation».
Die von Wittenberg ausgehende Reformation war nicht causa prima einer von dort folgerichtig deduzierbaren oder gar zentral gesteuerten Entwicklung, sondern ein wichtiger Impuls, ein Katalysator in einem europäischen Gebäude, dessen geschlossene corpora christiana ohnehin bereits in wichtigen Belangen Vergangenheit war. Den lateineuropäischen Kontext und seine globalen Ausstrahlungen rückt der Beitrag von Dorothea Wendebourg in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie schärft das Bewusstsein dafür, was die von der Reformation erzwungene Zulassung von Mehrkonfessionalität auch für die Ausbildung politischer Territorialherrschaft bedeutete. Das neue Herrschaftsprinzip im Reich «cuius regio eius religio» korrespondierte für den Untertanen letztlich mit dem «ius emigrandi». Diese Erfahrung und die Matrix der religiösen konfessionellen Zersplitterung Europas legten sich über den Kolonialismus und damit über die Welt. Die religiös motivierte Flucht und Auswanderung veränderte nicht nur Europa im Inneren, sondern veränderte auch die Entwicklungsrichtung in Mittel- und Südamerika, in Teilen Afrikas und der ostasiatischen Philippinen. Die USA schließlich nehmen eine Sonderstellung ein, nicht nur wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung, sondern weil ihre Gründung den Geist der europäischen Auswanderer mit dem der Aufklärung verband und sich gleichsam konstitutionalisierte. Damit wurde ein gutes Stück Reformation genetischer Code der US-amerikanischen Nation. In Europa manchmal unterschätzt, wird der Beitrag der Mission von Wendebourg hervorgehoben, der mit dem Enthusiasmus etwa der Erweckungsbewegung und der tatkräftigen Hilfe beim weltweiten Aufbau von Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern Hand in Hand ging.
Wenn die Reformation als Teil der Entstehung der Neuzeit verstanden wird, dann kann man an der Wechselbezüglichkeit von Religion und Recht viel Aufschlussreiches erfahren. Christoph Strohm stellt Beziehungen zwischen Religion und einer sich allmählich gemeinsam mit dem Territorialstaat herausbildenden Jurisprudenz dar, die für das Verständnis des Umbruchs unentbehrlich ist. Luther ging es dabei nicht um eine Zweitcodierung seiner Theologie in weltliches Recht. Die Wirkungszusammenhänge sind andere. Mit dem Angriff auf die römische Zentralität und die Stellung des kanonischen Rechts wurde überhaupt der Raum frei für die Trennung von evangelischer Theologie und landesherrlich angesiedelten weltlichen Juristen – also eine Förderung funktionaler Ausdifferenzierung, die durch die Nähe protestantischer Herrscher zu Kirchenfragen, prägnant in ihrer Eigenschaft als Notbischöfe, nicht dementiert wird. Das Recht selbst musste auf die – vorsichtig gesagt – zunehmende Pluralisierung religiöser Bekenntnisse und die damit verbundenen Konflikte reagieren. Das führt nicht nur zum letztendlichen Aufstieg des Toleranzgedankens, zur Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens als einer Fundamentalnorm des Reiches und zu der Vorstellung des Staates als neutralem Friedensgaranten, sondern auch zu rechtssystematischen Anstrengungen gerade auf den protestantischen Territorien. Der reformierte Jurist Althusius bereitet dem Vernunftrecht gegen das römische und kanonische Recht den Weg, weil er ein zwar ständisch verhaftetes, aber doch ein als Brücke lesbares Gemeinschafts- und Staatsmodell entwirft. Im Völkerrecht – dafür schärft Strohm den Blick – sind es vor allem die Reaktion auf die Reformation im katholischen Spanien und der Aufstieg der Jesuiten, die zu Innovationen führen. Ob die hier maßgebliche spanische Spätscholastik wirklich noch im Kern Scholastik war, wird zu Recht bezweifelt, weil der Humanismus und die anbrechende Vernunftphilosophie – neben den praktischen Bedürfnissen der damaligen Weltmacht Spanien – das Neuerungspotential bestimmen.
Wer diesen Band gelesen hat und sich insoweit die Mühe macht, einen kompakten Einblick in den Stand wissenschaftlicher Forschung zur Reformation zu gewinnen, ohne Konzessionen an gängige (natürlich ihre eigene Berechtigung habende) populärwissenschaftliche Formate machen zu müssen, der ist vorbereitet für die abschließende Reflexion von Ulrike Jureit. Sie stellt kritische Beobachtungen zum Reformationsgedenken 2017 an und fordert, Reformation als Konfliktgeschichte zu lesen. Was die Kritik angeht, könnte man boshaft sein und sagen: Wir lernen etwas über unsere Zeit, wenn wir das «Marketing» der Reformationsfeiern betrachten, wenn wir die Edukationsbemühungen einer kulturpolitischen Elite beobachten, die etwas populär vermitteln wollen, das sie in Wirklichkeit womöglich gar nicht verstehen. Der Bundestag jedenfalls hatte schon frühzeitig gehofft, dass die Reformation 2017 so etwas wird wie das Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006. Die EKD verschreibt sich nach Jureits Einschätzung einem Ursprungsnarrativ, wo alles Gute unserer Zeit, die Freiheit, die Gleichheit, die Demokratie und die Menschenrechte, mit Luther seinen Anfang genommen habe. Die Geschichtspolitik staatlicher Akteure wird als problematische Nahperspektive kritisch gesehen, die zudem unter Unterhaltungsgesichtspunkten als Erlebnisgeschichte verkauft werden «muss». Die Komplikationen, Verschleifungen und die Dialektik des historischen Gegenstandes können so nicht mehr wahrgenommen werden; hier beruft sich Jureit auf die deutliche Kritik des Historikers Heinz Schilling.
Aber letztlich sollte die Wissenschaft sich nicht zu lange mit der Klage aufhalten, dass Bundestag, Kirchen, politische Parteien oder Medien nicht wissenschaftlich genug seien, denn sie agieren in ganz anderen funktionellen Kontexten als Universitätsprofessoren. Die Wissenschaft darf sich nur nicht vereinnahmen, instrumentalisieren lassen, sie muss eigenwillig bleiben und weiter methodisch diszipliniert nach Wahrheit suchen. Dass ihr das auch bei geschichtspolitischen Großformaten gelingt, belegt dieser Band.
Udo Di Fabio
Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017
Von Thomas Kaufmann
Seit der Entstehung einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert ist jener historische Zusammenhang, der traditionell mit dem Begriff der «Reformation» bezeichnet wird, einer ihrer bevorzugten Gegenstände. Die Gründe dafür sind vielfältig; die in der Zeit der Reformation, also im 16. Jahrhundert, aufgebrochenen Gegensätze und Verwerfungen im Verständnis des Christentums und die damals eingetretene Pluralisierung der Kirchen und religiösen Gruppierungen – das Luthertum, das Reformiertentum, früher auch Calvinismus genannt, der Anglikanismus, das Täufertum (sie alle fasst man auch unter dem Begriff des Protestantismus zusammen) etc., neben der römisch-katholischen Kirche – haben die Geschichte Europas über Jahrhunderte hindurch geprägt.
Unter Berufung auf christliche Überzeugungen und kirchliche Zugehörigkeiten wurden Kriege geführt und Friedensschlüsse begangen, Ehen und Bündnisse geschlossen oder verweigert, berufliche Positionen zu- oder abgesprochen, Bildungsinhalte bestimmt und Namen der Kinder ausgewählt. Religion und Kirche waren damals nämlich noch keine Phänomene mit begrenztem Wirkungsradius, zu denen man sich verhalten konnte, wie man selbst es wollte; sie waren allgegenwärtig und prägten von der Wiege bis zur Bahre, in der Schule wie in der Politik, im öffentlichen wie im privaten Raum. Da die infolge der Reformation eingetretene Teilung der Christenheit in unterschiedliche Richtungen – Konfessionen genannt – zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert das politische, kulturelle, gesellschaftliche und kirchliche Leben nachhaltig bestimmt hat, interessierten sich die Historiker für die Ursachen, Motive und Gründe, die dazu geführt hatten – auch, um sie im Zeichen von Toleranz zu überwinden oder ein friedliches Zusammenleben zwischen den Konfessionen zu befördern.
Ein weiterer Grund für die Präsenz der Reformation in der Historiografie war darin zu sehen, dass man lange Zeit, im Grunde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, davon überzeugt war, dass die ‹Neuzeit› oder ‹Moderne›, also die Zeit, in der man selbst lebte, in der Reformation wurzelte. Die Protestanten vertraten diese Überzeugung zumeist mit der Pointe, dass sie die zeitgemäßere, aktuellere, modernere Variante des Christentums repräsentierten. Katholiken hingegen neigten eher dazu, die negativ beurteilten Aspekte der Moderne – Individualismus, historische Kritik an biblischen und sonstigen Überlieferungen, urbane Entwurzelung, kapitalistisches Gewinnstreben und anderes mehr – der mit der Reformation eingetretenen ‹Kirchenspaltung› zuzuschreiben; dadurch habe ein Bindungsverlust der Religion, eine Säkularisierung, eingesetzt. Unbeschadet der gegenteiligen Bewertung war man sich darin einig, dass die eigene Gegenwart – die Neuzeit oder Moderne – aus der Reformation entsprungen oder durch sie befördert worden sei.
Die Präsenz des Themas Reformation in der Geschichtsschreibung und im allgemeinen Geschichtsbewusstsein hat auch damit zu tun, dass es eine sehr lange, bis heute fortlaufende Erinnerungskultur gibt, die sich auf die Reformation bezieht. In einigen deutschen Bundesländern ist der Reformationstag am 31. Oktober ein gesetzlicher Feiertag; wo dies nicht der Fall ist, pflegen die evangelischen Schüler immerhin während der Unterrichtszeit gemeinsam in den Gottesdienst zu gehen. Bereits seit 1617 wurde des 31. Oktobers, des Tages der Veröffentlichung der 95 Thesen gegen den Ablass durch Martin Luther, als des Anfangs der Reformation gedacht. Die Reformation ist damit das erste historische Ereignis, für das es ein «Jubiläum» gab bzw. ein solches ‹erfunden› wurde. All die heute bekannten Erinnerungs- und Jubiläumsfeiern – von den Silbernen und Goldenen Hochzeiten oder Konfirmationen über die 25-, 50- oder 100-jährigen Firmenjubiläen bis hin zu den Jahrestagen von Kriegsausbrüchen oder Friedensschlüssen – sind historisch nach dem Reformationsjubiläum entstanden, also quasi seine Abkömmlinge, Erben oder Mutanten. Durch die seit 1617 regelmäßig, bald jährlich wiederkehrende Erinnerung an die Reformation, in Deutschland, aber auch in anderen protestantischen Ländern, blieb sie präsenter als viele andere Ereignisse der älteren Geschichte.
Ein weiteres Moment, das das Interesse an der Reformation – zumal in Deutschland – lange Zeit befördert hat, war eher geschichtspolitischer Natur. Im historischen Umkreis der Französischen Revolution nämlich kam vor allem unter protestantischen Intellektuellen – etwa den Philosophen Hegel oder Fichte – die Vorstellung auf, Deutschland bedürfe keiner Revolution, da es die Reformation erlebt habe. In den antifranzösischen Befreiungskriegen wurde Luther als deutscher Nationalheld stilisiert; sein Lied «Ein feste Burg ist unser Gott» stieg zur antifranzösischen Marseillaise der stark protestantisch geprägten deutschen Nationalbewegung auf. Nach und nach eroberten bronzene Lutherstatuen die Marktplätze vieler mittel- und norddeutscher Städte; der Wittenberger Reformator fungierte als Namensgeber für Straßen und Schulen wie sonst nur Dichterfürsten wie Schiller und Goethe und einige wenige Kaiser und Monarchen, Bismarck und Hindenburg. Wegen ihres unverhohlenen Nationalismus und Antikatholizismus, dem nicht selten Fremdenfeindlichkeit aller Art – besonders gegen Juden – beigegeben war, werden die Reformations- und Lutherjubiläen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus heutiger Perspektive eher mit Befremden wahrgenommen. Sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch im «Dritten Reich» war Luther und mit ihm die Reformation als geschichtspolitischer Bezugspunkt präsent; man fand in ihm also jeweils, was man selbst für wichtig hielt: den ‹Schöpfer› der deutschen Sprache, den innigen Dichter und Denker, den «Propheten der Deutschen», den Feind von Ausländern und Juden, den heldenhaften Bekenner und unerschütterlichen Wahrheitszeugen, den ‹deutschesten Deutschen›. Der Theologe Luther war in aller Regel geschichtspolitisch wenig interessant.
Im marxistischen Geschichtsdenken spielte Luther hingegen eine vornehmlich negative Rolle. Er galt als Verräter des ‹gemeinen Mannes›; seine Agitation im Bauernkrieg (1524/5) machte ihn zum ‹Fürstenknecht› und ‹Bauernschinder›, der die soeben aufkeimenden revolutionären Potentiale der unteren Schichten zugunsten des frühmodernen Fürstenstaates unterdrückte. In den ersten Jahrzehnten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren diese Wertungsperspektiven, die vor allem Friedrich Engels in einer einflussreich gewordenen Studie über den «Deutschen Bauernkrieg» entfaltet hatte, prägend; im Bauernkriegsjubiläum (1975) fanden sie ihren Höhepunkt. Als positive Gegenfigur zu Luther fungierte der thüringische Theologe Thomas Müntzer. Er wurde zum Sozialrevolutionär stilisiert; Kindergärten, Schulen, Kombinate trugen seinen Namen, der 5-Mark-Schein zeigte sein Konterfei. Doch nach und nach nahm das Interesse der DDR an Luther zu; im Kontext des in Ost und West gleichermaßen begangenen Lutherjubiläums aus Anlass des 500. Geburtstages 1983 gab die SED ihre bisherige Skepsis gegenüber Luther auf und verleibte ihn beherzt dem Erbe des ‹sozialistischen Vaterlandes› ein. Sowohl die gegenüber Luther kritische als auch die stärker affirmative Phase in der Geschichte der DDR haben dazu beigetragen, dass das wissenschaftliche und kulturelle Interesse an der Reformation hier außerordentlich lebendig blieb. In streitbarer Konkurrenz, aber auch in dialogischer Koexistenz erlebte die allgemein- wie die kirchenhistorische Reformationsforschung in beiden deutschen Staaten vor allem in dem Jahrzehnt vor der Wende eine Blütezeit.
Dass der Deutsche Bundestag die Reformation in einer parteiübergreifenden Entschließung vom 6.7.2011 als «Ereignis von Weltrang» bezeichnet und gemeinsam mit der Bundesregierung umfängliche Fördermittel für die Sanierung von Gebäuden und die Planung und Durchführung von Ausstellungen und Veranstaltungen aller Art zur Verfügung gestellt hat, entsprach der Überzeugung, dass die Reformation über ihre religiöse Bedeutung hinaus politisch, kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich und touristisch im nationalen wie im internationalen Horizont wichtig sei. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, soll im Folgenden in Umrissen skizziert werden.
Um Anlass, Bedeutung und Wirkung der Reformation angemessen einzuschätzen, ist es erforderlich, sie historisch einzuordnen, d.h., sie im Kontext ihres Zeitalters zu verstehen. Der Geschichtsraum, in dem sich die Reformation seit dem dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts ereignete und ausbreitete, war ein besonderer, nämlich der aus der westlichen Hälfte des Römischen Reiches hervorgegangene, durch die lateinische Sprache und Kultur geprägte Teil Europas. Dieser Geschichtsraum war durch die in Griechenland, Kleinasien und den slawischen Ländern dominierende russisch-byzantinische Orthodoxie der östlichen Christenheit einerseits, das islamisch geprägte Osmanische Reich andererseits religiös und kulturell begrenzt. Er wies einige charakteristische Gemeinsamkeiten auf: nominell unterstanden alle lateineuropäischen Christen dem Papst in Rom; sein Primat schloss – jedenfalls dem Anspruch nach – jurisdiktionelle Vollmachten ein. Das ‹jus canonicum› (kanonisches oder Kirchenrecht), das seit dem 11. Jahrhundert systematisch gesammelt, kodifiziert und durch dem Bischof von Rom loyal verbundene Rechtsgelehrte gepflegt und ausgelegt wurde, galt prinzipiell überall im ‹lateinischen› Europa. Daneben kam auch dem gelehrten altrömischen Kaiserrecht, gesammelt im weit verbreiteten Codex Justinianus, einer Rechtssammlung aus der Spätantike, neben den nationalen und regionalen Rechtskulturen eine stetig wachsende Bedeutung zu. Das Europa des späten Mittelalters war also von gemeinsamen rechtskulturellen Traditionen beeinflusst und in Teilen auch geprägt. Auch die kirchlichen Hierarchien – Erzbischöfe (Metropoliten) und Bischöfe, ihre Domkapitel, Archidiakonate und Fiskalate, die Pfarreien in den einzelnen Gemeinden – waren, unbeschadet der jeweiligen Besetzungsrechte für die geistlichen Ämter, überall in Lateineuropa weitestgehend identisch organisiert.
Lateineuropa war sodann von einem dichten Geflecht an monastischen Orden durchzogen, die ihre je eigenen transregionalen und -nationalen Organisationsstrukturen besaßen: die Zisterzienser, Benediktiner, Prämonstratenser und Karthäuser etwa, auch die sich ausschließlich in den Städten ansiedelnden Bettelorden der Dominikaner, Franziskaner oder Augustinereremiten gab es im Prinzip überall in der westlichen Christenheit. In kommunikativer und rechtlicher Hinsicht waren die Klöster eines Ordens untereinander intensiv vernetzt; regelmäßige Konvente einer entsprechenden Gliederungseinheit, auch Ordensvertretungen am ‹Heiligen Stuhl› in Rom, gemeinsame Ordensstudien an einzelnen Universitäten etc. sicherten den engen Zusammenhalt. Im 15. Jahrhundert durchzogen diverse Reformimpulse die unterschiedlichen Orden; allenthalben bemühte man sich, eine strengere Befolgung – lateinisch: observantia – der auf Armut, Keuschheit und Gehorsam zentrierten Ordensgelübde zu erreichen. Diese sogenannte Observanzbewegung wurde nicht zuletzt durch weltliche Obrigkeiten gefördert, denn die Gebete, Predigten und Messen regeltreuer, asketisch lebender und gebildeter Religiosen brachten auch dem Gemeinwesen, in dem sie lebten, ungleich größeren Nutzen als laxe und gleichgültige Geistliche.
Ein weiteres charakteristisches Merkmal der kulturellen Identität Lateineuropas waren die Universitäten. Seit dem 12. Jahrhundert hatten sich, ausgehend von Italien, ähnlich den Handwerkergilden und anderen Gemeinschaften, Zusammenschlüsse von Lehrern und Schülern gebildet, denen durch Kaiser oder Päpste nach und nach Privilegien übertragen worden waren – etwa zur Verleihung akademischer Grade oder zur steuerlichen und rechtlichen Immunität. Im Laufe des späten Mittelalters hatte sich die Zahl der Universitäten sprunghaft vermehrt; ganz Lateineuropa war bald von einem dichten Netz dieser Bildungsstätten überzogen, in denen in derselben Sprache – Latein – kommuniziert, weitgehend einheitlich gelehrt und in standardisierten Formen disputiert und graduiert wurde. Die basalen sprachlichen, mathematischen und naturphilosophischen Kenntnisse wurden in Gestalt der sieben freien Künste (septem artes liberales, geteilt in das Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik/Logik und das Quadrivium aus Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) in der artistischen oder philosophischen Fakultät vermittelt. Erst nach deren erfolgreicher Absolvierung durch den Erwerb des Grades eines Magisters der freien Künste konnte ein Studium in den drei höheren Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) aufgenommen werden. Der intellektuelle Stil in allen Fakultäten wird als ‹Scholastik› bezeichnet; verlässliches Schulwissen sollte auf der Basis einer allseits anerkannten philosophischen Methodologie (Aristoteles) unter Abwägung der Pro-und-Kontra-Argumente zu einer Position tradiert werden. In den Jahrzehnten ‹um 1500› mehrten sich Einsprüche gegen die Dominanz der scholastischen Theologie. Die akademischen Grade wurden überall in Europa anerkannt und berechtigten auch zur universitären Lehre andernorts; eine mobile, gelehrte Elite stellte Wissen und Expertisen zur Verfügung, auf die bald keine geistliche oder weltliche Herrschaft mehr verzichten konnte oder wollte.
In Lateineuropa galt die christliche Religion exklusiv; außer dem Judentum, dem durch Jahrhunderte hindurch ein notorisch instabiler, um 1500 weithin gefährdeter Status an den Rändern der christlichen Gesellschaften eingeräumt worden war, durfte keine andere Religion praktiziert werden. Dass systematische Judenvertreibungen im 15. Jahrhundert zunahmen, hing auch mit Ängsten der Europäer vor dem seit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 stark expandierenden Osmanischen Reich zusammen; man verdächtigte Juden des heimlichen Paktierens mit den Türken. Überdies kamen – zuerst auf der Iberischen Halbinsel, wo seit dem 8. Jahrhundert Christen, Juden und Muslime koexistiert hatten – Vorstellungen einer «Reinheit des Geblüts» auf, die jede Verbindung von Christen und Nichtchristen beargwöhnten und eine Mentalität der konsequenten Ausgrenzung beförderten. Unter dem programmatischen Schlagwort einer ‹Rückeroberung› (Reconquista) des eigenen kulturellen Lebensraumes wurden Juden, Muslime und Konvertiten aus beiden Religionen seit 1492 verfolgt und aus Spanien vertrieben. Neuartige Verdächtigungen gegen Juden – die Anklagen wegen Ritualmordes an Christenkindern, Brunnenvergiftungen oder blasphemischen Hostienschändungen – führten überall dort, wo es noch Juden gab, zu vermehrten Verfolgungswellen, Pogromen und Austreibungen.
Das religiöse Leben der lateinischen Christenheit war maßgeblich durch die Sakramente bestimmt. Sie wurden in lateinischen Ritualen zelebriert und von geweihten, im Zölibat lebenden Priestern, dem Klerus, gespendet. Latein war die maßgebliche Sprache des Gottesdienstes; die verbindliche Version der Bibel war gleichfalls die lateinische, die sogenannte Vulgata. Als regulärer Ort der sakramentalen Grundversorgung galt die durch den Wohnsitz definierte Pfarrgemeinde (Parochie). Das Verhältnis des Laien zu Kirche und Christentum war primär durch das sakramentale Handeln des Klerus vermittelt. Seit dem früheren 15. Jahrhundert (Konzil von Florenz, Bulle Exsultate Deo, 1439) waren die Zahl der Sakramente auf sieben, ihre jeweilige Wirkungsweise, ihre materielle Grundlage [materia, z.B. Wasser bei der Taufe] und die jeweiligen Segensworte [forma, z.B. die Taufformel: Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes] exakt definiert worden. Drei von ihnen: Taufe, Firmung und Priesterweihe, prägten der Seele ein unverlierbares Prägemahl (character indelebilis) ein; sie konnten deshalb nur einmal im Leben empfangen werden. Die Eucharistie (nur ‹unter einer Gestalt›, dem Brot), die Buße, die Ehe und die Letzte Ölung begleiteten den abendländischen Christen auf seinem Lebensweg. Die Taufe, die als Unterpfand der postmortalen Erlösung galt, wurde in der Regel zeitnah zur Geburt gespendet. Die Buße war von jedem religionsmündigen Christen ab einem Alter von ca. vierzehn Jahren mindestens einmal im Jahr, in der Regel in der Karwoche, abzulegen, danach das Abendmahl zu empfangen – so die Definition der unveräußerlichen religiösen Obligationen nach dem IV. Laterankonzil von 1215.
Neben der einzelnen Pfarrgemeinde nahmen sich zahlreiche andere geistliche Institutionen der Gläubigen an und warben um die Gunst ihrer dauerhaften Stiftungen oder sonstigen Zuwendungen: Klöster aller Orden, Wallfahrtskirchen, Dom- und Stiftskathedralen, Kapellen in Siechen- und Altenheimen etc. pp. Insbesondere in den Städten bestand eine lebhafte Konkurrenz zwischen Welt- und Ordensgeistlichen, insbesondere Bettelmönchen (z.B. Franziskaner, Dominikaner, Augustinereremiten etc.), die als versierte Prediger und Seelsorger häufig sehr nahe bei den Menschen waren. Ihnen vertraute man besonders gerne Stiftungen an, die dem Seelenheil einzelner Gläubiger und ihrer Familien dienen sollten: Kapellen und Altäre, in denen Messen für das Seelenheil bestimmter Personen gelesen wurden; Pfründen für die Priester, die diese Messen lasen; kirchliche Ausstattungsstücke wie Kanzeln, Taufsteine, Skulpturen und Bilder, durch die der Stifter an den heilsamen Betätigungen des jeweiligen Gotteshauses ‹teilhatte›. In sogenannten Bruderschaften schlossen sich einzelne Menschengruppen, etwa bestimmte Zünfte, zu Zwecken gemeinschaftlicher Stiftungen zugunsten ihrer Mitglieder zusammen. Auf diese Weise konnten viele Menschen z.T. auch mit geringen Finanzmitteln an kollektiven Sicherungsstrategien zugunsten des Seelenheils teilnehmen. Die immense Stiftungsfreudigkeit, die «um 1500» überall in Lateineuropa auftrat, ging mit einer analogielosen Intensivierung der kirchlichen Bautätigkeit und einer Hochphase der bildenden Kunst einher.
Die fromme Betriebsamkeit, die sich in einer Quantifizierung religiöser Leistungen – ein rasanter Anstieg an privaten Seelenmessen, eine Zunahme der Wallfahrten und der Heiligen, eine Steigerung der Gebetsleistungen durch Zählverfahren (z.B. Rosenkränze), eine sprunghafte Vermehrung kirchlicher Gebäude und Stiftungen u.a.m. – ausdrückte, dürfte auch im Zusammenhang mentalitärer Verunsicherungen und forcierter religiöser Sinnsuchen zu interpretieren sein. Epidemien, militärische Vorstöße mordender Türken, mirakelhafte Neuigkeiten aus fernen Ländern stimulierten allzeit aktivierbare apokalyptische Ängste. Der gravierende theologische Unterschied zwischen dem ultimativen Verdammungsort, der Hölle (infernum), und dem Fegefeuer (purgatorium), jenem Reinigungsort, an dem die büßende Seele wegen der auf Erden ungesühnt gebliebenen Vergehen auf unbestimmte, freilich befristete Zeit gepeinigt wurde, um schließlich doch in die ewige Seligkeit einzugehen, hatte sich im allgemeinen religiösen Bewusstsein, auch in der Propaganda manches Predigers, nivelliert. Strategien, die Dauer der Fegefeuerpein zu verkürzen, gewannen deshalb an Attraktion.
Das vorzüglichste Mittel dazu war der Ablass; er bewirkte eine Verkürzung oder gar vollständige Tilgung der Fegefeuerpein. Der Umfang der jeweils gewährten Nachlässe der postmortalen Sühnezeiten orientierte sich an den im Zusammenhang mit dem Bußsakrament etablierten Tarifen; bestimmten Vergehen korrespondierten demnach exakt festgelegte Bußzeiten, die der Priester im Zusammenhang mit der Absolution auferlegte. ‹Kleine› Ablässe, die vierzig oder hundert Tage verschärfter Buße ‹erließen›, konnten von Bischöfen oder Kardinälen gewährt werden; sie waren allgegenwärtig und wurden in vielen Pfarr- oder Klosterkirchen für geringe Gebetsleistungen (eine bestimmte Zahl an Vaterunsern oder Ave Marias) gewährt. Daneben gab es Ablässe im Zusammenhang großer Reliquienpräsentationen (sog. Heiltumsschauen), bei denen aufgrund päpstlicher Privilegierungen an einigen wenigen Tagen im Jahr für bestimmte, in kostbare Gefäße eingefasste heilige Objekte präzise Ablasszeiten festgelegt wurden; durch die schiere Menge der Heiltümer konnten sich die Zeiträume auf mehrere Millionen Jahre verkürzter Fegefeuerpein verlängern. In Mitteldeutschland konkurrierten die Dynastien der brandenburgischen Hohenzollern und der sächsischen Wettiner: das von Kardinal Albrecht von Brandenburg aufgebaute Neue Stift in Halle und die von Kurfürst Friedrich von Sachsen an der Schlosskirche in Wittenberg zusammengetragene Reliquiensammlung; Ersteres brachte es im Jahre 1520 auf 8133 Reliquienpartikel und 42 vollständige Heiligenkörper und eine Gesamtsumme von 99.245.120 Jahren verkürzter Fegefeuerstrafen, Letztere im selben Jahr auf 19.013 Stücke und an Allerheiligen und dem Sonntag Quasimodogeniti einen Plenarablass ‹nach Art› (ad instar) der Portiunculakapelle in Assisi.
Neben den genannten, trotz ihrer z.T. fantastischen zeitlichen Erstreckung doch befristeten Ablässe gab es sogenannte Plenarablässe, die die vollständige Vergebung von Strafen und Sündenschuld (plena remissio poenae et peccatorum) gewährten. Ihre Verleihung war ein exklusives Recht der Päpste; zuerst begegneten sie im Zusammenhang der Kreuzzüge und ermöglichten ihren Teilnehmern einen unbeschwerten Einzug ins himmlische Paradies. Seit 1300 tauchten sie im Zusammenhang mit den sogenannten Jubeljahren auf, in denen Päpste Pilgerreisen nach Rom mit einem Plenarablass belohnten. Im 15. Jahrhundert wurden unterschiedliche Anwendungsfälle mit z.T. begrenzten Verkündigungsgebieten üblich: Kreuzzüge gegen die Türken oder andere Feinde des Papsttums, Deutschordensablässe für Livland, Domablässe für Trier, Ablässe für kirchliche Bauvorhaben wie den Neubau der Peterskirche in Rom u.a.m. Auch die Gewohnheit, den Erwerb eines Ablasses zu beurkunden und im Rahmen des jeweiligen finanziellen Leistungsvermögens des individuellen Empfängers zu bezahlen, kam nun auf. In groß organisierten Kampagnen wurden die päpstlich privilegierten Plenarablässe in den jeweils vorgesehenen Verkündigungsgebieten angeboten. Auch die Heilsangebote, die gewährt wurden, weiteten sich stetig aus: Unvergebbare Sünden wie Priestermord wurden einbezogen; auch für Verstorbene konnte man nun Ablässe erhalten; nicht nur ein einziges Mal, sondern – für den Fall seither wieder begangener, ungebüßter Sünden – ein weiteres Mal im Falle von Todesgefahr gewährten die immer weiter perfektionierten Ablassbriefe volle Sündenvergebung. Ob die Plenarablässe überall in Europa gleichermaßen nachgefragt oder die nordalpinen Gegenden ansprechbarer waren und ob sich gar – wie aufgrund rückläufiger Einnahmen bei Kampagnen in Deutschland gefolgert wurde – in den Jahren vor 1517 eine allgemeine Plausibilitätskrise des Ablasses abzuzeichnen begann, ist umstritten.
Ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen ging seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vom Buchdruck mit beweglichen Metalllettern aus – der bahnbrechenden Erfindung des Mainzers Johannes Gutenberg. In der Phase des Frühdrucks, auch Inkunabelzeit genannt (bis ca. 1500), entwickelte sich der rasch über weite Teile Lateineuropa – aber nicht darüber hinaus! – ausgebreitete Buchdruck von einem Instrument, das altehrwürdige Texte vor allem der antiken und der mittelalterlichen Tradition in gediegenen, verlässlichen und gegenüber den Handschriften auch billigeren Ausgaben zu reproduzieren erlaubte, zu einer Technologie, die auch aktuelle Sachverhalte – Verlautbarungen kirchlicher oder weltlicher Obrigkeiten, Ablassmedien, Berichte von den geographischen Entdeckungen, militärischen Entwicklungen, osmanischen Gräueln etc. – bekannt machte. Die durch den Buchdruck nach und nach radikal veränderten Zugangsbedingungen zu schriftlichen Überlieferungen gelehrter, religiöser und sonstiger Art korrellierten mit Entwicklungen insbesondere in der florierenden städtischen Kultur, in denen – ausgehend von Italien – Angehörige des Bürgertums zusehends geistige Interessen entwickelten und das traditionelle Bildungsmonopol des Klerus aushöhlten. Die immense Zunahme an religiöser Literaturproduktion in der Volkssprache zeugt davon, dass sich des Lesens kundige Städter schon im späten 15. Jahrhundert durch Eigenlektüre bildeten und individuelle, gegenüber der sakramentalen Heilsvermittlung alternative Zugänge zum Christentum suchten.
Auch die im 14. Jahrhundert in Italien entstandene Kulturbewegung der Renaissance, die antrat, um das kulturelle Erbe der Antike ‹wiederzubeleben› oder zu erneuern und die in den sprachlichen und ästhetischen Leistungen der Römer und Griechen den Maßstab und das Ideal des eigenen Denkens und Handelns fand, nutzte die neuartige Reproduktionstechnologie mit beweglichen Lettern. Texte der bewunderten Alten, allen voran Ciceros, fanden nun eine weite Verbreitung in ganz Europa; mit Feuereifer suchten diese Humanisten – wie sie sich selbst nannten – d.h., die den ‹studia humaniora›, den Wissenschaften, die dem Menschsein des Menschen dienten, ergebenen Gelehrten, in entlegenen Klosterbibliotheken nach bisher unbekannten antiken Quellen, die sie durch den Buchdruck bekannt machten. Einzelne Humanisten verfolgten traditions- oder auch kirchen- und religionskritische Tendenzen; erste Ansätze historischen Denkens, das geltende Autoritätsgefüge durch die Rekonstruktion ihres Gewordenseins relativiert, traten hervor. Bald explodierte das Interesse am Griechischen; griechische Exulanten, die in größerer Zahl das türkisch eroberte Konstantinopel verlassen hatten, verbreiteten die Kenntnis ihrer Sprache zunächst unter italienischen Gelehrten. Doch zügig drang dieses Wissen auch weiter in den Norden vor; der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam (1469–1536) galt als der führende Gräzist seiner Zeit. Den humanistischen Ruf ‹Zurück zu den Quellen!› (ad fontes151615145515221506