mare
Aus dem Französischen
von Kirsten Gleinig
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Soudain, seuls bei Editions Stock, Paris.
Copyright © Editions Stock, 2015
© 2017 by mareverlag, Hamburg
Lektorat Rudolf Mast
Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg
Abbildung Gerhard Rießbeck
Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Datenkonvertierung eBook bookwire
ISBN eBook: 978-3-86648-332-3
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-256-2
www.mare.de
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Sie sind früh aufgebrochen. Es verspricht einer der erhabenen Tage zu werden, die zuweilen in den wilden Breiten herrschen, der Himmel tiefblau, wie flüssig, so klar wie nur hier, am fünfzigsten Breitengrad Süd. Das Wasser ist spiegelglatt, Jason, ihr Schiff, scheint schwerelos auf einem dunklen Teppich zu schweben. Kein Wind regt sich, sodass die Albatrosse um den Schiffsrumpf paddeln.
Sie haben das Beiboot weit auf den Sandstrand gezogen und sind an der alten Walfangstation entlanggegangen. Die verrosteten, von der Sonne in goldenes Licht getauchten Dächer wirken beinahe fröhlich im Farbenspiel von Ocker, Gelb und Rot. Die Tiere haben die aufgegebene Station zurückerobert, dieselben Tiere, die so lange hier gejagt wurden, totgeschlagen, aufgeschlitzt, gekocht in den riesigen Kesseln, die nun verfallen. Hinter jedem Ziegelhaufen, in den eingestürzten Hütten, zwischen lauter Rohren, die nirgendwo mehr hinführen, aalen sich stoische Pinguine, Robbenfamilien und See-Elefanten. Sie sind eine ganze Weile stehen geblieben, um die Tiere zu beobachten, und es ist schon spät am Vormittag, als sie das Tal hinaufsteigen.
Gute drei Stunden, hatte Hervé ihnen gesagt, einer der wenigen Menschen, die jemals hier waren. Sobald man sich auf der Insel von der Küstenebene entfernt, ist kein Grün mehr zu sehen. Alles wird steinig, Felsen, Klippen, mit Gletschern bedeckte Bergspitzen. Sie gehen zügig voran, albern herum, wenn sie einen bunten Stein sehen oder einen klaren Bach, wie Kinder beim Herumstreunen. Als sie die erste Erhebung erklimmen, machen sie noch eine Pause, bevor sie das Meer aus dem Blick verlieren. Es ist so elementar, so schön, im Grunde unbeschreiblich. Die von schwärzlichen Hängen eingefasste Bucht, das Wasser, das unter der aufkommenden leichten Brise silbern glitzert, der orange Fleck der alten Station und ihr Schiff, ihr treues Schiff, das zu schlafen scheint, die Flügel angelegt wie die Albatrosse am Morgen. Draußen auf dem Meer schimmern die reglosen weißblauen Kolosse im Licht. Nichts ist friedlicher als ein Eisberg bei ruhigem Wetter. Riesige Kratzer ziehen sich über den Himmel, schattenlose Wolken in großer Höhe, die die Sonne golden säumt. Fasziniert verharren sie, kosten den Anblick lange aus. Etwas zu lange wohl. Louise bemerkt, dass es sich im Westen zuzieht, und ihr Bergsteigersinn schaltet auf Alarmbereitschaft.
»Vielleicht sollten wir lieber zurückgehen, es ziehen Wolken auf.«
Es soll unbeschwert klingen, doch in ihrem Tonfall schwingt Beunruhigung mit.
»Auf keinen Fall! Du mit deiner Ängstlichkeit. Wenn es sich bedeckt, ist uns immerhin nicht so warm.«
Ludovic versucht, nicht ungeduldig zu klingen, aber sie geht ihm auf die Nerven mit ihren ständigen Sorgen. Hätte er auf sie gehört, wären sie jetzt gar nicht hier, majestätisch, vollkommen allein am Ende der Welt. Sie hätten das Schiff nicht gekauft und diese grandiose Reise gar nicht angetreten. Tatsächlich, der Himmel verdüstert sich in der Ferne, aber schlimmstenfalls werden sie eben nass. Das gehört zum Abenteuer dazu, genau das ist doch ihre Absicht, aus der Erstarrung des Pariser Büroalltags auszubrechen, in dessen bequemer Trägheit sie draufzugehen und an ihrem Leben vorbeizuleben drohten. Irgendwann hätte der sechzigste Geburtstag vor der Tür gestanden, und sie hätten es bereut, nichts erlebt, nie gekämpft, sich selbst nie kennengelernt zu haben. Er zwingt sich zu einem versöhnlichen Ton.
»Wir kriegen nicht noch mal die Chance, den ausgetrockneten See zu sehen. Hervé meint, so ein Eislabyrinth, das einfach auf dem Erdboden steht, gibt es sonst nirgendwo. Denk doch mal an die unglaublichen Fotos, die er gezeigt hat. Außerdem schleppe ich die Eispickel und Steigeisen nicht umsonst mit. Es wird bestimmt toll, vor allem für dich.«
Er weiß, wie er sie kriegen kann, die Bergsteigerin. Für sie hat er das Ziel doch ausgesucht: eine Insel tief im Süden, aber bergig, eine Ansammlung von Gipfeln, einer unberührter als der andere, mitten im Atlantik, noch über den fünfzigsten Breitengrad hinaus.
Es ist schon vierzehn Uhr, und der Himmel wird nun deutlich dunkler, als sie den letzten Bergkamm erreichen. Hervé hat nicht gelogen, es ist fantastisch. Ein Krater von mehr als einem Kilometer Länge, ein perfektes Oval. Er ist gänzlich trocken, und auf den Hängen zeichnen sich konzentrische Kreise ab, Spuren des versiegenden Wassers, die einen Mond formen, wie auf einem riesigen Fingernagel. Der See hat sich über ein seltsames Ablaufsystem unter einer Felsbarriere entleert. In dem alten Becken sind nur die riesigen Eisblöcke zurückgeblieben, einige zehn, zwanzig Meter hoch und größer, die von Zeiten zeugen, als sie eins waren mit dem Gletscher weiter unten. Seit wann mögen sie schon so daliegen, eingekesselt wie eine vergessene Armee? Unter dem inzwischen grauen Himmel verströmen die mit altem Staub bedeckten monolithischen Blöcke etwas Schwermütiges. Louise mahnt noch einmal umzukehren.
»Jetzt wissen wir ja, wo es ist, und können wiederkommen. Ist doch nicht nötig, dass wir nass werden …«
Aber Ludovic rennt schon juchzend den Abhang hinunter. Eine Weile streifen sie zwischen dem gestrandeten Eis umher. Von Nahem wirkt es unheimlich. Das eigentlich strahlende Weiß und Blau ist mit Erde verschmiert. Schmelzwasser trübt die Oberfläche und lässt das Eis wie von Insekten zerfressenes Pergament erscheinen. Dennoch sind sie gebannt von dieser düsteren Schönheit. Ihre Hände gleiten über die ausgehöhlten Mulden, streicheln verträumt die kalten Wände. Das, was da vor ihren Augen schmilzt, hat schon lange existiert, bevor es sie gab, lange bevor der Homo sapiens kam und die Ordnung auf der Erde durcheinanderbrachte. Sie flüstern wie in einer Kirche, als könnten ihre Stimmen ein fragiles Gleichgewicht zerstören. Der einsetzende Regen reißt sie von dem Anblick los.
»Auf jeden Fall ist das Eis ziemlich marode. Keine Ahnung, warum Hervé da raufgestiegen ist. Wir sollten uns lieber beeilen. Bei dem Wind wird’s nicht leicht mit dem Beiboot und dem kleinen Außenborder.«
Jetzt nörgelt Louise nicht mehr, sie hat ganz einfach die Führung übernommen. Ludovic kennt diesen entschiedenen Ton an ihr. Und er weiß, dass sie oft einen guten Riecher hat, die Lage richtig einschätzt. Also gut, zurück.
Sie klettern den Krater wieder hoch und eilen den Abhang hinunter. Ihre Jacken flattern peitschend im Wind, und sie rutschen auf den feuchten Steinen. Das Wetter ist innerhalb kürzester Zeit umgeschlagen. Als sie den letzten Pass erreichen, stellen sie schweigend fest, dass sich die Bucht vollkommen verändert hat und nicht mehr so friedlich anmutet wie auf dem Hinweg. Eine böse Fee hat sie in eine schwarze aufgewühlte Fläche verwandelt, auf der messerscharfe Wogen wüten. Louise rennt, Ludovic stolpert fluchend hinterher. Außer Atem erreichen sie den Strand. Die Wellen brechen sich in alle Richtungen. Das Schiff schlägt am Ende seiner Ankerkette hart gegen das Wasser.
»Na gut, dann werden wir eben nass, als Belohnung gibt es heiße Schokolade!«, kündigt Ludovic vollmundig an. »Geh du nach vorn und rudere gegen die Wellen an, ich schiebe! Wenn wir die Brandung hinter uns haben, schmeiß ich den Motor an.«
Sie schleppen das Beiboot über den Strand und warten auf ein kurzes Abflauen. Das eisige Wasser klatscht ihnen an die Knie.
»Jetzt! Schnell! Na los … rudere doch, mein Gott!«
Ludovic schlittert über den feuchten Sand, Louise müht sich vorne mit dem Riemen ab. Eine erste Welle braust nieder und füllt das kleine Boot mit Wasser, die nächste trifft es quer, hebt es wie ein Spielzeug hoch und lässt es kentern. Sie landen in der sprudelnd weißen Gischt, die sie gegeneinanderschleudert.
»Mist!«
Ludovic bekommt mit einer Hand die Leine des Beibootes zu fassen, das die Brandung bereits mit sich zieht. Louise reibt sich die Schulter.
»Ich hab den Motor in den Rücken gekriegt. Das tut weh!«
Triefend sinken sie sich in die Arme, fassungslos angesichts der plötzlichen Naturgewalt.
»Wir ziehen das Boot da drüben hin. Am Ende der Bucht ist die Brandung nicht so stark.«
Tapfer hieven sie das Boot an eine Stelle, die geeigneter erscheint. Doch dort angekommen, stellen sie fest, dass es kaum besser ist. Zwei Mal wiederholen sie das Manöver, zwei Mal werden sie von wirbelnder Gischt zurückgeworfen.
»Hör auf! Das schaffen wir nie, und es tut so weh.«
Louise hat sich auf den Boden fallen lassen. Sie hält sich den Arm und verzieht das Gesicht, in das der Regen peitscht, sodass die Tränen nicht zu sehen sind. Ludovic tritt wütend in den Sand, der fontänenartig aufspritzt. Er ist frustriert und zornig. Verdammte Insel! Verdammter Wind, verdammtes Meer! Eine halbe Stunde früher, höchstens eine, und sie würden sich jetzt vor dem Ofen wärmen und darüber lachen, was sie erlebt haben. Er ärgert sich über sein Unvermögen und das Schuldgefühl, das sich schmerzlich einschleicht.
»Okay, wir schaffen’s nicht. Lass uns in der Station Schutz suchen und warten, bis das Ganze vorbei ist. Der Wind hat schnell aufgefrischt, bestimmt nimmt er auch schnell wieder ab.«
Mühsam bringen sie das Beiboot hoch auf den Strand, machen es an einem Pfahl fest, der aus der Zeit gefallen scheint, und steuern auf die Trümmer aus Blech und Brettern zu.
Sechzig Jahre hat der Wind sein Werk an der alten Walfangstation verrichtet. Einige Gebäude sind von innen so zerstört, als wäre etwas explodiert. Auffliegende Steine haben die Fensterscheiben eingeschlagen, der Wind hat sich verfangen und gewütet. Andere Bauten neigen sich gefährlich und warten auf den Gnadenstoß. Neben einem großen, schiefen Fachwerkbau, der zum Zerlegen der Wale diente, entdecken Louise und Ludovic eine kleine Hütte. Doch im Inneren schlägt ihnen ein fürchterlicher Gestank entgegen. Vier See-Elefanten liegen dort zusammengedrängt, und angesichts der Störung stoßen sie geräuschvoll auf.
Missmutig gehen sie weiter durch die Ruinen zu einem zweistöckigen Haus, das besser erhalten scheint. Eine Gruppe Pinguine kreuzt völlig unbeeindruckt ihren Weg, und Ludovic ist versucht, sie zu verjagen, ihnen ihre Gleichgültigkeit heimzuzahlen. Drinnen ist es trostlos, düster und feucht. Der alte Fliesenboden, die Blechtische und verrosteten Töpfe deuten darauf hin, dass sich hier einst die Großküche befand. Und tatsächlich, der angrenzende Raum erinnert an einen Speisesaal. Schlotternd lässt Louise sich auf eine Bank fallen. Sie hat Schmerzen, vor allem aber hat sie Angst. Mit dem Wüten der Berge kennt sie sich aus, sie weiß, was dann zu tun ist, schlimmstenfalls muss man sich mit dem Biwaksack im Schnee eingraben und einfach abwarten. Hier hingegen fühlt sie sich verloren. Ludovic steigt die Betontreppe hoch. Oben findet er zwei große Schlafsäle, halbhohe Trennwände formen Kabinen, darin jeweils eine abgenutzte Matratze, ein kleiner Tisch und ein Schrank mit offenen Türen. Verblichene Fotos, ein derber Schuh, zerfetzte Kleidung, die an Nägeln hängt – Zeugen eines überstürzten Aufbruchs, den die Menschen offensichtlich kaum erwarten konnten, glücklich, dieser Hölle wieder zu entkommen. Ganz hinten führt eine Tür, halb aus den Angeln gerissen, in einen kleinen Raum, der holzvertäfelt und besser ausgestattet ist: zweifellos das Zimmer eines Vorarbeiters.
»Komm hoch, hier ist es besser. Wir warten im Warmen.«
»Im Warmen« – das sind große Worte. Sie lassen sich auf das knarrende Bett fallen. Der Regen peitscht gegen die losen Scheiben, dringt durch die Ritzen und bildet eine Lache in der fauligen Ecke des Fensterbretts. Das fahle Licht enthüllt die Spuren der Feuchtigkeit auf den einst weißen Wänden. Der einzige Stuhl ist kaputt, und Ludovic huscht zu seiner eigenen Verwunderung die Frage nach dem Warum durch den Sinn. Nur ein alter Sekretär, ähnlich einem Lehrerpult vor hundert Jahren, scheint noch heil zu sein.
»Das ist jetzt unsere Berghütte! Los, zeig mal deine Schulter. Und wir müssen uns abtrocknen.«
Er bemüht sich, ruhig zu klingen, den Eindruck zu erwecken, es sei alles nur ein kleiner Zwischenfall, aber seine Hände zittern ein wenig. Er hilft ihr, sich auszuziehen, um die triefnassen Kleider zu trocknen. Nackt wirkt ihr schlanker, muskulöser Körper ganz zerbrechlich. Sie wollte sich nie sonnen, als sie in den warmen Meeren unterwegs waren. Nur Arme, Gesicht und Waden sind sonnengebräunt und lassen die übrige Haut umso blasser erscheinen. Aus dem schwarzen Pony sickern Tropfen über die grünen Augen mit den braunen Sprenkeln. Diese Augen, die es ihm vor fünf Jahren als Erstes angetan haben. Eine Welle von Zärtlichkeit ergreift ihn. Er rubbelt sie mit seinem Pullover ab, so schnell er kann, damit sie wieder warm wird, und wringt ihre durchnässten Sachen aus. Auf der linken Schulter klafft eine Wunde, zweifelsohne vom Propeller, und ein großer Fleck zeichnet sich ab, der schon ganz blau wird. Zitternd lässt sie alles geschehen wie eine Puppe. Auch sich selbst rubbelt er ab, aber die nassen Kleider kleben kalt an seiner Haut. Im Sommer sind es hier selbst bei schönem Wetter kaum mehr als fünfzehn Grad. Jetzt dürften es etwa zehn Grad sein.
»Haben wir ein Feuerzeug dabei?«
»Im Rucksack.«
Selbstverständlich, als Bergsteigerin geht sie nirgends hin ohne ihr kostbares Feuerzeug. Er findet noch zwei Rettungsdecken und wickelt sie rasch darin ein.
In der Küche stöbert er ein großes Backblech aus Aluminium auf und reißt Bretter aus den klapprigen Regalen. Er schafft alles nach oben, schneidet das Holz mit seinem Messer in Stücke und macht damit ein kleines Feuer. Trotz der offenen Tür ist der Raum schnell voller Rauch, aber immerhin wird es ein wenig warm.
Er zwingt sich, noch einmal hinauszugehen, um die Lage zu sondieren. Der Wind hat weiter aufgefrischt, und die Böen lassen das Meer schäumen. Ein ordentlicher Sturm. Kein Weltuntergang, aber unmöglich, zum Schiff zu gelangen. Zwischen den Regenwänden erkennt er es und sieht, wie es sich tapfer auf den Wellen hält. Die Wolkendecke hängt so niedrig, dass die Steilküste oben schon im Grau verschwindet, und es wird langsam dunkel.
»Ich glaube, wir müssen über Nacht hier bleiben«, ruft er beim Hinaufkommen. »Gibt’s noch was zu essen?«
Louise hat sich ein wenig erholt. Sie hält das Feuer in Gang, die Wärme tut gut, auch wenn die alten Bretter beim Verbrennen fürchterlich nach Teer stinken. Sie hängen ihre Jacken nahe an den Flammen auf, rücken dicht zusammen, während sie an ihren Müsliriegeln knabbern.
Keiner kommentiert die Situation. Sie bewegen sich, das wissen beide, auf vermintem Gebiet, wo sie leicht in Streit geraten können: sie, die Vorsichtige, er, der Impulsive. Sie werden später alles klären, wenn dieses unerfreuliche Kapitel hinter ihnen liegt. Dann werden sie die ganze Geschichte noch einmal aufrollen. Sie wird ihm beweisen, dass sie zu unbedacht waren, er wird erwidern, es sei unvorhersehbar gewesen, sie werden herumstreiten und sich schließlich wieder versöhnen. Das ist fast ein Ritual geworden, ein Sicherheitsventil für ihre Unterschiedlichkeit. Keiner von beiden wird sich geschlagen geben, aber sie werden, in der festen Überzeugung, selbst im Recht zu sein, einen Waffenstillstand schließen. Doch im Augenblick müssen sie zusammenhalten und abwarten. Mit roten Augen sitzen sie am Feuer und werden langsam wieder trocken, während das Getöse immer stärker wird. Im unteren Stockwerk dröhnt der Wind durch die verlassenen Zimmer, Modulationen eines Basso continuo mit Alterationen, die mit jedem Windstoß durchdringender werden. Mitunter entstehen Momente der Ruhe, und sie spüren, wie ihre Muskeln sich im Gleichklang entspannen. Dann setzt das Getöse erneut ein und erscheint ihnen noch heftiger als vorher. Hin und wieder scheppern Bleche wie Pauken. Stumm verharren sie, versunken in diese düstere Symphonie. Die Müdigkeit vom Wandern überkommt sie, dazu die innere Erschöpfung, die noch schwerer wiegt. Schließlich treibt Ludovic eine Decke auf, sie riecht nach altem Staub, aber sie kuscheln sich zusammen auf dem kleinen Bett und schlafen sofort ein.
Nachts wacht Ludovic auf. Die Geräusche haben sich verändert. Wahrscheinlich hat der Wind gedreht, kommt jetzt vom Land her, so vermutet er. Er ist noch stärker als zuvor. Weit über ihnen ist das Grollen zu hören, das in einem Trommelwirbel ins Tal hinunterstürzt und dann auf ihr Haus trifft, das unter diesen Schlägen hin und her zu schwanken scheint. Er hält das Drehen des Windes für ein gutes Zeichen, das Ende des Sturmes kündigt sich an. In der Dunkelheit und warmen Feuchtigkeit ihrer verschlungenen Körper spürt er einen Augenblick tiefe innere Ruhe. Sie sind hier, sie beide, ohne irgendein anderes menschliches Wesen im Umkreis von Tausenden Kilometern, ganz allein, mitten in diesem Sturm. Aber sie sind in Sicherheit und bieten dem Wind die Stirn. Er nimmt jede Partie seines Körpers wahr, als wäre sie eigenständig, saugt die ungewöhnliche Situation ganz in sich auf: die Kuhle unter seinem Rücken in der durchgelegenen Matratze, die gleichmäßigen Atemzüge von Louise an seiner Brust, den von irgendwoher kommenden Hauch, der sein Gesicht streift. Am liebsten würde er sie wecken und sie lieben. Aber er erinnert sich an ihre wunde Schulter und lässt sie lieber schlafen. Morgen früh vielleicht …
Kurz vor Sonnenaufgang hört der Lärm ganz plötzlich auf. Im Dämmerzustand nehmen beide es wahr, dann schlafen sie noch einmal ein, völlig entspannt jetzt.
Ein Sonnenstrahl kitzelt Louise aus der Erstarrung. Bis der Wind nachließ, hatte sie Albträume. Die Fensterscheiben ihrer Wohnung in Paris wurden eingedrückt von einer Riesenwelle, und sie selbst trieb auf einem Floß durch die Straßen voll braunem Wasser, inmitten von Hilferufen und Armen, die verzweifelt aus den Fenstern winkten.
»Ludovic, schläfst du noch? Ich glaube, es hat aufgehört!«
Sie recken ihre steifen Glieder. Beim Aufstehen verzerrt sie das Gesicht und betastet ausgiebig ihre Schulter.
»Scheint nicht gebrochen zu sein, aber erst mal musst du das Schiff wohl allein bedienen!«
»Okay, Prinzessin. Na los, das war nicht gerade ein Luxushotel, aber in einer Viertelstunde wird das Frühstück an Bord serviert. Wenn Madame sich die Mühe machen möchte.«
Sie lächeln sich an, sammeln ihre Sachen zusammen und verlassen das Zimmer, in dem noch der kalte Rauch hängt.
Draußen strahlt die Sonne genauso schön wie am Vortag.
»Was für eine miese Insel, oder?«
Auf der Türschwelle durchzuckt sie exakt dieselbe Empfindung. Eine gewaltige Faust fährt ihnen in den Bauch, ein bitterer Geschmack steigt ihnen die Kehle hoch wie ein Brennen, ein unkontrolliertes Zittern überfällt sie. Die Bucht ist leer.
»… das Schiff … kann nicht sein … nicht mehr da …«
Sie stammeln, murmeln etwas, kneifen die Augen zusammen, als wollten sie das Bild noch einmal korrigieren, das sich ihnen da bietet. Es ist alles nur ein böser Traum. Man muss den Film der Nacht bloß zurückspulen und die Dinge wieder in ihren normalen Lauf bringen. Sie hätten aus der Tür kommen, Jason wie zuvor beruhigend reglos daliegen sehen und scherzend zum Strand hinuntergehen sollen. Doch die Realität verharrt in ihrer Grausamkeit. Das Boot ist verschwunden. Lange bleiben sie so stehen, suchen die Bucht mit den Augen ab, halten Ausschau nach einem Wrack oder zumindest einem Stück vom Mast, das über eine Klippe ragt. Nichts. Oder vielmehr das ganz normale Leben, Möwen wühlen mit hektischen Schnabelstößen am Strand, dazu rauscht die Brandung. Alles wie immer. Jason, ihr Schiff, ihr Haus, der Inbegriff ihrer Freiheit, ist einfach ausgelöscht, wegradiert wie ein Fehler. Das ist unmöglich, das kann nicht sein. Fassungslos stehen sie da, außerstande, auch nur ein Wort zu wechseln. Allmählich breitet sich in ihnen das Entsetzen aus: kein Zuhause mehr, weder Nahrung noch Kleider, keine Möglichkeit, die Insel zu verlassen oder irgendjemand zu erreichen. Sie sind geradezu empört, empfinden ihre Lage als unangemessen. Ludovic hat sich noch nie auch nur eine Sekunde lang mit dem Gedanken beschäftigt, ihm könne irgendwann das Wichtigste zum Leben fehlen, Nahrung oder ein Dach über dem Kopf. Wenn er im Fernsehen das Elend in Afrika oder Asien sah, kämpfte er immer gegen ein seltsames Schuldgefühl an und redete sich ein, die Menschen dort hätten nicht dieselben Bedürfnisse und seien daran gewöhnt, mit wenig auszukommen. Manchmal schickte er einen Scheck an Unicef, aber letztlich ging es ihn nichts an.
Louise hingegen schlief beim Wandern in den Bergen oftmals draußen, immer halb wach, vom Regen durchnässt. Manchmal planten sie sogar so schlecht, dass sie drei Tage lang zu viert mit der Ration auskommen mussten, die für einen kalkuliert war. Sie hatte selbst erfahren, wie angreifbar der Mensch in der Natur ist, weit weg von aller Sicherheit und Zuflucht. Aber das waren immer Ausnahmen, nie stand das Leben auf dem Spiel. Abgesehen von Augenringen und Magenkrämpfen stiegen sie schließlich unbeschadet wieder ins Tal hinab und genossen mit dem wohligen Schauer des hinter ihnen liegenden Abenteuers eine Dusche oder ein Steak. Am Ende blieben nur schöne Erinnerungen übrig, die sie sich untereinander immer wieder lachend ins Gedächtnis riefen, aber diese Situationen hatten Louise doch ein wenig auf das Unvorhersehbare vorbereitet. Instinktiv oder antrainiert konnte sie unterscheiden zwischen dem, was wesentlich war und was überflüssig, zwischen Gefahr und Herausforderung. Um eine gute Bergsteigerin zu werden, hatte sie gelernt, ein Ziel an den Umständen auszurichten, daran festzuhalten oder aufzugeben, je nach der Verfassung der Gruppe, dem Wetter und den natürlichen Gegebenheiten. So ist sie jetzt auch eher in der Lage, sich selbst und Ludovic aus ihrer Apathie zu reißen.
»Vielleicht ist das Beiboot noch da. Lass uns nachsehen. Die Jason lag auf halber Strecke zwischen dem Kap und den Felsen gegenüber. Vielleicht ist sie ja dort gesunken.«
»Aber dann würde der Mast doch rausgucken.«
Ludovic kämpft auf seine Weise gegen das Offensichtliche. Normalerweise optimistisch und zu allem bereit, fühlt er sich jetzt völlig leer. Alles ist zwecklos.
»Vielleicht ist er gebrochen. Das Wasser ist nur sieben, acht Meter tief, wir könnten irgendwas wiederfinden, Essen oder Werkzeug. Und in der Tasche mit der Notausrüstung ist das Satellitentelefon. Wir müssen es zumindest versuchen. Los, mach schon!«
»Nein, ich bin mir sicher, dass der Anker nicht gefasst hat. Ich hab es heute Nacht gehört. Der Wind hat auf Nordwest gedreht. Zwischen den Bergen hat er noch Fahrt aufgenommen. Das waren Fallböen, wie in den Handbüchern beschrieben.«
»Ich pfeif auf die Bücher«, schreit sie mit Tränen in den Augen. »Was willst du denn machen? Zurück in unser tolles Hotel von heute Nacht?«
Sie läuft wie eine Furie zum Strand, er folgt ihr. Ihnen schwirren dieselben Gedanken durch den Kopf. Die Insel ist unbewohnt. Sie ist ein Naturschutzgebiet, das sie normalerweise gar nicht hätten anlaufen dürfen. Aber sie waren sich einig gewesen, dass sie sich dieses kleine Vergehen gönnen wollten.
»Hier kommt sowieso niemand vorbei. Ein Ausflug in die unberührte Natur. Ein kleiner Zwischenstopp, es bekommt ohnehin keiner mit …«
Nein, keiner bekommt es mit. Ihre Angehörigen an Land vermuten sie auf dem Weg nach Südafrika. Hier wird man sie auf keinen Fall suchen. Man wird glauben, sie seien auf hoher See verschwunden. Ludovic sieht seine Eltern vor sich in ihrem Haus in Antony, das Telefon ständig in Reichweite. Wenn sie ihr Schiff nicht wiederfinden, ist die Insel ein Gefängnis mit Tausenden Kilometern Wasser als Wärter.
Das Beiboot ist noch da, bedeckt mit Sand und Algen von dem Sturm. Zumindest eine kleine Erleichterung.
Eine Stunde rudern sie rund um die Ankerstelle. Das klare Wasser kräuselt sich kaum im Wind. Es ist von so durchscheinendem Grün, dass man sogar die vereinzelten Steine auf dem Grund erkennen kann und ein paar dunkle Brocken, die versunkenen oder aus der Walfangstation stammenden Maschinenteilen ähneln. Ein Wrack wäre hier unübersehbar.
Entmutigt kehren sie zum Strand zurück.
»Wir haben nicht genug Kette gesteckt«, flucht Louise vor sich hin.
»Doch, genau wie immer, dreifache Wassertiefe.«
»Offenbar ist hier aber nichts wie immer!«
»Außerdem hatten wir einen Bügelanker, einen besseren gibt es nicht. Normalerweise hält der überall. Und teuer genug war er noch dazu.«
»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Wir hätten die Kette doppelt so lang stecken sollen, dann säßen wir nicht hier. Und ich hab gestern noch gesagt, dass wir früher wieder zurückgehen sollen. Aber nein, der Herr wollte ja seinen Spaß haben, stur, wie er ist, alles wird gut, wir werden höchstens ein bisschen nass …«
Louises Stimme ist tonlos, blanke Wut spricht daraus. Nervös reibt sie sich die Schulter und starrt auf den Boden, Ludovic den Rücken zugewandt. Sie weiß, was sie dahinter sehen würde: diese große Kämpferstatur – machtlos und mit herabhängenden Armen, die blauen Augen – enttäuscht wie die eines Kindes, dessen Spielzeug kaputt ist, diesen Mann, der immer fröhlich und unbekümmert ist und den sie so sehr liebt. Sie würde weinen müssen, und dafür ist es nicht der rechte Augenblick.
Er will nicht antworten auf ihre Sticheleien. Seit sie am Vortag umgekehrt sind, quälen ihn Gewissensbisse und hinterlassen einen beißenden Geschmack im Mund. Aber ihre Bemerkungen gerade eben haben ihn verletzt. Nun ist es an ihm, eine Lösung zu finden, gewissermaßen als Entschuldigung. Und eine Lösung muss es geben.
»Wir könnten die Bucht mit dem Beiboot absuchen, vielleicht ist das Schiff ja an einem Felsen untergegangen.«
»Du träumst wohl. Und außerdem, was würden wir dann machen? Was denkst du denn, wie wir es wieder flottkriegen sollten?«
»Wir könnten zumindest tauchen, ein paar Dinge rausholen …«
Ludovic beendet seinen Satz nicht. Louise weint geräuschlos. Er zieht sie an seine Schulter. Wie konnten sie nur in diese absurde Situation geraten? Es ist ungerecht, dass eine kleine Wanderung so hart bestraft wird, das kann doch nicht sein. Er ist vierunddreißig Jahre alt, und der Tod hat sein Leben bislang nur selten gestreift. Zwei Freunde hat er verloren, einen bei einem Motorradufall, der andere war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Das hatte ihn erschüttert, aber letztlich hatte es ihn zu dieser Segelreise motiviert. Lass uns leben! Lass uns das Leben auskosten, bevor es uns erwischt! Jetzt hat es sie erwischt, auf dieser erhabenen Insel, an diesem milden Tag im Sommer der Südhalbkugel. Scheinheilig lässt die Sonne die Wassertropfen wie Myriaden von Diamanten funkeln. Im Hintergrund steigt leichter Dunst von der Ebene auf. Seelöwen und See-Elefanten aalen sich und gähnen behaglich. Er schaut sich um und denkt, nichts – kein Vogelflug, keine Welle, kein Grashalm –, nichts wird sich ändern, sollten sie hier sterben. Der Wind wird ihre Fußabdrücke schnell verwehen.
Ludovic ist der Inbegriff der Generation Y: Einzelkind, Eltern in leitender Position, Einfamilienhaus im Vorort von Paris. Es hat ihm an nichts gefehlt, Skifahren in Alpe d’Huez und Surfen auf den Balearen, Videospiele zum Zeitvertreib für den lieben Kleinen, wenn die Eltern mal zu spät nach Hause kamen. Klein ist er nicht mehr, eins neunzig groß, und die millimeterkurzen blonden, allmorgendlich mit Gel frisierten Haare unterstreichen seine Größe noch. Die blauen Augen und das Grübchen am Kinn fanden schon die Mädchen in der Schule umwerfend, und er kostete es aus, dass er leichtes Spiel hatte. Die Lehrer seufzten unterdessen über seine Schludrigkeit: »Bleibt unter seinen Möglichkeiten«, stand jedes Jahr in seinem Zeugnis. Auf der durchschnittlich absolvierten Handelsschule reizten Bier und Joints ihn mehr als Hörsäle. Die Beziehungen des Vaters verhelfen ihm danach zum Job als Kundenberater bei Foyd & Partners, einer, anders als der trendige englische Name vermuten lässt, sehr französischen Eventagentur. Er wirkt ein wenig oberflächlich, doch dahinter steckt sein eigentliches Wesen: Er trägt die Fähigkeit zu tiefem Glück in sich, und das wirkt anziehend, wie ein Magnet. Mit ihm fühlt man sich gut, an seiner Seite ist das Leben leicht, beschwingt und aufregend. Er sieht die Dinge immer positiv, und sein Schwung und seine Lebensfreude stecken an, ganz von selbst. Sie sind weder Fassade noch Pose, sondern Resultat eines Lebens, das immer glücklich und behütet war. Er kann sich nicht erinnern, jemals traurig aufgewacht zu sein oder gar schwermütig. Mit der Zeit begriff er, dass diese Lebenshaltung eine Gabe ist, doch er rühmt sich nicht damit. Die überschäumende Freude an andere weiterzugeben entspricht einfach seinem Wesen, es ist seine Bestimmung. Und jeder hat ihn gern.
Louise wirkt auf den ersten Blick konventionell, fast altmodisch – eine zierliche Erscheinung, ein längliches Gesicht, ein flüchtiges, oft zwanghaftes Lächeln, als wolle sie kein Missfallen erregen. Als Tochter einer Kaufmannsfamilie aus Grenoble, in der man trotz des Wohlstands sehr aufs Geld bedacht war, fehlte es auch ihr an nichts, höchstens an echter Aufmerksamkeit. Ihre beiden großen Brüder waren der ganze Stolz der Eltern, sie, »die Kleine«, rutschte immer so mit durch. Über ihre Ideen und Träume, über ihre Leistungen und Ziele wurde nie gesprochen. Ihr Körper spiegelt diese Achtlosigkeit. Mit ihren eins fünfundfünfzig, den dunklen Haaren, der knochigen Statur und Brüsten, die zu ihrer Verzweiflung lange nicht recht wachsen wollten, empfindet sie sich selbst als Durchschnitt. Als Kind und Jugendliche ging sie ihren Weg, unscheinbar, aber immer gutwillig, als wolle sie um Vergebung bitten. Sie sei unauffällig, hieß es immer … ein schreckliches Urteil. Dann kam das Abi, das Jurastudium in Lyon, danach das Auswahlverfahren für den öffentlichen Dienst und eine Stelle im Finanzamt des 15. Arrondissements in Paris. In all den Jahren litt sie stets darunter, dass man sie nicht sah und wahrnahm. In der Kindheit flüchtete sie sich ins Lesen, verschlang die Werke von Jules Verne, Zola und alles, was ihr in der Bibliothek sonst noch in die Hände fiel. So malte sie sich stundenlang ein aufregendes Leben aus, stellte sich vor, in spannende Abenteuer verstrickt im tiefsten Dschungel zu leben oder umhüllt von Samt und Seide in der hohen Gesellschaft. Sie entspann sich eine Fantasiewelt, in der sie selbst die Hauptrolle spielte. Tag für Tag bewegte sie sich in Gedanken durch die immer gleichen Bilder und entwarf wie eine Regisseurin Heldenszenen, die sie sich auf den Leib schneiderte. Sie war Forscherin, Freiheitskämpferin, Musiktalent oder Ausnahmesportlerin. Sie sah sich selbst in den Kellern der Résistance, auf hoher See oder mitten in der Wüste. Dieses Doppelleben linderte den Schmerz, es gab ihr Zuversicht, sie würde es eines Tages schaffen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie machte es sich auf ihrem Bett bequem, schloss die Augen und versenkte sich in ihre Welt. Musste sie daraus auftauchen, weil es Zeit war für die Schule, spann sie den Faden abends ganz genüsslich weiter. Später, als sie älter war, tat sich eine andere Rückzugsmöglichkeit für sie auf: das Klettern und Bergsteigen. Sie entdeckte es durch Zufall während eines Ferienlagers und fand darin genau das, was ihr immer gefehlt hatte: die Begeisterung für den Körper, den sie nicht mochte; die Hartnäckigkeit und den Mut, mit denen sie sich in ihren Träumen schmückte; einen Platz in einer Gemeinschaft, in der es auf jeden ankommt. Leicht und gelenkig, wie sie war, hatte sie schnell Erfolg. Der Gedanke, Bergführerin zu werden, gefiel ihr. Doch sie traute sich nicht, den Bruch mit der Familie zu riskieren: »Das ist doch kein Beruf für eine Frau. Was machst du denn, wenn du mal Kinder hast?«
So blieb das Klettern nur ein Hobby. Und als sie erwachsen war und unabhängig durch die Arbeit in Paris, begnügte sie sich damit, jedes Wochenende so schnell wie möglich zur Gare de Lyon zu kommen, mit Kletterschuhen oder Eispickeln und Steigeisen im Gepäck.