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Pascale Kramer

Die Lebenden

Über dieses Buch

Ein strahlend warmer Tag im Mai. Der siebzehnjährige Benoît wartet auf seine Schwester, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern zu Besuch kommen soll. Die schöne Louise, mit sechzehn schwanger geworden, kehrt nur selten in das triste Elternhaus an der viel befahrenen Landstraße zurück, aber noch immer empfinden Bruder und Schwester eine tiefe Nähe zueinander.

Als die beiden zusammen mit den Kindern in der schläfrigen Mittagshitze zur nahe gelegenen Kiesgrube fahren und Benoît im Übermut die Jungen in die Fördergondel setzt und den Hebel löst, nimmt ihr Leben von einer Sekunde auf die andere eine tragische Wendung.

Mit großer Eindringlichkeit und minutiöser Präzision beschreibt Pascale Kramer, wie sich fortan eine lähmende Sprachlosigkeit aus Schuld, Aggression und Verzweiflung über das Leben der Familie legt, eine Situation, aus der es kaum mehr ein Entrinnen zu geben scheint. Mit Die Lebenden ist Pascale Kramer ein Roman von der Tragweite eines griechischen Dramas gelungen, der einen auch nach der Lektüre nicht mehr loslässt.

Pascale Kramer

Die Lebenden

Roman

Aus dem Französischen
von Andrea Spingler

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Die Herausgabe dieses Buchs wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Inhalt

Über dieses Buch

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Über die Autorin

Erster Teil

Louise kam mit Vincent und ihren beiden Kindern für ein paar Tage nach Hause. Benoît erwartete sie, mit aufgestützten Ellbogen, der Oberkörper nackt, schläfrig aus dem Fenster seines Zimmers lehnend, geblendet von der Mittagssonne auf dem Kilometer Landstraße, der das Haus von den ersten Gebäuden von S. trennte. Es war ein 8. Mai, sehr leer und schön auf den umgegrabenen Parzellen, die das Land mit einem Würfelmuster überzogen. Benoît war spät ins Bett gegangen, er hatte einen Nachgeschmack von rostigem Wasser auf der rauen Zunge. Unten auf dem Parkplatz verströmten die Zapfsäulen der ehemaligen Tankstelle seines Vaters einen schon vergessenen Benzingeruch. Benoît ließ seine Spucke fallen, die auf den Teer klatschte. Es gab sonst keine Geräusche, nur das Zittern der Zwergwiese, die an der Seite des Hauses gewachsen war, und diese reglose Feiertagsfrische, die einen betäubte. Als er den Kopf wieder hob, kam in der Ferne das rote Autodach zum Vorschein. Louise streckte den nackten Arm in den Wind, ihr langes blondes Haar flatterte durchs offene Fenster. Ein dicker Plastikring an ihrem Finger funkelte orangerot in den Frühling. Benoît ahnte, dass sie vor sich hin summte; er war ungeheuer froh, sie zu sehen.

Vincent beschrieb einen großen Kreis und parkte im Schatten der Fassade. Louise trug eine Sonnenbrille, in der Benoît, als sie sich vorbeugte, um ihm einen Kuss zuzuwerfen, den Himmel und das Haus vorübergleiten sah. Ihre kaum geschminkten vollen Lippen verliehen der friedlichen Vollkommenheit ihres Gesichts fast etwas Brutales, sie legte den Finger darauf und zeigte zu den beiden Kindern, die auf dem Rücksitz schliefen. Vincent neben ihr hatte nicht einmal zum Fenster hochgeschaut. Er räumte die auf dem Armaturenbrett liegenden Kassetten weg; am Ausdruck seines scharfen Profils mit der Zigarette las Benoît ab, dass er auf Louise böse war. Streit war ein Teil jener Widrigkeiten, denen sie sich mit unglaublicher Bereitwilligkeit unterwarf. Sie hatte sich auf ihren Sitz gekniet, um nach den schlafenden Kindern zu sehen; Vincent leerte den Aschenbecher vor die Tür und sagte wohl endlich etwas zu ihr, denn sie hockte sich auf die Fersen, um ihm zuzuhören, lehnte den Kopf zurück und spielte in der Kuhle ihres Minirocks mit dem orangeroten Ring. Benoît stützte sein Kinn auf den besonnten Fenstersims; die Mittagswärme ließ seine Achselhöhlen feucht werden. Er fand es angenehm, das Aufwachen in die Länge zu ziehen, indem er die unendliche Geduld seiner Schwester bewunderte.

Das Wetter war erst seit ein paar Tagen schön, über den Himmel aus flüssigem Blau zogen noch lange Wolkenbänder, die das Land jäh abkühlten. Louise mit ihrem auf dem Rücken und an den Schultern weit ausgeschnittenen Strandhemdchen ließ ihn frösteln. Sie hatte ihre Tür geöffnet, um sich das Haar zu bürsten, und betrachtete mit einem mitleidigen Blick die schmutzig weiße Fassade, die wie zufällig mit einer Handvoll violetter Petunien geschmückt war. Benoît wurde bewusst, dass sie fast ein Jahr nicht mehr dagewesen war und dass er sich daran gewöhnt hatte.

Vincent war ausgestiegen und pinkelte auf den Haufen brombeerüberwucherter Karosseriebleche neben der Garage; er rief Louise zu, er habe in der Stadt zu tun, und sie begnügte sich damit, zustimmend mit ihrer Bürste über die Motorhaube hinweg zu winken. Im Gehen schnallte er seinen Gürtel über dem Hemd zu, das der Wind wie ein Segel blähte. Sein Schritt hallte lange auf der Landstraße wider, die bei diesem schönen Wetter so sonderbar leer war. Louise stieg aus dem Auto – die dicken Sohlen ihrer Sandalen ließen sie noch größer erscheinen –, reckte sich in der Sonne und lächelte ihrem Bruder zu, Vincents schlechte Laune hatte sie schon vergessen. Benoît sah unter dem Rockbund die Andeutung ihres in die straffe Bauchmuskulatur eingebetteten Nabels; er hatte vergessen, dass sie so hübsch war.

Louise öffnete eine der hinteren Türen etwas, damit die Kinder Luft bekamen, dann stellte sie eine große Reisetasche auf die Motorhaube, aus der sie ein ganzes Sortiment sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke nahm. Sie stand sehr gerade und warf mit einer unbewusst herausfordernden Wellenbewegung der Schultern ihr Haar zurück. Louise war hinreißend, ohne kokett zu sein. Mit fast fünfundzwanzig Jahren und trotz zweier schon großer Kinder sah sie immer noch aus wie eine Schülerin; die breiten, sehr ausgeprägten Kieferknochen und die kurze, platte Nase verliehen ihrem Gesicht einen wilden Charme. Benoît überlegte, ob er zu ihr hinuntergehen sollte, aber er konnte sich nicht entschließen, seine Schläfrigkeit abzuschütteln. Ein fetter Geruch von gebratenem Fleisch zog die Treppe herauf. Er hörte, wie seine Mutter die Küchenhocker verrückte und mit der Schroffheit anstrengender Tage die Fußleisten mit dem Besen traktierte. Die seltenen Besuche dieser kleinen Zufallsfamilie ließen alte Enttäuschungen wieder aufleben, die sie nie verwunden hatte. Vincent missfiel ihr; sie verzieh ihm nicht, dass er Louise mit sechzehn Jahren geschwängert hatte, wohl auch, damit man im Viertel von ihm sprach. Das strahlende Glück ihrer Tochter kränkte ihren gesunden Menschenverstand; sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie bis zuletzt gehofft hatte, das Baby würde nicht überleben, und später, dass sie die Kleinen nie ganz ohne Bitterkeit lieben konnte.

Eine leichte Brise kam auf, sodass die Autotür zuschlug und die Kinder aus dem Schlaf hochschreckten. Louise sah zu, wie sie sich räkelten, verwirrt und benommen von der Hitze, dann öffnete sie Fabien die Tür, der schlaff wie ein kleiner Kranker in ihre Arme glitt. Er würde in zwei Tagen acht Jahre alt werden, was sein schmales Gesicht mit den mädchenhaften Lippen zu widerlegen schien. Nachdem sie ihm mit einem Zipfel des T-Shirts die Wange abgewischt hatte, schickte Louise ihn zum Pipimachen an die Garagenwand und kümmerte sich um den zweiten, Luc, den sie noch fast schlafend aus dem Auto nahm. Sie drückte ihn genauso zärtlich an sich wie den Älteren, strich ihm mit der Hand übers Haar und zog ihm ein weißes Hemdchen an, was ihm unbehaglich zu sein schien. Benoît hatte sie mit ihren Kindern immer so gesehen: von bewundernswürdiger, fast langweiliger Zärtlichkeit. Er vermisste dabei jene sinnlichen Erfindungen, die Glück und Schrecken für ihn bedeutet hatten, als er klein war und sie abends in sein Bett kam und er, ohne sich zu rühren oder die Augen zu öffnen, versprechen musste, sie immer und stark genug zu lieben, um eines Tages mit ihr von zu Hause wegzulaufen. Ihre Mutterrolle erschien ihr wohl zu ernst für solche Dummheiten, sie zelebrierte sie wie eine Liturgie. Viel zu gutmütig, um die Kinder zu erziehen, ließ sie sie aufwachsen, indem sie sie mit Geschenken, neuen Kleidern und rituellen Küssen überschüttete. Sie hatte zwei ängstliche Jungen aus ihnen gemacht, die man um ihrer Niedlichkeit und Unbeholfenheit willen liebte. Sie machten wenig Lärm, forderten wenig Aufmerksamkeit. Benoît kannte sie kaum, da Louise, als sie mit dem zweiten schwanger war, mit Vincents Familie in den Süden gezogen war; er hatte ihnen Fahrradfahren beigebracht und ging mit ihnen Eis essen, aber es war nicht besonders befriedigend, sie zu unterhalten.

Benoît streifte die Kleidungsstücke vom Vortag über seinen ungewaschenen Körper; das Unbequeme daran war zugleich angenehm und deprimierend. Unten rief seine Mutter Louise zu, sie solle die Betten machen, und im Garten quengelten die Kleinen. Als er das Hemd über den Kopf gezogen hatte, sah Benoît Vincent die Straße zurückkommen, eine leicht gebeugte, lange Gestalt mit rudernden Schultern, die den dunklen Haarschopf schwanken ließen. Er war wohl ein Bier trinken oder Zigaretten kaufen gewesen. Benoît wusste, dass er sich ärgerte, hierherkommen zu müssen, dass er ihnen gleichsam die geringe Befriedigung übelnahm, die die Heirat mit dem hübschesten Mädchen der Schule ihm verschafft hatte. Von seinen kurzen und sicher zufälligen Liebschaften blieb nur das Gefühl, hereingelegt worden zu sein. Trotz seiner schweigsamen Art und seinen Wutanfällen war Louise ihm gegenüber ausgeglichen geblieben. Sie wäre wahrscheinlich erstaunt gewesen, wenn sie sich hätte fragen müssen, ob sie ihn liebte.

Benoît hörte, wie Louise ihre Reisetasche Stufe um Stufe hochschleifte. Die Sonne fiel auf sein ungemachtes Bett, das Zimmer war voller Licht, und als Louise eintrat, erschien sie ihm von barbiehafter Blondheit. Sie drückte ihre Wange an seine – Benoît ahnte, dass sie dabei die Augen schloss –, dann setzte sie sich auf die Bettkante und zupfte mechanisch an den Laken, während sie über die Unordnung lachte. Ihr vom Bettüberwurf elektrisch aufgeladenes Haar plusterte sich in ihrem Rücken auf. Sie lächelte, das Kinn in die Hände, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, so anmutig wie ein junges Reh. Benoît roch das Fruchtaroma ihres Kaugummis, ihr Gesicht, ganz nah an seinem, war glatt und frisch. Nachdem sie ihn hatte schwören lassen, niemandem etwas zu sagen, legte sie sich halb aufs Bett, um aus der winzigen Tasche ihres Rocks einen mehrmals gefalteten Geldschein zu ziehen. Bei jedem Besuch schenkte sie ihm hundert oder zweihundert Francs, die sie Vincents Mutter gestohlen hatte, das war ihre Art zu teilen, was sie für das Glück ihrer Ehe hielt: ein großes neues Haus mit Fernsehern in den Schlafzimmern und einem ganzen Stockwerk, das dem jungen Paar vorbehalten war. Louise hielt immer noch Benoîts Hand; der Geldschein schien zwischen ihren beiden Handflächen aufzuweichen. Sie erzählte, dass sie sich vor der Abreise mit Vincent gestritten habe, und zeigte ihm die kleine Schramme, die er ihr unter dem Ohr zugefügt hatte, als er sie an den Haaren zog. In ihren Worten lag überhaupt kein Groll. Louise hatte keine besonderen Ansprüche an die Liebe und fand sich leicht mit den Widrigkeiten des Zusammenlebens ab. Benoît, bezaubert von der schmeichelnden Melodie ihrer Stimme, wusste nicht, was er antworten sollte. Sie schwieg, ihre hellen Augen musterten hingebungsvoll sein Gesicht, das Gesicht ihres hübschen, lieben siebzehnjährigen Bruders; die Sonne verlieh ihnen die schillernde Tiefe von Glaskugeln. Benoît wünschte, sie bliebe noch ein wenig, aber die Kinder begannen schon, unruhig zu werden, weil sie nirgends zu sehen war. Da stand Louise auf und zog an ihrem Minirock. Ihre Lippen waren unter der fast völlig verblassten Schminke tiefrot; sie drückte sie mit einem Naserümpfen auf die seinen und öffnete dann den Kindern, die sie mit der Grazie einer Diva um sich scharte. Die kurzgeschnittenen Ponys gaben ihnen einen sonderbar verängstigten Ausdruck. Sie mochten ihren Onkel, schienen ihn aber bei jedem Besuch ein bisschen weniger zu kennen und blieben an die langen Schenkel ihrer Mutter geschmiegt, bis sie sich in ihr Zimmer verziehen durften.

Unten fand Benoît seine Mutter damit beschäftigt, die Schuhe aufzuräumen, die die Kinder durch den Hausflur geworfen hatten. Sie trug ein eher kurzes, tailliertes Kleid, das ihrer fülligen Figur schmeichelte, und ihre gebleichten Haarsträhnen waren absichtlich etwas zerzaust. Dass sie sich hübsch gemacht hatte, konnte aber nicht über ihre mürrische Laune hinwegtäuschen, die Benoît unangebracht fand. Als er unten an der Treppe stehenblieb und zusah, wie Louise den Kleinen die Hände wusch, bat ihn seine Mutter, den Tisch zu decken. Sie aßen im Garten: ein Viereck aus spärlichem Rasen, so breit wie die Fassade, direkt vor der Wohnzimmertür gesät und eingefasst von einem Zaun aus alten Brettern, an dem sich die Winden festhielten. Dahinter endete der Blick nach fünfhundert Metern am Rand des Laubgehölzes, das den Fluss verbarg und das frühere Rübenfeld begrenzte, ein Stück Brachland, das jetzt von Quecken und zerknülltem, von der Straße aus weggeworfenem Papier übersät war. Louise erklärte den Kindern, sie habe, als sie klein war, dort ihre Hamster begraben, und Vincent bemerkte, das sei in der Tat ein guter Platz für Kadaver. Seine Ironie ließ sie erröten und freundlich lächeln, und damit brach die Unterhaltung ab. Die zwischen zwei Pflöcken aufgehängte Wäsche wehte duftende Schatten über den Tisch. Louise hatte einen viel zu süßen Kuchen mitgebracht, der unter der Reise gelitten hatte und bei dem schönen Wetter winzige Mücken anlockte. Luc und Fabien wollten nichts davon und sahen seltsam zerknirscht drein, wie Lausbuben, die man ausgeschimpft hat. Sie zappelten auf ihren Stühlen herum, geblendet von dem grellen Licht, das die aus der rissigen Erde des Brachlands hervorgewachsenen kleinen Unkrautbüschel leuchten ließ. Das Haus und seine vernachlässigte Umgebung riefen in ihnen den bangen Abscheu von Kindern hervor, die an die Schönheiten des Neuen gewöhnt sind. Louise fuhr ihnen durchs Haar und blickte ihre Mutter an, versuchte, sie zum Lächeln zu bringen über diese Kindereien, die sie selbst mit Wohlwollen betrachtete. Sie fand, dass die beiden noch blonder geworden seien, und da niemand ihr antwortete, begann sie, den Tisch abzuräumen. Die Mutter folgte ihr ins Haus, wo sie sie sicher über die Probleme mit Vincent ausfragte, denn Louise hatte einen roten Kopf, als sie zurückkam. Sie brachte Sonnencreme mit und rieb den widerstrebenden Kindern die Gesichter ein. Sie hatte vor, auf der Wiese bei der Kiesgrube ein Sonnenbad zu nehmen; Vincent reagierte auf diese Idee wie auf eine Kränkung und verließ mit seinem Glas den Tisch. Louise warf Benoît über Fabiens Schulter hinweg einen lächelnden Blick zu. Ihre Nachsicht Vincent gegenüber war die eines Engels. Sie war ebenso sanft wie wenig geneigt, sich zu streiten; seine Gereiztheit schien sie nie zu verstimmen.

Um zwei Uhr brachen sie auf. Vincent begleitete sie nicht – er gab vor, Anrufe erledigen und Leute in der Stadt treffen zu müssen –, und Benoît war nicht unglücklich, der Herablassung zu entgehen, die Vincent ihren Vergnügungen entgegenbrachte. Die Kinder hatten die Fahrräder mitgenommen, auf der Straße knirschte der getrocknete Schlamm der Spurrillen unter den Reifen. Seit über einem Jahr war die Kiesgrube nun stillgelegt. Der Ginster streckte seine gelben Zweige durch den vom Rost zerfressenen Drahtzaun, ein ganzes Stück der Aufschüttung, auf der die Lastwagen gewendet hatten, war weggebrochen und hinabgerutscht zwischen die Disteln und riesigen Doldenblütler. Das Seil der Förderbahn, die dazu diente, den Kies über den Fluss zu schaffen, spannte sich locker über das im duftenden Gestrüpp liegende Geröll. Louise betrachtete die Veränderungen, ohne sich zu wundern. Sie hatte sich auf einen verrosteten Eisenträger gesetzt, um Fabien die Schuhe zuzubinden. Die große weiße Kerbe in der Flanke des Hügels hinter ihr warf das Echo ihres geduldigen Geplappers zurück; Benoît schleuderte einen Stock hinüber, dessen lange nachhallender Aufprall Vögel und Eidechsen aufscheuchte. Von den sonnengewärmten Kieseln stieg ein heller Staub auf, der im Hals kratzte und sich auf die Kinder legte. Sie hatten sich die Hände an den Gummigriffen der Lenker wundgerieben und verstanden nicht, was sie hier sollten. Louise pustete auf ihre geröteten Handflächen und erklärte, sie kenne ganz da oben am Wald einen heimlichen Ort, wo sie schön spielen könnten, und Benoît musste versprechen, die Fahrräder zu tragen, damit sie sich entschlossen, ihr auf dem steilen Weg entlang der Kiesgrube zu folgen. Sie ging erstaunlich schnell in ihren Sandalen mit den schweren Sohlen. An jeder Hand ein Kind, sah sie aus wie ein Papierflieger, der an den Flügeln festgehalten wurde.

Die kleine Wiese am Rand des Abgrunds lag schon halb im Schatten der Bäume. Louise ließ die Kinder los, die misstrauisch den zurückgelegten Weg ansahen. Sie wehrten sich noch immer dagegen, an dem Spaziergang Spaß zu finden. Louise kraulte sie im Nacken und lächelte Benoît zu, um seine Ungeduld mit den Kindern zu beschwichtigen. Der Wald verströmte den Geruch feuchten Mooses; ein Schauer überlief ihre nackten Schultern. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, bevor sie entschied, dass sie hier richtig waren. Der Mast der Seilbahn ragte aus der Wiese wie ein Pfahl, der den Hügel aufschlitzte. Fabien weinte, es sei zu hoch oben und er habe Angst, während sein Bruder, der am Rand der Kiesgrube in der Sonne saß, sein Schwindelgefühl bekämpfte, indem er nach Keksen verlangte. Sie sahen nicht, was man an diesem unbequemen Ort tun konnte, aber Benoîts Anwesenheit, an den sie sich langsam wieder gewöhnten, hielt sie in Atem.

Louise breitete die Badetücher auf dem Gras aus und zögerte einen Augenblick, sich auszuziehen. Benoît sah zu, wie sie ihren Bikini unter dem T-Shirt knotete. Sie war schamhaft, er erinnerte sich, nur einmal ihre Schamhaare gesehen zu haben – damals hatte dieses dunkelblonde Büschel irgendwie beunruhigend auf ihn gewirkt – und später ihre von der Schwangerschaft schmerzenden Brüste, deren wie ein Ölfleck auseinanderlaufende Warzen von fast violettem Braun sie ihn eines Abends hatte sehen lassen. Es war eine seltsame Zeit gewesen, in der ihr Alltag von Louises eigensinnigem Glück erschüttert wurde. Während die beiden Familien nach einer Lösung suchten für ihre Weigerung abzutreiben, verbrachte sie Stunden bei Benoît im Zimmer und erzählte ihm von den Veränderungen, die sich in ihr vollzogen. Er war damals erst neun Jahre alt; Louise erschien ihm wie eine Ausgestoßene und eine Zauberin. Ihre Mutter zeigte sich jähzornig, sie glaubte offenbar, durch Strenge mit den Illusionen ihrer Tochter fertig werden zu können. Sie hatte sich kurz zuvor von ihrem Mann getrennt, aber diese Heirat erschien ihr als ein noch größeres Schlamassel. Benoît erfuhr viel später, dass sie Louise für schwachsinnig erklärt hatte, als sie sie in ihrem Puppenkleid aus der Kirche kommen sah, im Schlepptau eines siebzehnjährigen Ehemanns, der sich nichts von dem gewünscht hatte, was er im Begriff war zu tun.

Sie waren schon über eine Stunde da. Louise döste, das Gesicht unter einer aufgeschlagenen Illustrierten verborgen, deren Seiten im Wind knatterten. Der Schatten des Waldes hatte sie eingeholt und nötigte sie, einen weißen Baumwollpullover über ihren Bikini zu ziehen. Sie hatte sich nicht gegen die Kinder durchsetzen können, die endlich die für vier Uhr vorgesehenen Kekse essen wollten; die zerknüllte Packung kollerte über die Wiese hinab bis zum Fluss. Nachdem sie ihrem Gejammer, dass ihnen langweilig sei, zugehört hatte, mitleidig, aber auch irgendwie völlig unfähig, sie abzulenken, hatte sie die Augen geschlossen und sie in jenem unschuldigen Ton, der autoritär sein wollte (Benoît fand, sie imitiere ganz gut die richtigen Mütter), gebeten, still zu sein. Auch Benoît langweilte sich ein bisschen. Die Feuchtigkeit des Bodens drang durch die Badetücher; es machte ihm keinen großen Spaß, dazuliegen und nichts zu tun. Die Sonne, die in die Kiesgrube wanderte, ließ die Verheißung von Strand und Hitze bis zu ihnen hinauf gelangen. Benoît schlug den Kindern eine Rutschpartie auf den Steinen vor, bei dieser Aussicht sprangen sie in die Luft, als würden sie gekniffen. Louise hob den Kopf, um zu sehen, was los war; Benoît nahm gerade noch ihren gegen die Sonne blinzelnden Blick wahr, bevor es abwärts ging.