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Paolo Rumiz

Der Leuchtturm

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Foto © Alessandro Scillitani

Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, ist mit seinen eigenwilligen Büchern der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens.

Er berichtete für die Tageszeitung „La Repubblica“ über den Afghanistan- und den Jugoslawien-Krieg.

Zahlreiche Preise für sein journalistisches Engagement.

Unzählige Essays, Romane und Erzählungen über seine Reisen innerhalb Italiens und an die entlegensten Orte Europas.

Seine Bücher stehen kontuinierlich auf den italienischen Bestsellerlisten.

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Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

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TransferBibliothek CXXXI

Die Originalausgabe ist 2015 bei Giangiacomo Feltrinelli, Mailand, unter dem Titel Il Ciclope erschienen.

Lektorat: Senta Wagner

© der deutschsprachigen Ausgabe
FOLIO Verlag Wien • Bozen 2017
Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung und Umschlag: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Europe

ISBN 978-3-85256-716-7

www.folioverlag.com

E-Book ISBN 978-3-99037-066-7

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Glaubst du mir? Das ist nicht meine Erzählung.
Der Südwind und der Nordwind haben sie mir diktiert
.

Inhalt

Jonas

Die Nacht

Die Tramontana

Die Steilküste

Der Esel

Der Leguan

Die Archipele

Der Anhänger

Die Gottesanbeterin

Die Glühbirne

Wale

Kassandra

Der Schrei

Die Nevera

Ego adriaticus sum

Packeis

Der Wächter

Die Vision

Die Wachablöse

Die Kombüse

Schiffbrüche

Il y avait un phare

Das Muhen

Wohnsitz im Wind

Die Bora

An der Grenze

Die Karte der Meerestiefen

Der Blitzschlag

Onca

Wermutduft

Buenos Aires

Anhang

Jonas

Es war eine Nacht wie geschaffen für Alpträume. Ich stieg den Weg hinauf, der steil über die Klippen führte, kämpfte gegen Windböen an, im Dunkeln musste ich achtgeben, wohin ich die Füße setzte. Aus dem Westen zog ein Gewitter auf, Blitze hagelten auf ein Vorgebirge in der Ferne, das aussah wie eine Schildkröte. Ich war gerade rechtzeitig an Land gegangen. Bei derart stürmischer See würde wer weiß wie lange niemand mehr kommen. Ich war allein, ich kannte den Weg zum Leuchtturm nicht und die Insel war menschenleer. Der restliche Archipel, der meilenweit entfernt war, versank im Dunkel und in der Gischt. Kein Licht, nichts.

Ich erinnere mich nicht, in welcher Sprache ich schrie, dass ich da bin, dass ich jetzt heraufkomme, dass man mir entgegenkommen soll, doch es antwortete mir nur das Tosen der Brecher. Keine Spur von einem Leuchtturmwärter. Es begann zu regnen, erst jetzt tauchte hundert Meter oberhalb ein Lichtstrahl auf. Ich suchte die Laterne, und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Vom Rand der Böschung aus beugte sich der Turm über mich, das mächtige steinerne Bauwerk krümmte sich. Mit seinem Zyklopenauge suchte es den Eindringling. Es strahlte, aber ausgerechnet die Lichtquelle war schwarz wie Pech, schwärzer sogar als die Nacht. Das Ungeheuer war gereizt und suchte mich, hatte mich jedoch noch nicht entdeckt. Das Licht streifte mich wie mit Säbelhieben, sie kamen immer näher. Ich kauerte mich in die Heide, mit einem Fuß stolperte ich über eine Wurzel. Ich fiel nach vorne, versuchte mich an einem Busch festzuhalten, verlor jedoch den Halt. Ich stürzte. Vielleicht schrie ich etwas, aber meine Stimme war tonlos.

In diesem Augenblick lässt ein Windstoß mich hochfahren. Ich mache die Taschenlampe an und beleuchte ein kahles, weiß getünchtes Zimmer. Steinwände, ein Nachtkästchen, ein Buch, ein Heft, ein Koffer mit meinen Habseligkeiten, ein großes altes, grün gestrichenes Fenster mit verriegelten Fensterläden. Der Wind draußen tost noch stärker, der Schirokko dreht auf Libeccio. Ich befinde mich im Inneren der Lichtmaschine, in ihrem Bauch, wie Jonas im Bauch des Wales. Die erste Nacht im Leuchtturm ist noch nicht vorbei und der Zyklop hat sich schon meiner bemächtigt. Er diktiert meine Träume. In meinem Zimmer, unter drei Wolldecken, bin ich in Sicherheit, aber wenn ich die Ohren spitze, höre ich den monotonen Gesang des Räderwerks ganz oben im Turm, des Zahnrads, das die kreisende Bewegung des optischen Geräts steuert. Ein metallisches Arpeggio wie von einem verstimmten Klavier, jedoch imstande, mit dem Wind ein Duett zu singen und Mollakkorde hervorzubringen.

„If you do not go now“, hat man mir vor vierundzwanzig Stunden gesagt, am Abend, bevor ich das Schiff bestieg, „you have to wait five days.“ Die Mannschaft wusste, dass Schlechtwetter kam, und hatte mir geraten, das kurze Schönwetterfenster zu nutzen. Noch dazu war es Samstag, Karsamstag, und es wäre ein Verbrechen gewesen, den Leuchtturmwärtern zu den Feiertagen keinen Leckerbissen zu bringen. Abgesehen von Fisch und Kräutern mangelte es auf der Insel an allem. Weniger als eine Insel war es ein unbewohnter, abgelegener Felsen, und ich musste auch für mich ordentlich Proviant mitnehmen. Deshalb hatte ich am letzten Markttag eine Menge frisches Gemüse eingekauft, einen Fünfzig-Kilo-Sack, den ich mit meinem alten Buckel kaum an Bord hieven konnte. Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln, Kohl. Von zu Hause hatte ich außerdem zwanzig Liter Wein und Triester Ostergebäck mitgenommen.

Ich öffne das Fenster, das auf den steilen Abhang im Süden blickt. Die Möwen wirbeln im Sturm herum wie verlorene Seelen. Was sie um diese Uhrzeit hier tun und wie sie es schaffen, den Sturmböen zu trotzen, weiß nur der Allmächtige. Der Lebenskampf macht auf der Insel nicht einmal mitten in der Nacht Halt. Auf dem einsamen Felsen gibt es Tausende Vögel. Die Böschung und die mit Heide bewachsenen Hänge sind voll Nester. Vor Sonnenuntergang habe ich versucht, mich ihnen zu nähern, aber in der vom Wind gepeitschten Macchia sind Hunderte gefiederte Periskope aufgetaucht. Augenblicklich hat sich die Flotte aufgeschwungen, ist mit höllischem Kreischen über meinem Kopf gesegelt, ist immer näher gekommen, hat mich drohend gestreift, damit ich ja verduftete.

Ich lese in meinem Tagebuch die Notizen des ersten Tages. Kurze Sätze, fast Haikus. „Drei Uhr. Unmöglich, wieder einzuschlafen. April, kalte Nächte. Kaum mache ich das Licht aus, kommen die Gedanken. Ich bin das Alleinsein nicht mehr gewöhnt.“ Auf der nächsten Seite: „Wir sind zu dritt im Leuchtturm. Der Kapitän, sein Adjutant, ich. Die einzigen Bewohner der Insel. In einer Stunde klingelt der Wecker, damit sie zur Wetterstation gehen und die Daten an die Zentrale schicken, aber in diesem Augenblick bin ich der Einzige, der nicht schläft. Ich höre, wie die unermüdliche Laterne knirscht und flüstert. Ich stehe auf und gehe in Pantoffeln hinauf, ohne die Taschenlampe anzumachen. Wendeltreppe, eine weiße Tür, eine Eisentreppe, noch eine Treppe. Weiter gehe ich nicht. Ich fürchte, das Auge Polyphems kann man nur im Reflex der Außenfenster oder von unten betrachten. Aus größerer Nähe ist das Licht wahrscheinlich nicht zu ertragen. Ich mache es wie die Juden, die am Sabbat die heiligen Kerzen nur im Reflex der Fingernägel ansehen. Ich betrachte das Auge des Zyklopen im Reflex des lackierten Bodens.“

Am Ende meines Aufenthaltes stelle ich fest, dass ich in diesen Tagen anders als in meinem bisherigen Leben fast ausschließlich in der Gegenwart geschrieben habe. Drei Wochen lang hatte ich kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet, kein Telefon. Nur Kartenspiele, ein paar gute Bücher, ein kleines diatonisches Akkordeon, wie man es in Wirtshäusern findet, um das Schweigen zu unterbrechen (ich kann nicht spielen, habe es aber versucht, wenn die Leuchtturmwärter weg waren). Ich habe diese einsamen Stunden strukturiert wie eine Pendeluhr. Wenn ich es mir recht überlege, habe nicht ich diese Geschichte geschrieben – es waren der Wind und die Gezeiten. Ich habe nur ihre Stimmen aufgenommen, die vom hohlen Bauch des Turms verstärkt wurden. Deshalb muss ich das Tagebuch fast nicht bearbeiten. Es ist, in allen Einzelheiten, die Erzählung. Ich muss die Notizen nur abschreiben und neu ordnen.

Also. In der ersten Nacht bin ich, kaum habe ich das Licht der Laterne wahrgenommen, auf der Treppe stehengeblieben.

Ich gehe hinunter. Durch ein Fensterchen im Turm sehe ich, wie die ganze Insel von einem Blitz taghell erleuchtet wird. Auf meiner Netzhaut gräbt sich das Bild einer steinernen Rieseneidechse mit dem Kamm eines Sauriers ein. Dann wieder stockdunkle Nacht. Der Regen trommelt an die Fenster. Es ist die Nacht der Auferstehung, doch man fühlt sich eher an die Kreuzigung erinnert. Wer weiß, ob Jesus bereits den Stein vor dem Grab weggeschoben hat. Ich höre den langgezogenen Schrei des Lichts in der unendlichen Nacht. Er ist einer der höchst gelegenen Leuchttürme auf der ganzen Welt. Hundertzwanzig Meter samt dem aus dem Meer ragenden Berg. Bei Schönwetter und von unten muss das ein unglaublicher Anblick sein.

Der Sockel wirkt wie ein steinzeitlicher Bau, er ist über ein Jahrhundert alt. Ein Meter hohe, erdbebensichere Mauern. Ein zweistöckiges Parallelepiped mit einer Länge von zwanzig und einer Breite von zehn Meter. Bis zu zwanzig Menschen können hier wohnen, früher beherbergten die Leuchttürme ganze Familien, sogar Kinder wurden hier geboren. Über der Bastei der mächtige, in die Höhe ragende Kegelstumpf. Geländer, Fensterläden, Handläufe sind noch immer im Originalzustand, außergewöhnlich intakt. Ein unverkennbarer Stempel der Welt von gestern, die von der räuberischen Philosophie der neuen Zeiten verleugnet, vom Zeitalter des Kunststoffs und der programmierten Entwertung abgelöst worden ist.

Die Leuchtturmwärter sind harte, an einen Felsen gefesselte Männer. Absolute Herrscher über ihr Land und gleichzeitig Verbannte. Infolge des vielen Alleinseins werden sie mitunter mürrisch und vielleicht sogar ein wenig verrückt. Aber die beiden, die mich auf der Insel willkommen geheißen haben, sind aus gutem Holz geschnitzt. Sie haben mich mit einem Teller – vielmehr einem Napf – Nudeln und ganzen Hummern empfangen und mich eingeladen, mich zu ihnen an den Tisch zu setzen. Der Kapitän ist auch Fischer, bei gutem Wetter fährt er rasch mit dem Boot hinaus und wirft die Netze aus. Bei meiner Ankunft war auf der südseitigen Mauer des Leuchtturmes eine Schnur gespannt, auf der zwei Dutzend Seefische zum Trocknen aufgehängt waren, sie flatterten im Wind wie Wäsche.

Eine lange und kalte Nacht. Ich muss Socken anziehen und mich mit einer zusätzlichen Decke zudecken. Ich mache die Stirnlampe aus und versuche zu schlafen, aber nichts zu machen, mein Kopf ist übervoll mit Bildern. Der Übergang von der Fülle zur Leere dieses Ortes war allzu unvermittelt. Vielleicht versucht der Körper Widerstand gegen den Sog des Nichts zu leisten. Wenn man hier allein ist, läuft man wahrscheinlich wirklich Gefahr, verrückt zu werden. Fast automatisch führt man Selbstgespräche, und es fällt einem gar nicht auf, dass man es nur deshalb macht, weil man einen Doppelgänger an der Seite hat, so etwas Ähnliches wie einen Schutzengel. Ich spüre ihn sogar jetzt: Wenn ich die Augen öffnete, würde ich ihn am Kopfende des Bettes sitzen sehen. Als ich gestern vor dem Regen die Insel erforschte, drehte ich mich zweimal um, um festzustellen, wer hinter mir ging, aber da war niemand.

Es weht ein unangenehmer, feuchter und hinterhältiger Levante, er verursacht ein klagendes Geräusch, lässt die Seelen der Toten wandern und jagt dich in die unerforschten Höhlen deines Ichs. Angesichts der Unendlichkeit der Natur bist du hier ein elendes Nichts. Anders als der Gregale oder die Bora macht er dich nicht fröhlich, reinigt nicht die Seele und die Gedanken. Und er ist auch nicht wie der Mistral, der dich auf seinem Andante maestoso dahinsegeln lässt. Heute Abend empfinde ich das, was man um jeden Preis vor uns zu verbergen sucht und was uns vor dem Schiffbruch retten würde: das Gefühl der Grenze. Ich denke, wie gut uns doch ein wenig gesunde, abergläubische Angst vor dem Zorn Gottes – oder der Götter – tun würde, dann würden wir von diesem obszönen Dünkel genesen, der gedeiht, wenn man sich in der Welt voll Lärm und Verantwortungslosigkeit sicher und satt fühlt.

Gesegnet seist du also, du Levante, in dieser schwarzen Nacht. Lass mich diesen wohltuenden Schrecken bis zur Neige auskosten, wo ich allein bin in diesem Meer, das von zu vielen Netzen kaputtgemacht worden ist. Ja, ich habe gut daran getan, mich allein aufzumachen, die erste Reise in meinem Leben anzutreten, bei der ich mich nicht vom Fleck rühre.

Fünf Uhr morgens. Ich höre den Kapitän die Treppe herunterkommen, er öffnet und schließt die Eingangstür. Ich sehe ihn undeutlich durch das vom Regen gepeitschte Küchenfenster. Bei derart starken Sturmböen kann man nur auf der Westseite des Leuchtturmes hinausschauen, das ist die einzige geschützte Seite des mächtigen viereckigen Sockels. Er läuft im Sturm zur Wetterstation, um wie jeden Tag die Daten abzulesen. An einem Ort, wo nichts passiert, ist die Uhrzeit tatsächlich das Erste, was man abliest. Die Wetterstation registriert das Universum. Auch unser schlechtes Gewissen.

Die Sicht wird besser. Die Nacht ist nicht mehr pechschwarz, hinter den Wolken leuchtet matt ein unsichtbarer, bereits im Abnehmen begriffener Mond, er wandert Richtung Horizont. Darunter ziehen parallele Wolken von Osten nach Westen, in derselben Richtung wie diese langgezogene Insel. Eine Szene wie bei Walfängern in Nantucket. Allerdings kommt der Wind nicht vom Atlantik her, sondern aus der anderen Richtung. Trotz des Regens ist die Luft hart, als würde man mit einer Karawane die Wüste durchqueren, der Wind pfeift nicht in den Türspalten, sondern reißt an den Fenstern, lässt die Segel des Himmels knattern, schlägt auf eine Trommel – oder vielleicht auf einen Gong – von planetarischen Ausmaßen. Ein Wind, der nach Orient riecht.

Der Chef ist in seine Behausung zurückgekehrt, ich sehe ihn durch die halb offene Tür ganz hinten im Gang in der Küche sitzen. Er raucht wie ein Schlot, gedankenverloren, mit auf dem Tisch aufgestütztem Ellbogen und ganz leise gedrehtem Radio, er hört alte Schlager. Er hat mir angekündigt, was es zum Ostermahl geben wird: Rindssuppe und Kalbsbraten mit Kartoffeln (bei offiziellen Festtagen gönnen sich Seeleute ausnahmsweise Fleisch). Aber er hat mir bereits ein halbes Dutzend Goldbrassen und die Zutaten für eine Drachenkopfsuppe (den Drachenkopf des Tyrrhenischen Meeres) in die Tiefkühltruhe gelegt. Für die Tage danach natürlich. Mein Beitrag zum Fest sind bunte Ostereier, eine Pfanne mit wildem Spargel und mit Knoblauch gedünsteter Mangold.

Jetzt sollte ich Ihnen eigentlich sagen, wo ich bin. Zum Beispiel, dass diese Insel weit weg von allem und dennoch im Zentrum von allem ist. Ein Felsen, den man nicht verfehlen kann, obwohl er so abgelegen ist. Ich sollte Ihnen sagen, dass sie zwar winzig klein, aber dennoch auf allen Karten eingezeichnet ist, weil sie ein äußerst wichtiger Schiffspunkt ist. Sogar auf meiner Karte des Mittelmeeres im Maßstab eins zu zwei Millionen ist sie vermerkt, und die Schrift, die sie bezeichnet, ist zehnmal größer als ihre Ausmaße auf dem Papier. Ich sollte Ihnen die Koordinaten nennen, Breite und Länge. Aber ich tue es nicht. Ich werde Ihnen nicht einmal sagen, zu welchem Staat sie gehört, denn ich hasse Nationalstaaten, und das Meer hat keine Grenzen. Sie sollen nur wissen, dass alle möglichen Völker hier durchgezogen sind. Griechen, Römer, Slawen, Türken, Venezianer, deutschsprachige Völker, Engländer und sarazenische Piraten. Sogar Neapolitaner.

Nur eine Information: Vor ein paar Jahrtausenden haben die Griechen die Insel nach dem Meer benannt, denn in ihren Augen verkörperte sie das Wesen des Meeres. Fragen Sie nicht weiter. Mit einer Suchmaschine ist es ohnehin viel zu einfach. Zwei oder drei Begriffe genügen und selbst ein ahnungsloses Kind findet sie. Ich möchte, dass Sie sich anstrengen, um sie zu finden, dass die Navigation schwierig ist, dass Sie sich in Büchern und dann zwischen Inseln verlieren. Der angebissene Apfel hat uns ohnehin schon zu viel weggenommen: zuerst bei Eva und dann im Netz. Wenn Sie den Ort also finden, jedoch meine Bücher mögen und nicht wollen, dass ein heiliger Ort von Ungläubigen überrannt wird, dann verraten Sie niemandem den Namen. Und wenn Sie den Vertrag brechen und den Namen laut aussprechen, werde ich Sie verfluchen, wie Long John Silver auf der Schatzinsel. Und ich werde alles tun, um Sie der Lüge zu überführen.

Ich muss die Fensterläden schließen, sonst frisst die Salzluft Fenster und Türen. Ich habe sofort zur Kenntnis genommen, dass es diesen Turm bloß deshalb noch gibt, weil er ein Jahrhundert lang täglich gewartet worden ist. Dafür bin nun ich zuständig. Ich sehe, wie der langsame, regelmäßige Lichtstrahl, der aufgrund des Regens fast wie ein fester Körper wirkt, den runden Kopf der Erde berührt, als würde er jemandem den Ritterschlag erteilen, er beschreibt eine perfekte Tangente entlang der Krümmung des Planeten. Eine Quadratrechnung ausgehend von der Höhe der Lichtquelle ergibt, dass sich die Gerade und der Kreis in dreißig Meilen berühren, aber der Lichtpinsel reicht viel weiter, dringt mindestens fünfzig Meilen in die Nacht ein, bis er sich im Nichts verliert.

Die Nacht

Nach wie vor rauer Levante und Regen. Die Fensterläden sind zu, aber das Wasser dringt durch die Ritzen und das Fensterglas ist salzverkrustet. Im Halbdunkel lasse ich Erinnerungen Revue passieren. Ich denke an meine Wanderung an der Küste von Pembrokeshire im Südwesten Englands. Dort kann man mit Seelöwen schwimmen, allerdings muss man über die Klippen hinunterklettern und das kalte Wasser aushalten. Die Weibchen sind neugierig und kommen näher, vor allem, wenn man singt. Ich pfiff Mull of Kintyre und sie kamen. Um die Wahrheit zu sagen, kamen sie nur so lange näher, bis das eifersüchtige Männchen aus einer Höhle auf Höhe des Wasserspiegels ein raues Brüllen von sich gab und sie in den Stall zurückrief. Hoch oben auf einem Vorgebirge namens Saint David’s Head befindet sich ein Leuchtturm wie dieser, er thront über der Gewalt der Elemente. Aber dahinter gibt es wenigstens ein Dorf und im Dorf ein Pub mit gutem Bier; man tritt mit einem Windstoß ein und die Gäste drehen sich um, um zu schauen, wer es ist, während man dem Sturm die Tür vor der Nase zumacht. Hier gibt es weder ein Dorf, noch ein Pub oder ein gutes Bier: Wir sind zu dritt, allein mit unserem Proviant.

Die Tür zum Zimmer des Leuchtturmwärters am Ende des Ganges steht wie immer offen. Niemand ist da, aber in der Küche ist das Radio an. Musik auch im Stockwerk darunter, im Gerätelager, aber auch dort ist niemand. Ich bin völlig allein, gehe von Tür zu Tür, von Gang zu Gang, wie in einer Krimiszene auf der Suche nach einem flüchtigen Schatten. Die Wärter des Leuchtturmes haben Angst vor der Leere und der Stille. Deshalb suchen sie sich immer eine Beschäftigung und hören ununterbrochen Schlager. Wahrscheinlich halten sie mich für verrückt, dass ich freiwillig ins Exil gegangen bin. Nur aus Höflichkeit sagen sie mir das nicht ins Gesicht.

Ich mache das Kurzwellenradio an, das ich auch während des letzten Balkankrieges dabei hatte. Es begleitet mich seit dreißig Jahren. Es ist ein Radar, ein Seismograf, der die Beben der Welt registriert. Ich höre zornige arabische Worte; vielleicht ein libyscher Sender. Und da ist schon Radio Ceuta, der Sender befindet sich auf den Säulen des Herkules. Ich suche weiter und höre eine kroatische Nachrichtensendung, eine italienische Schuhwerbung und dann wieder Frankreich und Katalonien. Doch gleich darauf brechen die Griechen mit ihrem ungeduldigen Predigerton ein, der wie eine Maschinengewehrsalve klingt. Ich erkenne viele Worte der knorrigen und stolzen Sprache, die ich im Gymnasium gelernt habe. Zum Beispiel: Pandämonium. Es scheint ein Symbol für das unruhige Mittelmeer zu sein, das uns entgleitet.

Die Schulden der Griechen: Allein bei der Erwähnung des Wortes muss ich schon lachen. Die Schulden der Griechen! Bei all dem, was Europa und die Welt den Griechen verdankt. Allein die vier Namen des Meeres, die Hellas geprägt hat: „Pelagos“, die unermesslichen Tiefen. „Thalassa“, der plötzliche Anblick des blauen Meeres, nachdem man wie Xenophon in der Anabasis Abertausende Meilen auf dem Landweg zurückgelegt hat. Und dann „Hals“, das Meer als salzige Materie im Gegensatz zu Süßwasser. Und schließlich „Pontos“: das Meer als Route, Überquerung, willkommene Abkürzung, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.

Es ist acht Uhr und ich habe bereits Hunger. Ich bin erst vierundzwanzig Stunden hier und habe mich schon verändert. Am liebsten würde ich die Diätkost und den grünen Tee, die ich mitgenommen habe, den Fischen zum Fraß vorwerfen und mir ein paar Sardinen grillen, dazu einen schönen Kaffee aus der Kanne und ein großes, rundes Brot, das noch immer nach frisch gemahlenem Korn riecht, wie man es in Süditalien bekommt. Und dann, warum nicht, würde ich gern in eine frisch gepflückte Zwiebel beißen. Auf der Insel gibt es Zwiebeln, zumindest hat das der Kapitän gestern Abend gesagt, als er mir wie nebenbei ein schönes Büschel wilder, frisch gepflückter Spargel auf den Tisch gelegt hat, „aber unbedingt roh essen!“.

Ich röste ein paar Mandeln, beiße in ein Stück Schokolade, räume die Küche auf, ordne die Bücher, einfach so, um nicht zu verkommen. Bei Schlechtwetter reduziert sich der Tagesablauf auf ein Hin und Her zwischen Bett und Herd. Eine Reise, bei der man sich nicht von der Stelle rührt, ist die schwierigste von allen, denn man hat keinen Ausweg, man ist allein mit sich, fällt Visionen anheim und lässt sich schnell, wie selbstverständlich, gehen. Aber warum zum Teufel bin ich überhaupt hierhergekommen, ausgerechnet hierher, an einen der unzugänglichsten Orte im Mittelmeer, auf eine Insel, die man nur mit einer zweieinhalbtägigen Reise erreicht?

Ich bin hergekommen, weil ich schon lange so einen Ort gesucht habe. Im Grunde träumen alle davon. „Ein Leuchtturm! Wunderbar, ich beneide dich“, haben die zu mir gesagt, denen ich davon erzählt habe. Aber allein hätte ich diesen Leuchtturm, ausgerechnet diesen Leuchtturm, der sich steil über dem Nichts befindet, nie gefunden. Schuld daran ist gewissermaßen einer der erfahrensten Skipper des Mittelmeeres, ein Triestiner Freund, mit Vornamen Piero und Nachnamen Tassinari, der beim Steuern die Odyssee auswendig aufsagt, vielmehr singt, sich an den Sternen orientiert und mit einem Jahrhundert alten Seekarten navigiert. Ihm habe ich immer blind vertraut und so habe ich ihn eines Tages gefragt, welcher Leuchtturm seiner Meinung nach der verrückteste sei.

Er hat mir ein Mail aus England geschickt:

Eines Abends im Mai bin ich daran vorbeigefahren, mit sechs, sieben Knoten, die wir dem Mistral zu verdanken hatten, mit der Hand voll Reffen. Wir passierten die Insel im Süden, im schönsten Sonnenuntergang, den ich je gesehen habe. Man sah nur eine blaue Silhouette mit dem Licht des Leuchtturmes ganz oben. Sie sah aus wie ein verzaubertes Schloss, sie war so schön, dass sie fast Angst machte. Wir waren zu viert, wie Kinder, sprachlos, erst nach Mitternacht haben wir uns wieder gefasst, als der Wind auf Südwesten gedreht hat, ein heißer, klebriger Wind, und wir einigen Tankschiffen begegnet sind. Ich habe immer davon geträumt, hinzufahren, allerdings ist dort überhaupt nichts, und im April, Mai läuft man Gefahr, am Festland oder auf der Insel festzusitzen. Such dir einen leichter zugänglichen Ort.

Vielleicht riet Piero mir davon ab, um mich auf die Probe zu stellen. Doch als ich ihm später meine Entscheidung mitgeteilt habe, hat er gejubelt. Und seinen Neid in Verse gegossen.

Piero segelt mit einem hundert Jahre alten, in England gebauten Schiff, dessen komplizierte Genealogie er in allen Details erforscht hat. Es heißt Moya und ist eine fast mütterliche, dreizehn Meter lange Schale, an deren Bord sich Regisseure und Schauspieler wie Peter O’Toole und Anthony Queen getummelt haben, mit Schwärmen von „Playboy“-Bunnys im Gefolge. Mit Moya ist er kreuz und quer durch das Mittelmeer gesegelt, und manchmal habe ich ihn begleitet, von Dalmatien bis zu dem Meer vor Ithaka, wo die Seeschlacht von Lepanto stattfand, und dann vom Golf von Korinth bis zur Insel Mykonos, im windigen Herzen der Kykladen.

Piero hatte beschlossen, durch das „griechische Meer“ bis zur Insel Kos zu segeln und eine Weihegabe (einen Hahn, wie es die Griechen vorgemacht haben) in den Tempel des Äskulap zu bringen, dem Gott und Begründer der Heilkunst; er wollte den Göttern dafür danken, dass er eine schwere Krankheit überlebt hatte. Es war April, ein außergewöhnlich kalter Frühling, der Parnass und die Gebirge des Peloponnes waren noch schneebedeckt. Wir fuhren am Kap Sunion vorbei, dann – nach einer Reparaturpause auf Kea – Richtung Ostsüdosten, mit zwanzig Knoten dank des libyschen Windes und hoher Wellen, die uns durchnässten. Als wir Syros im Norden passierten und das Meer uns eine kurze Atempause gewährte, geschah etwas Unvergessliches. „Wie lautet dein Lied über Syros?“, fragte mich Piero, und ich kam der Aufforderung des Kapitäns nach und schmetterte das schöne Fragosyriani.

Da schloss Piero auf der beängstigend schiefen Brücke die Augen, trotzte dem Wind und der Gefahr, ins Meer zu rutschen (wir hatten kein Geländer) oder sich in dem Haufen von Tauen zu verheddern, breitete die Arme aus, schnalzte mit den Fingern und tanzte verzückt einen Sirtaki wie ein echter Grieche, als ob wir gar nicht da wären. Er feierte das Leben, seinen Sieg über die ärztlichen Befunde. Wenn wir uns von den Mühen des Segelns erholten, spielte er oft auch Flöte, und zwar sehr gut. Er spielte so gut, dass eines Abends in einer menschenleeren Bucht an der türkischen Küste zwei Einheimische mit einer Flasche Raki angeschwommen kamen, als Dank dafür, dass er, der Fremde, ein Gratiskonzert gegeben hatte.

Aber vielleicht ist meine Entscheidung auch von einem großartigen Schriftsteller des Meeres, von Antonio Mallardi aus Bari, beeinflusst worden. Einer derart homerischen Seele werde ich wahrscheinlich nie mehr begegnen. Er ist Fischer, Bauer, Cellist, Schiffsbauer und Verlagslektor, hat auf den Tremitischen Inseln, im Ionischen Meer und im glühenden Meer von Haifa Zahnbrassen und Muränen gefischt. Mit Fosco Maraini hat er die Insel Ithaka tauchend umrundet, hat eine Woche lang Drachenköpfe gejagt, nur von einem Beiboot begleitet. In diesem Meer, hat Antonio mir erzählt, nachdem wir gemeinsam eine Flasche Malvasier getrunken hatten, „waren wir glücklich wie Seebarsche, verrückt wie Bernsteinmakrelen, die Sardellenschwärme verfolgen, und schnell wie Hornhechte auf der Flucht vor Thunfischen“.

Hin und wieder schickt mir Antonio überraschenderweise maschinengeschriebene Briefe, die vor kostbaren Details strotzen und vor Empörung angesichts der Arroganz und der räuberischen Mentalität der Gegenwart brennen, aber auch nach Opuntien und Salzluft, nach Wind und Mythos duften. Und meine Insel, hat er mir eines Tages geschrieben – vor langer Zeit, ich erinnere mich nicht, wann –, sei genau der richtige Ort, um sich am Wind und am Mythos zu berauschen. Auch er habe vor fünfzig Jahren davon geträumt, als Leuchtturmwärter zu arbeiten. Das war das Einzige, was er in seinem unsteten Leben noch nicht gemacht hatte. Das Marineministerium hatte ihm schon einen Termin für das Bewerbungsgespräch gegeben, und er hatte Mara, seiner Frau, davon erzählt. „Entweder ich oder der Leuchtturm“, hatte sie geantwortet. Und so sucht ihn der unerfüllte Traum in stürmischen Nächten noch immer heim.

Äolus bläst wie wahnsinnig, aber es regnet nicht mehr und der Himmel wird ganz hell. In wenigen Minuten verwandelt sich Cornwall in die Ägäis und das östliche Mittelmeer zeigt sich in seiner ganzen Pracht. Ich habe Antonios Buch bei mir, es hier zu lesen, macht es zu etwas ganz Besonderem. Der Wind aus dem Osten „ist schwer von Licht und Reflexen … er krönt das Meer mit schnell aufeinander folgenden gischtreichen Wellen, taucht die Klippen in Licht … bringt Mythen- und Rosmarinsamen … lässt Opuntien und Wein reifen, lässt Weizenfelder wie Mohnfelder blühen, versengt Stirn und Nacken der Fischer, befruchtet das Meer mit neuen Fischen … Der Wind unserer uralten Kultur, der die Segel Odysseus’ und Diomedes’ blähte, weht auch in unserer Landschaft, obwohl Jahrtausende vergangen sind, obwohl von Griechenland nur Ruinen übrig geblieben sind. Der Osten schenkt uns nach wie vor Wärme und Leben.“

Die Tramontana

An einem Ort, der nachts den Betrieb aufnimmt, wird man unweigerlich zum Schlafwandler oder man schafft die Zeit ab. Jetzt ist auch noch Windstille eingekehrt; und ein an die Bora gewöhnter Triestiner wird bei Windstille unruhig, er glaubt, die Welt hörte auf sich zu drehen. Ihm kommen Gedanken wie: Und wenn die Sonne nicht mehr aufginge? Genau das habe ich mir heute Morgen gegen drei Uhr gedacht. Ich erinnere mich, dass ich auch als Kind diese Furcht hatte; und hier im Leuchtturm macht sie sich wieder bemerkbar. Aber es ist ein heiliges Gefühl, denn es zwingt einen, versöhnliche Rituale durchzuführen, um die Natur günstig zu stimmen. Vielleicht werde ich an einem windstillen Tag vor dem Morgengrauen ein Feuer für die Sonne anzünden, am östlichen Kap.