TEILANSICHT DER NACHT
LUIZ RUFFATO wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete u.a. als Verkäufer und Dreher und studierte Journalismus. Im Jahr 1998 veröffentlichte er einen ersten Band mit Kurzgeschichten. Drei Jahre später folgte der Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos), der heute bereits als Klassiker der modernen brasilianischen Literatur gilt. Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio), der auf Deutsch bei Assoziation A (Bd. 1: »Mama, es geht mir gut«; Bd. 2: »Feindliche Welt«) erscheint. Seine Migrantengeschichte »Ich war in Lissabon und dachte an dich« erschien 2015 auf Deutsch.
Luiz Ruffato war Eröffnungsredner der Frankfurter Buchmesse 2013 und erhielt gemeinsam mit seinem Übersetzer Michael Kegler 2016 den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.
VORLÄUFIGE HÖLLE BAND 3
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Titel der Originalausgabe:
Vista parcial da noite (Editora Record)
Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
Die Arbeit des Übersetzers wurde gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds.
© Luiz Ruffato 2006
© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin, Hamburg 2017
Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin
www.assoziation-a.de, hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de
Foto Einband: iStock Photo / Global Pics
Gestaltung: Andreas Homann
ISBN 978-3-86241-624-0
Für Geni und Sebastião, meine Eltern
Für Helena und Filipe, meine Kinder
Da sagte Daniel: Gott, du hast also an mich gedacht; du lässt die nicht im Stich, die dich lieben.
DANIEL 14, 38
Über dem salzigen Bett bin ich Licht und Gips: doppelter Spiegel – das Dürftige im Bedürftigen. Erblüht eine Seite von mir? Auf der anderen dagegen, von Stille zu Stille, vermodere ich.
FERREIRA GULLAR
FEINDE IM GARTEN
DIE EHRUNG
REGENZEIT
DER ANGRIFF
DAS UNVERGESSLICHE WEIHNACHTEN
TIEFE STILLE AM SONNTAGMORGEN
WÄSCHE AN DER LEINE
NARBEN (EINE FUSSBALLGESCHICHTE)
VICENTE CAMBOTA
DER TOTE
HABSELIGKEITEN
Weitere Bücher von Luiz Ruffato
Ähm?!, flattern Tauben auf, tauchen wild Flügel in die feuchte Dezemberschwüle, Was war das? Was war? Ähm!?, Scharren und Gurren, sie sind immer noch da. Was hat sie aufgeschreckt? Der Schaukelstuhl reglos nun. Routiniert tastet die rechte Hand blind nach der Flinte, die an der Wand schlummert. Augen und Ohren durchstöbern den schwebenden Nachmittag, an der Leine trocknet ein weißes Tuch. In der Brust lauernd die Mine, entschlossen, die Welt in ein Blutbad zu verwandeln. Simão? Langsam erhebt sich ein gelber Flanellschlafanzug, Turnschuhe aus rotem Stoff schlurfen Gedanken über den Hof. Die Geräusche, woher? Kommen sie das Haus überfallen? Stiefelabdrücke im grün schimmernden, feinen Moder, der sich am Fuße der Mauer im Schatten des Eisenbaums breitmacht. Sie sind da, war er sich sicher. Sie sind hier. Er musste sie überrumpeln. Die Reifen des Lastwagens kauen sich durch den Schnee. Aufgerissene Augen versuchen, ins Dunkel zu leuchten. Der Motor faucht voller Verzweiflung. Es geht los. Bald wird es losgehen. Simão? Vier Uhr. Fünfzehn Grad unter null. Im aufgehenden Morgen Granaten, Mörser, Bomben, Tote, Tote, Tote. »… steht für den umfassenden Frieden, den die Welt heute …« Der Maschinengewehrlauf dringt in das so gut wie zertrümmerte Haus, Ich kann nicht mehr, Leutnant, ich halte das nicht mehr aus!, wirft sich auf den Boden, Knochen, Gedanken geklammert an Holztrümmer (keine Dachsparren mehr, keine Balken, keine Möbel), Fragmente von Lehm (keine Backsteine mehr, keine Ziegel, Gefäße), Porzellanscherben (keine Teller mehr, keine Tassen, keine Kannen), Staub legt sich als Kruste über die Uniform, reizt die Augen. Er schleicht ums Haus, drückt sich die gelbliche Wand entlang, die vom Schimmel schon schwarz ist, der Gewehrlauf wittert den Feind, er stößt auf den Waschtrog aus Beton, erkennt sie: im Garten, zwischen den Bäumen. Sie. Krieg! Nísia, es ist Krieg! Krieg? Ja, in der Stadt reden alle darüber … Was hat der Vater gesagt, Mutter? Ja … Es ist Krieg … Krieg? Ja, aber weiiiiit weg … In Europa … Brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Kind, mach dir keine Sorgen … Der Krieg! Kriecht bäuchlings über sterbende Beete im verdorrten Garten, legt sich im dichten Laub auf die Lauer, sein Schützengraben. Im Staub ausgestreckt, das Maschinengewehr an die Brust gedrückt, und sieht dem Treiben der Wolken zu, dem Kreisen der Geier – er lauert. Eine Ruine. Ja!: eine Ruine. Trümmer, nur Trümmer. Simão? Nerven blank, die Muskeln aufgerieben, die Zähne zusammengebissen, Tüll über den Augen, das Gehör auseinandergefletscht, Schmerz, Schmerz in den Beinen, den Armen, den Schultern, im Rücken, den Fußsohlen, Schmerzen. Das Herz eng verschnürt, zusammengeknüllt. Und die alles verseuchende Müdigkeit, der vergiftete Apfel im Hals, schlafen, schlafen, schlafen für immer und immer, sich ertränken im Wasser der großen Nacht, ganz: ist das ein Mensch? »So viel Land ich auch durchwandere, verhüte Gott, dass ich …« Mutter?! Mutter … ich habe … Angst habe ich, Mutter … Kommen sie, mich zu holen? Ach wie gern wäre ich jetzt bei euch! So gern! Durch die Wand, auf der anderen Seite, sie stirbt. Der Husten hat ihr Gebiss ausgespuckt. Die Krankheit saugt ihr das Fleisch aus. Was übrig geblieben ist: Haare, kraus, rötlich über das Kopfkissen gebreitet. Sie hustet, hustet, hustet, erbricht sich ins Nachtgeschirr. Zieht sich die Decke über den Kopf, doch Verzweiflung dringt durch die Karos der Bettdecke. Simão? Vor ihm defiliert stolz der Feind, drei blonde Deutsche, pickelige Gesichter, er konnte ihr Schnaufen spüren, sie taten ihm leid, noch so jung, aber, wir stehen im Wind; tastet am Gürtel nach einer Granate. Die Füße, das Leder ungewohnt, lösen sich in Blasen auf, wie Pilze. Sie wollten, dass er dabei blieb, und er blieb dabei: War im Winter vor Anker gegangen. Leutnant, das hier ist die Hölle. Die Hölle ist das. An Verbitterung, sagten sie, ist der Vater gestorben, vor noch nicht einmal einem Jahr, so lang … Turco, he, Türke, komm her, komm spielen mit der. Rot im Gesicht hatte man ihn eilig auf die Gesundheitsstation geschafft, rot. Röchelte, wollte wohl noch etwas sagen, doch die Zeit war schon um. Er hat es nicht überlebt, dass der Sohn in der Ferne war, sagten die Leute. »Papa und Mama, hiermit will ich Euch Nachricht vom Krieg geben, der seltsam und traurig ist. Gott sei Dank bin ich gut angekommen, auch wenn die Reise sehr lang war. Vier Tage bin ich nun schon hier und vermisse euch. Betet für mich, Euren Jungen. Simão.« Ein bisschen war das schon das Grab für die Mutter. Grob, das Glied schlaff, das Gesicht verkrampft, stieß er die Italienerin. Ich kann nicht, ich kann nicht. Trank in großen Schlucken Wein aus dem Flaschenhals. Das alte Haus völlig verdreckt, streifte durch die festlichen Straßen von Parma. Simão? Simão, Junge, bist du da? Simão? Manchmal Stille. Still spulte sich dumm in der Ecke der Tag ab, fremd, finster. Trübsinnig. Manchmal aber Krämpfe: Worte sprudelten aus ihm heraus, sehnsüchtig, hysterisch, haltlos. (Der zitternde Finger des Feldwebels Cardoso zeigte ins Dunkel. Er flüsterte etwas und rannte. Nur wenige Meter weit trugen ihn seine Füße. Dann stürzte er, halb verschlungen vom Schnee, zerrissen von einer Maschinengewehrsalve, die von oben vom Hügel aus einem Betonbunker knatterte. So ist das im Krieg, Tod: eine plötzliche Stille. Die Schreie, das Knallen, die Explosionen sind auf einmal weg, und man treibt in einem nicht endenden Meer. Und es sind so viele, die Toten, dass man sich nach jedem Bombenangriff über den Körper streicht, um sich zu vergewissern, dass da nicht doch irgendwo ein Loch ist, durch das einem heimlich das Leben entweicht.) Wird die Nacht nicht überleben. Keine Kraft mehr, keine Luft, die Lunge schwächelt, ergibt sich. Wird die Nacht nicht mehr überleben. Simão? Durch das labyrinthische Dickicht der Mangobäume verschwinden die Deutschen. Leutnant, des Bein des Soldaten Lemos! Leutnant, das Bein des Soldaten Lemos! Leutnant, das Bein. Baumelnd, an einem dünnen vergoldeten Kettchen, er fragte sich, wen wohl das Bild auf dem Medaillon zeigte, Weißt du, was das für eine Heilige ist? Hab ich in Italien gefunden, hab nie gewusst, wer das ist. Hab es nie gewusst. Seht ihr? Unser Ziel ist. Wird die Nacht nicht mehr überleben? Der Krieg, Mutter … Keine Sorge, das ist weiiiit weg, in Europa. Still unter dem Haus Spinnweben und staubige Flaschen. Haargenau über dem Kopf Schritte von schweren Stiefeln. Lauern durch die Spalten der Dielen. Kommen sie mich holen, Mutter? Der Krieg ist vorbei, Simão. Der Krieg ist schon lange vorbei … Senhor Simão, haben Sie Ihre Tropfen genommen? Und die Herzmedikamente? Und die Medizin für den Kreislauf? Und? Na!? Mein Gott, da kommen sie! Wo ist die Granate? Drei sind es, direkt im Fadenkreuz. Lass uns die Fackel anzünden, he, Turco? »… zum Stolz unseres Vaterlandes getragen von Edelmut, der …« Deutsche Händchen straffen die Hemdchen zu Taschen, beladen mit Stählerne Räder kreischen über die Schienen, Waggons voller Eisenerz quer durch die Stadt, wie eine Schlange auf dem Weg: sich entledigend. Pfeifen. Das Herz rast. Simão? Die Flinte schwächelt, er spitzt die Ohren, Es geht los, Es geht los. Die Sirenen! Die Flugzeuge! Die Bomben! Näher: Waggons, Pfeifen. Der gelbe Flanellschlafanzug schreckt hoch, Pisse rinnt das Bein hinab. Uuuuuuuuuuuh! Arme beeilen sich schizophren unter die Bäume zu flüchten. Uuuuuuuuuuuh! Die Sirenen! Die Flugzeuge! Bomben! Der Kopf zerspringt zu Scherben. Zimtmilch, Simão? Drei schmutzige Unterhosen, dürre Beine, die Rippen deutlich zu sehen, erklimmen die Mauer, voll Angst, eine Spur Mangos mit schwarzen Punkten, so reif schon.
Weiß langgestreckt lauerte die Angorakatze von der Lehne des zweisitzigen Sofas mit der Flickendecke auf die zwei Enden des Maßbands, die im Takt ihrer Füße, die das Nähmaschinenpedal antrieben, um den Nacken von Dona Fátima baumelten. Wäre nicht die Trägheit des Nachmittags und nicht die davor schon schlaflos durchwachte Nacht, hätte sie mit einem Satz nach dem aufregenden Band geschnappt, aber bleierne Lider und die drückende Februarhitze ließen jeden Versuch schon im Keim ersticken. In diesem Zwiespalt gefangen schreckte sie auf, als Teresinha, die sie noch nie gemocht hatte, hereingestürmt kam, Mutter!, Mutter!, und sie zur hastigen Flucht durch das Fenster nötigte.
»Mutter!, Mutter!«
Teresinha hatte so ihre Ideen, verhätschelt von Dona Fátima, und zum Verdruss des altmodischen Zé Bundinha. Erst vor ein paar Monaten hatte sie von einem Debütantinnenball geträumt: Clube Social, weißes, kurzes, strassbesetzt funkelndes Kleid aus Satin, Perlchen, Prinzessinnendekolleté, Handschuhe, Diadem, Absätze, Täschchen, Herzklopfen, bis endlich der Walzer …, ein blassrosa Schneetreiben aus Rosenblüten, Sektbrunnen, ein Foto im O Cataguases, Genau so ein Fest, unbedingt … Also hatte sich die Mutter nächtelang drangemacht, Flickwäsche angenommen, ausnahmsweise, weil Stopfen und Ausbessern sonst nicht ihres waren, war abgemagert, die Gabel noch in der einen Hand, mit der anderen schon wieder am Nähen, eine Hand am Teller, die andere noch an der Naht, Ringe um die Augen erzählten von ihrer Müdigkeit, fahrige Finger und schließlich Scheinchen und Münzen zusammengekratzt für die große Überraschung; die Gasse war ganz aus dem Häuschen. Den gesamten Nachmittag ihres Geburtstags war Teresinha Kleopatra bei Dona Olga: ließ sich von Toninha die Nagelhaut machen, die Finger- und Fußnägel schneiden, feilen und rubinrot lackieren, von Márcia die Haare mit Yamasterol waschen und föhnen und Henna einmassieren zum Glätten, dann einen Turban drumwickeln und die Brauen zupfen, sie drückten gemeinsam die Pickel aus, trockneten unreine Stellen mit Minâncora, rieben Puder auf die Schokoladenhaut, um sie heller zu machen, dann Reismehl und Rouge, zauberten die Lippen karminrot und Blau um die Augen, Lidstrich, Wimperntusche, und ganz zum Schluss schlüpfte Prinzessin in ihr Petticoatkleid und kletterte in ihre hochhackigen Schuhe; aus dem Batterieradio Maria Teresa Psst, Leute, seid leise!, zu ihrem Psst, Leute, leise!, das Lied: »Zum fünfzehnten Geburtstag« von Leno, Uuuuuuu! Wer hat sich das wohl für dich gewünscht, Teresinha? Naaa? Wer?
Im Waschhäuschen trällerte Márcia Roberto Carlos Zeit weiterzuzieh’n / Ich sage adieu, aber will, dass du weißt / Wohin auch immer mein Weg mich führt / Ich vergesse dich nie. Toninha spülte ihre Mähne am Waschzuber aus. Dona Olga war unruhig herausgeputzt, in Sandalen vom Garten zur Wohnungstür, wieder zurück in den Garten, fast schon abgelatscht, Mädchen, da draußen, da wimmelt es nur so von Leuten! Stolz defiliert auf der Mauer eine schwarze Katze. Die Aufregung steigt. Einer schaltet Musik ein, Zé Pintos Musikschrank wahrscheinlich, ausgeliehen, Wanderley, Wanderley Cardoso? Toninha, Wanderley Cardoso! Herrje … Ein Koffer mit Zeitungsausschnitten im Schrank … Wem gehört wohl die Schallplatte, Toninha? Kinder toben die Treppen der Gasse rauf und runter, ungerührt vom Schimpfen der nervösen Mütter. Die Männer stehen in kleinen Gruppen zusammen und schwadronieren. Unbemerkt wie die Nacht macht sich Aufregung breit.
Gehen wir?
Zwei Schritte, schon grüßen Bemerkungen, Seufzer, Mein Gott, ein junges Fräulein! Wie hübsch, Gut sieht sie aus! Gottes Segen! Gott schütze sie! Sie hat bestimmt schon einen Freund … Was für ein Kleid! Nur mühsam drückte sie sich durch verschwitzte Rotznasen in kurzen Hosen, demonstrativ gleichgültig schauende Mädchen, geschoben vom aufgesetzt lächelnden Fotografen. Auf dem Tisch in der Mitte auf einem Tortenständer mit Alufolie und Krepp und mit Dutzenden Kokoskugeln in Weiß, Blau und Rosa verziert, Kuchen, zwei Stockwerke, Pflaumenmusfüllung, zementiert mit Zitronengeschmack-Zuckerguss, kunstvollen Fransen und silberig glänzenden Kügelchen, Herzlichen Glückwunsch, zwei Kerzen darüber in Form einer eins, einer fünf, überall Luftballons wie an Lianen durchs Zimmer gehängt, In die Mitte!, Die Mitte, sie stellte sich zwischen die Mutter, den eifersüchtigen Bruder, Wo ist Papa? Der … Achtung, Vögelchen! Gut! Noch eins! »Zum Geburtstag viel Glück / zum Geburtstag viel Glück / Zum Geburtstag, Teresinha / Zum Geburtstag viel Glück!«
Und schon löste sich der Kuchen auf in Serviettenresten, Kokoskugeln verschwanden in Taschen und Beuteln, Luftballons zwischen tapsigen Fingern. Siruplimonade türmte sich über Plastikbecher und sickerte rotfleckig in die Tischdecke. Zito Pereira kam mit seinen verstaubten Schallplatten an, Nélson Gonçalves, Miltinho, Orlando Silva, Francisco Carlos, Anísio Silva, bitte nur die A-Seite, das ist Puffmusik, Zito, bitte!, und dann wieder Wanderley aus den Lautsprechern. Zum Abschluss servierte Dona Fátima Feigenblattlikör, wohl gehütet seit Monaten in einer Flasche aus Rautenglas, von dem sich Hélia drei Mal derart großzügig nahm, dass sie sich kaltschweißig taumelnd erbrechen musste und von Dona Zulmira ausgeschimpft wurde, Dass du dich nicht schämst, Gotteswillen!, wie peinlich! Als fast niemand mehr da war, kam endlich auch Zé Bundinha und trieb alle mit derben Worten auseinander, Raus, alle!, wollte sich mit Teresinha anlegen, Hör auf, Papa, du bist doch besoffen! Mädchen, pass auf, wie du mit mir sprichst! Doch Papa, besoffen, besoffen! Das hier ist immer noch mein Haus! Und hier habe ich zu bestimmen! Alle raus! Alle raus! Ist ja gut, Senhor Zé, alles gut, wir wollten sowieso gerade gehen … Haltet euch da raus! In diesem scheiß Haus habe ich zu bestimmen! Raus alle Mann! Dona Fátima war leidend auf ihr Bett gefallen, hatte nur noch dem Brüllen des Mannes gelauscht, Ich schlag dich windelweich, Mädchen! und der ebenfalls brüllenden Antwort der Tochter, Du Scheißkerl! Verdammter! Der Junge, Caburé, hatte sich schnell verzogen und Teresinha verschanzte sich schließlich bei Dona Olga.
Das Tack-tack-tack der Nähmaschine verstummte, Mutter!, Mutter!
»Was ist, Mädchen? Was hast du denn jetzt wieder?«
»Mutter, du warst doch … du warst doch mal Karnevalskönigin, oder? Das warst du doch?«
»Karnevalskönigin?! Was ist denn das für ein Quatsch wieder, Teresinha?«
Sie setzte ihre Brille zurück auf die Nase, tat gleichgültig.
»Mutter, es gibt doch dieses Foto …«
Die Schere nagt sich durch die überstehenden Ränder der Heftnaht.
»Es stimmt doch, Mutter. Oben auf dem Glasschrank … Ich weiß doch …«
) Die Nächte. Sie hatte Angst davor. Kaum war die Sonne untergegangen, da kamen, so schien es, Dämonen. In der Dunkelheit lauerte Fieber und darin der Schmerz; Einsamkeit lugte durch die Ziegel, aus denen sich Angst löste; die Stunden verrannen im Wecker, die hackende Stille. José Feliciano Martins, wegen eines Gehfehlers Zé Bundinha genannt,
ein bescheuerter, ewiger Spitzname,
riss polternd die Türe zur Wohnstube auf, weckte sie, Zittern durchzuckte den Jungen, Zé?, nebenan in der Stube das Mädchen alleine es blitzt, Zé?, sie schreckt hoch, Zé, es donnert, sieht ihn am Boden liegen, Was ist passiert, Zé?, gebrabbelte Worte, Betrunken, herrje, wo soll das enden?, versuchte ihn aufzurichten, es blitzt, Lass mich los! Scheiße, he!, stieß sie zurück, wirre Haare, es donnert, eine Fratze, die Hose am rechten Knie aufgeschlagen, sie zerrt ihn, plötzlich weht feuchte Luft durch die Wohnung, es blitzt, riss ihm das nach Nuttenparfüm stinkende Hemd runter, es donnert, schob ihn ins Bett, es blitzt, nahm Teresinha hoch, Schnuller im Mund, Kissen unterm Arm, es donnert, und wie ein Wasserfall scheucht der Regen die Nacht vor sich her. Stille:
das Baby ruhig
das Mädchen leise
der Mann schnarcht sauer vom Schnaps
durch die Fensterläden schaut Fatima hinaus in die Dunkelheit (
»… dem Glasschrank … ich weiß doch …«
»Warum willst du das gerade jetzt wissen?«
»War es so oder nicht?«
»Ja … lange her … da gab es dich noch gar nicht …«
»Ich wusste es!«
Teresinha triumphierend. Gerade hatte sie es im Radio gehört. Márcio Toledo, der immer so spricht: »Ob du zu Hause bist, auf der Arbeit oder unterwegs auf der Straße, komm mit mir (Pause) lass uns die kommende Stunde (Pause) gemeinsam verbringen!«, denk nur, der organisiert was für die Karnevalsköniginnnen im Ruderklub, man braucht nur hingehen, den Namen sagen und sich die Einladung geben lassen, für zwei Personen; da war ihr eingefallen, die Mutter, nur nicht ganz sicher, aber jetzt
»Was meinst du?«
Dona Fátima scharrte mit den Füßen in bunten Stoffresten am Boden überall
Luftschlangen
schlängelten sich vom Himmel herunter um ihre Arme im Rhythmus der Pauken Agogôs Tambourins Trommeln und Repiniques und Cuícas und Recorecos, Konfetti im Gesicht, in den Haaren, und auf der Schärpe Karnevalskönigin – Cataguases 1956, stolz vom Musikpavillon auf der Praça Rui Barbosa herab insgeheim dem schwarzen, üppigen Schnurrbart gewidmet in gestreiftem Hemd, Leinhose, Panamahut, weiße Schuhen, Flacon
: José Feliciano Martins
: Maria de Fátima Ribeiro
Galant. Vielleicht etwas forsch, meinten die Arbeitskolleginnen, »grob«, aber galant. »Industriearbeiter«, wie er betonte, Gebrüder Prata, auf dem Gepäckträger seines Peugeot-Fahrrads, penibel von Zierat befreit, aber stets blank gewienert und sorgsam geölt, hatte er sie spazierengefahren, die Straße rauf, wieder runter, stolz und gewissenhaft. Auf sie gewartet vor dem Werkstor von Saco-Têxtil, aufgeregt und, kaum sah er sie, mit wildem Klingeln heftig gewunken, »Fatinha!, Fatinha!«. Am Wochenende betrübt, weil sie nach Sereno auf Familienbesuch musste, hatte er sich über die einsamen Samstagabende auf staubiger Tanzfläche bis in den Morgen bei Schnaps und gebratenem Fisch getröstet, bis um halb vier schließlich die erste Mannschaft von Flamenguinho als ausgelutschte Orange im gegnerischen Fadenkreuz auf das Spielfeld lief, die Abende dann in die Polster im Eingang der Pension Santa Cristina gelümmelt verbracht, Zukunft und Qualmwölkchen Marke Mistura-Fina buchstabierend: sechs Monate, dann Hochzeit, drei Zimmer gemietet, ruck zuck, und sie sollte nicht mehr als Weberin arbeiten, »Meine Frau soll nicht arbeiten müssen …«, und Kinder, »So vier oder fünf …«
»Das ist Quatsch, Tochter … Dein Vater …«
»Mutter, da ist nichts dabei … Eine Ehrung …«
»Aber dein Vater …«
»Was ist mit ihm, Mutter?«
»Er … ich glaube …«
rausgeputzt, er, im braunen Polyesteranzug, blaue Krawatte, schaukelten sie in der Bahn bis Sereno, voll banger Erwartung, Ruß, Pfeifen, die Landschaft als eintöniger Pinselstrich, grün, blau. Vor dem Bahnhof der Pferdekarren, Vitório, Zé, mein großer Bruder, Angenehm, dann im Trab durch die Felder, Aprilsonne, Flussufer, Stille, holperndes Schnalzen, Wortfetzen, Mutter? Gut, Vater?, Auch gut, Und die Landwirtschaft? Geht, Und die Kleinen? Wie immer. Beim Absteigen umringten sie neugierig Hunde und Kinder, Das hier ist dieser, Das jener, Der Schwarze, der wohnt nur bei uns, Lobo! Hau ab!, Mauri, leg Chuvisco die Leine an!, Schuhe versinken im Staub hinterm Haus, hinter Fenstern huschen Köpfe weg, leichter Wind kräuselt den Bambushain, das Gestrüpp, Sittiche flattern auf.