Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey
Roman
Erstausgabe im Februar 2017
als Orange Cursor-eBook
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © 2017
by Verlag/Verleger
D-47130 Hintermberg
Zweites Penthaus 13
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Für meinen Dodo
»Es gibt nur zwei Sorten von Lebewesen: die Jäger und die Opfer. Wer stark ist, gehört zu den Jägern. Seid ihr Jäger? Wenn ihr es nicht seid, dann ist es jetzt an der Zeit zu gehen.« Sein Blick wanderte ruhig durch den Raum. Niemand bewegte sich. »Wie ich sehe, seid ihr Jäger. Und deshalb spreche ich heute Abend zu euch. Es ist an der Zeit, dass wir uns das nehmen, was uns zusteht: die Freiheit! Ich fühle eine tiefe Verpflichtung für jeden von euch, für unsere Freiheit zu kämpfen.
Lasst mich offen reden. Es steht katastrophal um uns. Jahrhunderte, nein, Jahrtausende lang wurden grauenhafte Lügen verbreitet. Ihr einziges Ziel war es, unsere Väter und Ahnen zu töten. Man hat uns in die Schwäche und Lethargie gedrängt, unfähig, unseren Willen kundzutun. Es ist an der Zeit zu handeln! Wir müssen aufstehen und kämpfen. Nur mit entschlossener Willenskraft können wir uns gegen unsere Unterdrücker zur Wehr setzen. Wir waren viel zu lange gelähmt. Ich sage euch, meine Brüder und Schwestern, erhebt euch! Wir sind die rechtmäßigen Herrscher Englands. Welche Ahnung haben denn ohnehin die feinen Lords im Parlament? Sie kennen uns nicht. Die Kraft liegt in unseren Händen. Allein kann niemand von uns etwas bewegen, aber gemeinsam können wir über die ganze Welt herrschen! Wir werden uns nehmen, was uns erbrechtlich gehört. Nicht länger wollen wir die unsichtbaren Sklaven dieser diktatorischen Stümper sein! Die Zeichen stehen für uns auf Sieg. Jeder Einzelne von euch trägt diesen Schatz mit sich, zeigt ihn endlich.
Wir kämpfen für eine neue Gesellschaftsordnung, unsere Ordnung. Sagt mir, liebe Freunde, wer kämpft mit mir? WER kämpft gegen die unterdrückerische Herrenrasse?«
»WIR KÄMPFEN!«, jubelten sie ihm zu.
Regen tropfte auf einen Grabstein an jenem düsteren Tag im Januar. Langsam lassen zwei Männer einen Sarg in ein sorgfältig ausgehobenes Grab. Helen fröstelte und zog die Schultern hoch, hinter ihr zogen graue Wolken am Himmel langsam entlang. Sie schaute ihrem Bruder hinterher, wie er in dieser Kiste immer tiefer in der Erde verschwand. Auf den Tag vor zwei Wochen fand ihn die Reinigungskraft. Merkwürdig verdreht lag er vor der Treppe. Sein Gesicht wirkte beinahe friedlich, so als würde er schlafen. Nur sein linkes Bein stand unnatürlich weg und sein Kopf wirkte ebenfalls seltsam überdreht. Das Schreien der Angestellten weckte die Nachbarn. Als Helen an jenem Mittag bei seinem Haus am Hyde Park eintraf, fand sie ein Meer an Blaulicht und Polizisten vor. Es war der Abend, an dem sie ihren Bruder erst zum dritten Mal in ihrem Leben sah. Auf dem Sterbebett verriet ihr ihre Mutter, dass sie einen älteren Bruder hätte. Sie gab ihrer Tochter einen Zettel mit dem Namen Joshua und einer Telefonnummer. Helen wollte ihrer Mutter unzählige Fragen stellen, aber die starken Schmerzmedikamente machten ihre Mutter zu schläfrig. Noch in der selben Nacht schloss sie für immer ihre Augen. Den Kampf gegen den Krebs konnte sie nicht gewinnen.
Es vergingen mehrere Wochen, bevor sich die junge Frau traute, die Nummer von dem Zettel zu wählen. Das erste Treffen verlief schüchtern, aber angenehm. Sie trafen sich auf eine Tasse Tee und sie erzählte von ihrem Leben. Er hörte ihr geduldig zu und neckte sie, wie es sich vermutlich für große Brüder gehörte. Beim zweiten Treffen fragte sie ihn nach seinem Leben aus. Joshua reagierte verhalten und meinte, er würde sie nur langweilen damit. Also sprachen sie über Belanglosigkeiten. Beim letzten Telefonat klang er gehetzt und meinte, er müsse dringend mit ihr reden. Bei ihrem dritten Treffen war Joshua tot.
Es kam Helen nie in den Sinn, dass der Tod beide so schnell trennen sollte.
»Miss Sterling?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.
»Nennen Sie mich Helen, Sergeant Owen King. Sie unterstellten mir doch so oft Mord im Verhör, da brauchen wir jetzt auch nicht mehr förmlich sein.« Langsam drehte sie sich zu Owen King um. Unter anderen Umständen hätte sie ihn attraktiv gefunden. Er war circa 1,80 m groß, hatte fast pechschwarze Haare und rehbraune Augen. Seine grauen Schläfen verliehen ihm ein reifes Aussehen. Owen war er ein charmanter Kerl. Wenn er ihr nur nicht den Mord an ihrem Bruder unterstellt hätte.
»Was machen Sie hier eigentlich? Ich habe meinen Bruder gerade beerdigt. Schämen Sie sich nicht, einfach auf einem Begräbnis aufzutauchen?«
Owen blinzelte sie an. »Miss Sterling, … Helen … ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Im Grunde genommen wollte ich Ihnen nur mein Beileid aussprechen. Im Übrigen gibt es Neuigkeiten, die den Tod ihres Bruders betreffen. Darf ich Sie auf eine Tasse Tee einladen, um Ihnen alles zu erzählen?«
Helen nickte zögernd und erwiderte: »Ich kenne ein nettes Café in der Nähe, dort können wir ungestört reden.« Sie wärmte ihre klammen Finger in die Taschen ihres schwarzen Wollmantels.
Schweigend gingen beide über den Friedhof. Der kalte Wind blies ihnen ins Gesicht und die 5 Grad in London fühlten sich mit einem Schlag an wie 10 Grad unter Null. Ein paar Krähen erhoben sich schwerfällig von einer alten Eiche und trotzten dem Wind. Die Grabsteine standen willkürlich verteilt auf dem Friedhof, an vielen wucherte das Moos so stark, dass das Lesen von Namen unmöglich war.
Owen wagte einen kurzen Blick zur Seite. Helen war eine überaus attraktive Frau. 32 Jahre alt, nur ein wenig kleiner als er und naturschön. Sie benötigte kaum Schminke. Alles was sie zu verwenden schien, unterstrich nur ihre Schönheit. Ihre langen mahagoniebraunen Haare wehten im Wind. Er fühlte sich auch von ihrer kurvigen Figur angezogen. Sie war zwar schlank, aber nicht so dürr wie andere Frauen ihres Alters. Er mochte es als Mann nicht, wenn Frauen ständig ihre natürlichen Rundungen weg hungerten. Gleichwohl hatte sie etwas Geheimnisvolles an sich. Er konnte nicht einmal sagen, was es war. Aber es war etwas, dass ihn instinktiv davor warnte, sich mit dieser Art Frau einzulassen. Wobei seine Freundin vermutlich auch etwas dagegen hätte. Mary war ein Schatz. Lieb, hilfsbereit und nahezu tödlich langweilig. Sie machte ihm das Leben so einfach, dass er es schon langsam nicht mehr ertragen konnte. Sein Haus war stets sauber, seine Hemden makellos gebügelt und abends stand das Essen heiß auf dem Tisch, während Mary ihn überschwänglich begrüßte. Noch traute er sich nicht, sie zu verlassen. Owen befürchtete, ihn träfe augenblicklich eine Art göttlicher Zorn, wenn er so einem liebenswerten Geschöpf das Herz brechen würde. Im Übrigen könne er ihr nie vergessen, was sie für ihn tat. Gedankenverloren kratzte er sich an seinen Bartstoppeln.
Unweit des Friedhofs setzten sie sich in ein kleines Café. Diese Umgebung erdrückte ihn schier. Die Tische standen eng beisammen und die Sitzfläche der Stühle war unangenehm klein. Die Kellner schienen hier alle unnatürlich gut gelaunt zu sein. Jeder frostige Blick eines Gastes wurde mit dem breitesten Lächeln beantwortet, was ein Mensch nur hervorbringen kann. In der Auslage im Schaufenster verführte der Anblick von glänzenden Kuchen und Torten die vorbei gehenden Passanten. Wer konnte im Januar schon zu einem Stück Erdbeertorte Nein sagen? Die Kulisse einer verträumten französischen Patisserie wirkte beinahe tadellos.
Völlig gedankenverloren hörte er Helen sagen: »Owen, haben Sie mir überhaupt zugehört?«
»Ja, Entschuldigung … natürlich. Ich bin ganz Ihrer Meinung«, stammelte er.
»Prima, dann nehmen Sie also auch eine Tasse Earl Grey«, sagte Helen und gab sofort die Bestellung auf. Die junge Bedienung mit spanischem Akzent verschwand augenblicklich im hinteren Bereich des Lokals, nachdem sie sich lächelnd für die Bestellung bedankte. Keine drei Minuten später kam sie mit dem Tee zurück.
Erneut schwiegen sie sich über zwei dampfenden Teetassen an. »Also«, eröffnete Helen das Gespräch, »was wollten Sie mir erzählen?«
Gespannt beobachtete sie, wie Owen unruhig auf dem Stuhl umher rutschte.
»Wir fanden bei Ihrem Bruder einen Zettel. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir die Bedeutung erklären.« Owen suchte in der Innentasche seines Jacketts nach der Kopie des Zettels, während Helen an ihrer Tasse Tee nippte, den sie ohne Milch und Zitrone genoss. Er räusperte sich kurz und begann vorzulesen:
»Die Melodie ist der Schlüssel. Es gibt Leute, die töten dafür! Die Geschichten sind alle wahr. Sie werden mich sicher kommen holen. Aber ich habe es versteckt. Suche an dem Ort, den ich am meisten hasse.«
»Was meinte Ihr Bruder damit? Wir können uns keinen Reim darauf machen.« Owen schaute Helen unverwandt an. Er wollte keine ihrer Reaktion verpassen. Ein Zucken oder ein Blinzeln konnte bereits ein erstes Anzeichen von Schuldigkeit sein, das hatte er in Verhören schon oft erlebt. Es war seine letzte Chance, eine vermeintliche Mörderin zu überführen. Joshua Sterling war schließlich das, was man am ehesten als wohlhabend bezeichnen konnte. Er besaß ein Haus in einem der besten Stadtteile Londons, sein Konto war gut gefüllt und es gab nur eine Erbin laut Testament: Helen Sterling. Seine Schwester, die wie aus dem Nichts auftauchte und nach kürzester Zeit aufgrund eines angeblichen Unfalls finanziell ausgesorgt hat.
Mit großen Augen sah sie den Polizisten an. »Das soll mein Bruder geschrieben haben? Das ergibt doch keinen Sinn! Hören Sie, Owen, mein Bruder war kein Verrückter. Weder schien er sonderlich musikalisch begabt, noch befand er sich auf irgendeinen albernen Miss-Marple-Trip. Es war ein verdammter Unfall. Ich weiß auch nicht, wer sich hier mit diesem schwachsinnigen Zettel einen Spaß erlaubt. Was wollen Sie mir als Nächstes erzählen? Dass Sie sicher sind, er wurde von Außerirdischen entführt? Lassen Sie mich mit Ihren albernen Theorien in Ruhe!« Ihr Gesicht verfärbte sich allmählich rot vor Zorn.
Owen knallte mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt, Sie kannten den Kerl doch überhaupt nicht! Aber Sie fanden schnell heraus, dass er vor Geld stank. Und Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, es wäre ein Unfall gewesen? Er lernt seine einzige Schwester kennen, macht sein Testament und fällt mit 39 Jahren tot die Treppe runter?! Die Scheiße nehme ich Ihnen nicht ab.« Beide sahen sich für wenige Sekunden stumm an. »Helen bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, beschwichtigte Owen sie. Er hatte es gerade ein bisschen übertrieben mit seinen Anschuldigungen, und das wusste er auch. Helen sprang vom Stuhl auf, sodass dieser mit einem lauten Geräusch an den dahinter stehenden Tisch stieß. Hastig zog sie ihren schwarzen Mantel über.
»Sie treten mir nicht zu nahe, Owen. Sie quälen mich. Joshua ist tot, er stolperte und fiel die Treppe runter. Lassen Sie es endlich gut sein und hören Sie auf, mich zu belästigen.« Sie warf eine Zwanzig-Pfund-Note auf den Tisch und verließ das Café. Ohne zurückzublicken hielt sie das nächstbeste schwarze Taxi an und ließ einen zerknirschten Seargent King zurück.
Endlich angekommen gab sie dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Der Tag war düster, kalt und nass. Es graute ihr davor, in das große, fremde Haus alleine zurückzukehren. Zumindest würde Sherlock auf sie warten, der Kater ihres Bruders. Bei Joshuas Anwalt war ein Testament hinterlegt, in dem Helen als Alleinerbin aufgeführt wurde. Sie zog vor einer Woche hier ein, mit festen Willen herauszufinden, wer ihr Bruder war. Sie wohnte bis dahin in einem schäbigen Apartment in Wimbledon. So war es für sie auch einfacher, sich auf die Beerdigung und sonstigen Behördengängen zu kümmern. Das Reihenhaus in der Westbourne Terrace war ein weißes Gebäude, welches um 1840 erbaut wurde. Die insgesamt vier Etagen waren äußerst luxuriös eingerichtet. Sieben Schlafzimmer, mehrere Bäder, eine Terrasse mit Blick auf’s Grüne, ein Heimkino. Helen hätte in ihrem Job als Stadtführerin gefühlte tausend Jahre arbeiten müssen, um sich dieses Haus leisten zu können. Als Historikerin war es nicht einfach, in London einen Job zu finden. Sie schlug sich mit geführten Touren durch. Ob die musikalische Seite Londons, auf den Spuren Jack the Rippers oder die üblichen Sehenswürdigkeiten. Helen konnte stundenlang den Touristen die Schönheiten dieser Stadt erklären. Und das tat sie auch. Abends schmerzten ihre Füße vom vielen Gehen. Das viele Stehen schadete ihrem Rücken gleichermaßen. Alles, was sie abends wollte, war ein heißes Bad und eine Flasche Rotwein. In ihrer alten Wohnung unter dem Dach gab es nur heißes Wasser, wenn kein anderer Mieter es gerade benötigte. Im Winter wickelte sich Helen in mehrere Decken, um nicht zu erfrieren. Im Sommer wurde es unter dem Dach unerträglich heiß. Ihre beste Freundin vermutete, dass bald zwei Hobbits kämen, um DEN Ring in ihre Wohnung zu werfen.
Das heiße Wasser zu jeder Tages- und Nachtzeit in dem neuen Haus war absoluter Luxus, den sie mit schlechtem Gewissen genoss.
Aber heute schaffte sie es einfach nicht allein in dieses Haus. Stattdessen schrieb sie ihrer besten Freundin eine Nachricht und ging die Straßen runter zu ihrem Lieblingspub The Swan, direkt gegenüber vom Hyde Park. Vorbei an all den weißen Fassaden und den schwarz gestrichenen Zäunen. Vorbei an den Türen, die Reichtum und Wohlstand verbargen. Der Streit mit Owen ärgerte sie immer noch. Vielmehr ärgerte sie sich aber, dass sie so ausgerastet ist. Was denkt sich der Kerl überhaupt? Es kostete sie schon ihren Job bei der Agentur. Gleich nachdem Owen dort auftauchte, um sich über ihr Verhalten bei Arbeit und möglichen Beschwerden zu erkundigen, musste sie zu ihrem Boss. Boris erklärte ihr in seinem unverständlichen Mix aus Englisch und Russisch, dass die Kunden sich nicht wohlfühlten, wenn man gegen Helen ermittle. Boris war ein schmieriger, geldgeiler Grobian, den nur die Zahlen interessierten. Sie bemühte sich vergebens, ihn von neuen Ideen für Führungen zu überzeugen. In ihren Augen war er ein unverbesserlicher Kulturbanause.
Um sich etwas abzulenken, zählte sie die geparkten Porsche am Straßenrand. Bei Nummer 12 hörte sie auf zu zählen. Denn der Letzte gehörte ihrer Freundin Titania. Helen betrat den Pub und hörte sofort ihren Namen. »Helen, Liebes! Wie geht es dir? Komm‘, setz dich zu mir. Du bringst die Probleme mit und ich den Alkohol, das ist eine klare Arbeitsteilung.«
Bevor Helen sich versah, saß sie neben ihrer Freundin mit einem Pint Bier in der Hand. Titania konnte man am ehesten als Naturgewalt bezeichnen. Klein, blond und so scharfzüngig, dass sie dafür einen Waffenschein bräuchte. Titanias Mutter war Schauspielerin und dementsprechend freigeistig erzog sie ihre einzige Tochter. Auch ihrem Vater war es daran gelegen, seinem einzigen Kind alle Möglichkeiten zu geben.
Als sie sich am ersten Tag an der Uni trafen, stellte sich Titania ihr wie folgt vor: »Titania, Königin der Elfen, Leidgeprüfte ihres Namens, Herrscherin über 7 Kreditkarten. Und du bist?«
Helen antworte ebenso schlagfertig: »Helen, Sterling wie Pfund, Königin des Pubs und Herrscherin über des letzten freien Platzes im Hörsaal.« Darüber mussten beide so sehr lachen, dass sie augenblicklich von Professor Lockhart raus geworfen wurden. Seit diesem Zeitpunkt waren sie die besten Freunde.
Müsste Helen ihre beste Freundin mit zwei Worten beschreiben, träfe perfekt gestylt es am ehesten. Titania würde nicht ohne ihre geliebten High Heels und ohne die teuerste Markenkleidung ihr Luxusapartment verlassen, wenn es lichterloh brennen würde. Nun saß sie vor ihr, die wachen, fragenden Augen vollkommen auf Helen gerichtet.
»Mir geht’s gut, danke Titania.«
»Sei ehrlich Helen.«
»Mir geht es gut. Wirklich.«
»Sei ehrlich.«
»Naja, es geht so.«
»Ganz ehrlich, Helen.«
»Beschissen. Zufrieden? Mein Bruder, den ich bis vor wenigen Wochen nicht mal kannte, liegt begraben unter der Erde. Dieser Seargent King denkt sich ständig neue Verschwörungstheorien aus und ich habe Angst vor dem leeren Haus. So, jetzt weißt du es.« Mit verschränkten Armen schaute sie ihre Freundin trotzig an.
Titania legte seufzend den Arm um ihre beste Freundin. »Honey, welche neue Theorie hatte denn Sergeant Sexy?«, dabei warf sie ihre langen blonden Haare gekonnt zurück. Selbst Titanias Haare dufteten nach kostbaren Pflegeprodukten, an dieser Frau war alles luxuriös.
Helen atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Letzte was sie wollte, war ein Heulanfall mitten im Pub. »Er zeigte mir einen angeblichen Zettel von Joshua. Auf dem stand, dass alle Geschichten wahr wären, man Joshua holen kommen würde und man da suchen soll, was er hasst. Ach ja, und das die Melodie der Schlüssel wäre.«
»Was willst du mit dieser schwachsinnigen Theorie anfangen?«, fragte sie Helen und stellte ihr Bierglas ab.
»Keine Ahnung. Ich solle an dem Ort suchen, den er am meisten hasst.« Obsessiv kratzte sie mit dem Fingernagel an der Oberfläche des Bierdeckels.
Titania legte den Kopf schief und überlegte. »In meinem Fall wäre das Primark.« Helen musste unwillkürlich lachen. »Du würdest nicht mal für Geld eine Filiale von Primark betreten.«
»Ein T-Shirt für drei Pfund muss vom Teufel hergestellt sein. Das sollte man nicht als Kleidung bezeichnen dürfen, ich fordere offiziell ein Verbot. Apropos, Süße, was hältst du davon, wenn wir in den Urlaub fahren? Nur du und ich. Weit weg, vielleicht Marbella? Da gibt es tolle Partys und das Wetter ist sicher besser als hier. Wir könnten doch gleich los. Paddington ist doch gleich um die Ecke.«
»Danke, das ist lieb von dir. Aber ich kann Sherlock nicht alleine lassen. Er gewöhnt sich gerade an mich. Im Übrigen würde ich mich schäbig fühlen. Heute begrabe ich ihn und morgen liege ich am Strand. Nein, wirklich nicht. King kann sich seine Theorien sonst wohin stecken.« Helen strich sich die Haare hinter die Ohren und fühlte sich immer mehr von dem zunehmenden Lärm im Pub genervt. »Ich habe mir jetzt genug Mut angetrunken und werde nach Hause gehen.«
»Halt!«, rief Titania und sprang auf. Helen schaute sie mit großen rehbraunen Augen an. So nervös kannte sie ihre Freundin nicht.
»Weißt du was, Darling? Ich komme mit. Du solltest nicht alleine da rein gehen. Das ist doch das Mindeste. Außerdem kann ich jetzt eh nicht mehr fahren.« Wie zum Beweis tippte sie mit ihren perfekt manikürten Nägeln an ihr leeres Glas.
Helen lächelte matt. Der Gedanke, dass sie nicht allein sein musste, war tröstlich. Titania ging an ihren Kofferraum und nahm ihre Notfalltasche heraus, in der sie für unvorhersehbare Ereignisse Kosmetik und Kleidung dabei hatte. Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und schritten langsam die belebte Straße entlang. Aus den Pubs drang laute Musik. Laute Stimmen, die wild durcheinanderredeten und lachten, vermittelten eine ausgelassene Stimmung. Obwohl es erst gegen 19 Uhr war, umgab sie eine beginnende Dunkelheit. Die Kälte biss erbarmungslos im Gesicht und sie beschleunigten ihre Schritte allmählich.
Helen fühlte sich überfordert. Einerseits wollte sie endlich nach Hause. In die Umgebung, in der sie sich ihrem Bruder nahe fühlte. Zum andern hatte sie Angst vor dem Unbekannten. Joshua war noch überall in dem Haus präsent. Seit seinem Tod hat sie sich noch nicht in sein Arbeitszimmer getraut. Allein wenn sie die Hand auf den Türknauf legte, überfiel sie die Trauer. Obwohl sie ihn kaum kannte, war er für sie der Bruder, den sie sich immer wünschte.
Am Haus angekommen, zog Helen den Schlüssel aus ihrer Manteltasche. Ihre Finger fühlten sich so klamm an vor Kälte, dass sie das Metall kaum spürte. Mit einem leisen Knarren gab die Eingangstür Helens Druck nach und öffnete sich. Wie in einen dunklen Schlund starrte sie in den Eingangsbereich des Hauses, das aus heiterem Himmel ihr Zuhause war. Das Gefühl von Endgültigkeit überkam sie schlagartig und sie bekam keine Luft mehr. Wie ein Fisch an Land schnappte sie nach Luft und hielt sich am Türrahmen fest. Titania legte von hinten wortlos ihre Hand auf Helens Schulter. Mit dieser Geste brach Helens letzter Schutzdamm. Die Tränen liefen ihr unkontrolliert über das Gesicht, aus ihrem Mund stieß sie einen nicht hörbaren Schrei aus. Die Trauer schlug mit voller Wucht zu. Titania zog instinktiv Helens Arm um ihren eigenen Hals und half ihr dabei, nicht auf den kalten Boden zu sinken.
»Ssschhhsch, ist schon in Ordnung. Lass es ruhig raus.« Sie half ihrer trauernden Freundin in das Haus und stieß mit einem Fuß die schwere Tür hinter sich zu. Unter großer Kraftanstrengung zog sie Helen über den schmalen Flur in das Wohnzimmer und ließ sie und sich selbst auf die große dunkelbraune Ledercouch sinken. Dort saßen sie beide in fast völliger Dunkelheit, die nur ab und an von den Scheinwerfern der vorbei fahrenden Autos unterbrochen wurde. Titania konnte in ihrer Hilflosigkeit nichts anderes machen, als Helen wie bei einem Kind über den Kopf zu streicheln und beschwichtigende Worte zu sagen.
Zerknirscht parkte Owen sein Auto vor dem Haus. Er sah schon Marys Silhouette durch das Küchenfenster. Fröstelnd blieb er noch im Auto sitzen. Es war nicht seine Absicht Helen so zu beleidigen. Während der Fahrt nach Hause gingen ihm annähernd eintausend Entschuldigungen durch den Kopf, die er ihr gerne sagen würde. Sie sagte, er quäle sie. Das traf ihn, als hätte ihm jemand einen Stein an den Kopf geworfen. Jemanden zu quälen war das Letzte, was er wollte. Aber er musste Ergebnisse liefern. Sein Boss wollte diesen Fall endlich zu den Akten legen. Er krallte seine Finger in das Lenkrad und warf seinen Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze. Dieser Fall zerrte an seinen Nerven. Owen tippte erneut auf Wahlwiederholung und ging im Geiste seine Entschuldigung durch. Als ein weiteres Mal nur ihre Mailbox seinen Anruf entgegennahm, gab er es auf. Er stieg aus seinem kalten Auto aus und drückte LOCK auf der Fernbedienung. Ein helles und lautes PIEP-PIEP beim Verschließen des Wagens war offensichtlich das Signal für Mary ihm entgegenzustürzen.
»Mein Traummann ist zuhause!«, sie schlang ihre Arme um Owens Hals und schmiegte sich eng an ihn. Er schnappte nach Luft.
»Hattest du einen guten Tag heute? Bist du hungrig? Ich habe einen Auflauf im Ofen, der nur auf dich wartet. Steh‘ nicht so lange hier draußen rum, mein Liebling. Ich will nicht, dass du dir noch eine Erkältung einfängst.« Owen folgte ihr wortlos in das Haus. Er fürchtete sich schon fast davor, nach Hause zu kommen. Jeder Tag läuft so wie jeder andere auch. Er kommt nach Hause, Mary fällt ihm um den Hals und das Essen wartet bereits. Wie kann Essen auf jemanden warten? Steht es beleidigt auf dem Tisch, wenn man zu spät kommt? Das Essen kann auf keinen Fall auf ihn warten, so weit war sich Owen sicher. Mary ist diejenige, die seiner Ankunft entgegenfiebert. Hübsch zurechtgemacht in einem spießigen Kleid sitzt sie jeden verdammten Abend mit ihm am Tisch und hängt an seinen Lippen.
Sie füllte ihm eine Schale mit Salat und achtete penibel darauf, dass er alles aufaß. Erst nachdem er auch den letzten Fetzen Grünzeug verspeist hatte, gab es eine Portion Auflauf. Das Dessert bestand an diesem Abend aus Schokopudding mit Vanillesoße. Er kratzte mit dem Löffel die letzten Reste seines Puddings aus der Schale. Mary begann bereits das Geschirr abzuräumen. Mittlerweile störte es ihn, dass sie nie zusammen aßen. Sie meinte, sie hätte keinen Hunger und er als Mann bräuchte die Kalorien. Warum müssen Frauen ständig Diät halten?
»Warum benutzt du denn nicht den Geschirrspüler?«, fragte er sie, nachdem er sich mühsam vom Tisch hochschraubte.
»Ach Darling«, sie gab ihm einen nahezu mitleidigen Blick, »du weißt genau, dass das Porzellan nur von Hand richtig sauber wird. Warum gehst du nicht schon mal ins Wohnzimmer? Ich komme nach, wenn ich fertig bin, und bringe dir dein Bier mit.«
Owen brummte zustimmend und trabte in den Wohnbereich. Die große hellbraune Couch wirkte einfach zu einladend. Er ließ sich fallen und verspürte auf Anhieb die magnetische Wirkung. Nahezu hypnotisierend wurden seine Arme schwer, dann seine Beine und zuletzt sein Kopf. Unfähig zur Fernbedienung zu greifen starrte er an die Decke. Als seine Familie ihn damals verließ, war er ein Wrack. Bis heute kann er nicht darüber sprechen, was seine Frau ihm vor zwei Jahren antat. Mary war ihre beste Freundin und er ertrug das Alleinsein nicht. Eins führte zum Anderen und so kam es, dass sie bereits drei Monate später bei ihm einzog. Anfangs gefiel es ihm, dass abends jemand auf ihn wartete und sich jemand so sehr um ihn sorgte. Mittlerweile war er einfach nur genervt und fühlte sich erdrückt von ihrer Liebe. Helen kam ihm wieder in den Sinn. Er schämte sich immer noch für sein Benehmen.
»Schatz, wollen wir nachher eine Runde Scrabble spielen?«, rief Mary aus der Küche ihrem Partner zu.
Stechende Kopfschmerzen setzten augenblicklich bei Owen ein. Er musste schnellstmöglich her raus, sonst würde er wahnsinnig werden. Owen sah kurz auf seine Armbanduhr am linken Handgelenk. Der kleine Riss im Glas erinnerte ihn an seinen Sohn, wie er als Kleinkind mit einem Holzhammer kräftig drauf schlug. Mit dem Finger fuhr er über diesen kleinen Makel, der inzwischen eine Erinnerung geworden ist. Es war erst 21 Uhr, das würde er schaffen. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und ging schnellen Schrittes in den Flur. In der Schale auf dem Schuhschrank kramte er nach seinem Autoschlüssel und rief im Hinausgehen Mary zu: »Ich habe was im Büro vergessen. Das ist wichtig. Warte nicht auf mich.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er zum Auto. Sobald das Auto gestartet war, legte er schnell den Rückwärtsgang ein und fuhr, ohne sich nur einmal umzublicken, fort.
Mit geröteten Augen starrte Helen in das Feuer ihres Kamins. Titania musste ihn angezündet haben, als sie sich leer geweint hatte und in einen traumlosen Schlaf fiel. Sie spürte die Wärme des Feuers ihr gegenüber. Das Holz knackte, während sich die Feuerzungen gierig über das Brennmaterial hermachten. Titania stieß die Tür zum Wohnzimmer mit einem Bein auf, in den Händen hielt sie ein Tablett.
»Eine schöne Tasse heiße Schokolade wird dir guttun. Ich habe auch extra Sahne für dich mit drauf getan.« Bei Titanias schelmischem Grinsen musste Helen müde lächeln. Sie richtete sich mühselig von der Couch auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass Sherlock zu ihren Füßen lag und die Nähe genoss. Seine großen bernsteinfarbenen Augen schauten sie vorwurfsvoll an, als sie endlich aufrecht saß. Beleidigt sprang er auf den Boden und suchte sich einen Platz in der Nähe des Kamins. Im Lichte des Feuers konnte man zig Schattierungen seines grauen Fells erkennen. Verträumt schaute sie ihm zu, wie er sich seine Pfoten putzte. Erst als ihre Freundin die Tassen mit der Schokolade auf den Tisch stellte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
Schweigend saßen die Freundinnen nebeneinander und nippten an ihrem Getränk.
»Sag mal, die Schokolade schmeckt aber ganz schön streng. Was hast du denn da rein gemacht?«
»Darüber darf ich nicht sprechen. Das ist ein altes Familienrezept.«
»Raus mit der Sprache, wie viel Prozent?«
»Du bist ein Spießer. 40 %, da steckt schließlich ein ordentlicher Schuss Cognac drin. Heiße Schokolade mit Cognac, das macht warm und bringt dich auf andere Gedanken. Zumindest sagt das immer mein Vater.«
»Hat dein Vater auch gesagt, dass es eher Cognac mit einem Schuss heißer Schokolade ist?«
»Er ist halt äußerst großzügig, in allen Belangen.« Titania grinste breit und nahm einen weiteren kräftigen Schluck aus der Tasse.
Helen erhob sich von der Couch. »Sorry, ich muss mal für kleine Stadtführerinnen.« Sie ging auf den Flur und hielt auf das Badezimmer am Ende zu. Sie merkte, wie der Cognac ihr allmählich Schwierigkeiten beim koordinierten Gehen bereitete. Als sie die Tür hinter sich schloss wunderte sie sich, wie ihre Freundin so viel vertragen konnte. Auf diese Frage hin, pflegte Titania ihr stets zu antworten, dass sie eine Art genetische Mutation habe. Selbst wenn Helen stockbetrunken im Pub mit wildfremden Männern tanzte, suchte Titania nach Nachschub und kicherte höchstens angeheitert, während sie wild mit jemanden flirtete.
Als sie das Badezimmer wieder verließ, sah sie, wie der Kater auf seinem Kratzbaum im Flur springen wollte. Jedoch peilte er sein Ziel falsch an und sprang nicht weit genug. Es wirkte, als würde er ziellos in die Luft springen, nur um dann unbeholfen auf dem Boden aufzukommen. Er schüttelte sich kurz nach diesem missglückten Sprung und schaute seinen Kratzbaum verdattert an. In seiner Welt muss die Schuld wohl am Kratzbaum liegen, dachte sich Helen, während sich Sherlock beleidigt in die erste Etage verzog. Joshua war der Meinung, die Menschheit würde den Katzen zu viel Intelligenz unterstellen. In Wahrheit wären sie seiner Ansicht nach eher minderbemittelt. Er konnte es nicht ausstehen, wenn der Britisch-Kurzhaar-Kater auf seinen Klamotten schlief, und alles mit Katzenhaaren hinterließ. Von dem Kater und seiner Abneigung gegen Katzen erzählte Joshua beim zweiten Treffen. Sie fragte ihn, warum er denn einen Kater besäße, wenn er ihn doch nicht mochte. Ihr Bruder hüllte sich in Schweigen und sagte erst auf ihr Drängen, dass er jemanden versprochen hätte, auf dieses Tier aufzupassen. Helen gefiel der Gedanke, dass ihr Bruder ein Mann war, der sein Wort stets hielt. In diesem Moment fielen ihr wieder die Worte von Owen ein, die ihr Bruder mutmaßlich hinterlassen haben sollte. Suche an dem Ort, den ich am meisten hasse, hallte es in ihrem Kopf. So weit sie wusste, hasste er diese Katze und frühes Aufstehen. Unschlüssig, ob sie über sich selbst lachen oder ärgern sollte, stand sie im Flur. Sie ging im Kopf mehrere Szenarien durch. Joshua, der seinen Wecker aufschraubt, um darin etwas zu verstecken. Joshua, der etwas in der Katzentoilette vergräbt. Sie musste bei diesen absurden Gedanken schmunzeln.
»Okay Owen King, ich gebe dir diese eine alberne Chance«, sagte sie laut zu sich und hielt auf den Kratzbaum zu, der ungefähr zwei Meter von ihr entfernt stand. Es war ein riesiges Teil mit Körbchen und Höhlen, der locker für fünf Katzen gereicht hätte. Da nichts in den Körbchen lag, abgesehen von grauen Katzenhaaren, fasste sie in die erste Höhle. Sofort konnte ihre Hand etwas Weiches ertasten. Mit angehaltenem Atem zog sie es hinaus. Sie konnte kaum glauben, was sie da in den Händen hielt. Endlich fand sie eine längst verloren geglaubte Socke wieder. Das musste sie unbedingt Titania erzählen. Gedankenverloren griff sie in die zweite Höhle und da war wieder was. Wieder konnte sie etwas fühlen. Sie überlegte kurz, was ihr dieser schelmische Kater noch gestohlen haben könnte. Vorsichtig zog sie diesen harten und kühlen Gegenstand hinaus. Es sah aus wie eine Kugel, eine goldene, glänzende Kugel. Helen schaute über ihre rechte Schulter, um sicherzustellen, dass sich Titania keinen schlechten Scherz erlaubt hat. Diese goldene Kugel hatte wie eine Äquatorlinie einen millimeterdünnen Spalt. Zeichen, die sie nicht zuordnen konnte, waren scheinbar wahllos verteilt auf diesem Gegenstand. Helen vermutete, dass es sich um einen antiken, aber wertvollen Gegenstand handeln musste. Sie trug diese Kugel mit beiden Händen in das Wohnzimmer, wo ihre Freundin wartete. Sie hielt es derart vorsichtig, als trüge sie eine empfindliche Bombe.
»Titania, schau mal. Du wirst nie glauben, wo ich dieses Teil gefunden habe.«
»Ach du heilige … wo hast du die her?«, fragte ihre Freundin mit geweiteten Augen.
»Das lag in Sherlocks Kratzbaum. Ich hab nur kurz nachgesehen, weil ich an Owen denken musste. Albern, ich weiß. Ich kann das historisch noch nicht einmal einordnen. Guck, man kann sogar daran drehen …« Helen drehte vorsichtig die beiden Kugelhälften in entgegengesetzte Richtung.
»Helen, nein! Das halte ich für keine gute Idee!!« Ihre Freundin wedelte mit den Armen.
Doch es war zu spät. Der schmale Spalt der Kugel öffnete sich und Helen ließ die Kugel vor Schreck zu Boden fallen. Bedächtig kullerte sie in Richtung Kamin. Helen und Titania hielten beide für einen Moment den Atem an, nicht wissend, was kommen könnte. Das Feuer verlieh der Kugel einen wunderschönen Schein. Gerade als Helen sich aus ihrer Starre befreien wollte, war ein leises Klingen zu hören. Wie bei einer Spieluhr kamen nun ganze Töne heraus. Sie formten sich zu einer Melodie, die die Frauen bislang noch nie gehört hatten. Sie war langsam und in einer Tonlage, die man als hoch, aber als angenehm bezeichnen konnte. Diese überaus schöne und rhythmische Musik wurde immer lauter und drang immer weiter in das Unterbewusstseins Helens vor. Sie konnte sich kaum mehr konzentrieren. Fast wie hypnotisiert stand sie da, apathisch wie eine Maus vor der Schlange. Ihre Freundin Titania redete auf sie ein, aber sie konnte es nicht hören. Zu laut und zu fesselnd war die Musik. Immer lauter wiederholte sich die Melodie und Helen konnte bis auf die Kugel, gehüllt in einen weiß-grauen Schleier, nichts mehr erkennen. Sie leuchtete immer heller im Schein des Feuers und die Symbole strahlten heller als alles, was sie bislang gesehen hat. Eine Art blaues Licht kam aus dem Spalt hervor, aus dem sich eine Flamme formte. Diese eisblaue Flamme schoss pfeilartig auf Helen zu. Züngelnd wand sich das Licht um ihr rechtes Handgelenk. Sie fühlte sich überwältigt und bemerkte nicht einmal den brennenden Schmerz. Die Lautstärke stieg immer weiter an und gerade, als sie unerträglich wurde, stoppte die Musik abrupt inmitten der Melodie. Gleichzeitig sackte Helen bewusstlos zu Boden. Erst jetzt konnte sich auch Titania wieder bewegen. Sie rannte zu ihrer Freundin und legte zwei Finger an ihren Hals. Erleichtert schnaubte sie durch die Nase, als sie Helens Puls fühlen konnte. Sie stellte sich hinter sie und griff mit beiden Armen unter Helens Achseln. Sie zog ihre ohnmächtige Freundin zwei Meter zur Couch und versuchte, sie darauf zu ziehen. Keuchend konnte sie den Oberkörper darauf ablegen. Sie merkte, wie sie zu schwitzen begann. Beherzt packte sie erst das rechte Bein und hievte es auf die Couch. Mit dem Linken verfuhr sie genau so. Titania bog nach getaner Arbeit den Rücken durch und ein Knacken ließ sie schmerzlich daran erinnern, dass auch sie nicht jünger wurde. Von dem nebenstehenden Ohrensessel nahm sie eine dicke karierte Wolldecke und deckte vorsichtig Helen damit zu. Sie legte noch zwei Scheite Holz in dem Kamin nach und nahm auf dem Sessel Platz. Galant legte sie die Beine ausgestreckt auf den vor ihr stehenden Hocker und versuchte, sich zu entspannen.
»Was hast du nur getan, Liebes?«, fragte sie, wohlwissend, dass sie keine Antwort erhielt. Titania schloss die Augen und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf.
Als Helen die Augen öffnete, sah sie die winterliche Sonne in ihrem Wohnzimmer. Das Geschehene von letzter Nacht wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Sie prüfte kurz ihre Umgebung. Es schien bereits das Tageslicht, das Feuer war erloschen und sie konnte Titanias Handtasche neben dem Sessel erkennen. Der Teekessel in der Küche pfiff in diesem Moment in einem hohen Ton in der Küche. Sie hielt sich mit ihrer rechten Hand ihr rechtes Ohr zu, das Linke war durch das Kissen, auf dem sie lag, geschützt. Allmählich fiel es ihr wieder ein: die Kugel, die Melodie, das gleißende Licht. Langsam nahm sie die Hand vom Ohr und starrte ungläubig auf ihr rechtes Handgelenk. Was dort prangte, war die Zeichnung eines Mistelzweiges. Filigran und gerankt zog sich die Pflanze in schwarzen Linien um das Gelenk. Sogar über ihren Pulsadern sah sie länglichen, gezackten Blätter, die sich in Zweigen verästelt. Unter einigen Blättern waren sogar die kleinen Beeren zu sehen.
Schlagartig richtete sie sich auf. »TITANIA, irgendwas stimmt hier nicht!« Hastig befeuchtete sie ihren linken Daumen an ihrer Zunge und rieb heftig über den schwarzen Mistelzweig. »Titania McAllister, komm´ sofort her!« Wenn sie ihre Bewusstlosigkeit ausgenutzt haben sollte, um sich mit einem Edding-Stift die Langeweile zu vertreiben, wäre das alles andere als lustig.
»Klopf, Klopf. Bist du schon wach?«, fragte Titania zaghaft durch die angelehnte Tür hindurch.
»Ja, sonst würde ich wohl kaum nach dir rufen, oder?«, entgegnete ihr Helen. »Wieso redest du mit mir überhaupt durch die Tür? Hast du mir etwas zu sagen?«, fragte Helen halb im Scherz und halb ernst.
»Also weißt du Helen, wenn du es schon ansprichst: ja. Aber du darfst dich jetzt nicht aufregen oder durchdrehen. Versprich mir das.«, kam es zögerlich von Titania von der anderen Seite der Tür. »Versprich es mir, hörst du?«, wiederholte sie.
Helen erhob sich von der Couch und ging zur Tür, im Gehen versuchte sie immer noch verzweifelt die Farbe von sich abzubekommen. »Titania, sei nicht albern. Welche Farbe hast du benutzt?« Sie zog die Tür zum Flur auf und blickte kurz von ihrem Handgelenk auf, nur um gleich wieder ihre Aufmerksamkeit auf diese hartnäckige Farbe zu richten. Sie hielt kurz inne. Irgendwas war anders an ihrer Freundin. Ihr Blick musterte sie von unten nach oben. »Wieso hast du spitze Ohren? Führst du in deiner Handtasche neuerdings Scherzartikel mit dir?«
Auf die Antwort war sie jetzt wirklich gespannt. Sie war ja schon so einiges gewohnt von ihr, aber auf Schabernack hatte sie wenig Lust. Titania folgte ihr ins Wohnzimmer.
»Helen, Darling«, sie klang seltsam angespannt, »die sind nicht künstlich, die sind echt.« Sie schaute ihr betreten in die Augen.
»Hör´ jetzt auf mit dem Unsinn.« Helen machte einen Schritt auf sie zu und zog an Titanias linkem Ohr. »Nimm diese verdammten Ohren endlich ab. Dein Verhalten ist einfach nur kindisch.«
Doch so sehr sie auch zog, sie wollten sich nicht lösen lassen. »Au au au, Helen bitte, du tust mir weh!« Helen erstarrte vor Schreck und ihr Mund stand offen, ihre Hand umfasste immer noch das Ohr. Titania sagte mit sanfter, aber bestimmter Stimme: »Flipp. Jetzt. Bloß. Nicht. Aus.«
Vorsichtig griff sie nach Helens Hand und löste sie von ihrem gerötetem Ohr. Ihre Freundin starrte sie weiterhin fassungslos an, unfähig, auch nur ein Wort heraus zu bringen.
»Ich kann dir fast alles erklären. Tee?« Eine Tasse Tee beruhigt immer. Unsicher, was sie jetzt machen sollte, zog Titania ihre Freundin auf die Couch und saß ihr zugewandt zu Helens Linken. »Jetzt glotz mir nicht mehr auf die Ohren, das ist unhöflich!« Erst jetzt löste sich Helen aus ihrer Starre und die Worte kamen zurück.
»Entschuldigung, das wollte ich nicht. Bist du krank? Wo kommen dir Ohren her? Oder bin ich noch bewusstlos? Ja, das muss es ein. Ich bin noch bewusstlos und träume.« Sie legte die Handfläche ihrer linken Hand um eine Teetasse. Ein überwältigender Schmerz durchfuhr ihre Hand. »Ahh, verdammt, heißheißheiß.« Helen zog ruckartig ihre Hand weg und pustete kühlend darauf.
»Jetzt lass den Blödsinn bleiben. Du träumst nicht. Ich muss dir jetzt wohl die Wahrheit sagen. Bist du bereit?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Ich befürchte nicht.« Titania nahm sich ein Kissen vor dem Bauch und knetete es, als müsste es dringend massiert werden.
»Also, wo fang ich denn am besten an? Oh Gott, so muss das sein, wenn man seine Kinder aufklären muss.«