Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey

Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Widmung

 

 

 

 

 

 

 

Für mei­nen Do­do

Prolog

»Es gibt nur zwei Sor­ten von Le­be­we­sen: die Jäger und die Opfer. Wer stark ist, ge­hört zu den Jägern. Seid ihr Jäger? Wenn ihr es nicht seid, dann ist es jetzt an der Zeit zu ge­hen.« Sein Blick wan­der­te ru­hig durch den Raum. Nie­mand be­weg­te sich. »Wie ich se­he, seid ihr Jäger. Und des­halb spre­che ich heu­te Abend zu euch. Es ist an der Zeit, dass wir uns das neh­men, was uns zu­steht: die Frei­heit! Ich füh­le ei­ne tie­fe Ver­pflich­tung für je­den von euch, für un­se­re Frei­heit zu kämp­fen.

Lasst mich of­fen re­den. Es steht ka­ta­stro­phal um uns. Jahr­hun­der­te, nein, Jahr­tausen­de lang wur­den grau­en­haf­te Lü­gen ver­brei­tet. Ihr ein­zi­ges Ziel war es, un­se­re Väter und Ah­nen zu tö­ten. Man hat uns in die Schwäche und Let­har­gie ge­drängt, un­fä­hig, un­se­ren Wil­len kund­zu­tun. Es ist an der Zeit zu han­deln! Wir müs­sen auf­ste­hen und kämp­fen. Nur mit ent­schloss­ener Wil­lens­kraft kön­nen wir uns ge­gen un­se­re Un­ter­drü­cker zur Wehr set­zen. Wir waren viel zu lan­ge ge­lähmt. Ich sa­ge euch, mei­ne Brü­der und Schwes­tern, er­hebt euch! Wir sind die recht­mä­ßi­gen Herr­scher Eng­lands. Wel­che Ah­nung ha­ben denn oh­ne­hin die fei­nen Lords im Par­la­ment? Sie ken­nen uns nicht. Die Kraft liegt in un­se­ren Hän­den. Allein kann nie­mand von uns et­was be­we­gen, aber ge­mein­sam kön­nen wir über die gan­ze Welt herr­schen! Wir wer­den uns neh­men, was uns er­brecht­lich ge­hört. Nicht län­ger wol­len wir die un­sicht­ba­ren Skla­ven die­ser dik­ta­to­ri­schen Stüm­per sein! Die Zeichen ste­hen für uns auf Sieg. Je­der Ein­zel­ne von euch trägt die­sen Schatz mit sich, zeigt ihn end­lich.

Wir kämp­fen für ei­ne neue Ge­sell­schafts­ord­nung, un­se­re Ord­nung. Sagt mir, lie­be Freun­de, wer kämpft mit mir? WER kämpft ge­gen die un­ter­drü­cke­ri­sche Her­ren­ras­se?«

»WIR KÄMP­FEN!«, ju­bel­ten sie ihm zu.

Kapitel 1

Re­gen tropf­te auf ei­nen Grab­stein an je­nem düs­te­ren Tag im Ja­nu­ar. Lang­sam las­sen zwei Män­ner ei­nen Sarg in ein sorg­fäl­tig aus­ge­ho­be­nes Grab. He­len frös­tel­te und zog die Schul­tern hoch, hin­ter ihr zo­gen graue Wol­ken am Himmel lang­sam ent­lang. Sie schau­te ih­rem Bru­der hin­ter­her, wie er in die­ser Kis­te immer tie­fer in der Er­de ver­schwand. Auf den Tag vor zwei Wo­chen fand ihn die Rei­ni­gungs­kraft. Merk­wür­dig ver­dreht lag er vor der Trep­pe. Sein Ge­sicht wirk­te bei­nahe fried­lich, so als wür­de er schla­fen. Nur sein lin­kes Bein stand un­na­tür­lich weg und sein Kopf wirk­te eben­falls selt­sam über­dreht. Das Schrei­en der An­ge­stell­ten weck­te die Nach­barn. Als He­len an je­nem Mit­tag bei sei­nem Haus am Hy­de Park ein­traf, fand sie ein Meer an Blau­licht und Poli­zis­ten vor. Es war der Abend, an dem sie ih­ren Bru­der erst zum drit­ten Mal in ih­rem Le­ben sah. Auf dem Ster­be­bett ver­riet ihr ih­re Mutter, dass sie ei­nen äl­te­ren Bru­der hät­te. Sie gab ih­rer Tochter ei­nen Zet­tel mit dem Na­men Jos­hua und ei­ner Tele­fon­num­mer. He­len woll­te ih­rer Mutter un­zäh­li­ge Fra­gen stel­len, aber die star­ken Schmerz­me­di­ka­men­te mach­ten ih­re Mutter zu schläf­rig. Noch in der sel­ben Nacht schloss sie für immer ih­re Augen. Den Kampf ge­gen den Krebs konn­te sie nicht ge­win­nen.

Es ver­gin­gen meh­re­re Wo­chen, be­vor sich die jun­ge Frau trau­te, die Num­mer von dem Zet­tel zu wäh­len. Das er­ste Tref­fen ver­lief schüch­tern, aber an­ge­nehm. Sie tra­fen sich auf ei­ne Tas­se Tee und sie er­zähl­te von ih­rem Le­ben. Er hör­te ihr ge­dul­dig zu und neck­te sie, wie es sich ver­mut­lich für gro­ße Brü­der ge­hör­te. Beim zwei­ten Tref­fen frag­te sie ihn nach sei­nem Le­ben aus. Jos­hua rea­gier­te ver­hal­ten und mein­te, er wür­de sie nur lang­wei­len da­mit. Al­so spra­chen sie über Be­lang­lo­sig­kei­ten. Beim letz­ten Tele­fo­nat klang er ge­hetzt und mein­te, er müs­se drin­gend mit ihr re­den. Bei ih­rem drit­ten Tref­fen war Jos­hua tot.

Es kam He­len nie in den Sinn, dass der Tod bei­de so schnell tren­nen soll­te.

»Miss Ster­ling?«, frag­te ei­ne tie­fe Stim­me hin­ter ihr.

»Nen­nen Sie mich He­len, Ser­ge­ant Owen King. Sie un­ter­stell­ten mir doch so oft Mord im Ver­hör, da brau­chen wir jetzt auch nicht mehr förm­lich sein.« Lang­sam dreh­te sie sich zu Owen King um. Un­ter an­de­ren Um­stän­den hät­te sie ihn at­trak­tiv ge­fun­den. Er war cir­ca 1,80 m groß, hat­te fast pech­schwar­ze Haa­re und reh­brau­ne Augen. Sei­ne grau­en Schlä­fen ver­lie­hen ihm ein rei­fes Aus­se­hen. Owen war er ein char­man­ter Kerl. Wenn er ihr nur nicht den Mord an ih­rem Bru­der un­ter­stellt hät­te.

»Was ma­chen Sie hier eigent­lich? Ich ha­be mei­nen Bru­der ge­ra­de be­er­digt. Schä­men Sie sich nicht, ein­fach auf ei­nem Be­gräb­nis auf­zu­tau­chen?«

Owen blin­zel­te sie an. »Miss Ster­ling, … He­len … ich woll­te Ih­nen kei­ne Un­an­nehm­lich­kei­ten be­rei­ten. Im Grun­de ge­nom­men woll­te ich Ih­nen nur mein Bei­leid aus­spre­chen. Im Üb­ri­gen gibt es Neu­ig­kei­ten, die den Tod ih­res Bru­ders be­tref­fen. Darf ich Sie auf ei­ne Tas­se Tee ein­laden, um Ih­nen alles zu er­zäh­len?«

He­len nick­te zö­gernd und er­wi­der­te: »Ich ken­ne ein net­tes Café in der Nä­he, dort kön­nen wir un­ge­stört re­den.« Sie wärm­te ih­re klam­men Fin­ger in die Taschen ih­res schwar­zen Woll­man­tels.

Schwei­gend gin­gen bei­de über den Fried­hof. Der kal­te Wind blies ih­nen ins Ge­sicht und die 5 Grad in Lon­don fühl­ten sich mit ei­nem Schlag an wie 10 Grad un­ter Null. Ein paar Krä­hen er­ho­ben sich schwer­fäl­lig von ei­ner al­ten Ei­che und trotz­ten dem Wind. Die Grab­stei­ne stan­den will­kür­lich ver­teilt auf dem Fried­hof, an vielen wu­cher­te das Moos so stark, dass das Le­sen von Na­men un­mög­lich war.

Owen wag­te ei­nen kur­zen Blick zur Sei­te. He­len war ei­ne über­aus at­trak­ti­ve Frau. 32 Jah­re alt, nur ein we­nig klei­ner als er und natur­schön. Sie be­nö­tig­te kaum Schmin­ke. Alles was sie zu ver­wen­den schien, un­ter­strich nur ih­re Schön­heit. Ih­re lan­gen ma­ha­go­nie­brau­nen Haa­re weh­ten im Wind. Er fühl­te sich auch von ih­rer kur­vi­gen Fi­gur an­ge­zo­gen. Sie war zwar schlank, aber nicht so dürr wie an­de­re Frau­en ih­res Alters. Er moch­te es als Mann nicht, wenn Frau­en stän­dig ih­re na­tür­li­chen Run­dun­gen weg hun­ger­ten. Gleich­wohl hat­te sie et­was Ge­heim­nis­vol­les an sich. Er konn­te nicht ein­mal sa­gen, was es war. Aber es war et­was, dass ihn in­stink­tiv da­vor warn­te, sich mit die­ser Art Frau ein­zu­las­sen. Wo­bei sei­ne Freun­din ver­mut­lich auch et­was da­ge­gen hät­te. Ma­ry war ein Schatz. Lieb, hilfs­be­reit und na­he­zu töd­lich lang­wei­lig. Sie mach­te ihm das Le­ben so ein­fach, dass er es schon lang­sam nicht mehr er­tra­gen konn­te. Sein Haus war stets sau­ber, sei­ne Hemden ma­kel­los ge­bü­gelt und abends stand das Es­sen heiß auf dem Tisch, wäh­rend Ma­ry ihn über­schwäng­lich be­grüß­te. Noch trau­te er sich nicht, sie zu ver­las­sen. Owen be­fürch­te­te, ihn trä­fe augen­bli­cklich ei­ne Art gött­li­cher Zorn, wenn er so ei­nem lie­bens­wer­ten Ge­schöpf das Herz bre­chen wür­de. Im Üb­ri­gen kön­ne er ihr nie ver­ges­sen, was sie für ihn tat. Ge­dan­ken­ver­lo­ren kratz­te er sich an sei­nen Bart­stopp­eln.

Un­weit des Fried­hofs setz­ten sie sich in ein klei­nes Café. Die­se Um­ge­bung er­drück­te ihn schier. Die Ti­sche stan­den eng bei­sam­men und die Sitz­flä­che der Stüh­le war un­an­ge­nehm klein. Die Kell­ner schie­nen hier alle un­na­tür­lich gut ge­launt zu sein. Je­der fros­ti­ge Blick ei­nes Gas­tes wur­de mit dem brei­tes­ten Lä­cheln be­ant­wor­tet, was ein Mensch nur her­vor­brin­gen kann. In der Aus­la­ge im Schau­fens­ter ver­führ­te der An­blick von glän­zen­den Kuchen und Tor­ten die vor­bei ge­hen­den Pass­an­ten. Wer konn­te im Ja­nu­ar schon zu ei­nem Stück Erd­be­er­tor­te Nein sa­gen? Die Ku­lis­se ei­ner ver­träum­ten fran­zö­si­schen Pa­tis­se­rie wirk­te bei­nahe ta­del­los.

Völ­lig ge­dan­ken­ver­lo­ren hör­te er He­len sa­gen: »Owen, ha­ben Sie mir über­haupt zu­ge­hört?«

»Ja, Ent­schul­di­gung … na­tür­lich. Ich bin ganz Ih­rer Mei­nung«, stamm­el­te er.

»Pri­ma, dann neh­men Sie al­so auch ei­ne Tas­se Earl Grey«, sag­te He­len und gab so­fort die Be­stel­lung auf. Die jun­ge Be­die­nung mit spa­ni­schem Ak­zent ver­schwand augen­bli­cklich im hin­te­ren Be­reich des Lo­kals, nach­dem sie sich lä­chelnd für die Be­stel­lung be­dank­te. Kei­ne drei Mi­nu­ten spä­ter kam sie mit dem Tee zurück.

Er­neut schwie­gen sie sich über zwei damp­fen­den Tee­tas­sen an. »Al­so«, er­öff­ne­te He­len das Ge­spräch, »was woll­ten Sie mir er­zäh­len?«

Ge­spannt be­ob­ach­te­te sie, wie Owen un­ru­hig auf dem Stuhl um­her rutsch­te.

»Wir fan­den bei Ih­rem Bru­der ei­nen Zet­tel. Ich hat­te ge­hofft, Sie könn­ten mir die Be­deu­tung er­klä­ren.« Owen such­te in der In­nen­ta­sche sei­nes Ja­cketts nach der Ko­pie des Zet­tels, wäh­rend He­len an ih­rer Tas­se Tee nipp­te, den sie oh­ne Milch und Zi­tro­ne ge­noss. Er räu­sper­te sich kurz und be­gann vor­zu­le­sen:

 

»Die Me­lo­die ist der Schlüs­sel. Es gibt Leu­te, die tö­ten da­für! Die Ge­schich­ten sind alle wahr. Sie wer­den mich si­cher kom­men ho­len. Aber ich ha­be es ver­steckt. Su­che an dem Ort, den ich am meis­ten has­se.«

 

»Was mein­te Ihr Bru­der da­mit? Wir kön­nen uns kei­nen Reim da­rauf ma­chen.« Owen schau­te He­len un­ver­wandt an. Er woll­te kei­ne ih­rer Re­ak­tion ver­pas­sen. Ein Zu­cken oder ein Blin­zeln konn­te be­reits ein er­stes An­zeichen von Schul­dig­keit sein, das hat­te er in Ver­hö­ren schon oft er­lebt. Es war sei­ne letz­te Chan­ce, ei­ne ver­meint­li­che Mör­de­rin zu über­füh­ren. Jos­hua Ster­ling war schließ­lich das, was man am ehe­sten als wohl­ha­bend be­zeich­nen konn­te. Er be­saß ein Haus in ei­nem der be­sten Stadt­tei­le Lon­dons, sein Konto war gut ge­füllt und es gab nur ei­ne Er­bin laut Tes­ta­ment: He­len Ster­ling. Sei­ne Schwes­ter, die wie aus dem Nichts auf­tauch­te und nach kür­zes­ter Zeit auf­grund ei­nes an­ge­bli­chen Un­falls fi­nanz­iell aus­ge­sorgt hat.

Mit gro­ßen Augen sah sie den Poli­zis­ten an. »Das soll mein Bru­der ge­schrie­ben ha­ben? Das er­gibt doch kei­nen Sinn! Hö­ren Sie, Owen, mein Bru­der war kein Ver­rück­ter. We­der schien er son­der­lich mu­si­ka­lisch be­gabt, noch be­fand er sich auf ir­gend­ei­nen al­ber­nen Miss-Mar­ple-Trip. Es war ein ver­damm­ter Un­fall. Ich weiß auch nicht, wer sich hier mit die­sem schwach­sin­ni­gen Zet­tel ei­nen Spaß er­laubt. Was wol­len Sie mir als Näch­stes er­zäh­len? Dass Sie si­cher sind, er wur­de von Außer­ir­di­schen ent­führt? Las­sen Sie mich mit Ih­ren al­ber­nen Theo­ri­en in Ru­he!« Ihr Ge­sicht ver­färb­te sich all­mäh­lich rot vor Zorn.

Owen knall­te mit der Faust auf den Tisch. »Ver­dammt, Sie kann­ten den Kerl doch über­haupt nicht! Aber Sie fan­den schnell her­aus, dass er vor Geld stank. Und Sie wol­len mir allen Ern­stes er­zäh­len, es wä­re ein Un­fall ge­we­sen? Er lernt sei­ne ein­zi­ge Schwes­ter ken­nen, macht sein Tes­ta­ment und fällt mit 39 Jah­ren tot die Trep­pe run­ter?! Die Schei­ße neh­me ich Ih­nen nicht ab.« Bei­de sa­hen sich für we­ni­ge Se­kun­den stumm an. »He­len bit­te, ich woll­te Ih­nen nicht zu na­he tre­ten«, be­schwich­tig­te Owen sie. Er hat­te es ge­ra­de ein biss­chen über­trie­ben mit sei­nen An­schul­di­gun­gen, und das wuss­te er auch. He­len sprang vom Stuhl auf, so­dass die­ser mit ei­nem lau­ten Ge­räusch an den da­hin­ter ste­hen­den Tisch stieß. Has­tig zog sie ih­ren schwar­zen Man­tel über.

»Sie tre­ten mir nicht zu na­he, Owen. Sie quä­len mich. Jos­hua ist tot, er stol­per­te und fiel die Trep­pe run­ter. Las­sen Sie es end­lich gut sein und hö­ren Sie auf, mich zu be­läs­ti­gen.« Sie warf ei­ne Zwan­zig-Pfund-No­te auf den Tisch und ver­ließ das Café. Oh­ne zurück­zu­bli­cken hielt sie das näch­stbes­te schwar­ze Ta­xi an und ließ ei­nen zerk­nirsch­ten Se­ar­gent King zurück.

End­lich an­ge­kom­men gab sie dem Fah­rer ein groß­zü­gi­ges Trink­geld und stieg aus. Der Tag war düs­ter, kalt und nass. Es grau­te ihr da­vor, in das gro­ße, frem­de Haus allei­ne zurück­zu­keh­ren. Zu­min­dest wür­de Sher­lock auf sie war­ten, der Ka­ter ih­res Bru­ders. Bei Jos­hu­as An­walt war ein Tes­ta­ment hin­ter­legt, in dem He­len als Allein­er­bin auf­ge­führt wur­de. Sie zog vor ei­ner Wo­che hier ein, mit fes­ten Wil­len her­aus­zu­fin­den, wer ihr Bru­der war. Sie wohn­te bis da­hin in ei­nem schä­bi­gen Apart­ment in Wim­ble­don. So war es für sie auch ein­fa­cher, sich auf die Be­er­di­gung und sons­ti­gen Be­hör­den­gän­gen zu küm­mern. Das Rei­hen­haus in der West­bour­ne Ter­ra­ce war ein wei­ßes Ge­bäu­de, wel­ches um 1840 er­baut wur­de. Die ins­ge­samt vier Eta­gen waren äu­ßerst lu­xu­ri­ös ein­ge­rich­tet. Sieben Schlaf­zim­mer, meh­re­re Bä­der, ei­ne Ter­ras­se mit Blick auf’s Grü­ne, ein Heim­ki­no. He­len hät­te in ih­rem Job als Stadt­füh­re­rin ge­fühl­te tausend Jah­re ar­bei­ten müs­sen, um sich die­ses Haus leis­ten zu kön­nen. Als His­to­ri­ke­rin war es nicht ein­fach, in Lon­don ei­nen Job zu fin­den. Sie schlug sich mit ge­führ­ten Tou­ren durch. Ob die mu­si­ka­li­sche Sei­te Lon­dons, auf den Spu­ren Jack the Rip­pers oder die üb­li­chen Se­hens­wür­dig­kei­ten. He­len konn­te stun­den­lang den Tou­ris­ten die Schön­hei­ten die­ser Stadt er­klä­ren. Und das tat sie auch. Abends schmerz­ten ih­re Fü­ße vom vielen Ge­hen. Das viele Ste­hen scha­de­te ih­rem Rü­cken gleich­er­ma­ßen. Alles, was sie abends woll­te, war ein hei­ßes Bad und ei­ne Fla­sche Rot­wein. In ih­rer al­ten Woh­nung un­ter dem Dach gab es nur hei­ßes Was­ser, wenn kein an­de­rer Mieter es ge­ra­de be­nö­tig­te. Im Win­ter wi­ckel­te sich He­len in meh­re­re De­cken, um nicht zu er­frie­ren. Im Som­mer wur­de es un­ter dem Dach un­er­träg­lich heiß. Ih­re be­ste Freun­din ver­mu­te­te, dass bald zwei Hob­bits kä­men, um DEN Ring in ih­re Woh­nung zu wer­fen.

Das hei­ße Was­ser zu je­der Tages- und Nacht­zeit in dem neu­en Haus war ab­so­lu­ter Luxus, den sie mit schlech­tem Ge­wis­sen ge­noss.

Aber heu­te schaff­te sie es ein­fach nicht allein in die­ses Haus. Statt­des­sen schrieb sie ih­rer be­sten Freun­din ei­ne Nach­richt und ging die Stra­ßen run­ter zu ih­rem Lie­blings­pub The Swan, direkt ge­gen­über vom Hy­de Park. Vor­bei an all den wei­ßen Fass­aden und den schwarz gest­ri­che­nen Zäu­nen. Vor­bei an den Türen, die Reich­tum und Wohl­stand ver­bar­gen. Der Streit mit Owen är­ger­te sie immer noch. Viel­mehr är­ger­te sie sich aber, dass sie so aus­ge­ra­stet ist. Was denkt sich der Kerl über­haupt? Es kos­te­te sie schon ih­ren Job bei der Agen­tur. Gleich nach­dem Owen dort auf­tauch­te, um sich über ihr Ver­hal­ten bei Ar­beit und mög­li­chen Be­schwer­den zu er­kun­di­gen, muss­te sie zu ih­rem Boss. Bo­ris er­klär­te ihr in sei­nem un­ver­ständ­li­chen Mix aus Eng­lisch und Rus­sisch, dass die Kun­den sich nicht wohl­fühl­ten, wenn man ge­gen He­len er­mitt­le. Bo­ris war ein schmie­ri­ger, geld­gei­ler Gro­bi­an, den nur die Zah­len in­te­res­sier­ten. Sie be­müh­te sich ver­ge­bens, ihn von neu­en Ideen für Füh­run­gen zu über­zeugen. In ih­ren Augen war er ein un­ver­bes­ser­li­cher Kultur­ba­nau­se.

Um sich et­was ab­zu­len­ken, zähl­te sie die ge­park­ten Por­sche am Stra­ßen­rand. Bei Num­mer 12 hör­te sie auf zu zäh­len. Denn der Letz­te ge­hör­te ih­rer Freun­din Ti­ta­nia. He­len be­trat den Pub und hör­te so­fort ih­ren Na­men. »He­len, Lie­bes! Wie geht es dir? Komm‘, setz dich zu mir. Du bringst die Pro­ble­me mit und ich den Al­ko­hol, das ist ei­ne kla­re Ar­beits­tei­lung.«

Be­vor He­len sich ver­sah, saß sie ne­ben ih­rer Freun­din mit ei­nem Pint Bier in der Hand. Ti­ta­nia konn­te man am ehe­sten als Natur­ge­walt be­zeich­nen. Klein, blond und so scharf­zün­gig, dass sie da­für ei­nen Waf­fen­schein bräuch­te. Ti­ta­ni­as Mutter war Schau­spie­le­rin und dem­ent­spre­chend frei­geis­tig er­zog sie ih­re ein­zi­ge Tochter. Auch ih­rem Vater war es da­ran ge­le­gen, sei­nem ein­zi­gen Kind alle Mög­lich­kei­ten zu ge­ben.

Als sie sich am er­sten Tag an der Uni tra­fen, stell­te sich Ti­ta­nia ihr wie folgt vor: »Ti­ta­nia, Kö­ni­gin der El­fen, Leid­ge­prüf­te ih­res Namens, Herr­sche­rin über 7 Kredit­kar­ten. Und du bist?«

He­len ant­wor­te eben­so schlag­fer­tig: »He­len, Ster­ling wie Pfund, Kö­ni­gin des Pubs und Herr­sche­rin über des letz­ten frei­en Plat­zes im Hör­saal.« Da­rüber muss­ten bei­de so sehr la­chen, dass sie augen­bli­cklich von Pro­fes­sor Lock­hart raus ge­wor­fen wur­den. Seit die­sem Zeit­punkt waren sie die be­sten Freun­de.

Müss­te He­len ih­re be­ste Freun­din mit zwei Wor­ten be­schrei­ben, trä­fe per­fekt ge­stylt es am ehe­sten. Ti­ta­nia wür­de nicht oh­ne ih­re ge­lieb­ten High Heels und oh­ne die teu­ers­te Marken­klei­dung ihr Luxus­apart­ment ver­las­sen, wenn es lich­ter­loh bren­nen wür­de. Nun saß sie vor ihr, die wachen, fra­gen­den Augen voll­kom­men auf He­len ge­rich­tet.

»Mir geht’s gut, dan­ke Ti­ta­nia.«

»Sei ehr­lich He­len.«

»Mir geht es gut. Wirk­lich.«

»Sei ehr­lich.«

»Na­ja, es geht so.«

»Ganz ehr­lich, He­len.«

»Be­schis­sen. Zu­frie­den? Mein Bru­der, den ich bis vor we­ni­gen Wo­chen nicht mal kann­te, liegt be­gra­ben un­ter der Er­de. Die­ser Se­ar­gent King denkt sich stän­dig neue Ver­schwö­rungs­theo­ri­en aus und ich ha­be Angst vor dem lee­ren Haus. So, jetzt weißt du es.« Mit ver­schränk­ten Ar­men schau­te sie ih­re Freun­din trot­zig an.

Ti­ta­nia leg­te seuf­zend den Arm um ih­re be­ste Freun­din. »Ho­ney, wel­che neue Theo­rie hat­te denn Ser­ge­ant Se­xy?«, da­bei warf sie ih­re lan­gen blon­den Haa­re ge­konnt zurück. Selbst Ti­ta­ni­as Haa­re duf­te­ten nach kost­ba­ren Pfle­ge­pro­duk­ten, an die­ser Frau war alles lu­xu­ri­ös.

He­len at­me­te ein paar Mal tief ein und aus. Das Letz­te was sie woll­te, war ein Heu­lan­fall mit­ten im Pub. »Er zeig­te mir ei­nen an­ge­bli­chen Zet­tel von Jos­hua. Auf dem stand, dass alle Ge­schich­ten wahr wä­ren, man Jos­hua ho­len kom­men wür­de und man da su­chen soll, was er hasst. Ach ja, und das die Me­lo­die der Schlüs­sel wä­re.«

»Was willst du mit die­ser schwach­sin­ni­gen Theo­rie an­fan­gen?«, frag­te sie He­len und stell­te ihr Bier­glas ab.

»Kei­ne Ah­nung. Ich sol­le an dem Ort su­chen, den er am meis­ten hasst.« Ob­ses­siv kratz­te sie mit dem Fin­ger­na­gel an der Ober­flä­che des Bier­de­ckels.

Ti­ta­nia leg­te den Kopf schief und über­leg­te. »In mei­nem Fall wä­re das Pri­mark.« He­len muss­te un­will­kür­lich la­chen. »Du wür­dest nicht mal für Geld ei­ne Fi­lia­le von Pri­mark be­tre­ten.«

»Ein T-Shirt für drei Pfund muss vom Teu­fel her­ge­stellt sein. Das soll­te man nicht als Klei­dung be­zeich­nen dür­fen, ich for­de­re of­fi­ziell ein Ver­bot. Apro­pos, Sü­ße, was hältst du da­von, wenn wir in den Ur­laub fah­ren? Nur du und ich. Weit weg, viel­leicht Mar­bel­la? Da gibt es tol­le Par­tys und das Wet­ter ist si­cher bes­ser als hier. Wir könn­ten doch gleich los. Pad­ding­ton ist doch gleich um die Ecke.«

»Dan­ke, das ist lieb von dir. Aber ich kann Sher­lock nicht allei­ne las­sen. Er ge­wöhnt sich ge­ra­de an mich. Im Üb­ri­gen wür­de ich mich schä­big füh­len. Heu­te be­gra­be ich ihn und mor­gen lie­ge ich am Strand. Nein, wirk­lich nicht. King kann sich sei­ne Theo­ri­en sonst wo­hin ste­cken.« He­len strich sich die Haa­re hin­ter die Oh­ren und fühl­te sich immer mehr von dem zu­neh­men­den Lärm im Pub ge­nervt. »Ich ha­be mir jetzt ge­nug Mut an­ge­trun­ken und wer­de nach Hau­se ge­hen.«

»Halt!«, rief Ti­ta­nia und sprang auf. He­len schau­te sie mit gro­ßen reh­brau­nen Augen an. So ner­vös kann­te sie ih­re Freun­din nicht.

»Weißt du was, Dar­ling? Ich kom­me mit. Du soll­test nicht allei­ne da rein ge­hen. Das ist doch das Min­de­ste. Außer­dem kann ich jetzt eh nicht mehr fah­ren.« Wie zum Be­weis tipp­te sie mit ih­ren per­fekt ma­ni­kür­ten Nä­geln an ihr lee­res Glas.

He­len lä­chel­te matt. Der Ge­dan­ke, dass sie nicht allein sein muss­te, war tröst­lich. Ti­ta­nia ging an ih­ren Kof­fer­raum und nahm ih­re Not­fall­ta­sche her­aus, in der sie für un­vor­her­seh­ba­re Er­eig­nis­se Kos­me­tik und Klei­dung da­bei hat­te. Sie hak­te sich bei ih­rer Freun­din un­ter und schrit­ten lang­sam die be­leb­te Stra­ße ent­lang. Aus den Pubs drang lau­te Musik. Lau­te Stim­men, die wild durch­ein­an­der­re­de­ten und lach­ten, ver­mit­tel­ten ei­ne aus­ge­las­se­ne Stim­mung. Ob­wohl es erst ge­gen 19 Uhr war, um­gab sie ei­ne be­gin­nen­de Dun­kel­heit. Die Käl­te biss er­bar­mungs­los im Ge­sicht und sie be­schleu­nig­ten ih­re Schrit­te all­mäh­lich.

He­len fühl­te sich über­for­dert. Ei­ner­seits woll­te sie end­lich nach Hau­se. In die Um­ge­bung, in der sie sich ih­rem Bru­der na­he fühl­te. Zum an­dern hat­te sie Angst vor dem Un­be­kann­ten. Jos­hua war noch über­all in dem Haus prä­sent. Seit sei­nem Tod hat sie sich noch nicht in sein Ar­beits­zim­mer ge­traut. Allein wenn sie die Hand auf den Tür­knauf leg­te, über­fiel sie die Trau­er. Ob­wohl sie ihn kaum kann­te, war er für sie der Bru­der, den sie sich immer wünsch­te.

Am Haus an­ge­kom­men, zog He­len den Schlüs­sel aus ih­rer Man­tel­ta­sche. Ih­re Fin­ger fühl­ten sich so klamm an vor Käl­te, dass sie das Me­tall kaum spür­te. Mit ei­nem lei­sen Knar­ren gab die Ein­gangs­tür He­lens Druck nach und öff­ne­te sich. Wie in ei­nen dunk­len Schlund starr­te sie in den Ein­gangs­be­reich des Hau­ses, das aus hei­te­rem Himmel ihr Zu­hau­se war. Das Ge­fühl von End­gül­tig­keit über­kam sie schlag­ar­tig und sie be­kam kei­ne Luft mehr. Wie ein Fisch an Land schnapp­te sie nach Luft und hielt sich am Tür­rah­men fest. Ti­ta­nia leg­te von hin­ten wort­los ih­re Hand auf He­lens Schul­ter. Mit die­ser Ge­ste brach He­lens letz­ter Schutz­damm. Die Trä­nen lie­fen ihr un­kon­trol­liert über das Ge­sicht, aus ih­rem Mund stieß sie ei­nen nicht hör­ba­ren Schrei aus. Die Trau­er schlug mit vol­ler Wucht zu. Ti­ta­nia zog in­stink­tiv He­lens Arm um ih­ren ei­ge­nen Hals und half ihr da­bei, nicht auf den kal­ten Boden zu sin­ken.

»Ssschhhsch, ist schon in Ord­nung. Lass es ru­hig raus.« Sie half ih­rer trau­ern­den Freun­din in das Haus und stieß mit ei­nem Fuß die schwe­re Tür hin­ter sich zu. Un­ter gro­ßer Kraft­an­stren­gung zog sie He­len über den schma­len Flur in das Wohn­zim­mer und ließ sie und sich selbst auf die gro­ße dun­kel­brau­ne Leder­couch sin­ken. Dort sa­ßen sie bei­de in fast völ­li­ger Dun­kel­heit, die nur ab und an von den Schein­wer­fern der vor­bei fah­ren­den Autos un­ter­bro­chen wur­de. Ti­ta­nia konn­te in ih­rer Hil­flo­sig­keit nichts an­de­res ma­chen, als He­len wie bei ei­nem Kind über den Kopf zu strei­cheln und be­schwich­ti­gen­de Wor­te zu sa­gen.

Kapitel 2

Zerk­nirscht park­te Owen sein Auto vor dem Haus. Er sah schon Ma­rys Sil­hou­et­te durch das Kü­chen­fens­ter. Frös­telnd blieb er noch im Auto sit­zen. Es war nicht sei­ne Ab­sicht He­len so zu be­lei­di­gen. Wäh­rend der Fahrt nach Hau­se gin­gen ihm an­nä­hernd ein­tausend Ent­schul­di­gun­gen durch den Kopf, die er ihr ger­ne sa­gen wür­de. Sie sag­te, er quä­le sie. Das traf ihn, als hät­te ihm je­mand ei­nen Stein an den Kopf ge­wor­fen. Je­man­den zu quä­len war das Letz­te, was er woll­te. Aber er muss­te Er­geb­nis­se lie­fern. Sein Boss woll­te die­sen Fall end­lich zu den Ak­ten le­gen. Er krall­te sei­ne Fin­ger in das Lenk­rad und warf sei­nen Kopf nach hin­ten ge­gen die Kopf­stüt­ze. Die­ser Fall zerr­te an sei­nen Ner­ven. Owen tipp­te er­neut auf Wahl­wie­der­ho­lung und ging im Geis­te sei­ne Ent­schul­di­gung durch. Als ein wei­te­res Mal nur ih­re Mail­box sei­nen An­ruf ent­ge­gen­nahm, gab er es auf. Er stieg aus sei­nem kal­ten Auto aus und drück­te LOCK auf der Fern­be­die­nung. Ein hel­les und lau­tes PIEP-PIEP beim Ver­schlie­ßen des Wagens war of­fen­sicht­lich das Sig­nal für Ma­ry ihm ent­ge­gen­zu­stür­zen.

»Mein Traum­mann ist zu­hau­se!«, sie schlang ih­re Ar­me um Owens Hals und schmieg­te sich eng an ihn. Er schnapp­te nach Luft.

»Hat­test du ei­nen gu­ten Tag heu­te? Bist du hung­rig? Ich ha­be ei­nen Auf­lauf im Ofen, der nur auf dich war­tet. Steh‘ nicht so lan­ge hier drau­ßen rum, mein Lie­bling. Ich will nicht, dass du dir noch ei­ne Er­käl­tung ein­fängst.« Owen folg­te ihr wort­los in das Haus. Er fürch­te­te sich schon fast da­vor, nach Hau­se zu kom­men. Je­der Tag läuft so wie je­der an­de­re auch. Er kommt nach Hau­se, Ma­ry fällt ihm um den Hals und das Es­sen war­tet be­reits. Wie kann Es­sen auf je­man­den war­ten? Steht es be­lei­digt auf dem Tisch, wenn man zu spät kommt? Das Es­sen kann auf kei­nen Fall auf ihn war­ten, so weit war sich Owen si­cher. Ma­ry ist die­je­ni­ge, die sei­ner An­kunft ent­ge­gen­fie­bert. Hübsch zu­recht­ge­macht in ei­nem spie­ßi­gen Kleid sitzt sie je­den ver­damm­ten Abend mit ihm am Tisch und hängt an sei­nen Lip­pen.

Sie füll­te ihm ei­ne Scha­le mit Salat und ach­te­te pe­ni­bel da­rauf, dass er alles au­faß. Erst nach­dem er auch den letz­ten Fet­zen Grün­zeug ver­speist hat­te, gab es ei­ne Por­tion Auf­lauf. Das Des­sert be­stand an die­sem Abend aus Scho­ko­pud­ding mit Va­nil­le­so­ße. Er kratz­te mit dem Löf­fel die letz­ten Res­te sei­nes Pud­dings aus der Scha­le. Ma­ry be­gann be­reits das Ge­schirr ab­zu­räu­men. Mitt­ler­wei­le stör­te es ihn, dass sie nie zu­sam­men aßen. Sie mein­te, sie hät­te kei­nen Hun­ger und er als Mann bräuch­te die Ka­lo­rien. Wa­rum müs­sen Frau­en stän­dig Di­ät hal­ten?

»Wa­rum be­nutzt du denn nicht den Ge­schirr­spü­ler?«, frag­te er sie, nach­dem er sich müh­sam vom Tisch hoch­schraub­te.

»Ach Dar­ling«, sie gab ihm ei­nen na­he­zu mit­lei­di­gen Blick, »du weißt ge­nau, dass das Por­zel­lan nur von Hand rich­tig sau­ber wird. Wa­rum gehst du nicht schon mal ins Wohn­zim­mer? Ich kom­me nach, wenn ich fer­tig bin, und brin­ge dir dein Bier mit.«

Owen brumm­te zu­stim­mend und trab­te in den Wohn­be­reich. Die gro­ße hell­brau­ne Couch wirk­te ein­fach zu ein­la­dend. Er ließ sich fal­len und ver­spür­te auf An­hieb die ma­gne­ti­sche Wir­kung. Na­he­zu hy­pno­ti­sie­rend wur­den sei­ne Ar­me schwer, dann sei­ne Bei­ne und zu­letzt sein Kopf. Un­fä­hig zur Fern­be­die­nung zu grei­fen starr­te er an die De­cke. Als sei­ne Fa­mi­lie ihn da­mals ver­ließ, war er ein Wrack. Bis heu­te kann er nicht da­rüber spre­chen, was sei­ne Frau ihm vor zwei Jah­ren an­tat. Ma­ry war ih­re be­ste Freun­din und er er­trug das Allein­sein nicht. Eins führ­te zum An­de­ren und so kam es, dass sie be­reits drei Mona­te spä­ter bei ihm ein­zog. An­fangs ge­fiel es ihm, dass abends je­mand auf ihn war­te­te und sich je­mand so sehr um ihn sorg­te. Mitt­ler­wei­le war er ein­fach nur ge­nervt und fühl­te sich er­drückt von ih­rer Lie­be. He­len kam ihm wie­der in den Sinn. Er schäm­te sich immer noch für sein Be­neh­men.

»Schatz, wol­len wir nach­her ei­ne Run­de Scrab­ble spie­len?«, rief Ma­ry aus der Kü­che ih­rem Part­ner zu.

Ste­chen­de Kopf­schmer­zen setz­ten augen­bli­cklich bei Owen ein. Er muss­te schnell­stmög­lich her raus, sonst wür­de er wahn­sin­nig wer­den. Owen sah kurz auf sei­ne Arm­band­uhr am lin­ken Hand­ge­lenk. Der klei­ne Riss im Glas er­in­ner­te ihn an sei­nen Sohn, wie er als Klein­kind mit ei­nem Holz­ham­mer kräf­tig drauf schlug. Mit dem Fin­ger fuhr er über die­sen klei­nen Ma­kel, der in­zwi­schen ei­ne Er­in­ne­rung ge­wor­den ist. Es war erst 21 Uhr, das wür­de er schaf­fen. Wie von der Ta­ran­tel ge­sto­chen sprang er auf und ging schnel­len Schrit­tes in den Flur. In der Scha­le auf dem Schuh­schrank kram­te er nach sei­nem Auto­schlüs­sel und rief im Hin­aus­ge­hen Ma­ry zu: »Ich ha­be was im Büro ver­ges­sen. Das ist wich­tig. War­te nicht auf mich.«

Oh­ne ih­re Ant­wort ab­zu­war­ten, lief er zum Auto. So­bald das Auto ge­star­tet war, leg­te er schnell den Rück­wärts­gang ein und fuhr, oh­ne sich nur ein­mal um­zu­bli­cken, fort.

Kapitel 3

Mit ge­rö­te­ten Augen starr­te He­len in das Feu­er ih­res Ka­mins. Ti­ta­nia muss­te ihn an­ge­zün­det ha­ben, als sie sich leer ge­weint hat­te und in ei­nen traum­lo­sen Schlaf fiel. Sie spür­te die Wär­me des Feu­ers ihr ge­gen­über. Das Holz knack­te, wäh­rend sich die Feu­er­zun­gen gie­rig über das Brenn­ma­te­ri­al her­mach­ten. Ti­ta­nia stieß die Tür zum Wohn­zim­mer mit ei­nem Bein auf, in den Hän­den hielt sie ein Ta­blett.

»Ei­ne schö­ne Tas­se hei­ße Scho­ko­la­de wird dir gut­tun. Ich ha­be auch ex­tra Sah­ne für dich mit drauf ge­tan.« Bei Ti­ta­ni­as schel­mi­schem Grin­sen muss­te He­len mü­de lä­cheln. Sie rich­te­te sich müh­se­lig von der Couch auf. Erst jetzt be­merk­te sie, dass Sher­lock zu ih­ren Fü­ßen lag und die Nä­he ge­noss. Sei­ne gro­ßen bern­stein­far­be­nen Augen schau­ten sie vor­wurfs­voll an, als sie end­lich auf­recht saß. Be­lei­digt sprang er auf den Boden und such­te sich ei­nen Platz in der Nä­he des Ka­mins. Im Lich­te des Feu­ers konn­te man zig Schat­tie­run­gen sei­nes grau­en Fells er­ken­nen. Ver­träumt schau­te sie ihm zu, wie er sich sei­ne Pfo­ten putz­te. Erst als ih­re Freun­din die Tas­sen mit der Scho­ko­la­de auf den Tisch stell­te, wur­de sie aus ih­ren Ge­dan­ken ge­ris­sen.

Schwei­gend sa­ßen die Freun­din­nen ne­ben­ein­an­der und nipp­ten an ih­rem Ge­tränk.

»Sag mal, die Scho­ko­la­de schmeckt aber ganz schön streng. Was hast du denn da rein ge­macht?«

»Da­rüber darf ich nicht spre­chen. Das ist ein al­tes Fa­mi­lien­re­zept.«

»Raus mit der Spra­che, wie viel Pro­zent?«

»Du bist ein Spie­ßer. 40 %, da steckt schließ­lich ein or­dent­li­cher Schuss Cog­nac drin. Hei­ße Scho­ko­la­de mit Cog­nac, das macht warm und bringt dich auf an­de­re Ge­dan­ken. Zu­min­dest sagt das immer mein Vater.«

»Hat dein Vater auch ge­sagt, dass es eher Cog­nac mit ei­nem Schuss hei­ßer Scho­ko­la­de ist?«

»Er ist halt äu­ßerst groß­zü­gig, in allen Be­lan­gen.« Ti­ta­nia grins­te breit und nahm ei­nen wei­te­ren kräf­ti­gen Schluck aus der Tas­se.

He­len er­hob sich von der Couch. »Sor­ry, ich muss mal für klei­ne Stadt­füh­re­rin­nen.« Sie ging auf den Flur und hielt auf das Ba­de­zim­mer am En­de zu. Sie merk­te, wie der Cog­nac ihr all­mäh­lich Schwie­rig­kei­ten beim ko­or­di­nier­ten Ge­hen be­rei­te­te. Als sie die Tür hin­ter sich schloss wun­der­te sie sich, wie ih­re Freun­din so viel ver­tra­gen konn­te. Auf die­se Fra­ge hin, pfleg­te Ti­ta­nia ihr stets zu ant­wor­ten, dass sie ei­ne Art ge­ne­ti­sche Mu­ta­tion ha­be. Selbst wenn He­len stock­be­trun­ken im Pub mit wild­frem­den Män­nern tanz­te, such­te Ti­ta­nia nach Nach­schub und ki­cher­te höch­stens an­ge­hei­tert, wäh­rend sie wild mit je­man­den flir­te­te.

Als sie das Ba­de­zim­mer wie­der ver­ließ, sah sie, wie der Ka­ter auf sei­nem Kratz­baum im Flur sprin­gen woll­te. Je­doch peil­te er sein Ziel falsch an und sprang nicht weit ge­nug. Es wirk­te, als wür­de er ziel­los in die Luft sprin­gen, nur um dann un­be­hol­fen auf dem Boden auf­zu­kom­men. Er schüt­tel­te sich kurz nach die­sem miss­glück­ten Sprung und schau­te sei­nen Kratz­baum ver­dat­tert an. In sei­ner Welt muss die Schuld wohl am Kratz­baum lie­gen, dach­te sich He­len, wäh­rend sich Sher­lock be­lei­digt in die er­ste Eta­ge ver­zog. Jos­hua war der Mei­nung, die Mensch­heit wür­de den Kat­zen zu viel In­tel­li­genz un­ter­stel­len. In Wahr­heit wä­ren sie sei­ner An­sicht nach eher min­der­be­mittelt. Er konn­te es nicht aus­ste­hen, wenn der Bri­tisch-Kurz­haar-Ka­ter auf sei­nen Kla­mot­ten schlief, und alles mit Kat­zen­haaren hin­ter­ließ. Von dem Ka­ter und sei­ner Ab­nei­gung ge­gen Kat­zen er­zähl­te Jos­hua beim zwei­ten Tref­fen. Sie frag­te ihn, wa­rum er denn ei­nen Ka­ter be­sä­ße, wenn er ihn doch nicht moch­te. Ihr Bru­der hüll­te sich in Schwei­gen und sag­te erst auf ihr Drän­gen, dass er je­man­den ver­spro­chen hät­te, auf die­ses Tier auf­zu­pas­sen. He­len ge­fiel der Ge­dan­ke, dass ihr Bru­der ein Mann war, der sein Wort stets hielt. In die­sem Mo­ment fie­len ihr wie­der die Wor­te von Owen ein, die ihr Bru­der mut­maß­lich hin­ter­las­sen ha­ben soll­te. Su­che an dem Ort, den ich am meis­ten has­se, hall­te es in ih­rem Kopf. So weit sie wuss­te, hass­te er die­se Kat­ze und frü­hes Auf­ste­hen. Un­schlüs­sig, ob sie über sich selbst la­chen oder är­gern soll­te, stand sie im Flur. Sie ging im Kopf meh­re­re Sze­na­rien durch. Jos­hua, der sei­nen We­cker auf­schraubt, um da­rin et­was zu ver­ste­cken. Jos­hua, der et­was in der Kat­zen­toi­let­te ver­gräbt. Sie muss­te bei die­sen ab­sur­den Ge­dan­ken schmun­zeln.

»Okay Owen King, ich ge­be dir die­se ei­ne al­ber­ne Chan­ce«, sag­te sie laut zu sich und hielt auf den Kratz­baum zu, der un­ge­fähr zwei Me­ter von ihr ent­fernt stand. Es war ein rie­si­ges Teil mit Körb­chen und Höh­len, der lo­cker für fünf Kat­zen ge­reicht hät­te. Da nichts in den Körb­chen lag, ab­ge­se­hen von grau­en Kat­zen­haaren, fass­te sie in die er­ste Höh­le. So­fort konn­te ih­re Hand et­was Wei­ches er­tas­ten. Mit an­ge­hal­te­nem Atem zog sie es hin­aus. Sie konn­te kaum glau­ben, was sie da in den Hän­den hielt. End­lich fand sie ei­ne längst ver­lo­ren ge­glaub­te So­cke wie­der. Das muss­te sie un­be­dingt Ti­ta­nia er­zäh­len. Ge­dan­ken­ver­lo­ren griff sie in die zwei­te Höh­le und da war wie­der was. Wie­der konn­te sie et­was füh­len. Sie über­leg­te kurz, was ihr die­ser schel­mi­sche Ka­ter noch ge­stoh­len ha­ben könn­te. Vor­sich­tig zog sie die­sen har­ten und küh­len Ge­gen­stand hin­aus. Es sah aus wie ei­ne Kugel, ei­ne gold­ene, glän­zen­de Kugel. He­len schau­te über ih­re rech­te Schul­ter, um si­cher­zu­stel­len, dass sich Ti­ta­nia kei­nen schlech­ten Scherz er­laubt hat. Die­se gold­ene Kugel hat­te wie ei­ne Äqua­tor­li­nie ei­nen mil­li­me­ter­dün­nen Spalt. Zeichen, die sie nicht zu­ord­nen konn­te, waren schein­bar wahl­los ver­teilt auf die­sem Ge­gen­stand. He­len ver­mu­te­te, dass es sich um ei­nen an­ti­ken, aber wert­vol­len Ge­gen­stand han­deln muss­te. Sie trug die­se Kugel mit bei­den Hän­den in das Wohn­zim­mer, wo ih­re Freun­din war­te­te. Sie hielt es der­art vor­sich­tig, als trü­ge sie ei­ne emp­find­li­che Bom­be.

»Ti­ta­nia, schau mal. Du wirst nie glau­ben, wo ich die­ses Teil ge­fun­den ha­be.«

»Ach du hei­li­ge … wo hast du die her?«, frag­te ih­re Freun­din mit ge­wei­te­ten Augen.

»Das lag in Sher­locks Kratz­baum. Ich hab nur kurz nach­ge­se­hen, weil ich an Owen den­ken muss­te. Al­bern, ich weiß. Ich kann das his­to­risch noch nicht ein­mal ein­ord­nen. Guck, man kann so­gar da­ran dre­hen …« He­len dreh­te vor­sich­tig die bei­den Kugel­hälf­ten in ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung.

»He­len, nein! Das hal­te ich für kei­ne gu­te Idee!!« Ih­re Freun­din we­del­te mit den Ar­men.

Doch es war zu spät. Der schma­le Spalt der Kugel öff­ne­te sich und He­len ließ die Kugel vor Schreck zu Boden fal­len. Be­däch­tig kul­ler­te sie in Rich­tung Ka­min. He­len und Ti­ta­nia hiel­ten bei­de für ei­nen Mo­ment den Atem an, nicht wis­send, was kom­men könn­te. Das Feu­er ver­lieh der Kugel ei­nen wun­der­schö­nen Schein. Ge­ra­de als He­len sich aus ih­rer Star­re be­frei­en woll­te, war ein lei­ses Klin­gen zu hö­ren. Wie bei ei­ner Spiel­uhr ka­men nun gan­ze Tö­ne her­aus. Sie form­ten sich zu ei­ner Me­lo­die, die die Frau­en bis­lang noch nie ge­hört hat­ten. Sie war lang­sam und in ei­ner Ton­la­ge, die man als hoch, aber als an­ge­nehm be­zeich­nen konn­te. Die­se über­aus schö­ne und rhyth­mi­sche Musik wur­de immer lau­ter und drang immer weiter in das Un­ter­be­wusst­seins He­lens vor. Sie konn­te sich kaum mehr kon­zen­trie­ren. Fast wie hy­pno­ti­siert stand sie da, apat­hisch wie ei­ne Maus vor der Schlan­ge. Ih­re Freun­din Ti­ta­nia re­de­te auf sie ein, aber sie konn­te es nicht hö­ren. Zu laut und zu fes­selnd war die Musik. Immer lau­ter wie­der­hol­te sich die Me­lo­die und He­len konn­te bis auf die Kugel, ge­hüllt in ei­nen weiß-grau­en Schleier, nichts mehr er­ken­nen. Sie leuch­te­te immer hel­ler im Schein des Feu­ers und die Sym­bo­le strahl­ten hel­ler als alles, was sie bis­lang ge­se­hen hat. Ei­ne Art blau­es Licht kam aus dem Spalt her­vor, aus dem sich ei­ne Flam­me form­te. Die­se eis­blaue Flam­me schoss pfei­lar­tig auf He­len zu. Zün­gelnd wand sich das Licht um ihr rech­tes Hand­ge­lenk. Sie fühl­te sich über­wäl­tigt und be­merk­te nicht ein­mal den bren­nen­den Schmerz. Die Lauts­tär­ke stieg immer weiter an und ge­ra­de, als sie un­er­träg­lich wur­de, stopp­te die Musik ab­rupt in­mit­ten der Me­lo­die. Gleich­zei­tig sack­te He­len be­wusst­los zu Boden. Erst jetzt konn­te sich auch Ti­ta­nia wie­der be­we­gen. Sie rann­te zu ih­rer Freun­din und leg­te zwei Fin­ger an ih­ren Hals. Er­leich­tert schnaub­te sie durch die Na­se, als sie He­lens Puls füh­len konn­te. Sie stell­te sich hin­ter sie und griff mit bei­den Ar­men un­ter He­lens Ach­seln. Sie zog ih­re ohn­mäch­ti­ge Freun­din zwei Me­ter zur Couch und ver­such­te, sie da­rauf zu zie­hen. Keu­chend konn­te sie den Ober­körper da­rauf ab­le­gen. Sie merk­te, wie sie zu schwit­zen be­gann. Be­herzt pack­te sie erst das rech­te Bein und hiev­te es auf die Couch. Mit dem Lin­ken ver­fuhr sie ge­nau so. Ti­ta­nia bog nach ge­ta­ner Ar­beit den Rü­cken durch und ein Kna­cken ließ sie schmerz­lich da­ran er­in­nern, dass auch sie nicht jün­ger wur­de. Von dem ne­ben­ste­hen­den Oh­ren­ses­sel nahm sie ei­ne di­cke ka­rier­te Woll­de­cke und deck­te vor­sich­tig He­len da­mit zu. Sie leg­te noch zwei Schei­te Holz in dem Ka­min nach und nahm auf dem Ses­sel Platz. Ga­lant leg­te sie die Bei­ne aus­ge­streckt auf den vor ihr ste­hen­den Ho­cker und ver­such­te, sich zu ent­span­nen.

»Was hast du nur ge­tan, Lie­bes?«, frag­te sie, wohl­wis­send, dass sie kei­ne Ant­wort er­hielt. Ti­ta­nia schloss die Augen und fiel schnell in ei­nen un­ru­hi­gen Schlaf.

Kapitel 4

Als He­len die Augen öff­ne­te, sah sie die win­ter­li­che Son­ne in ih­rem Wohn­zim­mer. Das Ge­sche­he­ne von letz­ter Nacht woll­te ihr ein­fach nicht mehr ein­fal­len. Sie prüf­te kurz ih­re Um­ge­bung. Es schien be­reits das Tages­licht, das Feu­er war er­lo­schen und sie konn­te Ti­ta­ni­as Hand­ta­sche ne­ben dem Ses­sel er­ken­nen. Der Tee­kes­sel in der Kü­che pfiff in die­sem Mo­ment in ei­nem ho­hen Ton in der Kü­che. Sie hielt sich mit ih­rer rech­ten Hand ihr rech­tes Ohr zu, das Lin­ke war durch das Kis­sen, auf dem sie lag, ge­schützt. All­mäh­lich fiel es ihr wie­der ein: die Kugel, die Me­lo­die, das glei­ßen­de Licht. Lang­sam nahm sie die Hand vom Ohr und starr­te un­gläu­big auf ihr rech­tes Hand­ge­lenk. Was dort prang­te, war die Zeich­nung ei­nes Mis­tel­zwei­ges. Fili­gran und ge­rankt zog sich die Pflan­ze in schwar­zen Li­ni­en um das Ge­lenk. So­gar über ih­ren Puls­adern sah sie läng­li­chen, ge­zack­ten Blät­ter, die sich in Zwei­gen ver­äs­telt. Un­ter ei­ni­gen Blät­tern waren so­gar die klei­nen Bee­ren zu se­hen.

Schlag­ar­tig rich­te­te sie sich auf. »TI­TA­NIA, ir­gend­was stimmt hier nicht!« Has­tig be­feuch­te­te sie ih­ren lin­ken Dau­men an ih­rer Zun­ge und rieb hef­tig über den schwar­zen Mis­tel­zweig. »Ti­ta­nia McAl­lis­ter, komm´ so­fort her!« Wenn sie ih­re Be­wusst­lo­sig­keit aus­ge­nutzt ha­ben soll­te, um sich mit ei­nem Ed­ding-Stift die Lang­ewei­le zu ver­trei­ben, wä­re das alles an­de­re als lus­tig.

»Klopf, Klopf. Bist du schon wach?«, frag­te Ti­ta­nia zag­haft durch die an­ge­lehn­te Tür hin­durch.

»Ja, sonst wür­de ich wohl kaum nach dir ru­fen, oder?«, ent­geg­ne­te ihr He­len. »Wie­so re­dest du mit mir über­haupt durch die Tür? Hast du mir et­was zu sa­gen?«, frag­te He­len halb im Scherz und halb ernst.

»Al­so weißt du He­len, wenn du es schon an­sprichst: ja. Aber du darfst dich jetzt nicht auf­re­gen oder durch­dre­hen. Ver­sprich mir das.«, kam es zö­ger­lich von Ti­ta­nia von der an­de­ren Sei­te der Tür. »Ver­sprich es mir, hörst du?«, wie­der­hol­te sie.

He­len er­hob sich von der Couch und ging zur Tür, im Ge­hen ver­such­te sie immer noch ver­zwei­felt die Far­be von sich ab­zu­be­kom­men. »Ti­ta­nia, sei nicht al­bern. Wel­che Far­be hast du be­nutzt?« Sie zog die Tür zum Flur auf und blick­te kurz von ih­rem Hand­ge­lenk auf, nur um gleich wie­der ih­re Auf­merk­sam­keit auf die­se hart­nä­cki­ge Far­be zu rich­ten. Sie hielt kurz in­ne. Ir­gend­was war an­ders an ih­rer Freun­din. Ihr Blick mus­ter­te sie von un­ten nach oben. »Wie­so hast du spit­ze Oh­ren? Führst du in dei­ner Hand­ta­sche neu­er­dings Scherz­ar­ti­kel mit dir?«

Auf die Ant­wort war sie jetzt wirk­lich ge­spannt. Sie war ja schon so ei­ni­ges ge­wohnt von ihr, aber auf Scha­ber­nack hat­te sie we­nig Lust. Ti­ta­nia folg­te ihr ins Wohn­zim­mer.

»He­len, Dar­ling«, sie klang selt­sam an­ge­spannt, »die sind nicht künst­lich, die sind echt.« Sie schau­te ihr be­tre­ten in die Augen.

»Hör´ jetzt auf mit dem Un­sinn.« He­len mach­te ei­nen Schritt auf sie zu und zog an Ti­ta­ni­as lin­kem Ohr. »Nimm die­se ver­damm­ten Oh­ren end­lich ab. Dein Ver­hal­ten ist ein­fach nur kin­disch.«

Doch so sehr sie auch zog, sie woll­ten sich nicht lö­sen las­sen. »Au au au, He­len bit­te, du tust mir weh!« He­len er­starr­te vor Schreck und ihr Mund stand of­fen, ih­re Hand um­fass­te immer noch das Ohr. Ti­ta­nia sag­te mit sanf­ter, aber be­stimm­ter Stim­me: »Flipp. Jetzt. Bloß. Nicht. Aus.«

Vor­sich­tig griff sie nach He­lens Hand und lös­te sie von ih­rem ge­rö­te­tem Ohr. Ih­re Freun­din starr­te sie weiter­hin fas­sungs­los an, un­fä­hig, auch nur ein Wort her­aus zu brin­gen.

»Ich kann dir fast alles er­klä­ren. Tee?« Ei­ne Tas­se Tee be­ru­higt immer. Un­si­cher, was sie jetzt ma­chen soll­te, zog Ti­ta­nia ih­re Freun­din auf die Couch und saß ihr zu­ge­wandt zu He­lens Lin­ken. »Jetzt glotz mir nicht mehr auf die Oh­ren, das ist un­höf­lich!« Erst jetzt lös­te sich He­len aus ih­rer Star­re und die Wor­te ka­men zurück.

»Ent­schul­di­gung, das woll­te ich nicht. Bist du krank? Wo kom­men dir Oh­ren her? Oder bin ich noch be­wusst­los? Ja, das muss es ein. Ich bin noch be­wusst­los und träu­me.« Sie leg­te die Hand­flä­che ih­rer lin­ken Hand um ei­ne Tee­tas­se. Ein über­wäl­ti­gen­der Schmerz durch­fuhr ih­re Hand. »Ahh, ver­dammt, heiß­heiß­heiß.« He­len zog ruck­ar­tig ih­re Hand weg und pus­te­te küh­lend da­rauf.

»Jetzt lass den Blöd­sinn blei­ben. Du träumst nicht. Ich muss dir jetzt wohl die Wahr­heit sa­gen. Bist du be­reit?«

»Ha­be ich ei­ne Wahl?«

»Ich be­fürch­te nicht.« Ti­ta­nia nahm sich ein Kis­sen vor dem Bauch und kne­te­te es, als müss­te es drin­gend mas­siert wer­den.

»Al­so, wo fang ich denn am be­sten an? Oh Gott, so muss das sein, wenn man sei­ne Kin­der auf­klä­ren muss.«