Zwei mit Eins
Eine glückliche Familie – ja bitte, aber wie?
Anja Kannja
Anja Kannja
Korrektorat: Rosemarie Konrad, Graz
Umschlaggestaltung: Ernst A. Linschinger
1. Auflage
ISBN: 978-3-200-04952-9
Autorin: Anja Kannja
kannjaanja@gmail.com
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar. Rechte und Vertrieb Eva Sommersgutter. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.
Ein großer Teil der Schauplätze dieses Buches entspricht nicht realen Gegebenheiten. Auch sind sämtliche Personen und Handlungen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und keineswegs beabsichtigt.
Dieses Buch widme ich meiner Tochter.
Jenny, ich liebe dich!
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort
Die Kindheit
Irgendwann im Mai 1982
Gestohlene Kindheit
Ein neuer Anfang
Brücke der Einsamkeit
Die Jugend
Gefühltes Glück
Gelebtes Glück
Als Frau und Mutter
Licht meines Lebens
Sommer ohne Sonne
Angst vor der Wahrheit
Wer bist du
Vertrauensvorschuss
Zeig mir dein Gesicht
Herz als Kompass
Alleinerziehend
Ein Jahr voller Erkenntnisse
Was war nun der Weg
Und wenn es auch weh tut
Freunde sind wichtig
Endlich wieder Perspektiven
Neues Leben
Alles, um dir geschenkt zu werden
Finale
Über Männer und andere Schwierigkeiten
Zwei Opfer – kein Täter
Was, wenn du einfach nicht mehr kannst
Und was auch immer
Zwei mit Eins?
Zwei mit Eins!
Kennen Sie das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden? Wenn die Sprösslinge aus dem Haus sind? Und Sie sitzen da und suhlen sich in Selbstmitleid – weil Sie jetzt ganz allein sind, weil Sie nichts zu tun haben, weil Sie sich sicher sind, dass dies die Vorstufe zum Altsein ist. Was soll man mit sich selbst anfangen? Alles, wofür man sich abgerackert hat, was dem Leben Sinn gegeben hat, ist mit einem Schlag weg. Also, was nun mit meinen vierundvierzig Jahren? Dieses Gefühl hatte ich vor etlichen Monaten, und es kam ohne Vorwarnung. Einfach so, als mir nämlich klar wurde, dass meine Tochter nun wirklich bald ausziehen würde, was sie wohl schon öfter gesagt, gottlob aber nie wirklich gemacht hatte. Es war dieser Satz, den sie allabendlich Beim-aus-dem-Haus-Gehen in einem leicht genervten Tonfall zu mir sagte, wenn ich sie liebevoll anlächelte. Dieses „Ja, Mama, ich bin warm angezogen, und nein, Mama, ich hab keinen Hunger“, das es mir unmissverständlich vor Augen führte. Lass das Gluckenhafte, du gehst ihr auf die Nerven!
Plötzlich sah ich dann auch diese Falten in meinem Gesicht, stellte mich vor den Spiegel, mit diesem kritischen Blick. Oh mein Gott, dachte ich im ersten Moment, da geht wohl nicht mehr viel! In Joe Cockers Sex Bomb kann ich eindeutig nur mehr eine Statistenrolle übernehmen! Warum das alles? Hatte ich doch noch nie MarilynMonroe-Maße von 90/60/90 gehabt. Was sollte das bringen, einen Heulkrampf oder was? Und da das Leben bekanntlich kein Erbarmen kennt, stellte ich, als ich mir meine Fingernägel manikürte, auch noch fest, dass ich den Rand meines Nagels unscharf sah. Wochenlang veranstaltete ich geheime Sehtests. Die alle das Gleiche ergaben. Ich brauchte eine Brille!
Natürlich ist das alles nur der Beginn. Diese Erfahrung macht angeblich jeder. Das habe ich einmal gelesen. Gehört zu den sogenannten Entwicklungsphasen eines Menschen. Oder nennt sich das Krise? Hat man ja jetzt zum ersten Mal Zeit, um überhaupt auf so einen Blödsinn zu kommen, um über vieles nachzudenken, um alles infrage zu stellen. Und es wollte so sein, dass ich im Radio ein Interview mit einem sehr prominenten Menschen hörte, der gefragt wurde, was denn seine letzten Worte sein sollten. Seine Antwort lautete: „Schön war’s!“ Was in mir sofort dieselbe Frage aufwarf. Natürlich kam ich zu dem Fazit: Ja, es war schön, bis jetzt! Und jetzt folgt ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Es gilt, neue Prioritäten zu setzen, bin ich ja nun keine Mami mehr, die täglich gebraucht wird.
Welch wunderbare Fügung, dass sich zu diesem Gedanken noch ein zweiter gesellte, der da lautete: „Mädel, du hast jetzt Zeit! Zeit, um all das zu tun, was du schon immer mal machen wolltest! Welch ein Glück!“ Und ich überlegte, was ich denn, da mir nun sozusagen alle Türen offen standen, mich in jeder nur erdenklichen Form selbstverwirklichen zu können, mit dieser gewonnenen Erkenntnis anfangen sollte?
Als Erstes musste ich dieses „In-den-Spiegel-Schauen“ weglassen, denn das hatte ich ja noch nie gemacht! Dann fiel mir mein lang gehegter Herzenswunsch ein, den ich nie verwirklichen konnte, weil er enorm zeitintensiv ist. Immer schon wollte ich alles, was ich so erlebt habe, niederschreiben! Ich packte also die Gelegenheit beim Schopf, öffnete eine Datei auf meinem Computer, auf der schon seit fünfzehn Jahren meine Tagebucheintragungen abgespeichert sind, um sie gleich wieder zu schließen. Denn was da stand, das wollte ich eigentlich nicht lesen. Waren es doch Eintragungen aus einer Zeit, in der es mir nicht so gut ging wie heute. Aber es ließ mir keine Ruhe mehr. Und so setzte ich mich hin und begann zu schreiben.
Jetzt, wo mein Text fertig vor mir liegt, bin ich froh darüber! Wirklich froh, meinen Herzenswunsch erfüllt zu wissen. Dieses Buch soll nicht dazu dienen, die Welt zu retten. Aber es ist eine Geschichte, die ich erzählen möchte, weil ich glaube, dass sie auch für andere interessant und hilfreich sein kann! Auf jeden Fall aber verlangt dieser Abschnitt meines Lebens nach Aufmerksamkeit. Denn ich hab mir mal fest vorgenommen, die Welt all mein Erlebtes wissen zu lassen, ganz einfach um anderen damit zu helfen. Und was ich mir einmal vornehme, das mache ich auch! Ob es wirklich interessant ist, das können nur andere Menschen beurteilen, aber ich für mich weiß, dass es wohl an der Zeit ist, mir einen Verlag zu suchen.
Es war eine unglaublich spannende Sache für mich und auf jeden Fall wertvoll für meine Tochter, denn die hat nun schon mehrere Monate Ruhe vor mir! Was ja so gesehen auch Sinn und Zweck der ganzen Übung war! Im Übrigen ist mir so nebenbei, zum Trost für alle anderen in meiner Altersgruppe, auch noch bewusst geworden, dass man mit vierundvierzig noch kein Tattergreis ist, der alles hinter sich hat. Gibt es doch jede Menge zu erledigen! Zum Beispiel mal die Pubertät verdauen und sich Gutes tun!
Ich hab also mit der Arbeit an diesem Buch zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen! Zum einen geht’s mir jetzt blendend, und zum anderen habe ich erkannt, dass ich auf dem letzten Foto, das meine Tochter und ich gemacht haben, gar nicht so schlecht aussehe für mein Alter. Na ja, ich würde mal sagen: „Genial, finden Sie nicht?“
Und nur für den Fall, dass dieses Buch tatsächlich seinen Weg geht, was ich mir jetzt und hier wünsche, will ich nicht verabsäumen, mich dafür zu bedanken, dass Sie es gekauft haben und auch tatsächlich lesen wollen. Möge es Ihnen gefallen! Ich zitiere meinen Bruder: „Dann habe ich gewonnen!“
P. S.: Hab jetzt auch eine wunderschöne rote Brille!
Meine Geschichte beginnt, wie so viele Geschichten beginnen: mit den Worten Liebe und Glaube. Es ist eine Geschichte, die sich leider viel zu oft wiederholt auf dieser Welt. Eine Geschichte, die das Ende eines viele Jahre andauernden Leids erzählt. Ihre Hauptdarsteller sind ein Mann Mitte dreißig, dunkles Haar, kleines Bäuchlein, überdurchschnittlich intelligent, ausgesprochen attraktiv, charmant und humorvoll, und eine hübsche junge Frau, gescheit, charismatisch, voll Energie, Charme und Zuversicht. An der Hand hält sie einen kleinen Jungen, fünf Jahre alt. Bildhübsch, aufgeweckt und spitzbübisch. In der Tragetasche ein Baby, sechs Wochen alt, blondes, schütteres Haar, einfach süß!
Voller Erwartungen gehen die beiden am 16. Juli 1969 eine Landstraße entlang, die sie zu dem Vater des jungen Mannes führen wird. Sie lieben sich, diese zwei Menschen, haben einander ewige Treue geschworen. Wollen immer füreinander da sein und jedes Hindernis überwinden. Sie haben eine weite Reise hinter sich, haben eine Grenze überschritten, in ein vielversprechendes Land. Für das es sich lohnt, alles zurückzulassen, was sie haben, um ein neues, gutes Leben zu beginnen. Sie gehen dahin, voller Zuversicht und Hoffnung, nicht ahnend, dass er sich nicht erfüllen wird, ihr Traum vom großen Glück! Sie werden scheitern – an den schwierigen Umständen, die ein fremdes Land mit sich bringt, an den Eltern, die sie nicht richtig unterstützen werden, an der Härte des Lebens, das ihnen in Wahrheit keinen Fehler verzeiht, sondern ihnen jeden einzelnen gnadenlos vor Augen führt. Mit den besten Absichten gehen sie in ein Leben, das es nicht wert ist, auch nur einen Meter dafür zu gehen. Aber das wissen sie nicht, und so sehen sie lachend in eine Zukunft, die geprägt sein wird von Betrug, Verrat, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Armut und zu guter Letzt vom Zerfall einer Familie, die aus ganz besonderen Persönlichkeiten besteht. Menschen mit Charisma, Intelligenz und Mut! Ehrliche Menschen mit dem Herz am richtigen Fleck, die es sich verdient hätten, glücklich zu sein, aber an ihren eigenen Unzulänglichkeiten scheitern werden, weil sie sich nicht die Zeit nehmen werden, über ihre Ängste, Schwächen, Bedenken, Nöte und Wünsche zu reden!
Liebes Tagebuch!
Ich sitze auf einer Schaukel in einem verwahrlosten Hof. Mein Blick ist auf den Sportplatz gerichtet, und ich höre die Schreie und das Lachen der vielen Kinder und Jugendlichen, die dort Fußball spielen. Eigentlich sollte ich mitmachen, Spaß haben, laufen, doch es ist mir so gar nicht danach. Diese Kinder, sie sind nicht meine Welt. Überhaupt ist nichts in meinem Leben so, wie ich es gerne hätte. Ich werde bald dreizehn, bin viel zu dick, habe keine Freunde, und mein Bruder, den ich über alles liebe, wohnt bei seiner Freundin. Er ist ausgezogen, vielmehr nicht mitgezogen mit meiner Mutter, meinem Vater und mir in diesen Albtraum von einer Baracke, in der wir jetzt leben. Eine Einzimmerwohnung in einem völlig verfallenen ebenerdigen Haus aus der Nachkriegszeit. Kein Fließwasser, nur ein Brunnen im Hof, ein Klo am Gang, das wir uns mit Menschen, die ich nicht kenne und vor denen es mir graut, teilen! Ein Plumpsklo, vor dem mir ekelt, wenn ich nur daran denke, es benützen zu müssen. Und dann ist da diese Waschküche. Eine alte, verfallene Scheune, in der sich ein Kessel und eine Badewanne befinden. Das ist mein Bad, und ich benütze es gemeinsam mit all den anderen, die mir so zuwider sind, dass ich es keinem Menschen sagen kann. Dabei bade ich so gern! Wenn ich mir vorstelle, dass die Frau, die uns gegenüberwohnt, in der gleichen Wanne sitzt wie ich, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie ist so fett, dass sie bei jedem Schritt keucht. Schütteres, langes, schwarzes Haar, das ihr schlampig ins Gesicht hängt. Ihre Fingernägel schwarz vor Dreck, und sie riecht nach Alkohol und Schweiß. Sie trägt immer ein Strandkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, schwarze Gummischlapfen, die Fersen völlig verhornt, mit dicken Rissen. Ich gehe ihr aus dem Weg.
Eigentlich bin ich einmal ein freundliches Mädchen gewesen, habe immer gegrüßt und jeden angelacht. Doch ich kann nicht mehr grüßen und lachen schon gar nicht. Ich empfinde nur Angst, wenn ich in die zahnlosen Gesichter blicke, die den ganzen Tag im Hof sitzen, bei einem Doppler Wein, sich lallend anschreien und den Tag verstreichen lassen, ohne auch nur die geringste Aufgabe zu haben. Sie arbeiten nicht, diese Menschen. Wo doch jeder arbeiten geht! Unsere Baracke ist umringt von wunderschönen Wohnanlagen, alle mit Balkonen, mit Blumen, die in bunten Farben zu mir her lachen. Wie gern würde ich in der einen Wohnung dort im zweiten Stock wohnen! Bestimmt ist sie wunderschön, mit einem hellen Wohnzimmer und einem schönen Bad. Wenn ich dort wohnen könnte, das wäre schön! Nicht so wie in diesem Ghetto, in dem ich jetzt lebe. Es ist wie ein böser Albtraum, ich schäme mich dafür. Wenn ich in die Schule gehe, mache ich immer schnell, um bis zur Hauptstraße zu kommen, denn dort weiß niemand mehr, wo ich herkomme. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft grüßt mich keiner mehr, denn ich bin das Kind aus der Baracke. Da vorne aber danken mir die Leute, wenn ich sie grüße. Weil sie es nicht wissen …
Ich vermisse meine beste Freundin Doris, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Ihre Eltern fanden den Umgang mit mir nicht mehr so gut und meinten, wir sollten uns mal eine Zeitlang nicht treffen. Ich kann es gut verstehen, weil nicht mal ich das alles hier gut finde. Und ich wünschte, ich könnte davonlaufen, weit weg von diesem Leben, das nur Armut, Verachtung und Alkohol kennt!
Gestern Nachmittag hat mir ein Bursche aus der Nachbarsiedlung Drogen angeboten. Natürlich hab ich sie nicht genommen, weil man so etwas nicht nimmt. Aber wie kommt der überhaupt auf die Idee? Ich bin kein Mädchen, das Drogen nimmt! Was soll ich hier eigentlich?
Ich habe ein Problem: Mein Vater besäuft sich täglich – von morgens bis abends. Und meine Mutter beschimpft ihn den ganzen Tag lang. Warum sie das tut, weiß eigentlich niemand, denn er kriegt doch eh nichts mehr mit.
Er war einmal ein sehr kluger Mensch, der in der Entwicklung von Maschinen tätig war. Ein lieber Vater, den ich sehr gern hatte, aber Mama und er stritten ununterbrochen miteinander, und irgendwann war ihm sein Wein dann lieber als wir. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wann wir das letzte Mal miteinander gesungen haben. Mein Vater spielte immer mit meinem Bruder Gitarre, und Mama und ich sangen dazu. Damals, als alles noch so halbwegs in Ordnung war. Zumindest hatten wir ein schönes Zuhause und genug zu essen.
Ich hatte auch viele Freunde und einen Hund namens Gigi. Einen schwarz-weißen wunderschönen Spaniel. Ich bekam Gigi zum Geburtstag geschenkt. Wir fuhren zu diesem Bauernhof, wo sie mit ihren Geschwistern im Innenhof herumtollte. Als ich sie sah, war für mich alles klar: Das ist mein Hund!
Wir waren echte Freunde, Gigi und ich. Ich war viel mit ihr unterwegs und lehrte sie lustige Dinge. Sie war mein Ein und Alles.Mein Vater hat sie für eine Flasche Wein verkauft, als wir delogiert wurden. Seit diesem Tag hasse ich meine Eltern. Ich hasse sie dafür, dass sie nichts auf die Reihe bringen. Ich hasse sie, weil mein Bruder nicht mehr bei mir ist, und ich hasse sie, weil wir so leben, wie wir leben, und weil mich kein Mensch grüßt und ich zum Abschaum dieser Stadt gehöre, obwohl ich nichts getan habe!
Auf der anderen Seite: Ich mag meine Eltern, ja, das tue ich, und ich helfe ihnen auch, so gut ich halt kann. Ich mache sauber, gehe einkaufen, mache die Aufgabe, bin artig, aber sie sehen das gar nicht. Sie sind so mit sich selbst beschäftigt, denen würde es gar nicht auffallen, wenn es mich nicht gäbe.
Oma hat mir das letzte Mal, als sie uns besucht hat, gesagt, dass ich jederzeit anrufen könne, wenn ich was brauche. Sie habe mit Opa gesprochen und ich könne bei ihnen wohnen. Ich bräuchte es nur zu sagen, dann würden sie mich zu sich holen. Ich bekäme das Zimmer der Urgroßeltern und dürfte mir die Möbel aussuchen. Ein eigenes Zimmer mit Balkon! Denn mit zwölf dürfe man entscheiden, wo man wohnen möchte. So heißt es im Gesetz. Sie sei beim Jugendamt gewesen und habe sich erkundigt. Und ich werde doch bald dreizehn. Und eins weiß ich genau: Hier möchte ich nicht bleiben! Ich habe immer einen Schilling für die Telefonzelle eingesteckt. Wenn Papa wieder durchdreht, dann ruf ich an. Er sieht weiße Mäuse. Vorgestern hat er mit dem Radiowecker nach mir geworfen, weil er dachte, auf mir sitzt eine. Ich hatte solche Angst!
Heute am Abend kommt mein Bruder wieder. Er kommt mich ab und zu besuchen, um zu schauen, wie es mir geht. Das letzte Mal hat er gesagt, dass er mich vielleicht zu sich holt. Aber ich kann meine Eltern nicht allein lassen. Die brauchen mich ja! Trotzdem: Ich mag nicht mehr hier sein, und ich freu mich schon auf ihn. Er ist mein Beschützer, mein großer Bruder eben. Vielleicht bringt er mir wieder Schokolade mit, so wie das letzte Mal. Er hat ganz leise ans Fenster geklopft, und ich bin zu ihm hinausgeschlichen. Ich hab mich so gefreut, dass er da war. Er hat nicht auf mich vergessen! Warum muss alles so sein?
Warum können wir nicht leben wie die „Waltons“? Die schaffen immer alles. So werde ich einmal leben! Eine kleine Farm, fünf Kinder, einen lieben Mann, mit dem ich mich gut verstehe, und alle sind glücklich. Genauso werde ich einmal leben, das weiß ich. Das schwöre ich hier und heute! Ich werde es besser machen als meine Eltern. Ich werde immer genug zu essen haben, arbeiten gehen und nie mit meinem Mann streiten! Ganz bestimmt nicht!
Was, wenn ich von hier weggehe? Dann brauchen meine Eltern sich nicht mehr um mich zu kümmern. Vielleicht schafft es Mama dann, Arbeit zu finden. Dann muss sie mich auch nicht mit dem Moped zur Schule führen. Sie hat keine Strümpfe, und es ist immer so kalt in der Früh. Na ja. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich zu Oma gehe. Dann kann sich Mama von Papa scheiden lassen und woanders hinziehen. Sicher bekommt sie ohne mich schneller eine Wohnung mit Bad und Klo!
Und wenn ich wirklich gehe? Wie soll ich das anstellen? Ich schreibe einen Abschiedsbrief und gehe am Samstag nicht zur Schule, sondern zur Oma. Es ist nicht weit. Aber das gäbe sicher Ärger! Nicht in die Schule gehen, geht gar nicht! Aber wenn Oma mich bei der Lehrerin entschuldigen würde, dann wäre die sicher nicht lange böse auf mich. Die Frau Lechner versteht das bestimmt. Die mag mich. Die legt sicher ein gutes Wort für mich bei meinem Klassenvorstand ein …
Dieser Tag im Mai, an dem ich auf der Schaukel saß, die spielenden Kinder beobachtete und so unendlich traurig war, war zweifelsohne einer der wichtigsten Tage in meinem Leben. Denn an diesem Tag sollte ich eine Entscheidung treffen. Die einzig richtige. Und es war mir im zarten Alter von dreizehn so klar wie heute mit vierundvierzig, dass sich wohl alles ändern würde.
An diesem Abend schrieb ich den Abschiedsbrief, nachdem ich mit meiner Mutter wieder einmal die Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, sich doch von meinem Vater scheiden zu lassen. Aber wie schon so oft zuvor verwies sie auf bessere Zeiten, die kommen würden, und meinte, meinen Vater gerade jetzt nicht im Stich lassen zu können. Aber sie würde es tun, irgendwann einmal, ganz bestimmt. Dann würden wir unsere Ruhe haben. Ich schrieb also, dass ich mich entschieden hätte, zu meinen Großeltern zu ziehen. Damit sie es leichter hätte, ihr Leben zu ordnen, Arbeit zu finden, sich von meinem Vater zu trennen. Dass ich ihr alles Gute wünschte und ein braves Kind sein würde.
Ich nahm ihr unseren Streit an diesem Abend so übel, weil ich es einfach nicht verstehen konnte, dass ich ihr nicht mehr wert war als die ständigen Ausflüchte. Ich weiß noch, dass ich mir dachte, dass ich alles tun würde, um meinen Kindern ein ruhiges Leben zu bieten. Auf gar keinen Fall würde ich bei einem Menschen bleiben, der nur Versprechungen machte und keine einzige hielt. Dreizehn Jahre lang. Bei einem Menschen, dem eine Flasche Wein lieber war als seine Familie!
Lang lag ich in dieser Nacht noch wach, geplagt von meinem schlechten Gewissen. Es war nicht in Ordnung, dass ich meine Eltern im Stich lassen wollte. Aber es sollte ja nicht für ewig sein. Es war einfach unerträglich für mich, mit all diesen angsteinflößenden Menschen Tür an Tür zu wohnen. Und es war auch nicht mehr zu leugnen, dass wir es als Familie in der Form nicht mehr schaffen konnten. In den Augen meiner Mutter sah ich nur mehr Verzweiflung, Hilflosigkeit. Sie hatte sich selbst aufgegeben. Sie kam aus gutem Hause. Ihre Eltern waren wichtige Mitglieder der Gesellschaft, wohlhabend und einflussreich. Bildung hatte einen hohen Stellenwert in der Familie. Sie sprach mehrere Sprachen, nur die ihres neuen Landes nicht, und so fand sie keinen Anschluss, und ihr großes Potenzial blieb ungenützt. Niemals hätte Mutter ihren Eltern die ganze Wahrheit über ihr trauriges Leben erzählt, geschweige denn um Hilfe gebeten, aus Scham und falschem Stolz. War sie doch mit meinem Vater in dieses fremde Land gegangen, das um so vieles besser war als ihr Heimatland – um es zu schaffen. Mit den besten Absichten, sich hinaufzuarbeiten, um im gleichen Wohlstand wie ihre Eltern zu leben. In einem Land, das ihnen alle Möglichkeiten bot, um ihren Traum zu verwirklichen.
Mutter hatte die Rechnung ohne Vater gemacht, der alles anders sah. Er war ein Mensch, dem es an Selbstdisziplin mangelte. Wohl war er anfangs guter Dinge, durchaus gewillt, sein Bestes zu geben, aber er konnte das, was er sich vornahm, nie verwirklichen. Zu groß war die Verführung, dem lockeren Leben zu unterliegen. Sorglos und fahrlässig frönte er all den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hatte. Aber es war ein Drahtseilakt ohne Sicherungsseil. Er war davon überzeugt, dass seine Intelligenz ausreichte, um das lose Treiben, das er bei seiner Arbeit und in der Freizeit an den Tag legte, zu kaschieren. Langsam, aber sicher wurde er zum Alkoholiker. Trotz vieler Verwarnungen trank er am Arbeitsplatz und posaunte immer wieder hinaus, dass seine Firma ohne sein Hirn nicht überleben könnte. Wer sonst als er sollte die Maschinen entwickeln, die nach seinen Plänen gebaut wurden!
Als ihm seine Überheblichkeit und Dummheit, die nur auf der Annahme basierte, dass wohl seine Eltern, die ebenfalls sehr angesehene Mitarbeiter dieser Firma waren, ohnedies alles richten würden, den Absturz bescherten, riss er uns mit in die Tiefe. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war. Wie tief Menschen sinken können und vor allem wie schnell! Als ihm die bittere Realität die Augen öffnete, ihm zeigte, dass auch Arbeitgeber nicht unbegrenzt mit sich spielen lassen, verfiel er in einen Zustand der Starre. Noch mehr als vorher ertränkte er sein mahnendes Gewissen in Schnaps und Wein, nun aber nicht mehr in lustiger Gesellschaft, sondern als Abhängiger, einsam, allein, zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich meine Eltern noch leicht aus der Schlinge, die sich um ihren Hals gelegt hatte, befreien können. Aber es fehlte ihnen die Kraft. Der Mut, sich die Fehler einzugestehen und gemeinsam einen neuen, besseren Weg zu suchen.
Für mich war die Lösung all dieser Probleme einfach und klar: aufhören zu trinken, aufhören zu streiten, arbeiten gehen, sparen und gut leben. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass die beiden das nicht sahen, wo ich es doch so genau wusste. Und ich war ein Kind. Sie dagegen waren erwachsen!
Unverzüglich mussten wir damals die Firmenwohnung räumen, und das zog meinen Eltern den Boden unter den Füßen weg. Es war wie eine Lawine, die sie unter sich begrub und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Im Nichts gelandet, verbrachten mein Bruder und ich die erste Woche bei meinen Großeltern, bis meine Eltern eine Bleibe für uns vier gefunden hatten. Aber ohne Geld lässt sich nun mal nichts Ordentliches auftreiben, und so mieteten sie sich im Sommerhaus eines höchst dubiosen Ehepaars ein. Zahlten eine horrende Miete, die im Gegenzug nichts zu bieten hatte, denn das Haus hatte keine Heizung. Nur vorübergehend sollte es sein. Eine Notlösung eben. Rasch wollten sie sich wieder Arbeit suchen – und ein schönes Zuhause! Aber der Winter zog ins Land, und es war der kälteste seit Jahren mit Temperaturen bis zu minus dreißig Grad. Die Eiskristalle glitzerten auf den Wänden. Wir schliefen in Schianzügen. Baden oder Duschen war nicht möglich. Wir wuschen uns in der Küche, aber auch nur so lange, bis die Wasserleitung eingefroren war. Dann musste das Wasser in Kübeln herangeschafft werden, für das der Vermieter auch noch extra verlangte. Das Geld reichte nicht aus. Nudeln, ein bisschen aufgepeppt, waren schon ein Festtagsmenü. Dabei war meine Mutter eine gute Köchin, aber was ließ sich aus nichts schon zaubern? Die Not brachte meine Eltern zum Schweigen. Hatten sie sich zuvor um alles Mögliche gestritten und geschlagen, so schwiegen sie sich nun an. Was blieb, war der unausgesprochene Vorwurf: Du bist an allem schuld!
Ich war damals zehn Jahre alt. Es machte mir nichts aus, zu hungern, nein, ich wäre sogar arbeiten gegangen, wenn ich es gekonnt hätte. Ich war meinen Eltern nicht böse. Auch dann nicht, wenn sie sich das Leben zur Hölle machten. Weil ich dachte, es läge wohl auch an mir.
In der Schule war ich nie gut gewesen. Sie war für mich einfach nicht wichtig, die Schule. Nur ein Ort, an dem man sich ausschlief und Zeit verbrachte, weil es eben so sein musste. Ja, ich bemühte mich zu lernen, aber ich konnte mir einfach nichts merken. Zu sehr war ich von Beginn an mit meinen Eltern beschäftigt: Was wohl wieder sein wird, wenn ich nach der Schule nach Hause komme? Worum sie sich wohl heute Nacht wieder streiten werden? Ich hatte Angst! Und die Schule war für mich eine Qual. Meine Eltern stritten sich deswegen, weil für meine Mutter Bildung so wichtig war.
„Sie kann ja nicht lernen, weil in diesem Haus keine Ruhe ist!“, schrie sie.
Wie die Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt, drehte sich dieser Kreisel aus Vorwürfen, Erniedrigungen und Hass. Trieb meine Eltern dazu, neue Gründe für einen neuen Streit zu suchen – und zu finden.
Mein Bruder dagegen war ein guter Schüler. Er hatte einen ruhigen Start gehabt, war er doch um fünf Jahre älter als ich, und zu seiner Einschulungszeit hatte es zwischen meinen Eltern noch keine so heftigen Reibereien gegeben. Von diesem Grundstock konnte er zehren. Wohl fiel es ihm genauso schwer, mit den Eskapaden meiner Eltern zurechtzukommen, die ein stetiges Auf und Ab von Versöhnung und Streit bedeuteten, doch es gelang ihm besser als mir. Er genoss die Gunst meiner Mutter: weil er doch ein so guter Schüler und Musiker war. Während ich kläglich an den Klavierstunden scheiterte, entpuppte er sich als ein Genie. Er spielte auf seinem Bass und auf allem Möglichen, sein Talent war schier unerschöpflich. Ja, er war ein Genie, und ich liebte es, ihm zuzuhören. Aber manchmal beneidete ich ihn auch um die Aufmerksamkeit, obwohl ich spürte, dass das von mir nicht richtig war. Gönn ihm doch das Lob, er hat es sich ja verdient, dachte ich dann. Er übte und übte und bekam von allen Anerkennung. Nur von dem, der ihm wichtig war, von meinem Vater, bekam er sie nicht.
Unser Familienlager splittete sich in zwei Hälften. Da war ich. Die Kleine, die dem Druck nicht standhielt und offensichtlich daran scheiterte. Ich wurde zu Papas Liebling, der mich stets verteidigte, sah ich ja aus wie er, lachte wie er und überhaupt – ganz der Vater!
„Die Lehrer sind unfähig!“, brüllte er meine Mutter an. „Geh in die Schule, sprich mit ihnen, sie ist nicht dumm.“ Und meine Mutter begann, die Lehrer zu beschimpfen, was mir endgültig den Strick drehte. Meinen Bruder dagegen beachtete Vater kaum, da der sich zu unserer Mutter hingezogen fühlte. Verständlich, benützte sie ihn doch auch als ihren Beschützer und um ihn gegen den Vater auszuspielen.
Wir waren also eine in sich zerrissene Familie, und doch waren mein Bruder und ich in Zeiten der Not immer füreinander da. Nachts, wenn wir nicht schlafen konnten, flüsterte er: „Fürchtest du dich?“
„Ja“, entgegnete ich verstört.
„Versteck dich unter der Decke, das hilft!“
Und ich zog mir die Decke über den Kopf. Und tatsächlich – es wirkte. Ich hatte das Gefühl, ich wäre in einer Art Höhle, die mir Schutz bot.
Wenn ihm meine Mutter Schokolade kaufte, teilte er sie mit mir, denn ich ging immer leer aus. Ich fiel ihm auf die Nerven, wie es halt so ist bei Geschwistern, die fünf Jahre auseinander sind, aber er brachte es nicht fertig, sich abzugrenzen, denn in Wahrheit waren wir allein und hatten nur uns. Er zeigte mir, wie ich mich beruhigen konnte, wenn mich die Angst des Nachts frieren ließ. Er drehte sich im Liegen hin und her. Unablässig. Das beruhigte ihn und wiegte ihn in den Schlaf. Ich dagegen kniete mich im Bett hin, presste die Stirn auf die Matratze, schaukelte vor und zurück. Unsere Betten quietschten im Duett, was unseren Eltern mehr als deutlich zu verstehen gab, dass wir unter ihren Streitereien litten. Aber es war nur ein neuer Grund, um aufeinander loszugehen, wie die Hähne im Ring. Mein Bruder und ich bemühten uns auszugleichen, was so schief stand, aber natürlich konnte uns das nicht gelingen.
Ich war oft krank. Das Problem waren meine Ohren, sie wollten wohl den Streit nicht mehr hören. Die meiste Zeit des Jahres litt ich an Mittelohrentzündungen und konnte natürlich nicht in die Schule gehen. Ja, meine Rolle war die des schwarzen Schafes, das einen dicken Pelz aus Schuldgefühlen mit sich herumtrug. Wenn ich nur besser lernen würde!
Nur beim Essen erhielt ich Lob, weil ich doch so eine brave Esserin war. Also aß ich, um meiner Mutter Freude zu machen, um ihre Anerkennung zu gewinnen. Doch das machte mich dick. Unansehnlich fett. Und so trug ich neben dem Pelz aus Schuldgefühlen auch noch einen dicken Bauch mit mir herum, der meine Schulkollegen veranlasste, mich auszuspotten. Ich wurde zur Außenseiterin und verharrte still und beharrlich in dieser Rolle, die mir wie auf den Leib geschrieben schien. Ich verdiente es ja, ausgelacht und beschimpft zu werden, weil ich doch zu dumm zum Lernen und Klavierspielen war.
Aber ich mampfte nicht nur, wenn ich Hunger hatte oder gefallen wollte, sondern es machte mich auch ruhiger – immer wenn ich Angst hatte.
„Na, isst die Dicke schon wieder?“, hänselte mich mein Bruder.
„Lass mich in Ruhe, du Idiot“, pöbelte ich zurück.
Idiot war noch das lieblichste Wort, das uns über die Lippen kam, meinem Bruder und mir, hörten wir doch tagein, tagaus nur die schlimmsten Schimpfwörter, die sich meine Eltern an den Kopf warfen.
Die Wutausbrüche meines Vaters wurden im Laufe der Jahre immer heftiger. Längst schon wussten alle Nachbarn, wie es bei uns ablief. War ja nicht zu überhören. Als der Staubsauger dann beim Fenster rausflog, auch nicht mehr zu übersehen.
Ich schämte mich, denn langsam nahm ich wahr, was wir eigentlich waren: Wilde, die keine Manieren hatten, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. Nur nicht anstreifen. Rein optisch waren wir noch eine hübsche Familie, adrett gekleidet, aber der Rest war dem Zerfall geweiht! Das machte mich unendlich traurig. Trotzdem liebte ich meine Eltern. Ich hätte alles getan, um sie versöhnt zu sehen. Ich kam drauf, dass es nicht gut war, sorglos Essen ins Klo zu schütten, das zuvor teuer eingekauft worden war. Und ich sah, dass es nicht gut war, ständig neuen Alkohol für meinen Vater zu besorgen, der ihn dann wieder ausrasten ließ. Aber ich ging und holte ihm welchen. Er schickte mich zum Kaufmann, um Bier und Zigaretten zu holen. Ich war sicher noch keine sieben Jahre alt. Ich folgte und brachte ihm das Teufelszeug, um seinen Unmut nicht zu schüren. Wenn ich zurückkam, küsste er mich, und ich durfte mich auf seinen Schoß setzen, war ich doch sein Ein und Alles. Seine Einzige, sein Mausi! Was für ein elender Teufelskreis! Noch hatte mein Vater, jung und kräftig, die Energie, den wilden Mann zu spielen. Aber seine Wahrnehmung litt zusehends unter all dem. Die ersten Spuren von Krankheit begannen sich zu manifestieren, und als er eines Nachts alles kurz und klein schlug, da war für uns drei die Zeit gekommen zu flüchten. Zu Fuß rannten wir durch die Dunkelheit, gehetzt von der Angst, Vater könnte uns folgen. Wir suchten Schutz bei unseren Großeltern, die uns sofort bei sich aufnahmen. Ohne großartig viele Fragen zu stellen. Trotz ihres Unmuts über so viel Unvernunft schwiegen sie. Als wir wieder nach Hause zurückkehrten, luden sie uns nun öfters zu sich ein. Jeden Monat ein oder zwei Tage, nicht nur in den Ferien. Sie konnten uns nicht wirklich helfen, aber sie machten uns die Zeit, die wir bei ihnen verbringen durften, unvergesslich schön. Und mein Bruder und ich sahen, dass es möglich war, eine gute und liebevolle Ehe zu führen. Sie wurden zu unseren Vorbildern. Oft wünschte ich mir insgeheim, dass sie es unseren Eltern verbieten würden, so miteinander umzugehen. Aber das konnten sie natürlich nicht.
Damals begann unsere Mutter, über unsere Situation nachzudenken. Ich bin der Meinung, dass ihr in dieser Nacht bewusst wurde, dass es wohl besser wäre, das Weite zu suchen, bevor etwas Schlimmeres passieren würde. Aber wie immer folgte die große Versöhnung. Das Zerschlagene wurde wieder gekittet. Und es sollte noch eine Zeit lang dauern, bis sich die Ängste meiner Mutter bewahrheiteten. Das Unvermeidliche trat ein.
Es war eine Nacht wie viele, und doch war es nicht irgendeine Nacht! Es war kalt, Schnee bedeckte die Straßen und Gassen, dicke Flocken vollführten lustige Schattenspiele im Licht der Laternen. Ruhiger, schöner Schneefall. Ich liebte Schnee! Aber wir konnten ihn nicht genießen, mein Bruder und ich, denn der Streit meiner Eltern war anders als sonst. Lauter, heftiger, impulsiver. Nagender! Unser Gefühl mahnte uns, vorsichtig zu sein, aufzupassen.
„Dreh das Licht ab“, sagte er mit strenger Stimme. „Damit er nicht sieht, dass wir noch wach sind. Vielleicht beruhigt er sich wieder.“
Ich gehorchte und schaltete das Licht aus. Da war es wieder, dieses Herzklopfen, das ich so hasste. Die Angst, die sich wie ein Feind in meine Glieder schlich, um mich zu mahnen: Sei auf der Hut, du bist zu klein und kannst dich nicht wehren, lauf weg, wenn es sein muss! Er ist unberechenbar! Schweigend saßen wir in unseren Betten und lauschten angespannt – vor und zurück wippend. Einfach nur so dazusitzen im Finsteren, war das Schlimmste. Eingehüllt in böse Vorahnungen, auf das Unabwendbare wartend. Das laute Kreischen meiner Mutter verhieß nichts Gutes. Sie provozierte ihn. Es war kaum zu ertragen, diese Angst und das Wissen, nichts tun zu können, wenn er auf sie losginge. Wir brauchten nicht im selben Raum wie unsere Eltern zu sein, um zu sehen, was da passierte. Unsere kindliche Phantasie trug die Bilder für uns zusammen.
„Was meinst du, wird er ihr wehtun?“, flüsterte ich mit zittriger Stimme.
„Ich weiß es nicht, sei still“, entgegnete mein Bruder flüsternd. „Und hör auf zu weinen.“ Das Licht der Straßenlampe verriet ihm die Tränen in meinen Augen. „Wir müssen Mama helfen, wenn sie uns braucht. Wir haben keine Zeit für dein Geheule. Reiß dich zusammen!“, ermahnte er mich.
Aber meine Tränen ließen sich nicht aufhalten. Mein Inneres schrie: Lauf weg! Lauf einfach weg! Wie ich meinen Vater in diesen Momenten hasste! Und meine Mutter erst, weil sie einfach nie den Mund halten konnte. Immer legte sie noch eins drauf, und noch eins.
Ein dumpfer Schlag, dann hörten wir sie schreien. Mein Bruder sprang auf.
„Nicht! Lass mich! Du tust mir weh!“, schrie sie.
Mein Bruder lief rastlos im Zimmer auf und ab, seine Fäuste geballt vor Zorn. Er war gerade mal elf Jahre alt, auf mich aber wirkte er wie ein Mann!
„Ich hab es satt“, zischte er zornig. „Dieses Schwein! Komm, wir holen Hilfe!“
„Wie denn?“, weinte ich leise.
„Komm, wir klettern aus dem Fenster. Wir laufen zur Telefonzelle und rufen die Polizei! Die werden es dem Schwein schon zeigen!“
Hastig zog er sich seinen Pullover über den Kopf. Mein Herz schlug noch lauter. War es denn so ernst?
Oh mein Gott, dachte ich, anziehen, ich muss auch was anziehen! Noch bevor ich diesen Gedanken fertigdenken konnte, hörten wir wieder Schreie. Wir wussten, es galt, keine Zeit zu verlieren, sonst würde was Schlimmes geschehen. Panik zeichnete unsere Gesichter. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, öffnete mein Bruder das Fenster und sprang ins Freie.
„Komm schon, na mach!“, hörte ich ihn rufen. „Komm, trau dich, wir müssen schnell machen. Spring, ich fang dich auf.“
Ich war auf das Fenster geklettert.
„Ich trau mich nicht, es ist so hoch!“, flehte ich meinen Bruder an.
„Doch, du musst!“, befahl er.
Also überwand ich mich und ließ mich langsam hinab, an der Hausmauer entlang, um sicher in seine Arme zu gleiten. Der feste Boden unter den Füßen gab uns die Gewissheit, laufen zu können. Wir rannten, so schnell uns unsere Beine trugen. Angetrieben von Panik und Verzweiflung.
„Schneller“, keuchte mein Bruder und streckte mir seine Hand entgegen, um mich zu ziehen, weil ich nicht so schnell laufen konnte wie er. Meine Füße schmerzten. Erst als ich runtersah, wurde mir klar, dass wir keine Schuhe anhatten. Barfuß hetzten wir durch die menschenleeren, mit Schnee bedeckten Straßen, über den Bahnübergang, hinunter zu der Seitengasse, an deren Ende die Telefonzelle stand, die unserer Mutter das Leben retten würde.
Ist es nicht schon zu spät, schossen mir die Gedanken durch den Kopf.
„Lieber Gott, mach, dass wir es schaffen“, hörte ich mich plötzlich beten.
Mein Bruder hatte einen Schilling aus der Hosentasche gezogen, ihn in den Automaten geworfen und gewählt.
„Helfen Sie uns, schnell“, schrie er nach Luft ringend, als sich die Polizei am anderen Ende der Leitung meldete.
„Er bringt sie sicher um! Bitte kommen Sie und helfen Sie meiner Mutter!“ Zügig erklärte er, wo wir zu Hause waren, um kurz darauf erleichtert den Hörer einzuhängen.
„Komm, wir müssen zurück, die Polizei kommt gleich!“
Während wir wieder durch die Nacht liefen, barfuß durch den Schnee, alleingelassen mit unserer Angst, wussten wir, dass es richtig gewesen war, Hilfe zu holen. Endlos weit schien der Weg, den wir zurücklegen mussten. Ob wir schnell genug gewesen waren? Und wenn ja: Ob sich nun wohl was ändern würde?
In dieser Nacht wurde unser Vater zum ersten Mal in ein Krankenhaus eingeliefert. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Die Angst, die ich um ihn hatte, als ihn die uniformierten Männer mit Gewalt aus der Wohnung zerrten. Warum hatte ich Angst um ihn? Ich war doch froh, dass sie uns halfen, die Polizisten. Wenn ich ihn aber doch so lieb hatte!
Lautstark schrie er um sein Recht: „Das können Sie nicht mit mir machen, ich werde Sie verklagen!“ Er drehte sich um, und ich sah in diese hasserfüllten, drohenden Augen. Wie ein wildes Tier versuchte er, um sich zu schlagen.
Außer sich vor Wut schrie er meine Mutter an: „Ich bring dich um, du Schlampe! Ich bring dich um!“
Als meine Mutter, gezeichnet von dem Erlebten, die Eingangstür schloss, war es, als hätten wir den Dämon vertrieben. Leiser wurden die Schreie, bis sie schließlich verstummten. Er war weg. Gott sei Dank!
Stille Betroffenheit legte sich über unsere Familie. Wohl war es für uns schrecklich zu wissen, dass unser Vater nun im Krankenhaus war, aber wir spürten auch Erleichterung und Hoffnung. Nun, da die Öffentlichkeit eingeschaltet worden war, musste sich doch was ändern. Und es sah tatsächlich so aus, als könnten sich meine Eltern für einen Neuanfang erwärmen. Mein Vater entschuldigte sich bei uns, meinem Bruder und mir, und versprach, sich zu ändern. Er werde sich bemühen, uns ein guter Vater zu sein. Was in dieser Nacht passiert sei, würde nie mehr geschehen. Die Scheidung, die meine Mutter unverzüglich eingereicht hatte, wurde nicht vollzogen. Eigentlich froh, aber auch ein wenig enttäuscht, weil wir unser Vertrauen verloren hatten, mein Bruder und ich, wollten wir Taten sehen. Keine Worte. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und so gaben auch wir unser Bestes.
Doch es sollte sich nichts ändern. Die Jahre vergingen, ließen uns hoffen, dann wieder verzweifeln, und sie lehrten uns, alles geduldig zu ertragen, bis wir so groß wären, um es uns selbst richten zu können. Aber wann käme diese Zeit, und würde ich es dann auch wissen, wenn es so weit wäre? Die Zeit, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen.
Wir liebten unsere Eltern, weil sie unsere Eltern waren, aber wir hassten sie auch, weil sie uns unserer Kindheit beraubten. Wir waren Meister im Schweigen und Verdrängen, im Beruhigen Beschwichtigen und Beschützen. Wir kannten Armut, Hunger, Gewalt und Vorwände. Jede Menge Vorwände, die für unsere Eltern der Grund waren, sich nicht zu trennen. Wir waren auffällig: mein Bruder zu laut und aggressiv, ich zu leise und schüchtern. Er vorlaut und hartnäckig, ich ängstlich und träge. Er räusperte sich unentwegt, ich nässte ein und war ständig krank. So schoben wir uns durch die Jahre der Einsamkeit, gefangen in einer Kindheit, in der wir nicht sein wollten, aber aus der es kein Entfliehen gab. Uns gegenüber hob unser Vater nicht ein einziges Mal seine Hand. Körperlich hatten wir von ihm nichts zu befürchten, aber war das besser?
Als mein Bruder schließlich die erste Chance sah, die sich ihm bot, um diese Hölle zu verlassen, war er weg. Das Elternhaus seiner Freundin. Er war sechzehn Jahre alt, als er seine Freiheit erlangte. Ich war überglücklich. Endlich hatte er seinen Frieden gefunden. Aber nun war ich allein. Mein großer Bruder war weg. Ja, er hatte mich ausgelacht, wenn ich ins Bett gemacht hatte, und ich hasste ihn dafür, ab er war auch immer derjenige gewesen, der da gewesen war, wenn ich Angst gehabt hatte. Wer war nun da?
Eine Fügung zum Guten war für mich, dass wir in diese Baracke gezogen waren. Denn diese grässlichen, jämmerlichen Menschen jagten mir eine solche Angst ein, wenn sie streitend und grölend im Hof saßen, um sich den Alkohol mit meinem Vater zu teilen, dass ich mutig wurde. In mir bäumte sich Widerwille auf. Täglich stellte ich mein Leben infrage. Es war wie eine Rebellion, die da in mir angezettelt wurde: Mach es wie dein Bruder. Er hat es auch geschafft. Ich dachte an die schönen Tage, die wir bei unseren Großeltern verbracht hatten, an meine Großmutter, die mir ihre Hilfe angeboten hatte. Ich stellte es mir so herrlich vor, gemütlich an ihrem Tisch zu sitzen und mit den beiden zu lachen und zu plaudern.
War es mir zu verübeln, dass ich es ein für alle Mal satt hatte, vertröstet zu werden, um weiterhin Zeugin dieser kranken Verbindung zu sein? Stille Leidende in einem Drama. Wie tief konnten wir noch fallen? War es nicht schon genug? Was konnte noch kommen?
Ich war es müde, ständig helfen zu wollen, wo es keinen Sinn machte. Und während ich in dieser Nacht so dalag, nachdem ich diesen Abschiedsbrief an meine Mutter verfasst hatte, entschied ich, all meinen Mut zusammenzunehmen und zu gehen. Die Bilder vor Augen, die mein bisheriges Leben geprägt hatten. Und irgendwie war da diese Hoffnung, so wie damals in dieser Nacht, als wir durch die Kälte liefen. Vielleicht wird jetzt alles gut? Ich gehe am Samstag zu Großmutter und Großvater, ja, am Samstag. Dann wird alles gut!
Es war ein wunderschöner Tag, dieser Samstag, an dem ich mein Vorhaben in die Tat umsetzte. Der Himmel war so blau, als wollte er mir zeigen: Ich habe mich an diesem, deinem Tag besonders schön für dich gemacht.
Entschlossenen Schritts verließ ich die Wohnung meiner Eltern, trat hinaus auf die Straße. Nur nicht umdrehen, dachte ich aufgeregt. Alles war still. Die Stadt schlief noch. Schnell lief ich durch die vielen Gassen, die mich nach knapp einer halben Stunde zu der Landstraße bringen würden, die mich geradewegs in ein neues Leben führen würde. Dieselbe Straße, auf der meine Eltern 1969 gegangen waren – voller Hoffnungen. Welche Ironie des Schicksals! Jetzt ging ich sie entlang, um all dem Gehofften und Geglaubten, das sich nie erfüllt hatte, zu entfliehen.
Die Morgensonne wärmte mich, und ich erinnere mich noch, dass sich meine Aufregung legte. Ich fühlte mich so unendlich frei. Das Abenteuer rief, so wie ich es in der Kinderserie „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ gesehen hatte. Zwei ungestüme Burschen, die durch die Welt zogen. Jetzt wird alles gut!
Dazwischen meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich gerade die Schule schwänzte. Ich beschwichtigte mich selbst, denn im tiefsten Inneren wusste ich: Großmutter macht das schon. All die Tage zuvor hatte ich meinen Abschied, dieses Gehen auf der Landstraße, durchgespielt, um mir Mut zu machen, es auch wirklich zu tun. Jetzt war ich einfach nur stolz auf mich. Tapfer brachte ich einen Kilometer nach dem anderen hinter mich. Plötzlich durchfuhr mich ein beängstigender Gedanke. Was, wenn mich meine Mutter suchen würde? Sie könnte mich auf dieser Straße auflesen. Nein, so ein Blödsinn. Sie glaubt doch, ich sei in der Schule. Aber es ließ mir keine Ruhe. Und wenn sie meinen Abschiedsbrief früher liest?
Kurzerhand entschied ich mich, die Landstraße zu verlassen und die letzten fünf der insgesamt vierzehn Kilometer durch den Wald zu gehen. Ich kannte jeden Stein auf diesem Weg, so oft waren wir ihn in all den Jahren gegangen. In der Nacht, um zu flüchten, oder am Tag, wenn es an der Zeit war, ein paar Tage mit den Großeltern zu verbringen. Ich liebte ihn, diesen leicht ausgetretenen, romantischen Waldweg. Uralte Bäume ließen ihre starken Wurzeln über ihn wachsen. Die vielen Blumen am Wegrand. Das junge Gras, das mir so saftig hellgrün entgegenlachte. Behaftet von Millionen Tautropfen, die wie kleine Diamanten in der Sonne glitzerten, als sie von einer sanften Brise angestupst wurden. Es machte mir Mut, die stille, vertraute Landschaft zu durchwandern. Ja, ich genoss es, war es doch mein großer Tag, an dem ich mich zum ersten Mal traute, das Richtige zu tun. Aber war es auch wirklich richtig? Ich verbot mir die Gedanken, die mich zum Zweifeln gebracht hätten, und zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Der letzte Teil meiner Reise führte mich über eine kleine Brücke, unter der ein Bächlein floss. Da machte ich Rast. Ich bewunderte die Blätter der Dotterblumen, die am Bachufer wucherten. Ich war glücklich. Glücklich, weil ich mich getraut hatte. Ich stellte mir erwartungsvoll die Ankunft bei meinen Großeltern vor, gespannt, wie sie wohl reagieren würden. Und so legte ich diese letzten Meter freudig zurück, in Erwartung eines guten Frühstücks, weil ich schon richtigen Hunger hatte. Ein schmaler Weg mit kleinen Kieselsteinen, die mich durch die Felder zu der Wohnsiedlung am Waldrand führten.
Schon von Weitem sah ich die zwei überdimensional großen Pfingstrosenstöcke, die im Vorgarten des Hauses meiner Großeltern standen, und mir in Rot und Weiß deuteten, näher zu kommen. So als wollten sie mich begrüßen! Immer schon standen sie an dieser Stelle, hießen mich Jahr für Jahr aufs Neue willkommen. Es war mir so vertraut, dieses Knusperhäuschen, wie es mein Großvater so liebevoll nannte, sein Zuhause.