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Stanislav Grof

Revision der Psychologie

Das Erbe eines halben Jahrhunderts Bewusstseinsforschung

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
von Dr. Hans Peter Weidinger

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Impressum

Nachtschatten Verlag AG

© Stanislav Grof 2012, 2014

Umschlaggestaltung: Sven Sannwald, Lüterkofen

Layout: Janine Warmbier, Hamburg

Lektorat: Dieter Hagenbach, Basel, www.gaiamedia.org

ISBN: 978-3-03788-359-4
eISBN: 978-3-03788-529-1

Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck sind nur mit Genehmigung des Verlags erlaubt.

INHALT

Moderne Bewusstseinsforschung und die Entstehung eines neuen Paradigmas

Holotrope Bewusstseinszustände

Holotrope Bewusstseinszustände und moderne Psychiatrie

Psychologie der Zukunft

1. Die Natur des Bewusstseins und ihre Beziehung zur Materie

2. Eine neue Kartografie der menschlichen Psyche

3. Strukturen emotionaler und psychosomatischer Störungen

4. Wirksame therapeutische Mechanismen

5. Strategien für Psychotherapie und Selbstentdeckung

6. Die Rolle der Spiritualität in unserem Leben

7. Die Bedeutung der archetypischen Astrologie für die Psychologie

Bibliografie

Moderne Bewusstseinsforschung und die Entstehung eines neuen Paradigmas

Aufgrund meiner Beschäftigung mit aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, die ich «holotrop» nenne und mit denen ich nun schon mehr als fünfzig Jahre arbeite, schlage ich eine grundlegende Revision der Prämissen der modernen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie vor. Diese betreffen die Natur des Bewusstseins, dessen Beziehung zur Materie, die Dimensionen der menschlichen Psyche, die Struktur der emotionalen und psychosomatischen Störungen sowie bestimmte Strategien der Psychotherapie. Aus meiner Sicht scheint Spiritualität ein wesentliches Attribut der menschlichen Psyche und der menschlichen Existenz im Allgemeinen zu sein. Eine besondere Bedeutung für die Bewusstseinsforschung – wichtig und dennoch umstritten und hier auch nur sehr oberflächlich abgehandelt – kommt dabei auch der archetypischen Psychologie und der Astrologie zu.

Im Jahr 1962 veröffentlichte Thomas Kuhn, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, sein bahnbrechendes Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (KUHN 1967). Nach fünfzehn Jahren intensiven Studiums der Geschichte der Wissenschaft kam er zu dem Schluss, dass die Entwicklung des Wissens über das Universum in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sich nicht wie gewöhnlich angenommen als ein Prozess der allmählichen Anhäufung von Daten sowie der Formulierung immer genauerer Theorien vollzieht. Stattdessen zeige diese Entwicklung eine eindeutig zyklische Eigenschaft mit genauen Abstufungen und einer charakteristischen Dynamik, die erkannt und sogar vorhergesagt werden könne.

Die zentrale Idee von Kuhns Theorie ist das Konzept des Paradigmas. Ein Paradigma kann als eine Konstellation von Überzeugungen, Werten und Techniken definiert werden, über die von Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft einer bestimmten historischen Periode ein Konsens besteht. Ein Paradigma bestimmt deren Denk- und Forschungsaktivitäten, bis einige Grundannahmen durch neue Beobachtungen ernsthaft infrage gestellt werden. Dies führt zu einem Wendepunkt und zur Entstehung völlig neuer Sichtweisen und Interpretationen von Phänomenen, die das alte Paradigma nicht erklären konnte. Schliesslich erfüllt einer dieser neuen Denkansätze die notwendigen Anforderungen für ein neues Paradigma, das wiederum die nächste Periode der Wissenschaftsgeschichte dominiert.

Die bekanntesten historischen Beispiele wichtiger Paradigmenwechsel waren der Ersatz des ptolemäischen geozentrischen Weltbildes durch das heliozentrische System von Kopernikus, Kepler und Galileo, die Widerlegung von Bechers Phlogistontheorie in der Chemie durch Lavoisier und Daltons Atomtheorie. Auch die konzeptionellen Umwälzungen in der Physik in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die die Hegemonie der Newtonschen Physik aufbrachen und Theorien der Relativität und der Quantenphysik hervorbrachten, gehören dazu. Paradigmenwechsel überraschen üblicherweise die etablierte Wissenschaftsgemeinschaft, deren Mitglieder meist die führenden Paradigmen für die einzige definitive Beschreibung der Wirklichkeit halten. So stellte im Jahr 1900, kurz vor der Entdeckung der Quantenphysik, Lord Kelvin fest: «In der Physik gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Was zu tun bleibt, ist lediglich, genauere Messungen durchzuführen.»

In den letzten fünf Jahrzehnten haben verschiedene Gebiete der modernen Bewusstseinsforschung eine reiche Palette an «anomalen Phänomenen» entdeckt – Erfahrungen und Beobachtungen, die viele der allgemein anerkannten Annahmen der modernen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie untergraben. Diese Beobachtungen beziehen sich auf die Beschaffenheit und die Dimensionen der menschlichen Psyche, die Ursprünge emotionaler und psychosomatischer Störungen sowie wirksame therapeutische Behandlungen. Viele dieser Beobachtungen stellen in ihrer Radikalität die metaphysischen Prämissen der materialistischen Wissenschaft, was die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie sowie die Beschaffenheit des Menschen und der Realität angeht, infrage.

Holotrope Bewusstseinszustände

Seit mehr als einem halben Jahrhundert befasse ich mich mit der Erforschung einer wichtigen Untergruppe aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände, für die ich den Begriff «holotrop» geprägt habe. Diese Erkenntnisse stellen eine grosse Herausforderung für die bestehenden wissenschaftlichen Paradigmen dar. Zuvor möchte ich den Begriff «holotrop», den ich hier verwenden werde, aber erklären. All die Jahre war es mein Hauptinteresse, das heilende, transformative und evolutionäre Potenzial aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände zu erforschen und ihren grossen Wert als Quelle für neue, revolutionäre Erkenntnisse über das Bewusstsein, die menschliche Psyche und die Beschaffenheit der Wirklichkeit herauszuarbeiten.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Begriff «veränderte Bewusstseinszustände» (engl.: altered states of consciousness, TART 1969), der häufig von Schulmedizinern und Forschern verwendet wird, nicht geeignet, da er einseitig eine Verzerrung oder Beeinträchtigung der sogenannten «richtigen Art und Weise», sich selbst und die Welt zu erleben, betont. (In der amerikanischen Umgangssprache und im veterinären Jargon bezieht sich der Begriff «to alter» auf die Kastration von Haustieren wie Hunden und Katzen).

Selbst die etwas bessere Bezeichnung «aussergewöhnliche Bewusstseinszustände» ist zu allgemein, da sie auch ein breites Spektrum von Zuständen einbezieht, die für den Gegenstand dieser Abhandlung nicht relevant sind. Dazu gehören gewöhnliche Delirien, die durch Infektionen, Tumore, Alkoholmissbrauch oder Kreislaufprobleme und degenerative Erkrankungen des Gehirns verursacht werden. Diese Veränderungen des Bewusstseins sind mit Desorientierung, Beeinträchtigung der intellektuellen Funktionen und anschliessender Amnesie verbunden. Sie sind klinisch wichtig, haben aber kein therapeutisches und heuristisches Potenzial.

Der Begriff «holotrop» bezieht sich auf eine grosse Untergruppe aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände, die von grosser theoretischer und praktischer Bedeutung sind. Es sind die Zustände, die die Novizen der Schamanen während ihrer initiatorischen Krisen erfahren und später im Leben in ihren Klienten zu therapeutischen Zwecken hervorrufen. Alte Stammeskulturen und indigene Gesellschaften haben sich dieser Zustände seit Jahrtausenden in Übergangsriten und Heilzeremonien bedient. Sie wurden von Mystikern aller Zeiten und Eingeweihten in den alten Mysterien von Tod und Wiedergeburt beschrieben. Methoden zur Herbeiführung holotroper Zustände wurden im Rahmen der grossen Weltreligionen entwickelt und angewandt – im Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Taoismus, Islam, Judentum, Zoroastrismus und im Christentum.

Die Bedeutung holotroper Zustände für alte und indigene Kulturen zeigt sich schon daran, wie viel Zeit und Energie die Menschen dort darauf verwandt haben, «Technologien des Heiligen» zu entwickeln, also verschiedene Methoden, um solche Zustände für rituelle und spirituelle Zwecke hervorzurufen. Diese kombinieren in unterschiedlicher Weise das Trommeln und andere Perkussionsarten, Musik, Gesang, rhythmischem Tanz, Veränderungen des Atemrhythmus und besondere Formen der Aufmerksamkeit. Soziale und sensorische Isolation über längere Zeit in einer Höhle, in der Wüste, im Eis der Arktis oder im Hochgebirge spielen eine wichtige Rolle, um holotrope Zustände zu erzeugen. Ebenso extreme körperliche Herausforderungen wie Fasten, Schlafentzug, Dehydration, hochwirksame Abführmittel, ja sogar Zufügung von Schmerzen, Verstümmelung des Körpers und Aderlass. Das weitaus wirksamste Instrument, heilende und transformative aussergewöhnliche Bewusstseinszustände hervorzurufen, ist der rituelle Gebrauch psychedelischer Pflanzen.

Als ich mir über die Einzigartigkeit dieser Bewusstseinszustände klar wurde, konnte ich kaum glauben, dass die heutige Psychiatrie keine spezifische Kategorie und Bezeichnung für diese theoretisch und praktisch wichtigen Erfahrungen hat. Weil ich überzeugt war, dass sie von den sogenannten veränderten Bewusstseinszuständen unterschieden und nicht als Anzeichen ernsthafter Geisteskrankheiten betrachtet werden sollten, habe ich für sie einen speziellen Begriff geprägt: Ich nannte sie «holotrop». Dieser zusammengesetzte Terminus bedeutet wörtlich «auf Ganzheit ausgerichtet» oder «sich in Richtung Ganzheit bewegen» (aus dem Griechischen holos = ganz und trepo /trepein = sich an etwas orientieren oder sich in die Richtung von etwas bewegen). Der Begriff «holotrop» ist eine Wortneuschöpfung, aber mit dem häufig verwendeten Begriff «Heliotropismus» verwandt – die Eigenschaft von Pflanzen, sich immer in der Richtung der Sonne zu wenden.

ATTSEILHARD DEHARDIN